Kurs:Analysis II/Kapitel VI: Gewöhnliche Differentialgleichungen/Der Existenzsatz von Peano (§4)

Voraussetzung (a): Bearbeiten

Seien die Zahl und der Vektor mit vorgegeben. Zu den festen positiven Konstanten betrachten wir das Rechteck

.

Hierauf sind die beschränkten, stetigen Funktionen

mit in

für mit der Schranke gegeben. Wir behandeln im folgenden das Anfangswertproblem: Gibt es eine Größe und einmal stetig differenzierbare Funktionen

(1) für ,

die das folgende Differentialgleichungssystem

(2) für

mit den Anfangsbedingungen

(3) für

lösen? Dieses Anfangswertproblem können wir mit den Setzungen

(4)

wie folgt zusammenfassen:

(5) .

Nun stellen sich die folgenden drei Fragen:

  1. Existenz: Gibt es eine Lösung des Anfangswertproblems (1) – (3)?
  2. Eindeutigkeit: Ist diese Lösung eindeutig bestimmt?
  3. Stabilität: Bleibt die Lösung in der Umgebung der ursprünglichen Lösung, falls man die Anfangswerte und die rechten Seiten etwas stört? Hängt die Lösung sogar differenzierbar von den Anfangswerten ab?

Satz 1 (Gewöhnliche Regularität) Bearbeiten

Unter der Voraussetzung (a) sind die folgenden beiden Aussagen äquivalent:
I. Es gibt Funktionen für , die das Anfangswertproblem (1) – (3) lösen.
II. Es gibt Funktionen für , die (1) erfüllen und das Integralgleichungssystem
(6)
lösen.

Beweis Bearbeiten

: Die Funktionen für lösen das Anfangswertproblem (1) – (3); somit erhalten wir durch Integration

für .

: Die Funktionen lösen (6) für . Somit folgt sowie und Differentiation liefert

für .

Bemerkung Bearbeiten

Wir fassen (6) zusammen zu der Identität

.

Wir werden eine Lösung dieser Integralgleichung konstruieren, indem wir diese durch eine Folge von Polygonzügen approximieren. Hierzu benötigen wir den fundamentalen Auswahlsatz von Arzelà-Ascoli,den wir für Funktionen in mehreren Veränderlichen bereitstellen. Eine Indizierung der Komponenten ist hierbei überflüssig, so dass wir jeweils die Folgen eindeutig mit den Indizes kennzeichnen können.

Satz 2 (Auswahlsatz von Arzelà-Ascoli) Bearbeiten

Seien die Zahlen fest und die Menge kompakt. Die Funktionenfamilie
mit der Indexmenge
sei mit den nachfolgenden Eigenschaften gegeben:
I. Die Menge ist gleichmäßig beschränkt, d. h. es gibt eine Konstante , so dass
für alle und alle
II. Die Menge ist gleichgradig stetig, d. h. zu jedem gibt es ein mit der Eigenschaft:
.
Behauptung: Dann enthält eine auf der Menge gleichmäßig konvergente Teilfolge
,
welche gleichmäßig gegen die stetige Funktion
konvergiert.

Beweis Bearbeiten

1. Wir zählen die rationalen Gitterpunkte in der kompakten Menge wie folgt ab:

(7) .

Da die Menge

beschränkt ist, gibt es eine Teilfolge

,

so dass

existiert. Da wiederum die Menge

beschränkt ist, gibt es eine weitere Teilfolge

,

so dass

existiert. Offenbar gilt weiter

.

Wir konstruieren so eine Folge von Teilfolgen

,

so dass

für alle

existiert. Durch den Übergang zur Diagonalfolge

erhalten wir eine Folge mit der Eigenschaft

für alle .

2. Wir zeigen nun die gleichmäßige Konvergenz der Funktionenfolge

.

Zu vorgegebenem reichen nach dem Heine-Borelschen Überdeckungssatz endlich viele der offenen Mengen

mit

zur Überdeckung der kompakten Menge aus, also etwa die offenen Kugeln

mit .

Da eine endliche Menge ist, gibt es eine Zahl , so dass

für alle und alle

gilt. Nun folgt für alle und alle die Ungleichung

(8) .

Hierbei haben wir zu einen Punkt mit ausgewählt, was wegen der obigen Überdeckungseigenschaft möglich ist. Folglich existiert

und es gilt

für alle .

Somit konvergiert gleichmäßig gegen die stetige Funktion

.

q.e.d.

Satz 3 (Existenzsatz von Peano) Bearbeiten

Sei die Voraussetzung (a) erfüllt und die Größe
erklärt. Dann gibt es Funktionen
für ,
die das Anfangswertproblem (1), (2), (3) lösen.

Beweis Bearbeiten

Offenbar reicht es aus, eine Lösung auf dem Intervall zu konstruieren.

1. Sei eine beliebige Zerlegung des Intervalls in Teilintervalle mit dem Feinheitsmaß

.

Zu dieser Zerlegung konstruieren wir nun den Euler-Cauchyschen Polygonzug

wie folgt: Auf dem Intervall definieren wir

und wir berechnen

.

Somit folgt

(9) für .

Auf dem Intervall definieren wir

und wir berechnen

.

Wir schätzen nun wie folgt ab

(10)

Wir führen nun das Verfahren fort und enden mit

.

Wir berechnen

und schätzen nun wie folgt ab:

(11)

Schließlich erklären wir noch die stückweise konstante Funktion

(12) .

2. Wir betrachten nun die Funktionenfamilie

(13) .

Wie in Teil 1. zeigt man, dass für jedes die Abschätzung

(14) für alle mit

richtig ist. Somit ist eine gleichmäßig beschränkte, gleichgradig stetige Funktionenklasse. Auf Grund von Satz 2 können wir nun eine Zerlegungsfolge vom Intervall mit dem Feinheitsmaß

(15) für

finden, so dass für die zugehörigen Euler-Cauchyschen Polygonzüge

(16)

folgendes gilt: Die Funktionenfolge konvergiert auf dem Intervall gleichmäßig gegen die stetige Funktion

.

Die zugehörigen Treppenfunktionen bezeichnen wir mit

.

3. Beachten wir nun die Eigenschaften (14) und (15), so konvergiert die Folge von Treppenfunktionen

(17) gleichmäßig auf dem Intervall für .

Auf Grund der gleichmäßigen Stetigkeit der Funktionen für folgt die gleichmäßige Konvergenz von

(18) .

Mit einem Konvergenzsatz für Riemannsche Integrale (siehe Satz 2 aus §5 in Kapitel V) erhalten wir die Identität

(19)

für alle . Der Satz 1 liefert nun die Behauptung.

q.e.d.

Beispiel 1: Mehrdeutigkeit beim Anfangswertproblem Bearbeiten

Das Anfangswertproblem

(20)

hat für die Lösungen

(21)

und

(22) .