Kanak Attak Texte

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Wir sind das Bodenpersonal des "vahşi kapitalizm"

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Globalisierungsstandort Deutschland, Oktober 2003: Der Bundestag hat Hartz III und Hartz IV beschlossen. Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden zusammengelegt. Für alle Kanaken ohne deutschen Pass kann das zu einer Falle werden. Das neue Arbeitslosengeld II wird nur an diejenigen bezahlt werden, die unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Davon sind alle ausgeschlossen, die nicht EU-Bürger sind. Längerer Verlust des Arbeitsplatzes führt dann im freien Fall in die Sozialhilfe. Das wiederum bedeutet, von Weiterbildungs- und Vermittlungsangeboten der Arbeitsämter ausgeschlossen und damit mehr oder weniger chancenlos auf dem regulären Arbeitsmarkt zu sein. Wer in Almanya allerdings seinen Unterhalt nicht selbst bestreiten kann, der bekommt auch keine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, Familienzusammenführung wird mehr denn je zu einem komplizierten Strategiespiel, Dauerbleiberecht entfällt, Einbürgerung ist nicht möglich. Vielen wird sogar die Abschiebung drohen, obwohl sie seit Jahren hier leben.

Globalisierungsstandort Deutschland, Dezember 2001: Der damalige Arbeitsminister Riester bringt eine gesetzliche Regelung auf den Weg, wonach die so genannte "Anwerbestoppausnahmeverordnung" erweitert wird: Pflegehilfen aus EU-Beitrittsländern sollen die hier unbeliebten Jobs übernehmen.

Die darauf folgende Debatte über Einwanderung und Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte erinnert an die Diskussionen über das alte Gastarbeitersystem, ohne dass von einer Neuauflage die Rede sein kann. Heute ist die Debatte über die Notwendigkeit einer Regelung der Einwanderungsfrage (Zuwanderungsgesetz?) auch Ausdruck der »Autonomie der Migration«, die trotz und gegen den Willen des Staatsapparates stattgefunden hat - und stattfindet - und auf die die gegenwärtige Regierung eine Antwort zu finden sucht.

So reagierten auch Riester und Co mit ihrer Vorstellung von 'Pflegehilfen aus Osteuropa in deutsche Altersheime' auf eine ohnehin bereits bestehende Praxis. Im Vorfeld der Verordnung fand eine Reihe von Razzien in hessischen Haushalten statt und 200 'illegale polnische Haushaltshilfen' wurden abgeschoben. Ein Skandal! Sie waren alle von »Der Polin«, einer pensionierten Altenpflegerin aus Chrzastowice, vermittelt worden. Während die Ärzte und Sozialstationen in Hessen zuvor systematisch Kooperationsbeziehungen zu ihr aufgebaut hatten, galt sie nun der Frankfurter Staatsanwaltschaft als »Kopf einer Schleuserbande«.

Doch jede neue Regel, jede neue juristische Kodifizierung ruft auch neue autonome Taktiken hervor, diese individuell und kollektiv zu umgehen. Diese inoffizielle und sicherlich »irreguläre« Migration hat die Bedingungen verändert unter denen sie stattfindet. Ebenso ändern sich die Bedingungen, unter denen ArbeitsmigrantInnen in Deutschland leben und arbeiten. Die wachsende Zahl der MigrantInnen ohne Papiere deutet darauf hin, dass es keine kohärente staatliche Regulierung der Migration gibt: Die Greencard- Einwanderung, die »Riester-Verordnung« und das zwischenzeitlich gescheiterte Gesetzesvorhaben der Bundesregierung zur Zuwanderung, stellen den Versuch einer Neuzusammensetzung der Ressource Arbeitskraft dar, in der rassistische Diskriminierung auf immer neue Weise moduliert wird.

Lebens- und Einkommensverhältnisse unterliegen einer zunehmenden Prekarisierung in Almanya. Die Derregulierung arbeits- und sozialpolitischer Errungenschaften konnte bislang verhindert werden. Eine flächendeckende Durchsetzung eines Niedriglohnsektors scheitert noch immer am Widerstand der Gewerkschaften. Ein Lohnniveau unter der Sozialhilfe konnte bisher nur da durchgesetzt werden, wo ein Anspruch auf Sozialleistungen nicht besteht: bei den Beschäftigten ohne gültige Aufenthalts- und Arbeitspapiere. Kann grundsätzlich in allen Bereichen ein Angriff auf das Lohnniveau festgestellt werden, so ist er hier am signifikantesten.

Illegale Beschäftigung findet vor allem in kleinen Betrieben, auf dem Bau und in der Landwirtschaft statt. Wir arbeiten in der sogenannten Sexindustrie, in Gaststätten und im Hotel-, Reinigungs- und Sicherheitsunternehmen. Der Abbau industrieller Arbeitsplätze hat einem Anwachsen des Dienstleistungssektors Platz gemacht, der zunehmend Bedarf an billigen Arbeitskräften anmeldet: Statt produziert wird bedient. Unter der Hand wird illegale Beschäftigung und die damit verbundene Migration nicht nur stillschweigend 'geduldet', sondern sie erscheint auch geeignet den "Reformstau", wie es im neoliberalen VerschlankungsTalk heisst, zu umfahren. Ganze Bereiche in Bau, Landwirtschaft und Dienstleistung würden zusammenbrechen, wenn die illegale billige Arbeitskraft für 2euro50 die Stunde wegfällt. In diesem Sinne bildet der Status der Illegalisierten das Utopia einer derregulierten neoliberalen Gesellschaft. Die Ware Arbeitskraft unterliegt dann keiner störenden kollektiven Verbindlichkeit mehr. Die Entrechtung in der Migration ist die extremste Ausformung einer Tendenz zur Prekarisierung und Flexibilisierung, deren Wellen immer weitere Teile der Lohnabhängigen erfassen. Aber wie immer gibt es zwei Seiten der einen Medaille: Die zweite ist, dass wir auch hier Rechte haben. Auch ohne Papiere gilt: wer im Haushalt arbeitet, kann von den ArbeitgeberInnen gegen Unfälle versichert werden. Wer um seinen Lohn beschissen wird, kann vor jedem Arbeitsgericht klagen. Realistisch und sicher ist das allerdings erst dann, wenn die Gewerkschaften statt Razzien unsere Kämpfe unterstützen.

Entspricht dem "Bedarf" an billiger Dienstleistungsarbeit gegenwärtig kein staatliches Anwerbesystem, so wurde mit der »Riester-Verordnung« erstmals politisch offiziell zur Kenntnis genommen, dass das »Bodenpersonal« im Globalisierungsstandort Deutschland faktisch massenhaft die Schengener Grenzen überschreitet und sich unentbehrliche Arbeit besorgt.

Der Status der Papierlosigkeit betrifft strukturell alle hier lebenden Menschen ohne deutschen Pass. Und diesen Punkt sollten wir zu unserer Stärke erklären! Die meisten der sog. illegalen MigrantInnen kommen nämlich nicht rechtlos in dieses Land, sondern werden durch die Maschinerie des Migrationsregimes entrechtet. Den Zustand keine Papiere zu haben kennt hierzulande jede kanakische Familie, jeder Student, jeder Saisonarbeiter, jede Aupair, jede Greencardexpertin. Illegalisierung ist ein Prozess: du wirst vorzeitig geschieden von deinem deutschen Ehepartner, du verlierst deinen Aufenthaltsstatus nach Inanspruchnahme sozialer Leistung, oder durch Vorstrafen, durch Verletzung der Residenzpflicht oder anderer im Ausländerrecht festgeschriebener rassistischer Sondergesetze. Illegalisierung bedeutet, dass es in dieser Stadt und im ganzen Land ein Ausländerrecht gibt das uns den Zugang zu sozialen und politischen Rechten verwehrt, auf der Strasse, bei der Ticketkontrolle in der U-bahn, am Arbeitsplatz, in den Behörden, an der Wahlurne. Statt defensiv auf jede Gesetzesverschiebung zu reagieren, müssen wir endlich offensiv für kollektive Rechte kämpfen. Wir stützen uns auf das Wissen um Wege, Praktiken und Netzwerke, die nicht nur einen anderen Einreiseweg als den jeweils als legal gekennzeichneten kennen, sondern auch in der Lage sind, Jobsuche, Schulbesuch, medizinische Versorgung und Wohnungssuche zu ermöglichen. Klar ist, dass eine Offensive für ein Recht auf Legalisierung ihr grösstes Potential in dem Moment erreicht, in welchem die Untertitel lauten: No Integration! Denn die Rede von Integration steht für Anforderungen, die an MigrantInnen gerichtet werden und nur einzelne Privilegien versprechen, wo es eigentlich um allgemeine Rechte gehen müsste.

Deshalb kann der Kampf für ein Recht auf Legalisierung keine Einpunktkampagne mit Stichtagsregelung für Sans Papiers sein, sondern setzt an den Lebensverhältnissen an, in denen MigrantInnen ohnehin schon für individuelle oder kollektive Rechte kämpfen und sie sich nehmen: Für das Bleiberecht, für free movement oder bessere Löhne, für das Wahlrecht, gegen Abschiebung, für Greencards für SexarbeiterInnen, für Selbstverteidigung oder gegen die Ausbeutung innerhalb und außerhalb der Communities.

Generalstreik des Bodenpersonals!!

kanak attak

Speaking of Autonomy of Migration... Racism and Struggles of Migration

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No one right in his or her mind would argue that migration takes place in a realm of peace and freedom. No one imagines a migrant calculating the degree of utilization on the global labour market in the morning, deciding on a country of immigration in the afternoon and enjoying the fruits of mobility ever since. That's how racist and fascists would like to see it when they call us the parasites of the European welfare system. The opposite is true: The process of privileging certain migrants goes together with the exclusion of others. Whether they appear as Acts and policy statements or through checks in pedestrian precincts, in train stations and on the streets, they all steal time and space from the people. To say nothing of the attacks on life and limb, that are an increasingly everyday reality everywhere in Europe. This is not only the business of jungle law on the streets, but also one of state asylum and deportation centres. Recently it has been critized that the concept of Autonomy of migration ignores this misery and the conditions of migration. Is this true? Can we not critise racist, postcolonial and capitalist structures when we talk about Autonomy of Migration? How can we fight those who white wash and tell us that racism has watered down in modern societies? What role does racism play in Europe today?

Throughout Europe, for quite some time, the current configuration of European racism is an anti-immigrant racism. Of course, we find different aspects and traditions in European states. But they ground - more or less - on two ideological schemes: the colonial and the antisemitic. This anti-immigrant-racism, also known as Neo-Racism, is far more flexible than the traditional racism that grounds on absolute categories of race and segregation. Through Neo-Racism ethnic groups are being gradually differentiated and hierarchised in everyday life practices and discourses. Far from working purely on culturalist grounds it shifts between biological and cultural patterns of explanation, ascriptions and stigmatisations. Superiority and inferiority, inclusion and exclusion are being aligned on cultural norms and then biologically essentialised - and vice versa. In this sense any configuration of racism in history is a projective conception that attempts to explain social differences, social hierachies and domination. These 'explanations' are inscribed in everyday life practices or in state regulations of populations.

In the case of anti-islamism the colonial and the antisemitic scheme join perfectly: here notions of racist superiority flash in with cultural and relgious rivalry. Of course, Anti-Islamism is not a new phenomenon. For quite some decades, even centuries, it has its base in Europe. Cultural ascriptions are central here as they are aiming at the immediate visibilisation of racist defined differences. Since 9/11 the veil has become the visible sign of talk about immigration, of talk about terrorism and when they fuse one with the other. One might add that whilst Islam historically was Europe's outside enemy, jews represented the inner. In both cases the conjunction of religion and citizenship helped drawing the line between inclusion and exclusion.

But racism doesn't exist without its counterpart, the struggles against it. This is not to downplay the dreadful impacts of racism, but to understand both the way racism changes throughout history and the way it constitutes the subjects of the struggles against racism.

Migrants and their descendants always resisted discrimination and disfranchisement. They still do. Whether it was the struggles of housing and labour in the 1960ies and 70ies in Britain, Germany and France or struggles for payment for "sans papiers", against deportation and for Legalization from the 1990ies until today. Often, new forms of oppression against migrants can be seen as reactions to these struggles, like the administrative regulations in the 1970ies in Germany that would ban migrants from moving to certain neighbourhoods, just because these neighbourhoods were considered to be uncontrollable due to their big migrant communities. When after the end of guest-worker-recruitment in the 1970ies legal entry to Europe seemed impossible, migrants organized it nonetheless through marriage and family reunion. Migrants fake their papers, states invent new alleged fraud-resistance documents and so on. These struggles imply a certain concept of autonomy, although not in the traditional, emphatic sense. Autonomy of migration is not supposed to mean sovereignty of migrants, but rather that migrants are not simply objects of state control - that migrants defy controls and resist racist discrimination. Autonomy of migration represents the rather complicated fact that struggles of migration constitute a specific level of the political.

Autonomy is thus not a tale about the new revolutionary subject called migrants, but tries to handle the contradictions related to racism and migration. By doing so we can perhaps create a third option beyond universalism and difference. Let us exemplify. One of the problems we face when fighting against racism are our own communities and identity politics. After the (re)unification of the two Germanies in 1990, the uprise of nationalism and racist attacks - hundreds of migrants or their offspring were killed, even more were injured - led to a trauma within the migrant communities. The attacks also provoked nationalist attitudes within these communities. More recently, the effects of Anti-Islamism on our communities and struggles can not be brushed aside. To cut a long story short: How to deal with veils or e.g. turkish flags, if they are part of a struggle against discrimination? In our struggles against racism we have to aim the criticism at both sides: at the racist regime of those in power and at the ethnic identity policy of those ruled over. Since racism and ethnicising have always had the function of supporting an authoritarian, homogenising formation of collectives. Would it not be possible to find a link between the autonomous tactics and struggles we have listed and an extended social, individual and collective Autonomy in this perspective of double criticism?

This can not be an abstract critic from behind a desk as to how people may or may not conduct their lives. The identity policy of those ruled over always is a strategy of self-authorisation under the conditions of a misery stratified in consequence of racism. When we refer to migrant communities, we are well aware that they provide migrants with protection under the conditions of the racist regime, and that this improves their conditions of survival. This aspect is often withheld, but it is very important. However, it does not mean that everything should remain as it is in these communities.

By autonomous tactics we understand something which takes place in everyday life anyway. The tactics can never be fully reduced to identity politics. Rather they have materiality in the concrete political and social living conditions. The shaping of identity and its fetters can only be set aside if internal aspects in the reproduction of living conditions are altered. That's why we plead in favour of practical criticism which uses what is already inherent in the present practices and articulates this use politically and in favour of a better life.

When we talk of the Autonomy of Migration we point to the transgression of borders and a life on the base and by means of networks of migration. Just as racism can not be fought directly, we can only gain autonomy by fighting for changes in our everyday lives and against the patronising and killing at or between the borders. Be it the combat for payment of illegalized workers on a construction site in Berlin and Hamburg, be it the campaigning against racist and anti-islamic laws in Paris, be it the disappearance of a whole handball team in the south of Germany, be it the struggle for better housing conditions in Trieste, be it the support for health care of illegalised migrants in Barcelona and Tel Aviv, be it the contesting of disenfranchisment and detention camps in Ljubljana, be it the fight for insurance of houseworkers in London, be it the squatting of churches or embassies for papers in Brussels and Paris. Thus for the Autonomy of Migration an understanding of historical and current Struggles of Migration is inevitable.

