Was die Welt im Innersten zusammenhält

Hans-Peter Haack


Der Monolog in dem unvollständigem Vorabdruck von Faust II 1828

An dieser Frage war Goethes Faust gescheitert. In der Eröffnungsszene von «Faust II» steht - in Analogie zu «Faust I» - wieder ein großer Monolog Fausts, in dem Goethe unter der Hand eine Antwort gibt.

In der Morgendämmerung erwartet Faust den Aufgang der Sonne. Als sie endlich über einem Berggipfel erscheint, trifft ihr Flammenübermaß (4708) seine Augen so schmerzhaft, dass er sich abkehren muss. Doch lässt das Feuermeer (4710) in ihm eine Erkenntnis aufblitzen, die er erschrocken als Frage formuliert:

Ist´s Lieb´? Ist´s Hass? Die glühend uns umwinden,
Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer,
So daß wir wieder nach der Erde blicken,
Zu bergen uns im jugendlichsten Schleier. (4711 – 14)

Des ewigen Lichts genießen (4697), von dem neuer Glanz und Deutlichkeit gespendet wird (4700), steht für Erkenntnis. Setzt man für die Dichterworte Lieb´ und Hass die Begriffe Sozialität und Aggressivität, hat man das Spannungsfeld, in dem Leben sich verwirklicht, die Pole, zwischen denen es alterniert, - im Kleinen wie im Großen. Die beiden gegensätzlichen Elementar-Triebe treiben die Evolution voran. Sie sind von gleichem Gewicht wie Mutation und Selektion.

Mit Lieb' und Hass (Sozialität und Aggressivität), die glühend uns umwinden (unentrinnbar) trifft Goethe eine anthropologische Aussage. Aggressivität (Konkurrenz, sublimiert als Wettbewerb) und Sozialität (Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftsgefühl) sind in jedem Menschen angelegt, auch bei nicht domestizierten Säugetieren, die in sozialen Verbänden leben. Am stärksten entwickelt sind sie beim Menschen, dem Zoon politikon. Im günstigsten Falle halten sich beide Antriebe die Waage. Doch das Mischungsverhältnis kann sehr unterschiedlich ausfallen. Im Extrem bleiben nur Egoismus und Konkurrenzdenken, vielleicht mit einem gelegentlichen Anflug von sozialem Empfinden. Das andere Extrem ist soziales Engagement bis zur Selbstaufgabe.

Die missionierende These "Ohne Christentum keine Moral" trifft nicht zu. Soziale Antriebe, die Wurzeln der Moral, sind älter als das Christentum. Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt. (328 - 29)

Heute sucht die Physik nach einer mathematischen Erfassung des Universums, nach der ´Weltformel´ und zitiert für dieses Bemühen das Goethewort. Fausts Suche dagegen hatte der Lebensdynamik gegolten (Des Lebens Fackel wollten wir entzünden (4709)) Sein schreckhaftes Erkennen der geheimen Doppelnatur des Menschen löst sogleich Abwehr aus, so daß wir wieder nach der Erde blicken, zu bergen uns im jugendlichsten Schleier (4714), d. h. in Nichtwissen.

Der altgriechische Philosoph Empedokles (483 oder 482 – zwischen 430 und 420 v. Chr.) sah in allen Vorgängen zwei Urkräfte wirkend: Liebe und Hass, wobei Liebe für die Vereinigung der Elemente Feuer, Luft, Wasser, Erde sorge und Hass für ihre Entmischung. Schopenhauer kommt in «Aphorismen zur Lebensweisheit» (dort Paränesen und Maximen 13) auf den Neuplatoniker Proklos zu sprechen und auf dessen Gleichnis: Wie in jeder Stadt neben den Edlen und Ausgezeichneten auch Pöbel (οχλος) jeder Art wohne, so sei in jedem, auch dem edelsten und erhabensten Menschen, das ganz Niedrige und Gemeine der menschlichen, ja, tierischen Natur, der Anlage nach vorhanden.

In den maßgebenden, von Albrecht Schöne zusammengetragenen Kommentaren zu Goethes Faust [1] werden die Verse 4711 - 14 nicht kommentiert.

  1. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1994