Einführung Bearbeiten

Ein stochastischer Prozess (auch Zufallsprozess) ist die mathematische Beschreibung von zeitlich geordneten, zufälligen Vorgängen. Die Theorie der stochastischen Prozesse stellt eine wesentliche Erweiterung der Wahrscheinlichkeitstheorie dar und bildet die Grundlage für die stochastische Analysis.

Brownsche Brücke 1 Bearbeiten

Gegeben ist ein Zeitintervall  . Die Werte zum Zeitpunkt   und   sind bekannt. Die Brownsche Brücke interpoliert die Werte zufällig.

Brownsche Brücke 2 Bearbeiten

 

Zeitintervall  

Brownsche Brücke 3 - Aufgabe Bearbeiten

  • Erstellen Sie in Libreoffice zwei Spalten (x-, y-Koordinaten), die von einem Ausgangspunkt einen stochastischen Weg durch das Koordinatensystem läuft!
  • Erweitern Sie den Weg, dass der Weg stochastisch zwei Punkte in der Ebene miteinander verbindet!

Geschichte Bearbeiten

Obwohl einfache stochastische Prozesse schon vor langer Zeit studiert wurden, wurde die heute gültige formale Theorie erst Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt, vor allem durch Paul Lévy und Andrei Kolmogorow.

Definition - stochastischer Prozess Bearbeiten

Sei   ein Wahrscheinlichkeitsraum,   ein mit einer σ-Algebra   versehener Raum und   eine Indexmenge, zumeist  , die in Anwendungen häufig die Menge der betrachteten Zeitpunkte darstellt. Ein stochastischer Prozess   ist dann eine Familie von Zufallsvariablen  , sodass   für alle   eine  - -messbare Abbildung ist.

Bemerkung - elementare Sigma-Algebra Bearbeiten

Zumeist werden für   die reellen Zahlen   mit der Borelschen  -Algebra   verwendet. Dabei ist   die kleinste  -Algebra, die alle offenen Mengen   bzgl. des Betrags   als tologieerzeugende Norm enthält.

Bemerkung - allgemeine Borelsche Sigma-Algebra Bearbeiten

Ist allgemeiner ein beliebiger topologischer Raum als Zustandsraum   gegeben, dann wählt man als zu dem System   von offenen Mengen die Borelsche  -Algebra   mit  . Dabei ist

 ,

und   der σ-Operator auf Mengensystemen in  , der einem Mengensystem  , die kleinste  -Algebra   zuordnet, die alle offenen Mengen aus   enthält.

Erweiterung Topologie zur Sigma-Algebra Bearbeiten

Mit dem Erweiterung von   zu   enthält mit

  •   ist stabil bezüglich der Komplementbildung. Ist also  , so ist auch   in   enthalten
  • damit enthält die Borelsche  -Algebra auch alle abgeschlossenen Mengen.

Zustandsraum Bearbeiten

Die Menge   wird auch der Zustandsraum des Prozesses genannt, der enthält alle Werte, die der Prozess annehmen kann.

Beispiel - Zustandsraum Bearbeiten

Im Kontext von Nachhaltigkeit könnte der Zustandsraum   z.B. mit   die  -Emissionen   und die Kilometerleistung eines Fahrzeuges   bezeichnen.

Zustandsraum als Funktionenraum Bearbeiten

In einem allgemeineren Fall des Funktionenraumes   ab.   gibt dann z.B. an, wie zu einem Versuchsreihe   zum Zeitpunkt   die Schadstoffemission eines Fahrzeuges im Drehzahlbereich zwischen   und   war. Wenn sich eine Motor im Laufe der Zeit verschlechtert, gilt z.B.  

Notation - Zustandsraum als Funktionenraum Bearbeiten

Die Bedingung   vergleicht Funktionen miteinander. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Funktionenraum   nur eine partielle Ordnung besitzt. Mit

  •  
  •  

Kann es z.B. für zwei unterschiedliche Drehzahlen   der Fall sein, dass   und   gilt.