Das Rätsel der Ankunft.

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Von Lagern und Gespenstern Arbeit und Migration Manuela Bojad•ijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos Mehr als drei Jahre nach der Veröffentlichung von Empire in den USA wollen wir bestimmte Fragestellungen in bezug auf Migration und Arbeit diskutieren, auch wenn dieses Thema in der Rezeption von Empire nicht gerade eine prominente Stellung eingenommen hat. Kaum eine der vielfach polemischen Entgegnungen auf die jüngsten Arbeiten von Michael Hardt und Antonio Negri scheint ohne einen schon als standardisiert zu bezeichnenden Bezug auf die Arbeiten von Gior- gio Agamben auszukommen, die mittlerweile fast den Status eines Gegen-Empire einnehmen. Auffällig ist die zentrale Stellung der Figur der Migration in den an diesem Punkt widerstrebig sich fügenden Konzeptionen von Hardt/Negri und Agamben. Agamben spricht metonymisch von Migration. Er denkt sie – indem er sie in den Modi der Einschließung in Lagern fasst – als die historische Materialisierung einer Matrix der Souveränität über Leben und Tod. Dagegen geistert in Empire die Parabel des »Gespensts der Migration« herum, als eine verräumlichte Mächtig- keit der permanenten Freisetzung von Mobilität. Beide Figuren verdanken ihre zentrale Stellung der unübersehbaren Brisanz der gegenwärtigen transnationalen Migration, sind aber gleichzeitig analytisch unterbestimmt. Man kann sogar vor- wegnehmend behaupten, dass die Zentralität der Migration in den Büchern Homo sacer und Empire paradoxerweise derartig evident ist, dass das Schweigen in der Rezeption geradewegs bizarr erscheint. Ein komplementäres Symptom dieser Rezeption lässt sich in der Debatte um immaterielle Arbeit und Biopolitik und das Ausbleiben der damit verbundenen analytischen Konsequenzen für den Komplex Migration und Arbeit entdecken. Auf diesen Punkt, kommen wir in einem zweiten Schritt zurück. Giorgio Agamben vs. Negri/Hardt als Pole einer gegenstrebigen Fügung: Das Gespenst im Lager und der Ausnahmezustand der Migration Giorgio Agamben untersucht das Verhältnis von Souveränität, Ausnahmezustand und Lager, um die Bedeutung des Lagers innerhalb einer veränderten politischen Ordnung zu reflektieren. Sein Interesse gilt der Analyse des Politischen vor dem gegenwärtigen Hintergrund der Krise seiner Repräsentation, d.h. genau diesem neuen politischen Raum, der sich öffnet, wenn das politische System des Natio- nalstaats in die Krise gerät. Er untersucht die sich darin verändernde Funktions- weise von Macht und versucht eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Kurswechsel 3/2003 40 Manuela Bojad•ijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos Souveränität und Territorium theoretisch zu buchstabieren. Die bisherige Struk- tur des Nationalstaats, die sich auf den funktionalen Zusammenhang von drei Ele- menten – der Rechtsordnung des Staats, dem entsprechenden Territorium und der Zugehörigkeit der Staatsbürger zur jeweiligen Nation – gründet, befindet sich Agamben zufolge in Auflösung. Er entwickelt aus der Untersuchung dieses Pro- zesses ein Modell von Macht, das sowohl das juridisch-institutionelle, also die Konzeption von Souveränität und Staat, als auch das biopolitische Machtmodell, die Disziplinierung der Körper, zu vereinen sucht. Sowohl gegen seine Konzeption von Biomacht als auch die der Souveränität sind erhebliche Einwände erhoben worden.1 Das hat weitgehende Konsequenzen für die Plausibilität des von Agamben als zentral und konstitutiv apostrophierten Zusammenhangs zwischen dem Ausnahmezustand als rechtlicher Kategorie und dem Lager als dessen räumlicher Konkretisierung. Die Definition von Souveräni- tät als der Macht »über den Ausnahmezustand zu entscheiden«, ist zu einem Ge- meinplatz geworden. Der Ausnahmezustand als abstrakt rechtliche Dimension bedarf indessen eines Ortes, an dem er konkret wird: Bei Agamben ist es das Lager. Im Lager enthält der Ausnahmezustand, der im Wesentlichen eine zeitweilige Aufhe- bung der Ordnung war, eine permanente räumliche Verortung. Lager sind Aus- nahmebereiche innerhalb eines Territoriums, die sich außerhalb des Geltungsbe- reiches des Gesetzes befinden. Das Lager ist darüber hinaus der Ort, an dem die biopolitische Dimension der souveränen Macht produktiv wird. Hier greift sie auf internierte Subjekte zu. In dem sie ihnen – wie beispielweise im Flüchtlings- und Gefangenenlager – jeglichen rechtlichen oder politischen Status verweigert, redu- ziert sie diese auf ihre physische Existenz. Indem Agamben darlegt, dass dieser zeitweilige oder territorial begrenzte Ausnahmezustand zur neuen Norm wird, beschreibt er jedoch das Lager als einen Ort, an dem aus der dortigen Rechtlosig- keit heraus neues Recht geschaffen wird. Es ist eine Art Katalysator, der die Auf- hebung der Ordnung in eine neue permanente räumliche und rechtliche Ord- nung überführt. Die Aussetzung der Ordnung verwandelt sich von einer provisorischen Maßnahme in eine permanente Technik des Regierens. Der Aus- nahmezustand, der sich in den verschiedenen Formen der Exterritorialität manife- stiert, wird zum neuen Regulator des politischen Systems. Mezzadra kritisiert, dass Arbeit in Agambens Konzeption keine Rolle spielt, und bestimmt die Figur des gegenwärtigen Lagers als einer Art Unterdruckkammer, deren Funktion darin besteht, den Druck, der auf den Arbeitsmarkt wirkt, sektoral, lokal und exterritorial zu zerstreuen: »Diese Orte sind das andere Gesicht der neuen Flexibilität des Kapitalismus, sie sind Orte staatlicher Unterdrückung und eine allgemeine Metapher der despotischen Kontrolle über die Mobilität der Arbeits- kraft. (...) Wenn, wie oft hervorgehoben wurde, der globalisierte Kapitalismus neue Formen der Flexibilität entstehen lässt, dann zeigen die Bewegungen der Migran- tInnen ein subjektives Gesicht dieser Flexibilität. Zugleich werden die Migrations- bewegungen vom globalisierten Kapitalismus ausgebeutet, und Internierungszentren sind in diesem Ausbeutungssystem unverzichtbar. (...)« (Mezzadra 2003, 2). Hardt und Negri wenden ein, dass Agamben die Figur des Lagers überbewertet und das Gespenst überhört, das in seinen homozentrischen Labyrinthen umgeht, »um die negative Grenze der Menschheit aufzuzeigen und die (mehr oder weni- ger heroischen) Bedingungen menschlicher Passivität hinter den politischen Ab- Kurswechsel 3/2003 Das Rätsel der Ankunft. Von Lagern und Gespenstern 41 gründen, in die uns der moderne Totalitarismus gestürzt hat, deutlich zu machen« (Hardt/Negri 2002, 373). Die »positive Grenze« der Menschheit, so könnte man dagegen argumentieren, konstituiert sich »an den Oberflächen der imperialen Ge- sellschaft« als soziale Kooperation. Dies sind die »produktiven Manifestationen des nackten Lebens.« (Hardt/Negri 2002, 373) Von einer biopolitischen Spaltung in Zonen des Lebens und des Todes zu sprechen, zwischen denen eine sich sukzessiv ausdehnende Demarkationslinie bestehe, bedeutet nicht nur die totalitäre Seite der Globalisierung zu überbetonen. Globalisierung ist vielmehr, so Hardt/Negri, als Passage zu verstehen. Damit ist kein »Übergang zu etwas« gemeint, sondern selbst eine Produktionsweise bzw. die Gleichzeitigkeit verschiedener Produkti- onsweisen, in der die Bedingungen sowohl der Stabilität als auch der Fragilität der Gegenwart, identisch sind. Darin kommt der Figur der Biomacht paradigmatische Bedeutung zu. Sie bezeichnet den gegenwärtigen Funktionswandel der Bevölke- rungspolitik hin zur Biopolitik. In ihr kommt es darauf an, die Produktion und Reproduktion des Lebens selbst zu kontrollieren. Die staatlichen Maßnahmen zur Regulierung der Bevölkerung und der Widerstand dagegen operieren auf dem gleichen biopolitischen Feld: »Während der gesamten Geschichte der Moderne haben die Mobilität und die Migration der Arbeitskräfte die Disziplinierungen, denen die Arbeiter unterworfen waren, gesprengt.« (ebd., 224) Exemplarisch hierfür sind die Prozesse der Illegalisierung von MigrantInnen oder die Abschiebepraxis gegenüber Flüchtlingen. Das ist der Kontext, in dem der entscheidende Satz auf- taucht: »Ein Gespenst geht um in der Welt, und sein Name ist Migration.« (ebd., 225) Nimmt man den Satz in seiner buchstäblichen Form, katapultiert man sich in den gewaltigen Assoziationsraum des Kommunistischen Manifests, womit eine Rei- he kritischer Einwände und Abgrenzungsgesten von KritikerInnen in der Gegen- Empiredebatte reflexartig berechtigt erscheinen. Es scheint der Ort zu sein, wo die Unterbestimmung der Migration in der Empirerezeption ihren Ausgang fin- det. Die ironische Ambivalenz der Anrufung relativiert sich, wenn man daran erinnert, in welchem Kapitel sie auftaucht. Das Kapitel trägt nicht zufällig den Titel »Intermezzo: Gegen-Empire«. Es ist genau zwischen dem zweiten Teil »Pas- sagen der Souveränität« und dem dritten: »Passagen der Produktion« platziert, als Bindeglied zum Verständnis der biopolitischen Produktion. Im »Intermezzo« ge- stehen die Autoren zweierlei: dass sie erstens bis zu diesem Argumentationsstadi- um nicht in der Lage waren »schlüssig aufzuzeigen, welcherart politische Subjek- tivitäten die Mächte des Empire herausfordern und überwinden könnten, denn diese Subjektivitäten werden nur im Bereich der Produktion zu finden sein.«(ebd., 215) Zweitens, dass die Figuren in denen sie die Modi des Widerstands denken, Figuren der Mobilität sind: Nomadismus, Desertion, Exodus. Derartig rekontex- tualisiert gelesen, erscheint der Satz nichts anderes als eine emphatische Paraphra- sierung der Arbeiten zur »Autonomie der Migration« von Yann Moulier Boutang. In seiner Studie De l’esclavage au salariat (1998) hat er darauf hingewiesen, dass Formen der unfreien und versklavten Arbeit historisch eine wesentliche Rolle für die Kapitalakkumulation gespielt haben und immer noch spielen. Weit davon ent- fernt, Überbleibsel oder vorübergehende Erscheinungen zu sein, die die Moderne hinwegfegen wird, waren und sind diese Arbeitsregimes für die kapitalistische Entwicklung konstitutiv. Sie resultieren aus der Notwendigkeit, die Mobilität der Arbeitskraft zu kontrollieren, einzuschränken und zu lokalisieren. Kurswechsel 3/2003 42 Manuela Bojad•ijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos Arbeitsteilung und Zusammensetzung der Arbeiterklasse Das Konzept der Biopolitik im Verständnis von Negri und Hardt, welches sie unter anderem in einer Kritik an der Biomachtkonzeption von Foucault entwik- kelt haben (vgl. Hardt 2003, 221), ist selbst historisch durch die Kritik der Arbeits- teilung entstanden bzw. überhaupt möglich geworden. An dieser Stelle liegt ein genealogischer Ausflug in die Geschichte der Kämpfe nahe, innerhalb derer aus den operaistischen Positionen schließlich die biopolitische Wende erwuchs. Der Operaismus hat ein Modell der Klassenzusammensetzung entwickelt, mit dem Fragen der Spaltung bzw. Einheit der Arbeiterklasse neu diskutierbar ge- macht werden konnten. Dieser Ansatz erscheint uns bedeutend für den Zusam- menhang zwischen Migration und Arbeit, denn er stellt Analyseinstrumente be- reit, mit denen der Modus der politischen Überdeterminierung der ökonomischen Prozesse der Arbeitskraftallokation besser verstanden werden können. Mehr als das: Die damit eingenommene Perspektive ermöglicht es, die Frage nach der Migra- tion jenseits neoklassischer oder humanistischer Begriffe als eine politische zu greifen. Es ist mehr als augenfällig, dass die Migration unter Bedingungen stattfindet, die sie und damit die MigrantInnen als eine besondere, partikulare Erscheinung konstituieren. Nicht umsonst gibt es in Deutschland wohl keine Gruppe, die mehr erforscht worden wäre, als die MigrantInnen, weil das Migrationsregime Bedin- gungen schuf, die sie als soziales Problem konstituierten. Das ist die Materialität, innerhalb derer sich der moderne Rassismus in Europa als ein Rassismus gegen MigrantInnen formiert. Operaismus Unter dem Namen des Operaismus griffen Anfang der sechziger Jahre in Italien einige dissidente Intellektuelle die kommunistische Partei und deren Glauben an eine teleologische Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse an. Es war eine Verweigerung gegenüber der orthodox-marxistischen Gewohnheit, aus der Ana- lyse der kapitalistischen Entwicklung die Entwicklung der Arbeiterklasse abzulei- ten (vgl. Tronti 1974, Balestrini/Moroni 1994, Alquati 1974). Der offizielle Mar- xismus habe die Theorie des Klassenkampfs in ökonomische Wissenschaft verwandelt und das Proletariat auf einen Ausführenden seiner ökonomischen Funk- tion reduziert. Dagegen stellten sie das Konzept der militanten Arbeiteruntersu- chung. Eines der Resultate dieser Untersuchungen, das vor allem für die später entstehende Bewegung der Autonomie wichtig werden würde, war die Beobach- tung neuer Verhaltensweisen und Kämpfe, in denen sich ein neuer Typus von Arbeiter ausdrückte: der Massenarbeiter. Vor allem jedoch waren es die in den Untersuchungen entdeckten Kampfformen, die gegen die traditionellen Organi- sationen der Arbeiterklasse verliefen und zu deren politischer Vereinheitlichung und Neuzusammensetzung beitrugen und die eine neue politische Perspektive eröffneten. Statt Forderungen nach mehr Lohn zu erheben, versuchten die Arbei- ter, sich dem Diktat der tayloristischen Arbeitsteilung zu entziehen, in dem sie krank feierten, während der Arbeitszeit dem Arbeitsplatz fernblieben oder die Pro- duktion sabotierten. Die Automatisierung der Produktion interpretierten Autoren wie Antonio Negri, Ranziero Panzieri und Mario Tronti dementsprechend als Kurswechsel 3/2003 Das Rätsel der Ankunft. Von Lagern und Gespenstern 43 eine politisch-ökonomische Reaktion der kapitalistischen Unternehmen: Anstatt der unkontrollierbaren und teuren Arbeitskraft sollten zunehmend Maschinen die Produktion bewältigen. Aus den Praktiken des Absentismus und der Sabotage entwickelte die Autono- miebewegung das Konzept des Exodus. Tatsächlich richteten sie die Kritik auch gegen das Leben, das mit diesem »Normalarbeitsverhältnis« verknüpft war: Man rebellierte, vor allem nach 1968, gegen die Einsperrung in die Fabrik, gegen die Spaltungen von Arbeitszeit und Lebenszeit, von Arbeiten und Wohnen, gegen ein lebenslanges Arbeiten von Neun bis Fünf. Gruppen wie Potere Operaio und Lotta Continua entwickelten das Modell des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters. Demnach waren alle Menschen, ob sie nun direkt am Fliessband standen oder nicht, an der Wertschöpfung beteiligt, und sollten dementsprechend entlohnt werden. Die Ausweitung des Arbeitsbegriffs kann auch an der feministischen Kritik an der Beschränkung der politischen Arbeit auf den männlichen Lohnarbeiter nach- gezeichnet werden. Als sich Potere Operaia 1972 auflöste, hatten die Frauen die- ser Gruppe schon lange beschlossen, die Organisation zu verlassen um Lotta Fem- minista zu gründen. (Vgl. Dalla Costa 1973) Diese Organisation initiierte Anfang der siebziger Jahre in Italien eine Kampagne für einen »Lohn für Hausarbeit«. Die Forderung basierte auf der Überlegung, dass Hausarbeit Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ist, der nicht nur Gebrauchswerte produziert, wie die traditionelle Linke behauptete. Damit wurde auch die Trennung in produktive und unpro- duktive Arbeit obsolet – im Gegenteil: Es wurde klar, dass es – häufig feminisierte – Formen von Arbeit gab, wie etwa Hausarbeit, affektive Arbeit oder Pflege, die Gesellschaft selbst produzierten. (Dalla Costa 1973, Hardt/Negri 1997) Umstritten war, ob es tatsächlich darum gehen sollte, auf der realpolitischen, parlamentarischen Ebene einen solchen »Lohn« durchzusetzen oder ob nicht viel- mehr die organisierende Wirkung der Forderung ausschlaggebend war. Die Kam- pagne führte 1974 zu einer ersten größeren Mobilisierung der Frauenbewegung. Als sich Lotta Femminista im gleichen Jahr auflöste, wurde die Kampagne zwar von einem Komitee weitergeführt, verlor durch ihre Beschränkung auf die buch- stäbliche Forderung nach einem Lohn aber ihren organisierenden Charakter. (Pa- nagiotidis 2003) Worauf es uns hier ankommt, ist aber der Moment des Exodus und seine Kopp- lung an eine konkrete politische Kampfform, der eine Ausweitung der Kämpfe zum Effekt haben sollte. Die Forderung nach einem Lohn für Hausarbeit hat die These von der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, der affektiven, immateriellen Ar- beit als dem neuen Zentrum der Wertschöpfung erst ermöglicht, indem sie sie in einen Zusammenhang mit der Reproduktion der Arbeitskraft stellte. In der Folge entstand eine Bewegung, in der immer mehr gesellschaftliche Gruppen sich in einen Kampf einschrieben, in dem die Zentralität der Fabrik für die Entwicklung politischer Begriffe in Frage gestellt wurde. Die Vorstellung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit fasste alle möglichen Tätigkeiten als Arbeit und begann auch den Alltag für die politische Organisierung zum Thema zu machen. Die Erfindung gesellschaftlicher Bedürfnisse ging, so die These, von der Menge und nicht von den Konzernchefs aus. Die Flucht aus der Fabrik stellte aber gleichzeitig einen weiteren Prozess der Kommodifizierung dar. Der Preis für den Exodus ohne ge- Kurswechsel 3/2003 44 Manuela Bojad•ijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos sellschaftliche Transformation war die Ausweitung der Fabrik auf die Gesellschaft, wie Hardt und Negri es nennen (Hardt/Negri 1997, 14). KritikerInnen der Forderung nach Lohn für Hausarbeit sahen in ihr vor allem eine Zementierung der bestehenden, sexistischen Arbeitsteilung, die Frauen an den heimischen Herd binden würde, anstatt ihre Gleichstellung zu befördern. Tatsächlich aber ist die Forderung zunächst selbst eine Kritik dieser Arbeitstei- lung, die versucht, über die Beschränktheiten einer Gleichberechtigungsstrategie hinauszugehen. Sie reflektiert die geschlechtliche Arbeitsteilung als Resultat der Fabrikarbeit und will auch diese angreifen. Sie analysiert im Unterschied zu einer Tradition innerhalb des Marxismus die Arbeitsteilung demnach nicht in Termini einer ewigen Geschichte der Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit und die geschlechtliche als eine ihrer Emanationen. Schon bei Marx wurde die Frage der Arbeitsteilung tendenziell auf die Tren- nung von Hand- und Kopfarbeit bzw. auf die Trennung von Arbeit und Kom- mando reduziert: »Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt.