Projekt:Dresdner Glossar/Jastorf-Kultur

DIE URSPRÜNGE

Ein niedersächsisches Gräberfeld brachte Archäologen auf die Spur der frühen Germanen. Sie bewohnten das Armenhaus Europas.

Das Rätsel von Jastorf

Von DIETMAR PIEPER

Urne aus der Jastorf-Zeit, etwa 5. Jahrhundert vor Christus

(Braunschweigisches Landesmuseum)

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Der Archäologe Gustav Schwantes (Foto, um 1935) skizzierte die bedeutende Fundstelle bei Jastorf

Die germanische Frühgeschichte ist auch die Geschichte eines begabten und wissbegierigen Schülers. Gustav Schwantes, geboren 1881 in Bleckede an der Elbe, begeisterte sich als Junge für die Archäologie und wusste bald erstaunlich gut Bescheid. Mit großer Ausdauer buddelte er im Boden seiner niedersächsischen Heimat, um Zeugnisse aus der fernen Vergangenheit zu bergen. Häufig ging er in den Schulferien gemeinsam mit seinem Bruder Curt auf archäologische Schatzsuche. 1897 bekamen die Brüder Schwantes den Hinweis, dass auf einem Heidefeld nördlich der Ortschaft Jastorf zahlreiche Grabgefäße im Sand lägen. Für den damals 16 Jahre alten Gustav wurden die Urnen von Jastorf zu einem Lebensthema. Denn der junge Forscher und spätere Professor, der nach wie vor zu den Großen seines Fachs zählt, kam durch diesen Fund zu einer wichtigen Erkenntnis. Es war Gustav Schwantes, der für eine ganze Ära den Namen Jastorf-Kultur prägte, einen Begriff, der bald allgemein anerkannt wurde und bis heute gültig ist.

Mit der Jastorf-Kultur brach um 600 vor Christus ein neues Zeitalter an, in dem viele Wissenschaftler den ersten nachweislichen Auftritt der Germanen sehen. Die Umwälzung fand statt in einem Gebiet, das große Teile Norddeutschlands umfasst und hinauf bis ins dänische Jütland reicht. In diesem geografischen Raum ging damals die Bronzezeit zu Ende; die Eisenzeit begann.

Die Menschen erlernten nach und nach die komplexe Technik der Verhüttung, um aus Erzbrocken das harte Metall für Werkzeug, Schmuck und Waffen zu gewinnen.


Warum ist nun ausgerechnet ein Gräberfeld im niedersächsischen Flachland zwischen Uelzen und Lüneburg so bedeutend? Um das zu verstehen, muss man tiefer eintauchen in die Welt der Frühgeschichte – ein eigenartiges Reich voller Fachausdrücke, Geheimnisse, Forschungslücken und Widersprüche. In dieser Welt spielen kleine Gegenstände eine große Rolle.

Für Laien sind die meisten archäologischen Funde nichtssagend, aber von den Wissenschaftlern werden sie hingebungsvoll untersucht, klassifiziert und interpretiert.

Im Fall der jahrtausendealten Jastorf-Kultur sind es Schmucknadeln, Gewandfibeln und Urnen aus gebranntem Lehm, die als zentrale Beweisstücke in einer verwickelten Indizienkette gelten.

Dass die Frühgeschichte der Germanen nicht einfacher und anschaulicher zu haben ist, liegt vor allem an den Menschen der damaligen Zeit. Aus den Jahrhunderten vor Christi Geburt haben die Vorfahren der Goten, Sachsen und Franken keine schriftlichen Quellen hinterlassen, keine stattlichen Gebäude, keine genialen Kunstwerke. Wie Detektive müssen die Forscher versuchen, aus den spärlichen Spuren, die heute noch übrig sind, Bruchstücke von Geschichten herauszulesen. Für eine durchgehende Erzählung reicht das Material bisher nicht.

