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Das textliche Konzept der Varianz ist insofern relational, als zwei Aspekte miteinander verknüpft werden: Das Ähnliche und das Verschiedene. Neben den Aspekten, die als textlich gleich angesehen werden und aufgrund derer die Motivation, nach Varianz zu schauen, erst aufkommt, sehe ich also zwei Arten von Ungleichheiten: das, was als ähnlich und das, was als verschieden wahrgenommen wird, nach welchen Kriterien auch immer. Um Varianz zu erkennen, geht man vergleichend vor und untersucht nach bestimmten Gesichtspunkten bei Ähnlichkeit die auszumachenden Gemeinsamkeiten sowie bei Unähnlichkeit die Unterschiede, bezieht diese aufeinander und wägt das Ergebnis des Vorgangs auf ein gewünschtes Erkenntnisinteresse hin ab. Das Konzept der Varianz verbindet also textlich die beiden Aspekte der Ähnlichkeit und der Verschiedenheit miteinander.

Pierre Bourdieu betrachtet einen Unterschied als etwas Relationales. Sein Konzept des sozialen Raums basiert auf der Idee, dass ein Unterschied „in Wirklichkeit nur eine Differenz ist, ein Abstand, ein Unterscheidungsmerkmal, kurz, ein relationales Merkmal, das nur in der und durch die Relation zu anderen Merkmalen existiert.“[1]

Betrachtet man das textliche Konzept Varianz als eine relationales Merkmal, das Differenz anzeigt, kann es dafür genutzt werden, zugeschriebene Vorrangigkeiten nicht allzu dominant werden zu lassen und vielmehr das Zustandegekommensein zu befragen oder danach Ausschau zu halten, welche anderen Möglichkeiten sich mit Hilfe einer gewandelten Perspektive ergeben. Eine Neubetrachtung dieses Konzepts kann nicht zuletzt aufzeigen, wie Wahrnehmungsgewohnheiten losgelöst werden können von Deutungsmustern, deren Einfluss auf ihrer Herkömmlichkeit beruht.[2]

Eine Variante ist demzufolge

In der Editionswissenschaft gibt es eine ausgedehnte Debatte zu Fragen der definitorischen Abgrenzung von Begrifflichkeiten, mit denen bezeichnet wird, was als Fassung, als Variante, als Lesart etc. anzusehen wäre.[3] Ich arbeite dem übergeordneten Begriff Version, weil ... und auch, um darin Konzepte des multimedialen digitalen Arbeitens mitklingen zu lassen, ebenso wie Aspekte aus der Kultur des Programmierens.[4]

In traditionellen editionswissenschaftlichen Kontexten kann eine Variante eine gewisse Unruhe in das Verhältnis zwischen Urheberschaft und Echtheit bringen, je nachdem, wie die drei Konzepte Variante, Urheberschaft und Echtheit gefasst sind. Christa Jansohn und Bodo Plachta schreiben in der Eröffnung ihres Vorworts zum Band Varianten – Variants – Variantes (2005): „In der Kunstgeschichte lösen die Varianten im Werk Rembrandts oder Vincent van Goghs (Sonnenblumen) immer wieder erhebliche Diskussionen um deren Echtheit und damit Urheberschaft aus.“[5] Hier wird durch „und damit“ eine Verbindung hergestellt zwischen Echtheit und Urheberschaft. Anders formuliert könnte die Aussage lauten: Wenn es von einem Werk Varianten gibt, kann Urheberschaft in Zweifel gezogen werden, weil die Echtheit eines Werkes infrage steht. Diese Argumentation setzt erstens voraus, dass eine Variante in Bezug auf ein anderes Werk als Variante erkannt worden ist. Zweitens wird davon ausgegangen, dass Echtheit etwas mit einer eindeutigen Urheberschaft zu tun hat. Drittens wird zwar der Vorgang des Zuschreibens in dieser Kette nicht genannt, er ist aber wesentlich, weil Echtheit erst durch eine Zuordnung von Urheberschaft zu einem Werk entsteht. Echtheit als Konzept wäre demzufolge von einem Konzept wie das Original eines Werks abhängig. Dieser Zusammenhang kommt in einer Erörterung von M. J. Driscoll zum Ausdruck und er benennt Folgen, die als notwendig erachtet werden. Driscoll schreibt: „Sometimes differences between the extant texts of a given work are so great that we are obliged to view them as representing separate versions or redactions. Occasionally these versions are so different that it is impossible to imagine how they could go back to a single original, and here it has been customary to see them as representing separate manifestations of an underlying (oral) tradition. In other cases it is necessary to speak of separate works treating similar material, rather than of separate versions of a single work.“[6] Bernard Cerquiglini bringt ein fachgeschichtliches Argument, insofern das Konzept eines Originals, das man einem konkreten Urheber zuweisen können muss, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts sei und dass damit die Bereitschaft abgenommen hat, Varianz wertzuschätzen.[7],[Anm. 1]