« (MEW 3, 31) Vor allem die marxistische Tradition reduzierte die Frage der Ar- beitsteilung auf die Trennung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, die tendenziell mit der zwischen Kapitalisten und Arbeitern in eins fällt. Alle anderen Arbeitstei- lungen werden in den Kategorien dieser grundlegenden gedacht und geordnet, so eben auch die geschlechtliche Arbeitsteilung. Alle Formen der Klassenfragmentie- rung und Kämpfe innerhalb der Arbeiterklasse bleiben so unterbestimmt2 , weil das Konzept der linearen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ver- knüpft war mit der These von polarisierenden und zugleich homogenisierenden Effekten auf die Klassenstrukturen. Mit dem operaistischen Konzept der »Klassenzusammensetzung« wurde es aber möglich, die Frage der Fragmentierung der Arbeiterklasse unter Gesichtspunkten der Migration und der Geschlechterverhältnisse für eine emanzipatorische Politik fruchtbar zu machen. Anstatt die horizontale Arbeitsteilung zu einer technischen Angelegenheit zu erklären, kann die »technische Zusammensetzung des Kapitals« als Verfestigung eines Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen interpretiert wer- den. Innerhalb der Arbeiterklasse existieren demnach nicht nur verschiedene Frak- tionen, sondern sie erfährt eine ständige politische Neuzusammensetzung, auf die das Kapital mit einer kontinuierlichen Umstrukturierung des Arbeitsprozesses rea- giert. Die beständige Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse bezeichnen die OperaistInnen als den Zirkulationsprozess der Kämpfe. Dieses Konzept bietet in unserem Verständnis einen geeigneten Ansatzpunkt, Fragen der Arbeitsteilung und damit der Produktionsverhältnisse auf eine Weise zu thematisieren, die weder herrschaftstheoretisch alles auf eine Binarität zwischen Kommando und Nicht- Kommando reduziert, noch eine optimistisch arbeitssoziologische Deskription der Transformationsprozesse im tertiären Sektor darstellt. Worauf es ankommt ist statt- dessen, eine theoretische Ebene einzuführen, die weder auf einer technizistischen oder evolutionistischen Konzeption der Arbeitsteilung basiert, noch Arbeitstei- lung als etwas fasst, das einfach sozial konstruiert ist. Die Arbeitsteilung ist nicht konstruktivistisch zu fassen, sondern eher wie Ideologie im Sinne Althussers zu verstehen: Sie ist immer schon da. Daraus folgt, dass es auf die jeweilige Anord- nung ihrer internen Elemente und deren Grenzen ankommt, darauf, welche Ar- Kurswechsel 3/2003 Das Rätsel der Ankunft. Von Lagern und Gespenstern 45 beiten (und Nicht-Arbeiten bzw. Arbeitsteilungen) welche gesellschaftlichen Dy- namiken evozieren und politische Repräsentationstypen zu artikulieren in der Lage sind. Mit der biopolitischen Perspektive, wie sie u.a. von Hardt und Negri einge- nommen wird, verändert sich der analytische Stellenwert der Arbeitsteilung. Zwar scheinen Hardt und Negri mit ihrem Insistieren auf den Terminus des Komman- dos letztlich eher eine ontologische als eine klassisch materialistische Analyse vor- zulegen. Aber es geht unseres Erachtens ohnehin nicht mehr um eine gleichsam technische Analyse der Arbeitsprozesse, aus denen man dann klassenanalytische Schlussfolgerungen für die Beschaffenheit des Staates ziehen kann. Politisch inter- essanter erscheint es uns, die Transformation der dominanten Elemente der inne- ren Anordnung der Arbeitsteilung zugunsten der affektiven Arbeit in den Blick zu nehmen und sie nicht in die Binarität der Teilung zwischen Hand- und Kopfar- beit zu stellen. Denn diese Binarität zentriert das Politische auf den Staat als die letztinstanzliche Materialisierung jener Arbeitsteilung. Will man die Reprodukti- on des Schemas Etatismus vs. Anti-Etatismus und die damit verbundenen Impli- kationen für die politische Praxis vermeiden3 , so unsere These, muss die Analyse die Perspektive einer a-staatlichen Politik einnehmen, deren Referent nicht mehr die Präsenz der Arbeiterklasse im Staat ist, sondern um neue Formen der politi- schen Repräsentation und Artikulation kreist, die man mit dem Begriff der Multi- tude nur antizipativ fassen kann. Dies hat aber auch Konsequenzen für das Kon- zept der Klassenzusammensetzung. Für unseren Gebrauch dieses Konzepts ist der Aspekt der Zirkulation der Kämpfe von Bedeutung, weniger dagegen die Vorstel- lung, diese Kämpfe seien auf einen dualistischen Titanenkampf zwischen Kapital und Arbeit zu reduzieren. Man muss vielmehr die Frage stellen, auf welchem Terrain die Kämpfe stattfinden, was ihre Formen sind und wie das Politische darin sich ereignet. Was bedeutet das für das Verständnis der gegenwärtigen Konstellation von Ar- beit und Migration? Ein Blick auf die soziologische Debatte um die »Unterschich- tung« von MigrantInnen auf der einen Seite und ihrer Rolle als »Reservearmee« auf der anderen Seite, kann dies deutlich machen. Anstatt die Frage nach der staatlichen (Des)Integration der migrantischen Arbeitskraft und der damit verbun- denen Frage, wie sie Teil des Staates im Sinne eines materiellen Kräfteverhältnis- ses ist, auf die Tagesordnung zu setzen, versuchen wir mit dem Begriff der Mobi- lität das Kampfterrain innerhalb der Trennungen der Arbeitsteilung sowohl auf globaler, regionaler und nationaler Ebene zu verorten. Damit wollen wir auch eine a-etatistische politische Artikulation des Verhältnisses von Staat, Produkti- onsverhältnissen und Arbeitskraft ermöglichen. Zwei, drei, viele Arbeitsmärkte Die Tatsache, dass die arbeitenden Klassen sich keineswegs zu einer einheitlichen und homogenen Masse entwickelt haben, ist spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts niemandem mehr entgangen. Auch ist aufgefallen, dass ein Teil dieser »Heterogenität« Gegenstand von Rassifizierungs- und Essentialisierungs- prozessen geworden ist, dass also mit anderen Worten der Rassismus eine nicht unbedeutende Rolle spielte für die Bedrohung dessen, was traditionelle Marxisten die Einheit der Arbeiterklasse genannt haben. Kurswechsel 3/2003 46 Manuela Bojad•ijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos Dies war der Problemhorizont, vor dem Stephen Castles den Versuch unter- nahm, in der »Unterschichtung« des Arbeitsmarkts durch MigrantInnen eine Stra- tegie der Herrschaft zu sehen. Seine Analyse des Gastarbeitersystems in der Bun- desrepublik Deutschland zeigt, dass die ArbeitsmigrantInnen vor allem in der Industrie eingesetzt wurden, und dass der Prozess der Anwerbung zugleich ein Prozess war, innerhalb dessen deutsche bzw. einheimische Arbeiter zunehmend in den tertiären Sektor gewechselt bzw. in der Betriebshierarchie aufgestiegen sind (vgl. Castles, 120). Beim sozioökonomischen Status, also der Stellung inner- halb des Betriebs verhält es sich ähnlich. So wurden ausländische Arbeiter weitaus häufiger im Schichtdienst eingesetzt als deutsche (ebd., 131), und Ausländer arbei- teten häufiger in automatisierten Betrieben. Die Spaltung der Arbeiterklasse durch die staatlich koordinierte Einführung einer disponiblen ausländischen »Reservear- mee« verlagert Castles zufolge den Klassenantagonismus auf die Ebene der »ethni- sierten« Fraktionen der Arbeiterklasse, wodurch die Ausbeutung sowie die staatli- che Diskriminierung, der diese unterliegen, weiter potenziert wird. Als in der bundesrepublikanischen Forschungslandschaft die Migrationssoziolo- gie entstand, befasste man sich unter dem Integrationsparadigma schnell mit den Problemen der sogenannten Unterschichtung der MigrantInnen auf dem deut- schen Arbeitsmarkt, erwuchsen daraus doch unter Umständen handfeste Probleme sozialer Exklusion, die als bedrohlich für den sozialen Frieden insgesamt angesehen wurden. Die MigrantInnen wurden als Problem entdeckt, um das man sich – bestenfalls sozialarbeiterisch, schlimmstenfalls ausländerpolizeilich – kümmern musste. In den achtziger Jahren importierte die westdeutsche Soziologie die Theorie der Arbeitsmarktsegmentation aus den USA, wo diese Ende der sechziger Jahre entwickelt worden war. Ausgangspunkt war dort die Beobachtung, dass Angehö- rige minorisierter Gruppen – Frauen, african americans, Jugendliche – überdurch- schnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Nach den Segmentations- theorien existiert kein allgemeiner Arbeitsmarkt, sondern nur besondere Arbeitsmärkte. (Sengenberger 1975, Blossfeld/Meyer 1988) Die These vom dua- len Arbeitsmarkt etwa spricht von einem primären und einem sekundären Ar- beitsmarkt, wobei der primäre die sicheren Arbeitsplätze mit Aufstiegsmöglich- keiten und hohen Löhnen stellt und im sekundären Arbeitsplätze mit schlechter Bezahlung, geringen Aufstiegschancen und instabilen Beschäftigungsverhältnissen angeboten werden. Michael J. Piore (1980), ein prominenter Vertreter dieses An- satzes, erklärt die besondere Position von MigrantInnen mit der Struktur der Produktionsweise. Durch Kündigungsschutz und andere Regelungen des Arbeits- rechts sowie Tarifverträge sind insbesondere die im primären Sektor arbeitenden einheimischen Arbeitskräfte aus der Sicht des Unternehmers tendenziell zu einem fixen Faktor geworden. Das heißt, die Unternehmen betrachten diese Arbeits- kräfte als nicht den ökonomischen Schwankungen anpassbare Faktoren der Pro- duktion. Sie müssen deshalb ständig eingesetzt werden und somit vor allem die Grundnachfrage in einem Absatzmarkt befriedigen. Alle saisonalen, konjunkturel- len Schwankungen müssen deshalb durch flexible Arbeitskräfte ausgeglichen wer- den. Die Frage ist aber, wer diese Arbeitskräfte sein können. Piore unterstellt, dass die MigrantInnen per se diesem Arbeitsmarkt entsprechen, weil sie Arbeit unter vor allem ökonomischen Gesichtspunkten betrachten, meistens eine Remigrati- onsperspektive einnehmen und daher bereit seien, jede Form der Arbeit anzuneh- Kurswechsel 3/2003 Das Rätsel der Ankunft. Von Lagern und Gespenstern 47 men. Die (west)deutsche Segmentationstheorie erweiterte das Modell auf drei Teilmärkte, übernahm jedoch im Wesentlichen die mit Piore stellvertretend dar- gestellte Herangehensweise. Während Piore immerhin einen systematischen Zu- sammenhang zwischen Produktionsweise und Arbeitsmarkt sah, verschwand die- se Fragestellung in der deskriptiven bundesdeutschen Soziologie weitgehend. Die MigrantInnen waren entweder schlechter qualifiziert, so die Erklärung, oder man rappelte sich zu Fragen möglicher »Diskriminierung am Arbeitsplatz« auf, wollte aber meist dafür keine ausschlaggebenden Hinweise finden. Reservearmee: dead men walking Die Theorie der Arbeitsmarktsegmentation war im strengen Sinne keine Theorie, sondern reflektierte nur die oberflächliche Beobachtung, die der forschungsanlei- tende Anlass gewesen war. MigrantInnen arbeiteten in den schlechter bezahlten Beschäftigungsverhältnissen. Sie konnte die Stellung der MigrantInnen im Pro- duktionsprozess nur unter Gesichtspunkten der Marktallokation fassen, politische bzw. juridische Aspekte spielten nahezu keine Rolle. Die Theorie der »Reserve- armee« wiederum hatte für die Stellung der MigrantInnen eine Erklärung, die diese auf eine abhängige Variable der Kapitalakkumulation reduzierte. Eine Auf- fassung, in der sich bis heute neoliberale ÖkonomInnen und ihre globalisierungs- kritischen GegnerInnen weitgehend einig sind. Das Kapital, so die Behauptung, brauche eben eine industrielle Reservearmee und ziehe daher unentwegt Arbeits- kräfte an, by any means necessary. Beide Ansätze beruhen auf einer statischen Fixierung der MigrantInnen und können die der Bewegung der Migration inhärente Dynamik nicht erfassen. Al- lerdings wurden sie historisch durch die Praxis der MigrantInnen dementiert, die sich den Versuchen der Regulierung und Formierung immer wieder erfolgreich zu entziehen suchten. Im fordistischen Regime der Migration, wie es sich in Deutschland im Gastarbeitersystem manifestierte, ging es um einen nationalistisch überdeterminierten Kompromiss, der sich in einer spezifischen Arbeitsteilung ar- tikulierte. Die MigrantInnen verrichteten tendenziell die mit Handarbeit verbun- denen Tätigkeiten, die einheimischen Arbeiter stiegen zu KopfarbeiterInnen auf. Genau dieser Wahrnehmungstopos jedoch war es, der den Linken in Deutsch- land, selbst der operaistisch gesinnten, den Blick auf die praktische Kritik dieses Konzeptes verstellte. Das »Unterschichtungs«-Paradigma konnte die Kämpfe der Migration, die wilden Streiks und die Revolten der MigrantInnen weder konzep- tionell fassen, noch in der Praxis ihre Überdeterminiertheit nutzbar machen. (Ka- rakayalý 2001, Bojadzijev 2003) Zwar sollte die Zerstreuung, die Tendenz zur Neuzusammensetzung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit durch die Ein- führung einer neuen Trennung innerhalb der Arbeitsteilung reguliert werden: die Temporalität der Arbeitsmigration. Der Modus der Aufrechterhaltung dieser Ar- beitsteilung durch Migration stellten die rechtlichen Statuten der Gastarbeit zur Verfügung, die sie zur disponiblen Reservearmee machen sollten. Der zentrale Modus bestand demnach in der Kontrolle der Mobilität, sei es durch das Rotati- onsverfahren, Visaregelungen oder das Ausländergesetz im Allgemeinen. Die Kon- trolle begrenzte also nicht nur die internationale und grenzüberschreitende, son- dern auch die sektorale Mobilität innerhalb der Produktionsapparate. (Karakayalý/ Kurswechsel 3/2003 48 Manuela Bojad•ijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos Tsianos 2002) Dieser Kombination entzogen sich jedoch die MigrantInnen, in- dem sie die temporäre Begrenzung der Migration, die die Bedingung für das Kon- zept der flexiblen Reservearmee war, unterliefen. So wurde in der Bundesrepu- blik Deutschland 1973 zwar ein allgemeiner Anwerbestopp für Gastarbeiter ausgerufen, die MigrantInnen aber haben in der Form der Familienzusammenfüh- rung die Migration weiter organisiert.4 Diese »Autonomie der Migration«, wie sie Yann Moulier Boutang nennt, »zeigt sich in ihrer Selbständigkeit gegenüber den politischen Maßnahmen, die darauf zielen, sie zu kontrollieren. Migration unter dem Gesichtspunkt ihrer Autonomie zu betrachten, bedeutet, die sozialen und subjektiven Dimensionen der Migrationsbewegungen zu betonen.