Auf einem ganz anderen Weg versuchen Sprachwissenschaftler, Licht in die Vergangenheit zu bringen. Aus den heutigen Sprachen und den frühesten schriftlichen Quellen wie der gotischen Wulfilabibel leiten sie mit scharfsinniger Kombinatorik ab, wie die Menschen früher gesprochen haben könnten. Die Linguisten haben herausgefunden, welche Sprachen miteinander verwandt sind und nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich Aussprache und Grammatik im Lauf der Zeit verändert haben.

So sind seit dem 18. Jahrhundert Monumente der Gelehrsamkeit entstanden, in deren Detailreichtum man sich hoffnungslos verlieren kann.

Bei allen Rätseln, die noch übrig sind, gilt die große Linie als gesichert: Aus den gemeinsamen Anfängen der indogermanischen Sprachfamilie, zu der auch Griechisch, Persisch oder Sanskrit gehören, hat sich im Zuge der ersten oder germanischen Lautverschiebung eine Art Urgermanisch entwickelt.

Und weil ein gesprochenes Idiom immerzu im Fluss ist, gingen daraus dann im Lauf der Jahrhunderte Deutsch, Englisch und andere heutige Sprachen hervor (siehe Kasten Seite 50).

Meister ihres Fachs haben es gelegentlich sogar gewagt, in rekonstruierten Sprachen zu fabulieren. Auf den In

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  • "Land der Legenden" bei Lejre (nahe Roskilde)
    • www.sagnlandet.dk


sicherten Wissensstand. Ihren Namen hat sie vom Fundplatz La Tène am Neuenburgersee in der Schweiz. Die Latène Menschen waren ebenfalls Kelten.

Durch seine Lektüre und Gespräche mit Fachleuten war der junge Gustav Schwantes schon gut im Bilde über die Forschungslage. Aber eines konnte er nicht verstehen: Wieso ordnete der große Gelehrte aus Norwegen bestimmte Fundstücke aus Norddeutschland der Latène-Kultur zu, obwohl sie so ganz an ders gestaltet waren als die keltischen Artefakte? Das, was Schwantes selbst gemeinsam mit seinem Bruder aus der Erde gebuddelt hatte, sah aus wie einige Beispiele aus Undsets Büchern. Aber Latène?

Andererseits schien Undset sich zu widersprechen, deutete er doch die Form der hochhalsigen Urnen, wie sie auch bei Jastorf im Boden lagen, als Import aus einer älteren Epoche, nämlich aus der Hallstatt-Zeit. Es war zum Verrücktwerden. Schwantes notierte später: „Anzunehmen, dass hier vielleicht ein Irrtum des verehrten Mannes vorliege, lag meinem damaligen Denken völlig fern.“ Doch die Frage nagte weiter an ihm, jahrelang: „Sind die Jastorfer Sachen wirklich keltisch?"

An einem Abend des Jahres 1899 saß der junge Forscher wieder einmal „in den ehrwürdigen Räumen der alten Hamburgischen Stadtbibliothek“, die, wie er als Erwachsener dankbar festhielt, „für meine wissenschaftliche Entwicklung von der größten Bedeutung wurde“. Im neuesten Band des „Archivs für Anthropologie“ las Schwantes einen Beitrag der Wissenschaftlerin Johanna Mestorf.

Die Direktorin des Kieler Museums vaterländischer Alterthümer machte sich darin Gedanken über die Anfänge der Eisenzeit in Schleswig-Holstein. Mestorflegte dar, wie Schwantes schrieb, „dass nicht Latène, sondern Hallstatt uns das Eisen brachte“.

Wer sich einigermaßen in den Forschungsstand hineingedacht hat, kann jetzt vielleicht nachvollziehen, was in dem aufstrebenden Archäologen vorging: „Von geradezu ungeheurer Bedeutung“ war die Lektüre für ihn. „In mir geriet alles in eine kochende und brodelnde Aufregung, und aus dem Wirbel der Gedanken trat schließlich die Erkenntnis hervor: Da hast du endlich die Lösung des Rätsels von Jastorf!“

In den Weihnachtsferien schrieb der Schüler einen langen Brief an Johanna Mestorf, eine der wenigen deutschen Frauen im 19. Jahrhundert, die als wissenschaftliche Koryphäen anerkannt wurden. Noch war ihr allerdings der Professorentitel nicht zugebilligt worden, was Schwantes in Verlegenheit stürzte.