Aufgabe - Zustandsraum als Funktionenraum Bearbeiten

Sei   ein Wahrscheinlichkeitsraum,   ein Zustandsraum mit   und der Borelschen σ-Algebra auf bzgl. der von der Integralnorm erzeugten Topologie.

  •  
  •  

Wie kann man eine Verbesserung zwischen den Zeitpunkten   und   bzgl. der Integralnorm auf   messen?

Existenz stochastischer Prozesse Bearbeiten

Die Frage nach der Existenz von stochastischen Prozessen mit bestimmten Eigenschaften wird mit dem Satz von Daniell-Kolmogorow und dem Satz von Ionescu-Tulcea (benannt nach Cassius Ionescu-Tulcea) weitgehend gelöst.

Einteilung Bearbeiten

Folgend sind einige Kriterien aufgeführt, nach denen stochastische Prozesse klassifiziert werden. Eine genauere Beschreibung findet sich in der Liste stochastischer Prozesse.

Die grundlegendste Einteilung stochastischer Prozesse in verschiedene Klassen erfolgt über die Indexmenge   und die Wertemenge  :

Diskrete und stetige Indexmenge Bearbeiten

  • Ist   abzählbar (etwa  ), so heißt der Prozess ein zeitdiskreter stochastischer Prozess oder etwas ungenau diskreter stochastischer Prozess
  • Ansonsten heißt der Prozess ein zeitstetiger stochastischer Prozess.

Diskrete und stetige Wertemenge Bearbeiten

  • Ist   endlich oder abzählbar, spricht man von wertediskreten Prozessen.
  • Ist  , so spricht man von einem reellwertigen Prozess.

Mehrdimensionale Indexmenge Bearbeiten

  • Dann nennt man den stochastischen Prozess häufig Zufallsfeld, zufälliges Feld oder engl. random field. Häufig ist   oder  , insbesondere für Modelle der Geostatistik.

Momente bei reellwertigen Zufallsvariablen Bearbeiten

Betrachtet man stochastische Prozesse mit reellwertigen Zufallsvariablen   kann man klassifizieren, ob der Erwartungswert und die Varianz existieren oder spezielle Werte annehmen.

  • Ein reellwertiger stochastischer Prozess heißt integrierbar, wenn   für alle   gilt.
  • Ein reellwertiger stochastischer Prozess heißt quadratintegrierbar, wenn   für alle   gilt.
  • Ein reellwertiger stochastischer Prozess heißt zentriert, wenn   für alle   gilt.

Momente von Zufallsvariablen in Funktionenräumen Bearbeiten

Betrachtet man stochastische Prozesse mit Zufallsvariablen  , die einen Funktionenraum als topologischen Vektorraum abbilden, kann man diese ebenfalls klassifizieren, ob der Erwartungsfunktionen und die Varianzfunktionen existieren.

  • Ein reellwertiger stochastischer Prozess heißt integrierbar, wenn   für alle   gilt.
  • Ein reellwertiger stochastischer Prozess heißt quadratintegrierbar, wenn   für alle   gilt.
  • Ein reellwertiger stochastischer Prozess heißt zentriert, wenn   für alle   gilt, wobei   der Nullvektor in   ist.

Bedingung an Momente von Zufallsvariablen in Funktionenräumen Bearbeiten

Die Endlichkeit des Erwartungswertes   wird bei Funktionenräumen dadurch ersetzt, dass das Moment eine wohldefinierte Funktion aus dem Funktionenraum liefert. Diese Eigenschaft ermöglicht ferner, dass wiederum wohldefinierte Operation in dem topologischen Vektorraum mit   durchgeführt werden können.

Stochastische Abhängigkeiten Bearbeiten

Des Weiteren werden stochastische Prozesse noch mittels der Struktur ihrer stochastischen Abhängigkeiten klassifiziert, diese werden meist über den bedingten Erwartungswert definiert. Zu diesen Klassen gehören:

Markow-Prozesse Bearbeiten

Bei Markow-Prozessen ist Wahrscheinlichkeit, einen bestimmten Zustand anzunehmen nur davon abhängig, in welchem Zustand sich der Prozess davor befindet, aber nicht von der gesamten Vergangenheit des Prozesses. Markow-Prozesse haben somit ein „kurzes Gedächtnis“.