« (Moulier Bou- tang 2002a) Die Betonung liegt dabei auf Bewegungen, weil diese Konzeption von der Materialität ihrer Konstitutionsbedingungen innerhalb des kapitalistischen Ar- beitsprozesses ausgeht, nicht aber ein Subjekt (Staat vs. MigrantInnen) unterstellt. Was aber heißt es, die Migration nicht als Anhängsel ökonomischer Prozesse zu begreifen, nicht als Spielball von Push- oder Pull-Effekten? Wenn das »Gespenst der Migration« (Hardt/Negri) als Exodus, eine Flucht aus den Zonen der Armut und des Elends betrachtet wird, dann ist eine historische Analogie zwingend. Die Flucht der Arbeiter aus den Fabriken, aus den Normalar- beitsverhältnissen und den patriarchalen Verhältnissen, die die Autonomiebewe- gung als eine Revolte gegen die Fabrikdisziplin und die an sie gekoppelten Le- bensweisen interpretiert hat, war eine Flucht aus dem sozialpartnerschaftlichen Kompromiss des Fordismus, der die Disziplin der Arbeit gegen ihre sozialstaatli- che, relative Absicherung erkaufte. Die Migration ist die Aufkündigung desselben korporatistischen Kompromisses in Gestalt der nationalstaatlichen Grenzen, in denen er sich materialisiert. Undocumented Migration – Migrants without documents Nimmt man die Perspektive der Arbeiteruntersuchung ein, nach der es keine objektiven Gesetzmäßigkeiten für die Entwicklung der Geschichte, des Staates oder der Ökonomie gibt, dann liegt es nahe, sie vielmehr, nach einer Formulie- rung aus dem Kommunistischen Manifest, als eine Geschichte der Kämpfe zu betrachten. Die Revolten der Bauern gegen ihre Enteignung im Spätmittelalter, die Kämpfe der Bettler und mobilen Arbeiter gegen die Vagabondagegesetze bis zur französischen Revolution und der Klassenkampf der Arbeiterbewegung haben sich eingeschrieben in die Geschichte der Herrschaft.5 Die permanente Rekonfi- guration und Weiterentwicklung staatlicher Unterwerfungspraktiken, der sich stets auf andere Weise neu herstellende Kompromiss mit den Subalternen, der Macht- block mit immer neuen Koalitionen – diese Bewegung erhält ihre Dynamik aus den Bewegungen gegen sie. Will man aber die Materialität dieser Bewegung, wie sie sich heute in der Migration artikuliert, verstehen, ist es nicht ausreichend, nur einen der beiden Pole des Migrationsregimes zu fassen. Die »Autonomie« der Migration, wie sie von Hardt und Negri betont wird, existiert offensichtlich nicht ohne Politiken der Kontrolle, deren Extremform des Lagers Agamben zum Para- digma erklärt hat. Das Verhältnis zwischen beiden, ihre Bewegungsform, kann man nur bestimmen, wenn man den modus operandi des Migrationsregimes in den Blick nimmt. Dieser kreist um die Frage der Arbeit. Kurswechsel 3/2003 Das Rätsel der Ankunft. Von Lagern und Gespenstern 49 Heute überqueren täglich hunderttausende MigrantInnen zu Fuß oder mit Li- nienflügen, mit dem Zug oder schwimmend die angebliche Festung Europa auf der Suche nach einem besseren Leben oder nur einem besseren Einkommen. Vie- le sind Pendler, die mit einem Touristenvisum einreisen und ebenso viele bleiben nach Ablauf des Visums in Europa. Millionen leben bereits hier und arbeiten un- ter widrigen, oft niederträchtigen Bedingungen in irregulären Beschäftigungsver- hältnissen. Was allerdings vor allem auffällt ist, dass neben der Arbeit von illegali- sierten MigrantInnen in der Landwirtschaft, die mittlerweile eine gewisse Aufmerksamkeit genießt (vgl. Neumann 2003, Bell 2003), auch in den südlichen Ländern Europas die MigrantInnen immer mehr im den immateriellen Sektoren arbeiten (Reyneri 2001, Psimenos 2001). Es handelt sich dabei um unsichere und oft schlechtbezahlte Beschäftigungsverhältnisse, mithin das untere Segment der personenbezogenen Dienstleistungen. Die Sans Papiers arbeiten in Hotels, im Haushalt, als SexarbeiterInnen und weniger in der klassischen industriellen Ferti- gung, wenn auch hier und da, wie vor kurzem in Frankfurt am Main, ein Sweat- shop in einer Schrebergartenanlage entdeckt wird, in dem MigrantInnen ohne Papiere Jeans und Hemden zusammennähen6 . Manche Jobs und damit ganze Be- schäftigungszweige existierten ohne sie heute überhaupt nicht. Aufgrund der recht- lichen Situation sind es aber meistens Tätigkeiten im informellen Sektor und mit Ausnahme von Segmenten der Prostitution lässt sich dort in der Regel nicht viel verdienen. Die MigrantInnen sind oft hoch qualifiziert, können ihren Berufen aber nicht nachgehen. Wie schon in der klassischen, offiziellen Arbeitsmigration der Nachkriegszeit, akzeptieren viele MigrantInnen die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen solange sie selbst eine kurzfristige oder mittelfristige Perspek- tive für ihren Aufenthalt haben. Sobald sie aber merken, dass die Vorstellung, nach einigen Jahren mit einer großen Menge angespartem Geld wieder zurückzu- kehren, nicht mehr haltbar ist, ändern sie ihre Haltung. Wer bleiben will, wer seine Kinder in die Schule schicken will, wer »normal« leben will, muss um seine Rechte kämpfen. In vielen Ländern Europas sind seit dem Ende der neunziger Jahre daher Kämpfe um Legalisierung aufgeflammt, die mal in Niederlagen, mal in Erfolgen, meist einer Mischung aus beidem, resultiert sind. Diese Kämpfe spielen sich auf einem Terrain ab, das nicht einfach in einer Opposition Staat vs. Multitude gedacht werden kann. Während die Neoliberalen und ihre Kritiker der funktionalistischen These folgen, dass das Kapital die flexible Arbeitskraft brauche (und deshalb auch bekomme), sollte das Konzept der »Auto- nomie«, das dem entgegensteht, nicht darauf reduziert werden, die Mobilität der MigrantInnen zu verabsolutieren. Worauf es ankommt, ist zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Migration sich organisiert, d.h. die Modalitäten in den Blick zu nehmen, denen die Migrantinnen angesichts der Kontrollanstrengungen der europäischen Staaten sich gegenübersehen. Oder anders gesagt, wenn das for- distische Migrations-Regime der Gastarbeiteranwerbung auf einem spezifischen, korporatistischen und nationalen Kompromiss beruhte, dann gilt es, die Konturen desjenigen Kompromisses zu zeichnen, der die Migration illegalisiert. (Vgl. Kara- kayalý/Tsianos 2002) Aber nicht nur das. Sollen die Migrationsbewegungen ge- gen das »Empire« verstanden werden, dann hätte der Kompromiss die Funktion, die in ihnen entwickelten Dynamiken zu unterbrechen und zu sabotieren. Praktisch haben sie in ihren Kämpfen um Mobilität und Bürgerrechte den Kom- Kurswechsel 3/2003 50 Manuela Bojad•ijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos promiss historisch unaufhörlich verschoben. Etienne Balibar entwirft in seinem jüngsten Buch »Sind wir Bürger Europas?« »vier Baustellen der Demokratie« im Zusammenhang mit dem fortschreitenden Konstitutionsprozess der Europäischen Union. Neben der Rechtsfrage und einer »Sprache Europas« geht es ihm um eine Neuausrichtung der Arbeitskämpfe und gesamteuropäische Reorganisation der »Arbeitzeit« und etwas, was er »Demokratisierung der Grenzen« nennt. Seit den Streiks 1995 in Frankreich (vgl. Lazzarato 1996, Negri 1996) zeigt sich, dass die Ausrichtung der Arbeitskämpfe unter Berücksichtigung der Zusammenhänge von Bürgerschaft und »Beruf« überprüft werden muss: »Die Wende in der europäi- schen Bürgerschaft fällt de facto mit der Krise des nationalen Sozialstaats zusam- men, in dem die mehr oder weniger effektive Lösung der ›sozialen Frage‹ die Reproduktion der Nationsform ermöglichte, während gleichzeitig der National- staat eine bestimmte Definition der Arbeit und des Arbeiters kodifiziert und sank- tioniert hat.« (Balibar 2003, 284 f.) Die Frauen- und Ökologiebewegungen, aber auch die Kämpfe der Migration haben sich historisch gegen die zentrale Bedeutung der produktiven Arbeit und gegen die Ausschließlichkeit klassischer Klassenkampfkonzeptionen gerichtet, sie aber nicht völlig negiert, sondern in einen neuen Zusammenhang gestellt und erweitert. Angesichts der Krise des europäischen Sozialmodells könne das Ende der Arbeit – aufgrund von Massenarbeitslosigkeit und der generationsübergreifen- den Ausgrenzung (der Migrantinnen und Migranten) – unmöglich ausgerufen werden. Hier tritt eine neue Überlegung hinzu: Die historische Veränderung der produktiven Arbeit selbst. Balibar weist explizit auf die Konzepte von Hardt und Negri in Empire hin: Denn wenn die produktive Arbeit zugleich »Produktion von Gesellschaftlichkeit« wird, geht es nicht mehr nur um die Herstellung materi- eller Existenzmittel, sondern dann ist sie auch potentiell politische Praxis: »Das Prinzip, das man hier einmal mehr formulieren kann, kehrt das traditionelle Ver- hältnis von Tätigkeit und Hegemonie vollständig um: nicht arbeiten, um (Güter oder Werte) zu produzieren, sondern produzieren (Güter oder Dienstleistungen Informationen, Erkenntnisse), um zu arbeiten, das heißt, ein bürgerliches Grund- recht wahrnehmen.« (Ebd., 285) Wenn die Arbeit sich ändert, müssen sich auch die Formen des gemeinsamen Kampfes ändern und der Institutionen des sozialen Konflikts. Ein Konzept von Gemeinwesen und Bürgerschaft sei dafür nötig, das nicht auf Integration und Kon- sens beruht (vgl. ebd., 135 ff., Rancière 2002), sondern den Bürger vom transna- tionalen Standpunkt als politisch aktiven Kämpfer vorstellt. Die materielle Grund- lage einer für Immigranten offenen »Bürgerschaft in Europa« (im Gegensatz zu einer »europäischen Staatsbürgerschaft«) bilde die Aushandlung von Grenzüber- tritten für Migrationsbewegungen, die ein neues Aufenthaltsrecht schaffe, mit dem Ziel, eine Veränderung des historischen Verhältnisses der Bevölkerung zum Ter- ritorium zu finden. Letztlich, zunächst, nicht mehr als ein Kampf aus dem Inneren des Migrationsregimes heraus, der seine Grenzen zu überschreiten versucht. Kurswechsel 3/2003 Das Rätsel der Ankunft. Von Lagern und Gespenstern 51 Anmerkungen 1 Thomas Lemke wendet ein, dass durch die Konzentration seiner Argumentation auf politisch- rechtliche Mechanismen, die Figur der Biopolitik lediglich die andere, verborgene Seite der poli- tischen Souveränität bzw. deren existenzielle Grundlage bildet: »Während die Biomacht bei Agam- ben also negativ auf die Form der Souveränität bezogen bleibt, stellt sie bei Foucault ein Ensemble neuer Machttechniken dar, die neben und in Auseinandersetzung mit der Souveränitätsmacht operieren. Auf diese Weise können auch Formen sozialer Exklusion und ökonomischer Ausbeu- tung, die trotz der Garantie formalrechtlicher Gleichheit existieren, in die Analyse einbezogen werden.« (Lemke 2002, 622). Etienne Balibar kritisiert die Verwendung der aktuell üblichen Idee einer »Krise der Souveränität: »Allerdings wird diese Formulierung meistens in einem restriktiven Sinne gebraucht, weil man den Begriff der Souveränität von vornherein mit nationaler Souverä- nität gleichsetzt und zugleich eine Entsprechung zwischen einer Krise der Souveränität und der Entwicklung übernationaler, transnationaler oder postnationaler politischer Räume unterstellt.« (Etienne Balibar 2003, 220) 2 Die Strukturen einer Klassenspaltung oder -fragmentierung waren schon im neunzehnten Jahr- hundert politisch überdeterminiert. Etwa wenn der männliche Teil der Arbeiterklasse gegen die sogenannte »Schmutzkonkurrenz« von Frauen und Kindern den Familienlohn erkämpft, dabei die Verbürgerlichung der proletarischen Familie durchsetzt, die wiederum zum moralischen Kampf- mittel der Arbeiterparteien wird, die die bürgerliche Gesellschaft mit ihren eigenen Idealen schla- gen will. (Bock/Duden 1977) Schon die Durchsetzung dieser spezifischen geschlechtlichen Ar- beitsteilung in bezug auf den Produktionsprozess ist weder naturwüchsig aus den technischen Erfordernissen der Arbeitsorganisation noch aus der Trennung von Kopf- und Handarbeit erklär- bar. 3 Die Spiegelbildlichkeit von Etatismus und Anti-Etatismus, die sich etwa in der gegenwärtigen Pseudo-Opposition zwischen Schwarzem Block und Attac, um nur ein Beispiel zu nennen, arti- kuliert, stellt eine grundlegende Aporie in der gegenwärtigen Neuerfindung der globalen linken Theorie und Praxis dar. Beide Pole dieser Auseinandersetzung, Souveränisten und Anti-Souverä- nisten, denken das Politsche in Begriffen der Repräsentation. Sie schliessen damit das Feld der Denkbarkeit einer a-staatlichen Form des Politischen, das in den Kämpfen der jüngsten Vergan- genheit eröffnet wurde, wieder zu. 4 Vgl. Karakayalý/Tsianos 2002 5 Vgl. Moulier Boutang 1998 6 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 07.05.2003 Literatur Agamben, Giorgio (2002): Mittel ohne Zweck, Berlin Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Frankfurt am Main Alquati, Romano (1974): Klassenanalyse als Klassenkampf. Frankfurt am Main Balibar, Etienne (2003): Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Hamburg Balestrini, Nanni / Moroni, Primo (1994): Die goldene Horde. Berlin/Göttingen Bell, Nicholas (2003): Erdbeeren, Salat und Bauernlegen. In: Le Monde Diplomatique vom 11.4.2003 Blossfeld, Hans Peter/ Mayer, Karl Ulrich (1988): »Arbeitsmarktsegmentation in der Bundesre- publik Deutschland. Eine empirische Überprüfung von Segmentationstheorien aus der Per- spektive des Lebenslaufs«. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 40 / 2, S. 262-283 Bock, Gisela / Duden, Barbara (1977): Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität Juli 1976. Berlin Bojad•ijev, Manuela (2003): »Dispositive der Migrationspolitik. Staatliche Maßnahmen und das Konzept der Autonomie«. In: Subtropen, Nr. 01 Castles, Stephen/ Kosack, Godula (1973): Immigrant Workers and Class Structure in Western Europe. London. Kurswechsel 3/2003 52 Manuela Bojad•ijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos Dalla Costa, Mariarosa/ Selma James (1973): Die Macht der Frauen und der Umsturz der Ge- sellschaft. Berlin Hardt, Michael /Toni Negri (1997): Die Arbeit des Dionysos. Frankfurt/Berlin Hardt, Michael /Toni Negri (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main Karakayalý, Serhat (2001): »Sechs bis acht Kommunisten, getarnt in Monteursmänteln. Der Fordstreik in Köln” in: Stadtrevue 10/01. 26.Jhg. S. 41-43 Karakayalý, Serhat /Tsianos, Vassilis (2002): Migrationsregimes in der Bundesrepublik Deutsch- land. Zum Verhälltnis von Staatlichkeit und Rassismus.In: Demiroviæ, Alex / Bojad•ijev, Manuela (Hg.): Konjunkturen des Rassismus. Münster Lemke, Thomas (2002): »Biopolitik im Empire. Die Immanenz des Kapitalismus bei Michael Hardt und Antonio Negri«. In: Prokla 129, Nr.4, S. 619-629 Luciano Ferrari Bravo (2001): Dal fordismo alla globalizzazione. Rom Lazzarato, Maurizio (1996): »Klassenkampf in der Postmoderne.” In:Die Beute 10/2, S. 8-17 Mezzadra, Sandro (2002): »Das Recht auf Flucht«. Bratiæ, Ljubomir (Hg.): Landschaften der Tat. Vermessung, Transformation und Ambivalenzen des Antirassismus in Europa. St. Pölten, 101- 110 Mezzadra, Sandro und Brett Neilson (2003): »Die Einforderung der Zukunft. Migration, Kon- trollregime und soziale Praxis: Ein Gespräch«. In: Subtropen, Nr. 07 Moulier Boutang, Yann (1993): Interview mit Yann Moulier Boutang. In: Materialien für einen neuen Antiimperialismus »Strategien der Unterwerfung, Strategien der Befreiung«. Nr. 5, S. 29-56 Moulier Boutang, Yann (1997): Papiere für alle. Frankreich, die Europäische Union und die Migration. In: Die Beute 1, S. 50-63 Moulier Boutang, Yann (1998): De l’esclavage au salariat. Économie historique du salariat bri- dé. Paris Moulier Boutang, Yann (2002a): »Nicht länger Reservearmee. Thesen zur Autonomie der Migration und zum notwendigen Ende des Regimes der Arbeitsmigration«. In: Subtropen, Nr. 04 Moulier Boutang, Yann (2002b): »Die Farben der Geschichte. Von der Erfindung der weißen Rasse zur Erfindung des weißen Multikulturalismus«. In: Subtropen, Nr. 07 Negri, Antonio (1996): »Die Wiederaneignung des öffentlichen Raumes. Metropolenstreik und gesellschaftliche Emanzipation«. In: Die Beute 12/4, S.80-90 Neumann, David (2003): »Vom wirtschaftlichen Nutzen der illegal Eingewanderten«. In: Frank- furter Rundschau vom 3.7.2003 Panagiotidis, Efthimia (2003): Geschlechter- /Arbeitsverhältnisse. unveröff. Magisterarbeit am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Piore, Michael J. (1980): Birds of Passage. Migrant Labour in Industrial Societies. 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Marx' Gespenster in der Debatte um die "Autonomie der Migration"