„Die Dame schlichthin mit Fräulein Mestorf anzureden, schien mir eine Ungehörigkeit zu sein.“ Schließlich begann er sein Schreiben mit der Anrede „Euer Autorität“.

Die Autorität erwies sich als aufgeschlossen und freundlich. Schon nach wenigen Tagen kam eine Antwortkarte, kurz darauf ein ausführlicher Brief, in dem Mestorf die Vermutungen bestätigte. Zusammenfassend schrieb Schwantes später über die von ihm benannte und gründlich erforschte Jastorf-Kultur:

Sie „ist der Stil der ersten mittel- und nordeuropäischen vollen Eisenzeit, der von den Germanen geschaffen wurde, zur selben Zeit, in der die Kelten ihren Latène-Stil entwickelten“.

Was wissen wir heute über das Leben dieser Menschen? Sie waren Ackerbauern und Viehzüchter, die verstreut auf Gehöften oder in kleinen Dörfern wohnten. Unter den Getreidearten kam der Gerste die größte Bedeutung zu, aber auch Hafer und Rispenhirse, Weizen und Roggen sorgten dafür, dass die Leute satt wurden, dazu Erbsen, Bohnen und Linsen. Man baute gern auf sandigen Böden an, weil die Äcker dort mit den primitiven hölzernen Hakenpflügen recht gut zu bearbeiten waren.

Wichtigstes Haustier war das Rind, das lange gehalten wurde, um Kälber und Milch zu produzieren. Gefundene Siebgefäße lassen darauf schließen, dass die Milch gern zu Käse verarbeitet wurde. Als Mahlzeit auf den Tisch kamen auch Schweine, Schafe und Ziegen. Hunde dürften Wächter sowie Begleiter bei der Jagd gewesen sein. Für die Ernährung scheinen Jagd und Fischfang aller-

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Die Fundstücke aus dem sogenannten Königsgrab von Seddin zeigen die hohe Kunstfertigkeit der Bronzezeit, die später bei den Jastorf-Germanen verlorenging.


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dings keine sehr große Rolle gespielt zu haben.

Ein Dorf mit 200 bis 300 Einwohnern wird wohl schon als stattliche Siedlung gegolten haben.

Ein verbreiteter Gebäudetyp der Jastorf-Germanen war das Pfostenhaus. Dabei wurden die tragenden Holzpfosten bis zu einen Meter tief in den Boden gerammt, als Wände dienten Blockbohlen oder Flechtwerk mit Lehm. Architektonisch ist das Pfostenhaus ein Vorläufer des Fachwerkhauses, das viel später im Mittelalter aufkam.

Hauptproblem der alten Bauweise war die Fäulnis. Die in der Erde steckenden Pfosten verrotteten im Lauf von zwei bis drei Jahrzehnten so stark, dass sich die Häuser nicht mehr reparieren ließen – der Umzug in einen Neubau erwies sich als unumgänglich. Auch die Böden waren dann häufig ausgelaugt, so dass die ganze Dorfgemeinschaft ihre Sachen packte und in der Nähe neu anfing.

Dabei orientierte man sich gewöhnlich an einem sakralen Ort, dem Friedhof, der das Zentrum solcher Wanderungsrunden bildete. „Der Platz, an dem die Ahnen lagen, war stets der Fixpunkt für die Besiedlung“, sagt der Archäologe Rainer-Maria Weiss, der das Helms-Museum in Hamburg leitet.

Der Totenkult war allem Anschein nach schlicht, die Beigaben deuten darauf hin, dass man die Verstorbenen für ein Weiterleben nach dem Tod ausstatten wollte.

Über die spirituelle Welt der frühen Germanen weiß man wenig. Bekannt sind zum Beispiel Seen, Moore, Flüsse, Steinhaufen und Siedlungen als kultische Orte.

Knochenfunde lassen auf vereinzelte Menschenopfer schließen. Beliebte Opfertiere scheinen Pferde und Hunde gewesen zu sein. Primitive Holzidole könnten übernatürliche Wesen versinnbildlicht haben.