Wie viele andere Werke auch sind Arbeiten, die in einem Wiki zu finden sind, von Anfang an in Varianten entstanden – nur dass im Wiki die Wandelbarkeit eines Werks zum Prinzip erhoben worden ist, erstens, weil es nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt für ein anderes Ausgabeformat fertig sein muss und zweitens, weil eine Ad-hoc-Co-Autorschaft möglich ist und bleiben soll.[Anm. 2] Jede gespeicherte Änderung wird als eine neue Version angezeigt.[Anm. 3] Wenn ich sehen will, was durch eine Änderung im Vergleich zu einer oder mehreren vorigen Versionen anders geworden ist, klicke ich für das Werk, das ich genauer ansehen will, das Tabellenblatt Versionsgeschichte aus. In der Übersicht der Versionsgeschichte können beliebige zwei Versionen miteinander verglichen werden, aber nur jeweils zwei. Bei einem Vergleich kann ich allerdings mehrere Versionen als Zwischenversionen ansehen und sie bei Bedarf überspringen. Das könnte der Falls sein, wenn ich sehen will, was seit meiner eigenen letzten Änderung durch andere verändert worden ist. Das Ergebnis wird in zwei Spalten ausgegeben. Von der Leserichtung her wird die ältere Version als vor der neueren Version stehend angezeigt, in Sprachen mit lateinischer oder kyrillischer Schrift steht also zum Beispiel die ältere Version in der linken Spalte und die neuere Version rechts davon. Implizit liegt diesem Arrangement, diesem Design, dieser Programmierung das Konzept zugrunde, dass Werke chronologisch fortschreitend relevanter werden. Das ist auch daran zu erkennen, dass Leser*nnen beim Aufrufen eines Artikels nur die jeweils neueste Version angezeigt wird. Wer sich für die Entstehungsgeschichte interessiert oder eine bestimmte ältere Version einsehen will, muss sich etwas mehr Mühe machen.

Wie lauten aus dieser Perspektive gesehen die Konzepte, die in der Zusammenfassung von Jansohn und Plachta der Verbindung zwischen Echtheit und Urheberschaft zugrundeliegen und was hat diese Verbindung mit dem Konzept Variante zu tun?

Anmerkungen

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  1. In der Rezension von Manzer lautet die Stelle folgendermaßen: „Cerquiglini links the stabilization of the text to our modern understanding of authorship as ownership. He emphasizes the importance of the title page and copyright laws (focusing on France alone) in this development, and he ends the chapter by suggesting that the nineteenth-century understanding of texts and authors (texts as fixed entities, authors as owners of those fixed works) colored the then-emerging field of philology and has pulled our reading of medieval texts away from an appreciation of variance.“
  2. Dieser kollaborative Ansatz steht in gewissem Gegensatz zur Tradition in der Mediävistik, zu der Driscoll eine Unterscheidung in Autor und Editor festhält: „Bédier’s best-text method has the advantage of reducing damage to the text through subjective editorial emendation (by editors, who, Bédier alleged, tended to see themselves as collaborators with the author).“ [Driscoll 2010]
  3. „Die Beschäftigung mit Varianten ist natürlich auch von den neuen Medien stimuliert worden, die eine völlig andere Dokumentation von Varianten erlauben.“ [Jansohn 2005:2]

Fußnoten

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  1. Pierre Bourdieu (1994): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Hella Beister, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-518-11985-0, S. 18
  2. [to do], cf. Kimmich et al., cf. Spezies-Taxonomie und die Linné-Tradition dahinter
  3. Siehe dazu ansatzweise deWP, Fassung (Literatur)
  4. [to do]
  5. [Jansohn 2005:1]
  6. [Driscoll 2010]
  7. [Menzer 2001]
  • [Driscoll 2010]
M. J. Driscoll (2010): „The words on the page: Thoughts on philology, old and new(open access), in: Creating the medieval saga: Versions, variability, and editorial interpretations of Old Norse saga literature, edited by Judy Quinn & Emily Lethbridge. Syddansk Universitetsforlag, Odense 2010, ISBN 978-87-7674-532-5, S. 85–102.
  • [Jansohn 2005]
Christa Jansohn und Bodo Plachta (2005): „Vorwort“, in: Varianten – Variants – Variantes, herausgegeben von Christa Jansohn und Bodo Plachta. Niemeyer, Tübingen 2005, ISBN 3-484-29522-8, S. 1–6.
  • [Menzer 2001]
Melinda Menzer (2001): „In Praise of the Variant: A Critical History of Philology.“ (open access) (Rezension der englischen Übersetzung von Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante, 1989), in: Bryn Mawr Review of Comparative Literature, Volume 2, Number 2, Spring 2001.