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Eine Erwiderung auf Tobias Pieper in ak 485, erschienen in ak 487 - 17. September 2004, S. 34

Vor zwei Ausgaben befasste sich Tobias Pieper kritisch mit der von Kanak Attak - u.a. in Fantômas - vertretenen These von der "Autonomie der Migration". (1) Migrationsbewegungen, so Pieper, seien nicht autonom, sondern "letztlich durch die Aneignungsgesetzte des Kapitals" bestimmt. Die widersprüchlichen Momente der kapitalistischen Mehrwertaneigung, die durchaus auch unkontrollierbare Migrationsbewegungen hevorrufen, würden zusammengehalten durch die "ideologische Funktion" von Rassismus und Sexismus. Der folgende Beitrag nimmt die Diskussion am letzten Punkt auf. Effi Panagiotidis und Ulas Sener plädieren am Beispiel historischer feministischer Kämpfe für ein nicht auf "kapitalistische Aneignungsgesetzte" fokussiertes Politikverständnis und dafür, das Ausmaß der "postfordistischen" Transformation in den Formen der Analyse wie der Organisierung zu berücksichtigen.

Ein Gespenst geht um in der Welt, verbreitet Schrecken, hinterlässt hier und da seine Spuren, entwischt den Kontrollen, stellt eine große Herausforderung dar. Gäbe es nicht dieses Gespenst, wie Tobias Pieper in seinem Artikel "Weder Gespenst noch autonom" postuliert, löste sich in der Tat der ganze Spuk auf.

Die alte magische Formel eines bestimmten Marxismus ist auch in Piepers Artikel wieder am Werk: Ursache der Mobilität ist demnach keine andere als die Verwertungsdynamik des allumfassenden Kapitals, dessen funktionelles Element die Migration sei. Es ist kaum verwunderlich, dass aus dieser Perspektive der Zusammenhang von Rassismus und Sexismus als ideologische Konstante einer grundsätzlichen Verkennung des zentralen Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, gesehen wird. Die Grundmechanik der kapitalistischen Ex- und Inklusion folgt demnach den Bewegungsgesetzen der Zirkulation der Ware Arbeitskraft.

Ein solch anachronistisch anmutendes Remake einer werttheoretischen Hermeneutik der Migrationsbewegungen, die in der kritischen Rassismusanalyse schon seit Jahrzehnte als Reduktionismus attackiert wird, hat keinen Begriff für das subjektive Gesicht der Migration und ihre gespenstischen Kämpfe. Der politische Widerstand erfolgt aus der Sicht von Tobias Pieper durch die "kollektive Inbesitznahme der Fabrik". Im Mittelpunkt dieser Argumentation steht damit der offenbar unsterbliche Typus des/der LohnarbeiterIn.

Piepers Beitrag steht exemplarisch für eine bestimmte neu-altlinke Konzeption von Migration. Die kritische Auseinandersetzung mit der "Autonomie der Migration", die der Artikel von Tobias Pieper zwar verspricht, aber nicht einlöst, demonstriert die Engpässe einer Kritikform, die sich nach wie vor der Herausforderung der migrantischen und feministischen Kämpfe und ihrer Kritik an der Zentralität des Klassensubjekts verweigert.

Wir favorisieren dem gegenüber einen anderen Typus von Kritik und einen anderen Typus von Politik. Beides wollen wir im folgenden durch zwei Bezugnahmen skizzieren: auf die feministischen Kämpfe um Lohn um Hausarbeit einerseits, auf eine "Politik der Multituden", die ohne vereinheitlichende oder reduzierende Figuren auskommt, andererseits. Beide Bezugnahmen sind Markierungspunkte in dem Feld, in dem sich die Bewegungen und Kämpfe einer "Autonomie der Migration" situieren.

Eine zwei drei Autonomien

Der Perspektivwechsel, den Vertreterinnen der "Lohn für Hausarbeit"-Debatte in den 70er Jahren einläuteten, bestand darin, mit Blick auf die gesellschaftlich notwendige Arbeit von Frauen die herrschende Vorstellung von (Lohn-) Arbeit zu kritisieren. Die Aktivistinnen kämpften damals gegen den fordistischen Klassen/Geschlechter-Kompromiss, der Hausarbeit als Frauenarbeit zu Hause in die abgetrennte Privatsphäre verbannte. Sie verlangten für ihre Arbeit Geld vom Staat, um ihr Leben unabhängig organisieren zu können. Indem sie sich weigerten, als einzige Alternative die Vergesellschaftung durch die Arbeit in der Fabrik zu akzeptieren, erweiterten sie zugleich den politischen Handlungsspielraum auch der Linken.

Diese Kämpfe befriedete der fordistische Wohlfahrtsstaat auf Kosten der unbezahlten Hausarbeit und durch die Konsolidierung der rassistischen Arbeitsteilung. Heute findet Arbeit im Reproduktionsbereich meist unter entgarantierten, deregulierten, flexibilisierten, kurz: prekären Bedingungen statt und umfasst neue Formen mehr oder wenig freiwilliger Selbständigkeit - Leiharbeit, Zeitarbeit, Mini-/ oder Projektjobs bis hin zu Schwarzarbeit. Bezahlte Hausarbeit, überwiegend erledigt von MigrantInnen mit illegalisiertem Aufenthaltstatus, ist die konkrete Antwort auf das Problem, wie die zwei als getrennt betrachteten Sphären Beruf und Familie komplementär vereinbart werden sollen. Diese Tätigkeiten sind schon längst "Gestalten der neuen Normalität der Ausbeutungsverhältnisse" (3). Piepers Beharren darauf, die Befreiungskämpfe in die "Fabrik" zu zwängen, rekurriert auf eine patriarchale orthodox-marxistische Analyse, die ihre Radikalität aus der dialektischen Logik der Erlösung am fernen Ende der Geschichte schöpft und die starre Trennung zwischen Produktion und Reproduktion sowie zwischen privat und öffentlich als relevante Analyse- Kriterien reproduziert.

Weder reformistisch noch radikal

Die Vertreterinnen der Lohnforderung hatten in der Auseinandersetzung um unbezahlte Hausarbeit betont, dass diese Kämpfe in Verbindung stehen mit der Arbeit außerhalb des Hauses, der Vergesellschaftung der Dienstleistungen und der Problematik der Gesamtbedingungen der menschlichen Reproduktion und der Sexualität. Davon ausgehend verwiesen die Aktivistinnen auf zwei häufige Fehler innerhalb der feministischen Argumentation. Der eine Fehler, die "reformistische Schwäche", lag demnach darin zu glauben, dass aus den verschiedenen genannten Bereichen sich eine "befreiende Alternative" herauslösen lasse. Der zweite Fehler, die "radikale Schwäche", lag in der Vorstellung, unterschiedliche Themen und deren Kampfziele könnten getrennt und unabhängig voneinander angegangen werden - nach dem Motto, Erfolg ist, wenn frau irgendwo wenigstens Teilforderungen durchsetzt.

Die Lohn-für-Hausarbeit-Aktivistinnen sahen dem gegenüber das Ziel der Frauenbewegung darin, ein Machtinstrument zu schaffen, das die Frauen nicht vor schlechte Alternativen stellt. Dieses sollte dazu beitragen von einer offensiven Position aus Verhandlungen über die verschiedene feministischen Anliegen und ihre materielle Umsetzung zu führen. Eine Strategie, die bloß ein Befreiungsbewusstsein über die "weibliche Rolle" herbeiführen will, und somit die herkömmliche Ideologie durch eine andere ersetzt, ist, lehnten die Aktivistinnen ab: "Wir müssen alles daransetzen, die materielle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich das Leben aller Frauen ändern kann ... Wir wollen durch unseren Kampf in eine Position kommen, die es uns erlaubt, etwas abzulehnen, das schlimmer ist, als das, was wir jetzt haben."(4)

"Lohn für Hausarbeit" beanspruchte somit den Platz einer internationalen "strategischen Kernforderung" für die gesamte Arbeiterklasse überhaupt, denn unabhängig von der Höhe der "weiblichen" Berufstätigkeit, wurde und wird die Tätigkeit von Frauen überall diskriminiert, solange sie nach wie vor in allen Ländern unbezahlte Hausarbeit zu leisten haben. Eine änderung dieser Verhältnisse, so die Aktivistinnen, könne jedoch nur durch den Zusammenschluss und die Organisierung der unbezahlt reproduktiv arbeitenden Frauen erreicht werden.