Aus der bäuerlichen Lebensweise der Menschen lässt sich herleiten, dass sie Anhänger von Fruchtbarkeitskulten waren.

Ein langes Leben war den frühen Germanen nur selten beschieden. Wer nicht schon der hohen Kindersterblichkeit zum Opfer gefallen war, litt häufig unter Mangelernährung, Strapazen und Krankheiten. Aus den Friedhofsfunden geht hervor, dass die mittlere Lebenserwartung bei Anfang bis Mitte 30 lag. Das mit 60 Jahren beginnende Greisenalter erreichten wohl nur einige wenige.

Grabanlagen aus der Jastorf-Ära gibt es eine ganze Menge. In manchen ruhen nur einige wenige Urnen, bei anderen handelt es sich um Großfriedhöfe mit mehreren tausend Toten. Der forschende Blick des Archäologen findet viele Unterschiede im Stil der Beigaben, zwischen verschiedenen Urnenmustern und Bestattungsmethoden. Manchmal sticht auch eine besondere Kostbarkeit hervor, ein Halsring, ein Kettengehänge.

In Grabstellen aus der späten Jastorf Zeit tauchen gelegentlich Waffen, Reitzubehör oder aus dem Süden importierte Metallgefäße auf.

Aber von Glanz und Prunk kann viele Jahrhunderte lang keine Rede sein. Alles in allem muss man sagen: Die frühen Germanen führten das karge Leben bescheidener Bauern.

Bloß warum? Wieso gibt es über einen langen Zeitraum nur wenig Veränderung? Weshalb sieht ein kundiger Experte wie der Archäologe Jochen Brandt vom Helms-Museum sogar „riesige Rückschritte“ im Vergleich zur Bronzezeit? Brandt fasst zusammen: „Die archäologischen Quellen deuten auf eine kaum differenzierte und ärmliche Bevölkerung hin, die in der mitteleuropäischen Vorgeschichte seit der Jungsteinzeit kaum etwas Vergleichbares findet.“

Um den Bruch zu veranschaulichen, der hierzulande die Eisenzeit von den früheren Kulturstufen trennt, lohnt ein Blick auf das sogenannte Königsgrab von Seddin in der brandenburgischen Prignitz. In einem Hügel von mehr als 60 Meter Durchmesser und 10 Meter Höhe liegt dort eine Grabkammer verborgen, die aus neun großen Findlingen errichtet, mit Lehm verputzt und rot ausgemalt wurde. Drei Tote fanden in dieser aufwendig errichteten Begräbnisstätte ihre letzte Ruhe, ihnen beigegeben waren ein Schwert und allerlei Gerätschaften wie Rasiermesser, Geschirr, Ringe, Messer und ein Kamm. Das Seddiner Monument stammt aus der jüngeren Bronzezeit, um 800 vor Christus.

Bald danach war es mit dem hohen Aufwand für Verstorbene, der ja auch eine bedeutende Kulturleistung darstellt, vorbei.

Und während die Jastorf-Germanen beschaulich vor sich hinwerkelten, kam es den Kelten weiter südlich überhaupt nicht in den Sinn, vom bronzezeitlichen Protz zu lassen. Dort ließen es sich Angehörige der Oberschicht nach Kräften gutgehen, sie speisten wie Griechen oder Etrusker von feinem Geschirr, besaßen goldenes Geschmeide und ließen sich in zwei- und vierrädrigen Wagen durch die Lande kutschieren.

Dass es in all den Jahrhunderten weiträumige Handelsverbindungen gab, ist archäologisch belegt. Bis hinauf nach Dänemark sind prachtvolle Stücke aus hochqualifizierten Werkstätten gelangt, wie zum Beispiel der silberne Kessel von Gundestrup zeigt; er kam wahrscheinlich aus dem heutigen Rumänien oder Bulgarien nach Norden. Die importierten Wagen von Dejbjerg, die wohl dem Repräsentationsbedürfnis eines dänischen Großen dienten, zeugen von der hohen Kunstfertigkeit keltischer Handwerker.