Martingale Bearbeiten

Martingale sowie Sub- und Supermartingale modellieren ein faires Spiel. Hat man zu einem Zeitpunkt bereits einen gewissen Betrag gewonnen, so ist der Erwartungswert für künftige Gewinne genau dieser bereits gewonnene Betrag.

Weitere Eigenschaften: Pfade und Zuwächse Bearbeiten

Des Weiteren kann man Prozesse wie folgt klassifizieren:

  • Man kann die Eigenschaften der Pfade untersuchen und die Prozesse dementsprechend unterteilen: Prozesse mit stetigen Pfaden, Prozesse mit beschränkten Pfaden etc. Ein Beispiel für einen stochastischen Prozess mit fast sicher stetigen Pfaden ist der Wiener-Prozess.
  • Man betrachtet die sogenannten Zuwächse des Prozesses, also Terme der Art   für Indizes  . Je nach geforderter Eigenschaft der Zuwächse erhält man dann Prozesse mit stationären Zuwächsen, Prozesse mit unabhängigen Zuwächsen oder auch Prozesse mit normalverteilten Zuwächsen. So sind beispielsweise die Lévy-Prozesse genau die stochastischen Prozesse mit unabhängigen, stationären Zuwächsen.

Aufgaben Bearbeiten

  • Erläutern Sie den Zusammenhang von stochastischen Prozessen zur Maßtheorie!
  • Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten bestehen zwischen einer Funktionenfolge   und einem stochastischen Prozess?
  • Analysieren Sie Nachhaltigkeitsaspekte im Kontext der geplanten Obsoleszenz und betrachten Sie den Defekt einer Gerätes und dessen Ersetzung als stochastischen Prozess!
  • Betrachten Sie den Ameisenalgorithmus als stochastischen Prozess, der über Pheromone eine Zufallslauf von der Vergangenheit abhängig macht.

Pfade Bearbeiten

Für jedes   erhält man eine Abbildung  . Diese Abbildungen nennt man die Pfade des Prozesses und wird auch mit   notiert. Häufig spricht man statt von den Pfaden auch von den Trajektorien oder den Realisierungen des stochastischen Prozesses.

Stetigkeit der Pfade Bearbeiten

Ist speziell   und   bzw. allgemeinerer ein topologischer Vektorraum), so kann man von Stetigkeitseigenschaften der Pfade sprechen. Stetigkeit ist dabei darüber definiert, dass die Urbilder offener Mengen wieder offen sind.

Beispiel - stetige Pfade Bearbeiten

Der Wiener-Prozess hat stetige Pfade, von denen im Bild zu den Beispielen unten zwei zu sehen sind.

Bemerkung - Pfad Bearbeiten

Ein Pfad ist somit ein zufälliger Verlauf   zum einem (Versuchs-)Ergebnis   im Raum der Funktionen von  .

Veranschaulichung - Pfade in einem Funktionenraum Bearbeiten

Die folgende Animation zeigt einen Pfad in einem Funktionenraum, der in diesem Fall als Konvexkombination auf einer Zeitmenge   als Interpolation von zwei Funktionen dargestellt wird[1].   entsprechen dabei den rot markierten Funktionen zum Zeitpunkt  

 
Konvexkombination von zwei Funktionen in Geogebra

Geogebra: Interaktives Applet - Download: Geogebra-File

Rechtsseitige, linksseitige Stetigkeit Bearbeiten

Man nennt einen zeitstetigen stochastischen Prozess stetig, rechtsseitig stetig, linksseitig stetig bzw. càdlàg, wenn alle Pfade des Prozesses die entsprechende Eigenschaft haben.