Dieses historische Beispiel ist insofern anschließbar an den Begriff einer "Autonomie der Migration", als es auch in diesem darum geht, zu ermöglichen, von einer erkämpften Position der Stärke aus in konjunkturell vorhandene Kräfteverhältnisse einzugreifen. Es gilt nicht nur zu verstehen wie Migration heute organisiert wird, d.h. es geht darum, die Konturen der postfordistischen Klassen- bzw. Geschlechter-Kompromisse aufzuzeigen: Dieser zeichnen sich durch Illegalisierung (5) und Vergeschlechtlichung aus, wie das Beispiel bezahlter Hausarbeit durch illegalisierte MigrantInnen zeigt. Um diese zu erfassen, braucht es jedoch anderer Begriffe als solche, die die Trennung zwischen "privat" und "öffentlich" reproduzieren und letztlich immer auf die Figur des/der LohnarbeiterIn zurückführen. Und es braucht ein Verständnis von Organisierung, das der Heterogenität und Prekarität der gesellschaftlichen Arbeitsformen, Subjektivitäten und Positionen Rechnung trägt.

Widersetzende ProduzentInnen

In der Gesellschaft für Legalisierung fand der erste Schritt in diese Richtung statt, als sich die verschiedenen Gruppen und einzelne AkteurInnen im gemeinsamen Kampf für ein "No Integration! Für ein Recht auf Legalisierung" vernetzten. Gerade aber weil diese Vernetzung nicht als Vereinheitlichung funktioniert, werden die Beteiligten mit untereinander äußerst heterogenen materiellen Bedingungen und divergierenden politischen Orientierungen konfrontiert. Die Gesellschaft für Legalisierung ist kein basisdemokratisch strukturiertes breites Bündnis, das unterschiedlichen Positionen eine gleichberechtigte Vertretung gewährt. Vielmehr ist sie eine Möglichkeit der Begegnung, in der die Teilnehmenden um ihre Positionen streiten - und sich verändern können sollen, ohne sich anzugleichen. Die Kraft liegt nicht in der massenhaften Beteiligung, sondern in der Fülle von Gesprächen, Veranstaltungen und unzähligen formlosen Treffen, die Räume eröffnen und organisierend wirken. Die Differenzen und Konflikte dieser Diskussionen werden nicht nur als ideologisch entgegengesetzte Positionen verstanden, sondern vor allem als für den Prozess von Organisierung konstitutive Momente.

Es geht dabei gerade nicht darum, das "Gemeinsame in der Differenz" zu suchen. Treffender wäre es, von einer "offenen Kohärenz" zu sprechen. Judith Revel weist darauf hin, dass es um den Prozess des "Werdens" geht als eine "Produktion von Differenzen", die nicht mit Identifikation, Imitation oder ähnlichkeit gleichgesetzt werden kann. Dieses Konzept des "Werdens" in seiner politischen Reformulierung zu begreifen heißt vom Gemeinsamen auszugehen "als Schaffung neuer Arrangements von Differenzen, die allein die Konstitution des Gemeinsamen erlauben. Das Gemeinsame, Commune, ist nicht das Ende der Differenz, es ist ihre Produktion". (6)

Eine so verstandene Politik der Multitude beruht nicht auf dem Konzept einer Gegenmacht, die sich aus dem Zusammenschluss von MigrantInnen mit und ohne Papieren speist, welche gegen den Strom der gewaltförmigen Zwangsmobilität des Kapitals migrieren. Wenn "immaterielle ArbeiterInnen" heute Güter, Dienstleistungen, Informationen, Affekte, Körper, Sexualität produzieren, dann liegt die Herausforderung der Multitudes in der Erfindung einer "Sprache" des Widerstands die in einem inneren Verhältnis zur Produktion steht - ohne sie zu verklären. Denn: "Die prekäre Existenz kreist nicht um das Individuum, sondern um eine Vielzahl von Verbindungen, von Kooperationen und Interdependenzen. Das schließt Unterdrückung und Leid ebenso ein wie Perspektiven der Befreiung, der freien Assoziation." (7) Das Produzieren einer gemeinsamen Sprache zielt nicht auf Integration und Verständnis. Es will vielmehr das Neuartige in dem Zusammenhang zwischen Migration und Arbeit offen legen - und verweist auf eine Praxis des Widersetzens, die den Kampf gegen Rechtlosigkeit und für soziale Rechte stärkt.

Efthimia Panagiotidis, Ulas Sener

Kanak Attak, Gesellschaft für Legalisierung

1) Tobias Pieper: Weder Gespenst noch autonom. Eine kritische Auseinandersetzung mit der "Autonomie der Migration", in: ak 485 2) zum fordistischen "Gastarbeiter"-System vgl. S. Karakayal?, V. Tsianos: Migrationsregimes in der Bundesrepuplik Deutschland. Zum Verhältnis von Staatlichkeit und Rassismus, in: A. Demirovi?, M. Bojad?ijev: Konjunkturen des Rassismus, Münster 2002 3) Thomas Atzert: EUROMAYDAY 004. Risquons-nous à penser, 2004, in: www.kein.org/keinwiki/PrekarisierungUndSozialeK_e4mpfe 4) Frauen in der Offensive (Hrsg.): Lohn für die Hausarbeit oder: Auch Berufstätigkeit macht nicht frei, München 1974 5) vgl. M. Bojad?ijev, S. Karakayal?, V. Tsianos: Das Rätsel der Ankunft. Von Lagern und Gespenstern. Arbeit und Migration, in: Kurswechsel 3/2003 6) Judith Revel: Devenir-femme der Politik, in: Atzert, Thomas /Müller, Jost (Hrsg.): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität, Münster, S. 255-262, Münster 2004 7) vgl. Thomas Atzert 2004

Kriminalisierte Einwanderung: Wie Legalisierung durchsetzen?

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jW sprach mit Ellen Bareis von Kanak Attak, einem antirassistischen Zusammenschluß, der in diesem Jahr mit den Themen »Recht auf Legalisierung«, »No Integration« sowie »Globalisierungskritik und Antirassismus« an die Öffentlichkeit ging

F: Ihre Organisation setzt sich dafür ein, eine Legalisierungskampagne zu starten. Was versprechen Sie sich davon?

Als im letzten Jahr über das sogenannte Zuwanderungsgesetz diskutiert wurde, gab es das erste Mal seit dem Anwerbestopp in den siebziger Jahren eine Öffnung in diesem Bereich. Nach vielen Jahren wurde endlich anerkannt, daß es eine Zuwanderung nach Deutschland gibt. Gleichzeitig wurde in der Diskussion völlig ignoriert, daß bereits über eine Million eingewandert sind, die hier leben und keine Papiere haben. In der Süssmuth-Kommission wurde zum Teil noch thematisiert, daß es in diesem Bereich Legalisierungen oder zumindest eine Entkriminalisierung geben müsse. In der politischen Debatte um das Gesetz wurde das aber ignoriert. Unsere Vorstellung ist, diese Öffnung in der Diskussion über Migration zu nutzen, und klarzumachen, daß die bisher Eingewanderten das Recht auf einen legalen Status bekommen müssen, bevor weiter über ein sogenanntes Einwanderungsgesetz geredet wird.

F: Was halten Sie von der Kritik, daß eine solche Kampagne auch alle unter Druck setzen würde, die diesen Status aus unterschiedlichen Gründen nicht anstreben oder erlangen können?

Wir fordern nicht die Legalisierung von allen, die in Deutschland ohne Papiere leben, sondern es geht uns um das Recht auf Legalisierung. Es geht darum, durch die Kampagne politischen Druck zu schaffen, so daß diejenigen, die es wollen, einen legalen Status erlangen können. Eine solche Kampagne muß immer kombiniert werden mit der Forderung, diejenigen, die sich im Fall einer angebotenen Legalisierung melden, vor Abschiebung zu schützen.

F: Was schätzen Sie, wie viele Menschen das in Deutschland betrifft?

Es gibt unterschiedliche Schätzungen, die von 500000 bis zwei Millionen Betroffenen ausgehen. Es ist zu erwarten, daß es mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes, das de facto ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz ist, eine Erhöhung geben wird, da der Titel der Duldung wegfällt. Eine Reihe von Leuten würde dadurch in die Illegalität getrieben.

F: Es gibt Erfahrungen mit Kampagnen in anderen europäischen Ländern. Welche Bilanz ziehen Sie hier?

In Frankreich hat man unterm Strich negative Erfahrungen mit einer Legalisierungskampagne gemacht. Sie hatte die beabsichtigte Verschärfung des Ausländergesetzes zum Ausgangspunkt. In Frankreich wollte man etwas einführen, was in Deutschland seit langem Fakt ist: daß die Unterstützung von »illegalem Aufenthalt«, so der Gesetzestext, unter Strafe steht.

Es gab daraufhin in Frankreich eine große Unterschriftenkampagne, und im Zuge der Kirchenbesetzung der »Sans Papier« kam es auch zu Legalisierungen. Diese waren aber sehr eingeschränkt und führten zum Teil auch zu Abschiebungen. Auf dieser Ebene war das kein Erfolg.

Auf der Ebene der gesetzlichen Bestimmungen gab es einen partiellen Erfolg, weil das Unter-Strafe-stellen von Unterstützung und Hilfeleistung nicht durchging. Andere Verschärfungen sind allerdings realisiert worden. Es ist also insgesamt eine ambivalente Geschichte gewesen, aus der wir aber auch lernen können.

F: Gibt es Unterstützung von anderen Organisationen?

Wir haben in letzter Zeit sehr viele Gespräche geführt, und dabei haben zumindest Teile der Gewerkschaften Interesse bekundet. Wir sind außerdem mit der Caritas im Gespräch, die sich im Rahmen der Zuwanderungsdebatte für Menschen ohne Papiere in Deutschland einsetzt.

Bei einigen Nichtregierungsorgansiationen gibt es eine Ernüchterung darüber, daß im vorliegenden Zuwanderungsgesetz die Verschärfungen gegenüber den positiven Aspekten überwiegen. Also, hier gibt es Enttäuschungen und eine Bereitschaft, eine solche Kampagne mitzutragen.

Papers and roses

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Die Autonomie der Migration und der Kampf um Rechte Manuela Bojadzijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos (Kanak Attak)

Im Sommer 2001 führte die Frankfurter Staatsanwaltschaft eine große Razzia in Hunderten von Häusern und Wohnungen durch, 200 illegale polnische Haushaltshilfen wurden - zum Teil noch am selben Tag - abgeschoben. Sie waren alle von einer »Schwester Martha« alias die »Polin« zur Betreuung alter Menschen in hessische Haushalte vermittelt worden. »Die Polin«, eine pensionierte Altenpflegerin aus Chrzastowice, die systematisch Kooperationsbeziehungen zu Ärzten und Sozialstationen in Hessen aufgebaut hatte, galt der Frankfurter Staatsanwaltschaft als »Kopf einer Schleuserbande«. Der Skandal wurde deshalb politisch wirksam, weil ein Fernsehjournalist mit seinem betagten Schwiegervater selbst von der Razzia betroffen war und für entsprechende Aufmerksamkeit in den Medien sorgte. Noch im Dezember 2001 brachte Arbeitsminister Riester eine gesetzliche Regelung auf den Weg, wonach die so genannte Anwerbestoppausnahmeverordnung um Pflegehilfen aus EU-Beitrittsländern erweitert wurde. Damit hat sich ein medial kaum wahrgenommener Tabubruch in Sachen Legalisierung ereignet.

Die darauf folgende Debatte über Einwanderung und Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte erinnert an die Diskussionen über das alte Gastarbeitersystem. In die Bundesrepublik Deutschland kamen zwischen 1955 und 1973 mehrere Millionen Arbeiter vor allem aus Südeuropa, der Türkei und Nordafrika: die so genannten Gastarbeiter. Sowohl die Debatten vor Abschluss des ersten Anwerbeabkommens mit Italien als auch bestimmte Elemente der Arbeitskräfteanwerbung scheinen sich heute zu wiederholen. Die Begrenzung der Aufenthaltsdauer für ArbeitsmigrantInnen findet sich dort ebenso wieder wie das damals so genannte Inländerprimat, das auch heute wieder von den Gewerkschaften ins Spiel gebracht wird. Dass von einer Neuauflage jedoch nicht die Rede sein kann, zeigt sich nicht nur an der unterschiedlichen Dynamik, die der Prozess der Anwerbung vierzig Jahre nach dem ersten Abkommen bekommen hat. Heute ist die Diskussion über die Notwendigkeit einer Regelung der Einwanderungsfrage auch Ausdruck der »Autonomie der Migration«, die trotz und gegen den Willen des Staatsapparates stattgefunden hat und auf die die gegenwärtige Regierung eine Antwort zu finden sucht. Doch jede neue Regel, jede neue juristische Kodifizierung ruft auch neue autonome Taktiken hervor, diese individuell und kollektiv zu umgehen. Diese inoffizielle, teils illegale, sicherlich »irreguläre« Migration hat die Bedingungen verändert unter denen Migration stattfindet. Ebenso ändern sich die Bedingungen, unter denen Arbeits­migrantInnen in Deutschland leben und arbeiten. Genau diese beiden Dimensionen der institutionalisierten Effekte der »Gastarbeiterära« konstituieren das gegenwärtige post­fordistische Migrationsregime der BRD als Passage. Die wachsende Zahl der MigrantInnen ohne Papiere deutet darauf hin, dass es keine kohärente staatliche Regulierung der Migration gibt. Die Greencard-Einwanderung, die »Riester-Verordnung« und das zwischenzeitlich gescheiterte Gesetzesvorhaben der Bundesregierung zur Zuwanderung stellen den Versuch einer Neuzusammensetzung der Ressource Arbeitskraft dar, in der rassistische Diskriminierung auf neue Weise moduliert wird, aber nie immer die Gleichen betrifft. Die erste Greencard, vielleicht ist das ein Symptom, ging paradoxerweise nicht an einen Inder, sondern an einen »irregulären« Migranten, der nach seinem Studium Almanya doch nicht freiwillig verlassen hatte.

Bei aller berechtigten Kritik an den konkreten Regelungen dieser »Riester-Verordnung« ist mit ihr dennoch ein Sprung getan: Es wird erstmals politisch offiziell zur Kenntnis genommen, dass das »Bodenpersonal« im Globalisierungsstandort Deutschland faktisch massenhaft die Schengener Grenzen überschreitet und sich unentbehrliche Arbeiten besorgt. Dies ist eine Entwicklung, die in der antirassistischen Szene wahrgenommen werden muss. Diese Form von Legalisierung ist aber weder Konsequenz einer politischen Organisierung noch hat sie diese zur Folge; die rassistische Unterschichtung der Arbeitsverhältnisse bleibt unangetastet. Gerade deshalb und auch im Hinblick auf Legalisierungs­erfahrungen in anderen EU-Staaten stellt sich die Frage, wie ein Recht auf Legalisierung hier lebender MigrantInnen ohne Papiere angemessen von uns zu fordern wäre. Dass die bisher staatlich praktizierten punktuellen Legalisierungen kaum wahrgenommen wurden, ist keine kollektive kognitive Fehlleistung der Linken. Entscheidend ist, die konjunkturbedingte Bereitschaft zur Legalisierung mit den existierenden Praktiken der Migration zusammenzudenken. Dies kann jedoch nicht gelingen, solange die antirassistische Linke sich weiterhin auf die Verteidigung des Grundrechts auf Asyl konzentriert.