Um die norddeutsche Tiefebene aber machten die schönen Dinge der damaligen Zeit einen großen Bogen. Konnte das nur Zufall sein?

Der Hamburger Archäologe Brandt hat eine Theorie. Beim Nachdenken über die sozialen Verhältnisse, wie sie sich in den Jastorf-Funden zeigen, fiel ihm auf, dass die frühen Germanen anscheinend alle ziemlich gleich arm gewesen sind, und das über lange Zeit. Das Zusammenleben könnte also einem Muster gefolgt sein, das in der Kulturanthropologie als „segmentäre Gesellschaft“ bezeichnet wird.

Das bedeutet: Das Leben spielt sich überwiegend in der Familie oder im etwas größeren Familienverband ab.

Übergeordnete Stammes- oder Volksinteressen treten völlig in den Hintergrund. Damit die Clans friedlich miteinander auskommen, halten sie sich an bestimmte Regeln, die zum Beispiel festlegen, wer wen heiraten darf. Streitfragen handeln die Patriarchen untereinander aus.

Typisch für solche Gesellschaften sei, so Brandt, dass wenige Menschen in einem großen Gebiet siedeln: „Man kann sich im Regelfall aus dem Weg gehen.“

Trotzdem herrscht beträchtlicher sozialer Druck, wenn es um die Verteilung der Güter geht. Kurz gesagt: Wer hat, muss geben.

So ist der Anreiz gering, Überschüsse zu produzieren. Macht basiert in einer Gruppe, die solche Regeln verinnerlicht hat, nicht auf Reichtum, sondern auf dem Vermögen, andere zu beschenken.

Wer bekommt, ist der „soziale Schuldner“; wer gibt, ist der Chef.

Mag sein, dass das alles ein wenig romantisch klingt, nach einfachem Leben und ökologischer Landkommune. Aber eine bessere Idee, warum die frühen Germanen mit so wenig zufrieden waren, muss erst mal jemand haben.

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SZ vom 24.10.2019

https://www.saechsische.de/plus/ein-aussergewoehnlicher-fund-archaeologie-kelten-pirna-fund-schmuck-2500-jahre-5132885.html


Pirnas rätselhafter Keltenschmuck

Archäologen finden an der Elbe einzigartige keltische Schmuckstücke – ein Zeugnis von Handel und Mode vor 2.500 Jahren.

Von Franziska Springer

Der Fund wurde am Donnerstag präsentiert.

Martin Wittig erinnert sich noch gut an den späten Nachmittag des 7. Oktober 2018. An diesem Sonntag, zu einer Zeit, in der andere am familiären Kaffeetisch ihren Kuchen genießen, habe er sich aufgemacht zum Kieswerk Pirna-Pratzschwitz. Bereits seit drei Jahren waren er und weitere Archäologen in dem etwa 13 Hektar großen Gebiet auf der Suche nach Spuren jener Menschen, die an dieser Stelle einst gesiedelt hatten.

Seit jeher war hier ein guter Ort zum Leben: elbnah und dennoch geschützt vor Hochwasser. Das Klima im Elbtal war schon immer freundlich. Zahlreiche Überbleibsel vergangener Zivilisationen zeugen davon, dass in diesem archäologisch „höchst verdächtigen Fundland“ ein gutes Auskommen war. Bis Oktober 2018 wurde die ehemalige Siedlung akribisch durchsucht. Dann war die Arbeit der Forscher abgeschlossen. Eigentlich.


Neben kupfernem Schmuck fand Martin Wittig rund 500 Perlen aus Glas und Bernstein in Pirna-Pratzschwitz.

Genau kann Martin Wittig heute nicht mehr sagen, weshalb es ihn an diesem Tag nach Pratzschwitz zog. Er subsumiert den Ausflug unter jene „tausend Zufälle“, die ein reichliches Jahr später Ingo Kraft, in der Abteilung Archäologische Denkmalpflege des Sächsischen Landesamtes für Archäologie zuständig für den Bereich Ostsachen, zu wahren Begeisterungsstürmen hinreißen. „Wir kennen kein einziges Stück dieser Art in Europa oder sonst wo. Das ist der erste Fund seit 180 Jahren Forschung“, sagt er und meint das 2.500 Jahre alte und etwa 80 Zentimeter lange Collier aus Kupfer, das am Donnerstag nach einjähriger Restaurationszeit erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde.