Beispiel - rechtsseitig stetige Pfade Bearbeiten

Der Poisson-Prozess ist ein Beispiel für einen zeitstetigen, wertdiskreten càdlàg-Prozess; er hat also rechtsseitig stetige Pfade, bei denen an jeder Stelle der linksseitige Limes existiert.

Stochastische Prozesse versus Zeitreihen Bearbeiten

Neben der Theorie der stochastischen Prozesse gibt es auch die mathematische Disziplin der Zeitreihenanalyse, die weitgehend unabhängig davon operiert. Definitionsgemäß sind stochastische Prozesse und Zeitreihen ein und dasselbe, dennoch weisen die Gebiete Unterschiede auf

Zeitreihenanalyse als Teilgebiet der Statistik Bearbeiten

Die Zeitreihenanalyse versteht sich als Teilgebiet der Statistik und versucht, spezielle Modelle (wie etwa ARMA-Modelle) an zeitlichch geordnete Daten anzupassen. Man versucht also aus Daten auf eine in der Regel unbekannte Wahrscheinlichkeitsverteilung zu schließen.

Stochastische Prozesse als Teilgebiet der Statistik Bearbeiten

Bei den stochastischen Prozessen werden in der Stochastik und Wahrscheinlichkeitstheorie behandelt und man untersucht die spezielle Struktur der Zufallsfunktionen (z.B. bezüglich Stetigkeit, Differenzierbarkeit, Variation oder Messbarkeit bezüglich gewisser Filtrierungen).

Beispiele - Stochastische Prozesse Bearbeiten

 

Ein Standard-Wiener-Prozess auf dem Zeitintervall [0,3], außerdem sind der Erwartungswert und die Standardabweichung eingezeichnet.

Beispiel 1 - Random Walk Bearbeiten

Ein einfaches Beispiel für einen zeitdiskreten Punktprozess ist der symmetrische Random Walk, hier veranschaulicht durch ein Glücksspiel: Ein Spieler beginnt zum Zeitpunkt   mit einem Startkapital von 10 Euro ein Spiel, bei dem er nacheinander immer wieder eine Münze wirft. Bei „Kopf“ gewinnt er einen Euro, bei „Zahl“ verliert er einen. Die Zufallsvariablen   für den Kontostand nach   Spielen definieren einen stochastischen Prozess (mit deterministischer Startverteilung  ). Genauer betrachtet handelt es sich bei   um einen Lévy-Prozess und um ein Martingal.

Beispiel 2 - Gaußprozess Bearbeiten

Eine vielseitig verwendete Klasse stochastischer Prozesse sind Gauß-Prozesse, die viele natürliche Systeme beschreiben können und als Maschinenlernverfahren Anwendung finden.

Bespiel 3 - Wiener-Prozess Bearbeiten

Ein bedeutender stochastischer Prozess aus der Klasse der Gaußprozesse ist der Wiener-Prozess (auch „Brownsche Bewegung“ genannt). Hierbei sind

  • die einzelnen Zustände normalverteilt mit linear anwachsender Varianz.
  • die Zuwächse sind normalverteilte und stochastisch unabhängig.

Der Wiener-Prozess findet Anwendung in der stochastischen Integration, der Finanzmathematik und der Physik.

Weitere Beispiele 4 Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten

Siehe auch Bearbeiten

Literatur Bearbeiten


Seiteninformation Bearbeiten

Diese Lernresource können Sie als Wiki2Reveal-Foliensatz darstellen.

Wiki2Reveal Bearbeiten

Dieser Wiki2Reveal Foliensatz wurde für den Lerneinheit Kurs:Maßtheorie auf topologischen Räumen' erstellt der Link für die Wiki2Reveal-Folien wurde mit dem Wiki2Reveal-Linkgenerator erstellt.

Wikipedia2Wikiversity Bearbeiten

Diese Seite wurde auf Basis der folgenden Wikipedia-Quelle erstellt:

  1. Bert Niehaus (2022) Konvexkombination von zwei Funktionen in einem Vektorraum von Funktionen - URL: https://www.geogebra.org/m/kkuufrck (Aufgerufen 14.01.2022 - 15:20 )