Dies ist genauso unbestreitbar berechtigt wie es die vielfältigen lokalen antirassistischen Mobilisierungen zur Verhinderung oder Skanda­lisierung von Abschiebungen sind. Die Flüchtlingsunterstützungspolitik kritisieren wir deshalb nicht per se, sondern wegen der fatalen Konsequenzen einer Politik, die unfähig war und ist, ihren Anspruch auf Organisierung und Agitation immer neu in den inzwischen veränderten Migrationskontexten zu verorten. Die antirassistische Linke verfängt sich so in der Arbeit gegen rassistische Repression und ist konzeptionell und praktisch nicht in der Lage, die Wirkungsmächtigkeit des migrantischen Alltags und die Geschichte und Gegenwart der Kämpfe der Migration zu verstehen bzw. einzubeziehen.

Legalize-it-Revue oder: Wer hat Angst vor der Legalisierungskampagne?

Die Debatte um die Forderung nach Legalisierung dauert schon eine Dekade an und hat Standorte bis in die vorgerücktesten Bastionen der Zivilgesellschaft erreicht: Teile der Gewerkschaften (wie z.B. die Abteilung für Migration beim DGB), Bundestagsabgeordnete der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen und vor allem der PDS, den Jesuiten-Flüchtlingsdienst, den Erzbischöflichen Beauftragten für Migrations­fragen in Berlin, VertreterInnen der katholischen und evangelischen Kirchen, die Freudenberg-Stiftung, den Polnischen Sozialrat, Flüchtlingsräte in verschiedenen Bundesländern, Dritte-Welt-Solidaritätsgruppen, MigrantInnenorganisationen und Selbstorganisationen von Flüchtlingen. Wir schreiben nun keine diskurs­theoretische Abhandlung über die verschlungenen Wege und Irrwege dieses diskursiven Miniuniversums, sondern wagen eine situierte Lektüre der Ungleichzeitigkeiten, Antinomien und Kellerleichen des Feldes, um damit buchstäblich etwas zu »machen«. Die unterschiedlichen Praxen antirassistischer Projekte erschweren es, offensiv das Recht auf Legalisierung zu fordern. Das Spannungsverhältnis zwischen der Weigerung, das Feld abzuschließen, einzugrenzen oder es kontrollieren zu wollen, bei gleichzeitiger Entschlossenheit, einige Positionen darin zu markieren und für sie einzutreten, ist konstitutives Element antirassistischer Praxis.

Als Kanak Attak zum ersten Mal die Rampenlichter der antirassistischen Öffentlichkeit erblickte, wurde uns entweder vorgeworfen, wir seien nicht authentisch, d.h. nicht das, was unser Label zu suggerieren schien, oder einfach fehl am Platz, da der Antirassismus per se defensiv zu sein habe. Wir machten uns unseren Migrationshintergrund, unsere Geschlechter und unsere kanak­operaistischen Leidenschaften bewusst und setzten uns mit dem dem Communitywissen für das ein, was wir heute das Ende der Dialogkultur nennen. Die Einschreibung dieser positionalen Dimension des Politischen in eine theoretische Praxis motiviert unser Begehren nach einem willkürlichen Abschluss. Er ist Moment einer historischen Konjunktur und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Den aktuell existierenden Antirassismus und seine Legalisierungsphobie darin zu denken impliziert eine Art Unterbrechung, die unter dem Zeichen einer Desintegration einer bestimmten Art von antirassistischem Defätismus stattfindet. Der damit vollzogene Bruch muss allerdings historisiert werden. Unser Einsatz richtet sich gegen eine bestimmte bereits ins Wanken geratene Formation des antirassistischen Diskurses und seine prekäre Arbeitsteilung.

Papers and Roses ? Defensive des Antirassismus

Im Rückblick zeigt sich, dass die Defensive das zentrale Element des Antirassismus der 1990er Jahre war. Langfristig konnte er keine Erfolge erzielen, die politisch repräsentierbar gewesen wären, d.h. die sich konkret in kollektive Rechte von MigrantInnen niedergeschlagen hätten. Wichtiger noch, die Forderung nach »offenen Grenzen« oder eben dem »Bleiberecht für alle« abstrahierte von den unterschiedlichen Widerstandsbedingungen, unter denen Leute für diese Rechte kämpfen können. Die deutschen Unterstützer haben diese Rechte selbstverständlich, fordern sie für andere, setzen dabei aber nicht an der Tatsache an, dass sich MigrantInnen täglich diese Rechte nehmen. Wenn die antirassistische Linke und zum Teil auch die liberale Öffentlichkeit das »Bleiberecht« forderte, wurde oft mit den Verhältnissen in den Herkunftsländern argumentiert. Jedoch nur in Einzelfällen konnte diese Strategie erfolgreich intervenieren. Pro Asyl wirbt dementsprechend mit dem Slogan »Der Einzelfall zählt«, statt Kollektivrechte für MigrantInnen zu fordern. Über die eigene Verstrickung in die rassistischen Verhältnisse einer paternalistischen Betreuungspolitik kann weiter geschwiegen werden. Das Asylrecht hat seine zentrale Bedeutung für Migrationsprozesse längst verloren. Prozesse der Illegalisierung sind an seine Stelle getreten. Der subjektive Faktor der Migration, die Organisierung des alltäglichen (Über-)Lebens von MigrantInnen, muss Ausgangspunkt einer anti­rassistischen Politik werden, die nicht mehr darauf beschränkt wäre, arbeitsteilig auf Gesetzesverschärfungen zu reagieren. Schon viel zu lange betreuen die einen Flüchtlinge, kämpfen andere gegen Neonazis im Osten und anderswo, und wieder andere erklären, warum es nicht um Fremdenfeindlichkeit sondern um Rassismen geht. Diese Arbeitsteilung war zwar unumgänglich, darf aber nicht unhinterfragt fortgeführt werden. Wie auch der Sommer der vier Camps 2002 gezeigt hat, bleibt eine produktive Auseinandersetzung innerhalb der antirassistischen Szene aus, durch die sich unterschiedliche Akteure in ihren Differenzen als Teil einer Multitude artikulieren könnten.

Karawane und Residenzpflichtkampagne oder: die Selbstorganisierung der nackten Präsenz

Die Vision autonomer politischer Organisationsstrukturen für und von MigrantInnen in den antirassistischen Kämpfen hat eine lange Geschichte in Almanya. Die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten wurde 1998 in Bremen aus der Krise der migran­tischen Selbstorganisierung heraus geboren. Die hohe Mobilisierungs- und Vernetzungsintensität der 90er Jahre sollte in einen veränderten Kontext überführt werden, der sich nicht primär vom Widerstand gegen den Naziterror definieren ließ. Die Karawane bündelte viele der lokalen Initiativen, um so zu einem Fokus einer neuen Bewegung zu werden. Die organisatorische Konzeption als Modell für die anvisierte bundesweite Organisierung versuchte die lokalen, multinational zusammengesetzten Flüchtlingslagerkomitees zu verallgemeinern und war somit das Gegenstück zu den deutsch-mono­nationalen Flüchtlingsräten von Pro Asyl. Es ist jedoch nicht gelungen, ein breites Netzwerk zu etablieren. Trotz des Slogans der ersten Karawane »Wir haben keine Wahl, aber eine Stimme« gelang keine Öffnung zu anderen Migrantencommunities. Sie blieb eine multinationale Organisation von afrikanischen Flüchtlingen in Deutschland. Die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten konzentrierte sich auf politische Fluchtgründe und auf die Organisation des Widerstands innerhalb der Flüchtlingslager und erschwerte damit einen möglichen Austausch mit Kanak­communities der x-ten Generation oder machte ihn sogar unmöglich.

Auch die Auseinandersetzung mit Rassismus blieb aufgrund der expliziten Selbstbeschränkung explizit auf die Asylpolitik defensiv ausgerichtet. Mit einer anderen Schwerpunktsetzung als die ambulante »Bleibe­recht­kampagne« der Karawane startete die Residenzpflichtkampagne von The Voice und der Flüchtlingsinitiative Brandenburg. Ausgehend von der Skandalisierung einer im europäischen Migrationsregime einmaligen Beschränkung der Bewegungsfreiheit von AsylbewerberInnen und getragen von der Idee der Politisierung und Organisierung des alltäglichen Bruchs von AsylbewerberInnen mit dieser nicht hinnehmbaren Schikane, gipfelte die Kampagne 2002 in einer für die letzten Jahre einmaligen Demonstration in Berlin. Für drei Tage war der Schlossplatz in Berlin-Mitte Domizil für Flüchtlinge und UnterstützerInnen. Die Aktionstage endeten mit einer bundesweiten Demonstration durchs Zentrum der Stadt mit über 3.000 TeilnehmerInnen. Ein wesentliches Ziel konnte erreicht werden: Flüchtlinge, die sonst zumeist in abgelegenen Heimen leben müssen, eigneten sich Schritt für Schritt den Schlossplatz in Berlin an und unterliefen praktisch die Residenzpflicht. Die meisten Flüchtlinge kamen ohne Urlaubsschein nach Berlin. Die sonst übliche Verfolgung dieser »Ordnungswidrigkeit« wurde von den Behörden für die Dauer der Refugees-reclaim-the-streets-Aktion toleriert. Vom Standpunkt der Organisation und Autorepräsentation der MigrantInnen aus gesehen, ist es den AktivistInnen gelungen, einen politischen Diskurs mit breiter Mobilisierungsattraktivität innerhalb der Flüchtlingscommunities zu etablieren, in dem die eigenen Erfahrungen von Inhaftierung und Entrechtung im Zusammenhang mit einer Kritik der internationalen Arbeitsteilung gedacht werden könnte. Dieser Diskurs führte aber nicht zu mehr Selbstverständigung über die Lage der Flüchtlinge, sondern wurde zu einem Teil der antirassistischen Arbeitsteilung mit den üblichen staatsphobischen Reflexen und Forderungen nach dem Bleiberecht für alle.

Interlude: Wanderkirchasyl for ever

Im brandenburgischen Schwante drang im Januar 2003 die Polizei bei der Suche nach zwei illegalen Vietnamesen in ein Kirchenasyl ein. Sie durchsuchte, wenn auch vergebens, ein Pfarrhaus. Der eigentlich unspektakuläre Fall sorgte für eine revanchistische Debatte um die Entsorgung der kurzen Geschichte des Kirchenasyls in der Berliner Republik. Die damit gefeierte Wiederherstellung des staatlichen Monopols auf Abschiebung antwortet auf eine Bewegung, die zwischen 1996 und 2002 immerhin in zwei Drittel der Fälle Abschiebungen dauerhaft oder zumindest vorläufig verhindert hat.

Die Initiative Wanderkirchenasyl wurde im Januar 1998 gegründet, um etwa 450 illegalisierte kurdische Flüchtlinge vor der Abschiebung zu schützen. Alle Kirchengemeinden brauchten nur für einen überschaubaren Zeitraum von meist vier Wochen ihre Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen; die kurdischen Flüchtlinge wanderten danach in eine andere Kirche, womöglich in eine andere Stadt weiter, aufgeteilt in mehrere Gruppen. Die Flüchtlinge hatten sich zur Aktionsform »Wandern« entschlossen, um in immer neuen Städten ihre Forderung zu propagieren: den Stopp der Abschiebungen in die Türkei. Bis zum Sommer 1998 hatte sich das WKA auf über 200 illegalisierte kurdische Flüchtlinge ausgeweitet, mehr als 50 Gemeinden (z.T. zusammengeschlossen in Netzwerken wie Asyl in der Kirche in Nordrhein-Westfalen oder kein mensch ist illegal). Im Frühsommer 1998 änderte sich mit der definitiven Weigerung der Landesregierung Nordrhein-Westfalens, einen landesweiten Abschiebestopp in die Türkei zu erwägen, auch der asylpolitische Schwerpunkt der Aktion in ein Konzept der Mini-Legalisierung. Von der neuen rot-grünen Bundesregierung kamen keinerlei positive Signale, die Flüchtlinge durch einen Abschiebestopp zu schützen. Angesichts dieses Kräfteverhältnisses ergänzte das WKA seine Forderung nach Abschiebestopp für (illegalisierte) kurdische Flüchtlinge um die Forderung nach dem Schutz wenigstens der TeilnehmerInnen am WKA. Doch auch diese reduzierte Forderung scheiterte am Widerstand der nordrhein-westfälischen Landesregierung und der Kirchenleitungen, die gemeinsam mit dem Innenministerium die Aktion beenden wollten. Schließlich sahen sich die Flüchtlinge im Januar 1999 dazu gezwungen, in eine nochmalige Einzelfallprüfung einzuwilligen, in der das Verfolgungsschicksal und die persönliche Situation jedes Einzelnen von den Asylbehörden erneut überprüft werden sollten, allerdings nur der Flüchtlinge, die ihren letzten legalen Aufenthaltsort in NRW gehabt hatten. Seit diese Einzelfallprüfung läuft, haben bislang etwa ein Viertel der Flüchtlinge ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten, der Rest ist immer noch so »illegal« wie zu Beginn der Aktion. Das Wanderkirchenasyl steht für das traurige Scheitern des Versuchs, Asylpolitik in die Zivilgesellschaft zu implementieren, und zugleich für den Versuch, in diesem Scheitern die vagen Konturen für eine offensive Politik für Rechte zu ergründen.

PRO ASYL und KMII oder: die Selbstorganisierung der Absenz und die Unentschlossenheit

Während in Paris Frankreich die zweite Generation der Sans Papiers für ihre Rechte auf die Straßen geht, bleibt in Deutschland die Kriminalisierung von MigrantInnen mit irregulärem Aufenthalt weitgehend unwidersprochen. Dabei stehen nach dem Ausländergesetz alle hier lebenden Leute ohne deutschen Pass unter einem grundsätzlichen Aufenthalts­vorbehalt. Das kommende Zuwanderungsgesetz wird Tausende von MigrantInnen illegalisieren, die seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten hier leben. Geplant ist eine Abschaffung der Duldung. Viele werden lieber ohne Papiere hier bleiben, als sich von den Innenministern abschieben zu lassen. In dieser Situation fordern PRO ASYL und diverse Flüchtlingsräte eine »unbürokratische Bleibe­rechts­regelung«. Mit einem Forderungskatalog wollen sie »konkret und praktisch« gegen die Abschaffung des Duldungstitels vorgehen: »Wer lange hier lebt, soll bleiben dürfen.« Unter dem Slogan »Hier geblieben!« fordert PRO ASYL in guter Tradition ein »Recht auf Bleiberecht«. PRO ASYL will die Politik beim Wort nehmen und appelliert so an die moralischen Gefühle der »Gesellschaft«. Damit schaffen sie gerade nicht die Bedingungen dafür, dass MigrantInnen ihre Forderungen zur Sprache bringen können. Nicht der Forderungskatalog von PRO ASYL an sich, sondern der Kontext, in dem diese Forderungen »gewährt« werden sollen, ist problematisch: Wer besonders schwer betroffen ist, sei es von den hiesigen Ausländergesetzen oder den traumatischen Erlebnissen im Herkunftsland, verdient großzügige Behandlung durch die deutsche Politik. MigrantInnen sind natürlich »Betroffene«, aber keine Opfer, denen geholfen werden muss. Dass für PRO ASYL - die prominenteste NGO des Antirassismus - eine Legalisierungsoffensive bestenfalls nur als ein kosmetischer Unterpunkt in ihrem Konzept vorstellbar ist, hängt mit der institutionalisierten Verkürzung des Antirassismus in der professionalisierten Flüchtlingsunterstützungspolitik zusammen.