Aus nahezu 700 einzelnen kleinen Ringen ist das Schmuckstück gefertigt. Ein halbmondförmiges, typisch verziertes Nackenstück hielt es am Hals des Trägers. Heute überzieht Grünspan die fünfreihige Gliederkette. Vor 2.500 Jahren muss sie golden geglänzt haben. „Wer das trug, wollte etwas hermachen“, sagt Ingo Kraft und vermutet, dass es sich bei dem Träger um eine keltische Amtsperson gehandelt haben könnte. Vermutlich um eine Frau.

Das legen die etwa 500 Perlen und die ungewöhnlichen, kunstvoll gefertigten Fibeln nahe, die in der keltischen Kultur gleich einer prunkvollen Sicherheitsnadel zum Verschließen von Kleidung verwendet wurden. Gleich drei solcher Einzelstücke konnten die Forscher bergen. Neben zwei figürlichen Darstellungen von Raubvögeln zeigt die aufwendigste Spange ein menschliches Gesicht mit einem Hundekopf. Als Konvolut seien die Schmuckstücke häufig Bestandteil keltischer Frauentrachten gewesen, sagt Kraft.


Feinsäuberlich in ein Tuch eingeschlagen und in einem Tontöpfchen von 14 Zentimetern Höhe verpackt, haben die Schätze in einer Erdgrube am Pratzschwitzer Elbufer die Jahrtausende überdauert – und wären schließlich fast zerstört worden.

Die nur wenige Zentimeter an der Fundstelle vorbeikratzenden Zinken einer Baggerschaufel schlugen eine Scherbe aus dem Töpfchen. Diese fand – ein weiterer der tausend Zufälle – Martin Wittig ganz am Rand des archäologischen Ausgrabungsfeldes. Die Fundstücke neben der Scherbe, eine Vogelkopffibel und etliche Perlen, habe er in zwei Plastiktüten gepackt, den Fundort mit Folie abgedeckt und mit Mutterboden vor neugierigen Blicken geschützt. Am nächsten Morgen habe er als erstes das Landesamt für Archäologie informiert und sich anschließend gemeinsam mit seinem Kollegen, dem ehrenamtlichen Bodendenkmalpfleger Mario Steinbach, an die Bergung der verbliebenen Fundstücke gemacht.


Bis in den Dienstag hinein waren beide mit der Freilegung beschäftigt. „Ich habe zwei Nächte lang schlecht geschlafen und war froh, als ich die Verantwortung für den Fund los war“, sagt Martin Wittig heute. „Als klar war, dass wir eine große Entdeckung gemacht haben, habe ich mir erst einmal ein Bier aufgemacht.“


Viele Umstände des rätselhaften Fundes sind noch völlig unklar. Neben der einzigartigen Gliederkette, für die es bislang europaweit kein vergleichbares Exemplar gibt, gibt auch der Ablageort der Gegenstände den Forschern Rätsel auf. Klar ist nur: Um Grabbeigaben handelte es sich nicht. Im Umfeld des Fundes gibt es keinerlei Hinweise auf eine Bestattung. Auch weitere Funde blieben aus.

Der spannenden Frage, wie die einzigartigen Stücke nach Pirna kamen, wollen die Archäologen in der kommenden Zeit nachgehen. Dabei gehen sie von der Annahme aus, dass es ein positives Miteinander, möglicherweise sogar Handelsbeziehungen zwischen der hiesigen nordmitteleuropäischen Jastorf-Kultur und der La-Tène-Kultur der Kelten gegeben habe. Letztere breiteten sich um 450 vor Christus bis nach Böhmen aus. Von dort aus könnten sich über die Elbe erste Kontakte zwischen beiden Gesellschaften entwickelt haben.


Belege für das Miteinander der Kulturen gab es dennoch auf sächsischem Boden bislang nicht. Dass im Falle des keltischen Bronze-Colliers und der drei Gewandspangen sogar die Fundsituation bestens dokumentiert ist, ist ein Glück für die Forscher. Ein Jahr geben sie sich Zeit, um die seltenen Stücke naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu unterziehen, Vergleiche und Interpretationen anzustellen und die Verarbeitungsspuren an den Schmuckstücken genauer zu erforschen. Dann soll der Schmuck in Ausstellungen gezeigt werden.


https://st.museum-digital.de/collection/760?  :

Über die Sammlung

Die ersten Eisen verarbeitenden Stämme des norddeutschen Tieflandes formierten sich um 575 v. Chr. zur Jastorf-Kultur, so benannt nach einem Fundort bei Uelzen (Niedersachsen). Sie ist ca. 200 Jahre jünger als die ältesten Eisenzeit-Kulturen Mitteldeutschlands (Hausurnen- und Thüringische Kultur). Die Weiternutzung lokaler Gräberfelder zeigt ihre Verwurzelung in der nordischen Spätbronzezeit.

Um 525 v. Chr. stießen Jastorf-Gruppen in das Mittelelbe-Gebiet vor, verdrängten dort die Hausurnenkultur und drangen im Raum Halle ab 450 v. Chr. vereinzelt über die Grenze der Thüringischen Kultur südwärts. Die Invasoren ließen sich auf den fremden Friedhöfen bestatten, ohne dabei ihre Identität preiszugeben. Unterschiedliche Keramik- und Schmuckformen lassen im nördlichen und im zentralen Sachsen-Anhalt zwei Regional-Gruppen erkennen. Seit der zweiten Hälfte des 6. Jh. v. Chr. beeinflussten in zunehmendem Maße Importe aus den südlich angrenzenden keltischen Gebieten die Formensprache der Jastorf-Kultur. Zunächst entstanden Fibeln, dann auch Arm- und Halsringe nach keltischen Vorbildern.

Bestattung

Der Grabbrauch der Jastorf-Kultur sah ausschließlich die Leichenverbrennung mit Urnenbeisetzung vor. Die Leichenbrandgefäße wurden mit einer Schale abgedeckt und in einfache Erdgruben gestellt. Im Unterschied zu den großen Gräberfeldern in den norddeutschen Ursprungsgebieten kennt man aus dem hiesigen Neuland fast nur kleinere Friedhöfe. Eine Ausnahme ist hier der Bestattungsplatz von Chörau, Ldkr. Anhalt-Bitterfeld (500–200 v. Chr.) mit über 200 Gräbern. Die Beigaben – zum Beispiel zungenförmige Gürtelhaken und Gewand- / Haarnadeln – wurden zumeist verbogen, um sie in die Urne legen zu können.

Besonderheit

Kulturspezifische Objekte der frühen Stufe der Jastorf-Kultur sind Segelohrringe, die aus Bronzeblech bestehen und mit kleinen Treibbuckeln verziert sind, mitunter auch mit blauen Glasperlen auf den Dornen.

Hausbau / Siedlungswesen

In den norddeutschen Küstengebieten, einem Altsiedelraum der Jastorf-Kultur, beherbergten dreischiffige Wohn- Stall-Häuser Mensch und Vieh unter einem Dach. Der Stalltrakt war in Boxen eingeteilt. Demgegenüber lebten die Jastorf-Leute hierzulande in Grubenhäusern. Das Vieh war gesondert untergebracht. Gut erforscht ist etwa die Siedlung von Osterburg-Zedau, Ldkr. Stendal, mit ihren zahlreichen Hausgruben. Die etwa 25 m² großen Räume waren nur leicht in den Boden eingetieft. Aufgehende Architektur – zum Beispiel Wände und vermutlich Giebeldach – ist bislang nicht erhalten. Neben den Wohngebäuden, die Platz für eine Familie boten, gab es Grubenbauten für Werkstätten und Vorratshaltung.

Hochhalsgefäß. Leichenbrandurne. Stendal, Ldkr. Stendal; ca. 450–375 v. Chr.

Diese Sammlung ist Teil von Späte vorrömische Eisenzeit (480-30/60 v. Chr.)