Anders als PRO ASYL ist das Kölner Netzwerk kein Mensch ist Illegal seit seiner Gründung mit Fragen der Legalisierungspolitik konfrontiert. Mit seinem während der Documenta vorgestellten Gründungsaufruf vollzog sich auch strategisch die Wende von der Verteidigung des Asylrechts hin zur Politisierung der Illegalität, des Widerstands gegen die radikale Verweigerung des Anrechts auf Rechte. Aber angesichts der politischen Heterogenität des Netzwerkes und seiner De-facto-Funktion als Dachverband autonomer AntirassistInnen und FlüchtlingsaktivistInnen mündete die im Rahmen von KMII und von der Hamburger Redaktionsgruppe off limits initiierte Legalisierungsdebatte Mitte der 90er Jahre in Unentschlossenheit. KMII changierte so lange zwischen den sich gegenseitig blockierenden Strömungen innerhalb des Netzwerkes und der erreichten Dynamik der Karawane- und Residenzpflichtkampagnen, dass der Kompromiss schließlich die Unentschlossenheit in De-Thematisierung verwandelte. Die gegenwärtige Strategiedebatte innerhalb von KMII weist unterschiedliche Tendenzen auf. Einerseits gibt es vielfache Berührungsängste mit dem Terminus Legalisierung. Daraus folgt eine Strategie, drei Ebenen des Kampfes zu bestimmen, die alle negativ organisiert sind: Die Kampagne gegen die International Organization for Migration (IOM), die Transnationalisierung antirassistischer Kampagnen in Europa und die Skandalisierung der Abschiebezentren bzw. -lager. Mittlerweile stellen viele die Notwendigkeit heraus, die Kämpfe der Migration zum Fokus der Bewegung zu machen und betonen, dass es eines Projektes bedarf, das über eine nur radikale Kritik hinausgeht und »das praktisch die Ansprüche und Kämpfe um Bleiberecht, soziale Mindestgarantien und politische Emanzipation unterstützt und begründet« (KMII). Genau hier sehen wir eine Verbindung zu unserer Forderung nach dem Recht auf Legalisierung.

Konstitution oder: Catch me if you can

Auf einer Veranstaltung, bei der VertreterInnen der Gruppe Kanak Attak mit einer MigrantInnenorganisation aus den USA über Kämpfe der Migration diskutierten, fiel u.a. die Bemerkung, dass in Deutschland mehr als acht Millionen Ausländer leben. Acht Millionen, die nicht wählen können und hier mehr oder weniger unter Vorbehalt leben. Das für uns selbstverständliche Wissen löste im mehrheitlich deutschen Publikum zum Teil Empörung aus. Leute mit jahrelanger Erfahrung im antirassistischen Millieu gaben erstaunt zu Protokoll: Das sind ja zehn Prozent der Bevölkerung! Ein Skandal!

Natürlich sind diese zehn Prozent keine einheitliche Größe. Das Ausländergesetz kennt verschiedene Rechtskategorien, mit denen der Status von AusländerInnen geregelt wird. Von den ökonomischen Unterschieden ganz zu schweigen. Sicher ist aber, dass es zwischen beidem einen Zusammenhang gibt. Je weniger Rechte eine/r genießt, je prekärer, je unsicherer der Aufenthalt ist, desto einfacher die Überausbeutung. So grob diese Beschreibung ist, kennzeichnet sie doch die Grundlinien des Verhältnisses. Die Vielfalt dieser Leute korrespondiert mit einer Vielfalt von alltäglichen, kaum Kämpfe zu nennenden kleinen und großen Taktiken, mit denen entlang der vom Ausländergesetz diktierten Unverschämtheiten Spielräume erkämpft werden. Man verschafft sich Jobs, einen Krankenversicherungsausweis, heiratet oder organisiert die richtigen Kontakte.

In den Communities existiert ein Wissen über die vielen Formen der Entrechtung, einfach weil sie am eigenen Leib, beim Nachbarn, der Cousine oder dem Arbeitskollegen erfahren werden. Sei es, dass bei Verurteilungen zu Haftstrafen Abschiebungen drohen, man auf dem Arbeitsamt dank »Inländerprimat« den Job nicht bekommt oder die Kinder automatisch auf die Haupt- oder Sonderschule geschickt werden (was freilich in keinem Gesetz steht). Migrantische Zeitungen bieten Serviceteile, die speziell über die ausländerrechtlichen Schikanen berichten ? aber auch über »ganz legale« Tipps und Tricks dagegen. Man sollte diese alltäglichen, nahezu banalen Selbstverständlichkeiten nicht zu einem Widerstandsmythos hochstilisieren. Gerade in ihrer Banalität liegt ihre Wahrheit. Ähnlich wie Krankfeiern, Absentismus und lange Kaffeepausen kein Ausdruck eines revolutionären Arbeiter- und Angestelltenkampfs sind, verweisen diese Taktiken dennoch auf die Tatsache, dass die rassistische Unterschichtung der Gesellschaft nicht ohne den Widerstand - und sei er noch so klein - zu haben ist.

Schon seit den frühen 80er Jahren hat der radikalere Teil der MigrantInnen von einer Bewegung aller AusländerInnen geträumt, sei es in Gestalt eines Ausländerstreiks oder ähnlicher Massenmobilisierungen. Motto: Kanaken aller Länder, vereinigt euch! Die Unterschiedlichkeit der Kanak-Communities scheint aber gegen eine solche Strategie zu sprechen: Was haben MigrantInnen mit unbefristetem Aufenthaltsrecht mit den Papierlosen zu schaffen? Was haben die Roma und ihr Kampf ums Bleiberecht mit den Kämpfen gegen die Residenzpflicht zu tun?

Wenn wir von Legalisierung sprechen, dann geht es genau um diese Lücke. Die Sans Papiers sind nur die Spitze des Eisbergs der Entrechtung. Wenn wir von Legalisierung sprechen, geht es nicht um eine rein administrative Bereinigung des Skandals, dass Leute ohne Papiere in Deutschland leben, sondern um die ganze Spannbreite der Entrechtung von Migrantinnen und Migranten. Von der Legalisierung reden heißt daher, die Verbindung zwischen diesen verschiedenen Modi der Entrechtung herzustellen und sie in eine gemeinsame Perspektive zu stellen. Damit greifen wir auch die Ideologie der Integration an, die einem Teil der Kanaken verspricht, es entgegen aller Unkenrufe über Diskriminierung und Rassismus trotzdem schaffen zu können. Wer sich nur anstrengt - Deutschlernen und Sich-Anpassen sind das Mindeste -, dem winken kleine bis mittlere Vergünstigungen. Stattdessen muss die Frage der Rechte in den Mittelpunkt gestellt werden. Das Reden über Integration ist nichts weiter als eine permanente Verschiebung: Seit über vierzig Jahren wandern de facto Menschen aus anderen Ländern in die Bundesrepublik ein (seit über 100 Jahren gibt es Arbeitsmigration in den verschiedenen deutschen Staaten). Seit etlichen Jahrzehnten existiert eine Gruppe von Menschen in diesem Land, die - und das ist nur ein Teil des Problems - nicht einmal wählen dürfen. Statt diese simple Tatsache endlich anzuerkennen, werden immer neue Modalitäten erfunden, die Kanaken draußen zu halten.

Es ist vielleicht nicht zu erwarten, dass acht Millionen Migrantinnen und Migranten für ein und dieselbe Sache auf die Straße gehen werden - aber darauf kommt es gar nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass mit der Legalisierung eine Reihe von Kämpfen miteinander verbunden werden kann. Es ist zwar »nur« das Ausländergesetz, das die rumänische Software-Expertin und die senegalesische Reinigungskraft miteinander in Verbindung bringt, das heißt aber auch, dass nur ein Kampf gegen dieses Gesetz, gegen die praktische Vorenthaltung von Rechten den Widerstand neu zentrieren, neu ausrichten kann. Diese Verbindung im Kampf um Legalisierung kann nicht additiv sein, sondern muss darin bestehen, den Aspekt der Entrechtung und die aktive Aneignung, das Rechte-Nehmen in den Vordergrund zu stellen.

Und mehr als das: Wir würden endlich aufhören, die mageren Reste dessen zu verteidigen, was man nur noch mit Zynismus das kleinere Übel nennen kann. Auf dem migrationspolitischen Terrain dominieren immer noch Strategien, wie sie in der Sozialpolitik von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten vertreten werden: Retten, was zu retten ist, ohne das System in seinen Grundstrukturen anzutasten. Und wer bei den notwendig werdenden Reformen dann rausfällt, fällt eben raus. Der Preis dafür ist hoch, er besteht in der langfristigen Desorientierung über die politischen Ziele und reduziert die Frage nach der praktischen Politik auf quantitative Kompromisse. Aus dieser defensiven und phantasielosen Starre können wir uns nur befreien, wenn wir uns nicht mehr abstrakt die Frage stellen, welche Forderung in der Logik dieses Politikverständnisses nun die richtige sei. Sie wird immer identisch ausfallen - die Forderung nach offenen Grenzen und die Verteidigung des Asylrechts stellen dabei nur die beiden Pole eines gleichmäßigen Kontinuums dar. Maximalismus und so genannter Realismus verhalten sich spiegelbildlich zueinander, ihre Übergänge sind theoretisch und in der Praxis fließend. Worauf aber kommt es dann an?

Eine Bestimmung der »richtigen Politik« kann nicht auf einer moralischen oder humanistischen Grundlage erfolgen, sondern vielmehr auf einer, die man mit Lenin die »konkrete Analyse der konkreten Situation« nennen könnte. Es handelt sich um eine Perspektive der Immanenz, in der die Forderung nach Legalisierung nicht daran zu messen ist, ob sie »weit genug« geht, sondern ob sie in der historischen Konstellation und der aktuellen Konjunktur die für die gesetzten politischen Ziele adäquaten Korridore öffnet. Immanenz heißt dabei zwar, die Kämpfe in den Mittelpunkt zu stellen, nicht jedoch, ein neues revolutionäres Subjekt zu bestimmen. Es geht eher darum, sich vom Subjekt im Allgemeinen, vom Subjekt der Geschichte, des Kapitals oder der totalitären Gesellschaft zu verabschieden. Dieses Verständnis der Legalisierung steht damit auch für einen anderen Typus von Politik.

Und das macht es so schwierig. Denn es geht weder darum, ein Gesetzesvorhaben durchzuboxen, noch möglichst radikal die Verhältnisse in Frage zu stellen. Deutlich wird das am Gegenstand der Rechte selbst, denn die Legalisierungsforderung berührt offensichtlich die Frage nach Gesetzen und damit auch die Frage des Staates. Fordert also Gesetze, wer um Rechte kämpft? Das Recht ist die Form, in der den Herrschenden Kompromisse abgerungen werden können. Wir schreiben also keine Gesetze, sondern fordern Rechte, die es noch nicht gibt. Rechte, die sich Leute bereits jeden Tag nehmen, ohne dass sie ihnen gewährt werden. Rechte zu fordern bedeutet nicht automatisch, Gesetze zu fordern. Gesetze sind immer die staatliche Antwort auf den Kampf um Rechte, was nicht bedeuten kann, diesen Kampf gar nicht erst aufzunehmen. Der Kampf für das Recht auf »free movement« etwa ist nicht deshalb erfolgreich, weil er die Residenzpflicht abschafft oder nicht. Er ist erfolgreich, weil er den Kämpfenden ermöglicht, ihre Praxis - die alltägliche Praxis wie die der sozialen und politischen Organisierung - zu erweitern und als den Kampf um ein Recht zu artikulieren. Er muss sich auf die Erfahrung eigener Netzwerke und Kollektive beziehen, die MigrantInnen seit Generationen ermöglichen, dauerhaft in Deutschland leben zu können. Die Forderung nach Rechten ist somit kein Appell an den Staat, sondern Folge einer Reflexion der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen antirassistischer Kämpfe.

Rechte zu fordern kann, so unsere Annahme, unter bestimmten Bedingungen bedeuten, zunächst einmal Gesetze in Frage zu stellen. Das ergibt Sinn, wenn man die Aussage nominalistisch liest, nicht im Sinne einer außerdiskursiven »realen« Referenz, sondern als Abgrenzung von anderen Aussagen im Kontext des Diskurses über Verrechtlichung in Almanya, der alles andere als Befreiung oder Parteilichkeit für die MigrantInnen mit sich brachte. Und wenn man dem Satz ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenkt, könnte man auch zu der Schlussfolgerung gelangen, dass er in einem Punkt stimmt: Tatsächlich ist die Geschichte der Verrechtlichung des Begehrens nach X immer zuerst ein Bruch mit denjenigen Gesetzen gewesen, die die Forderung nach Rechten undenkbar machten. Genau an dieser Stelle gilt es, die strikte Trennung zwischen Recht und Gesetz zu hinterfragen. Prophylaktisch auf die dunkle Seite der Verrechtlichung der Multitude zu verweisen und sich staatsphobisch außerhalb des Wirkungskontextes von Alltag und Imagination für ein besseres Leben zu platzieren, zeugt sicherlich mehr von religiösen Fixierungen unbefleckter Subversion als von kanakischer List. Man muss sich also durchaus mit der staubtrockenen Frage beschäftigen, auf welchen gesetzlichen Rahmen sich eine Legalisierungsforderung eigentlich bezieht. Dieser könnte zum Beispiel die Rechtspraxis einer institutionalisierten, permanenten Legalisierung sein, jedes Jahr, alle zwei Jahre, alle drei oder fünf Monate. Das hängt von der Kraft des Legalisierungsblocks ab und vor allem von seiner Fähigkeit, die Offensive mit Forderungen anderer Bewegungen und kanakischer Realitäten zu verbinden. Die Voraussetzung dafür, und das ist das Entscheidende in unseren Augen, ist die Durchsetzung der Anerkennung des Rechts auf Mobilität in dieser historischen Konjunktur.

Wenn wir die Möglichkeit, die Kraft und die strategischen Vorteile besitzen, Gesetze durchzusetzen, dann sind dies Gesetze, die die Signatur einer lebendigen Bewegung tragen. Wenn wir aber mit Gesetzesvorlagen konfrontiert sind, die weder die Signatur einer Bewegung tragen noch mittelfristig in die Richtung wirken, die politisch erstrebenswert erscheint, dann geht es nicht so sehr um Gesetze oder deren Akzeptanz, sondern um Kompromisse und den strategischen oder taktischen Umgang damit. Wir stehen heute weder vor der ersten noch der zweiten Option. Weder haben wir die Möglichkeit, unsere Vorstellungen unmittelbar durchzusetzen, noch gibt es eine Kompromissoption in der aktuellen Debatte, zu der wir uns positionieren müssten.

Gerade deshalb interessieren wir uns für den Aspekt der Autonomie der Migration, der in diesen Kämpfen entwickelt wird. Dort liegt für uns auch die einzige Chance. Wir werden nicht diejenigen sein, die am Ende ein Gesetz machen (schon gar nicht jene, die jetzt schon prekäre Aufenthaltstitel haben), aber was wir bekommen können, ist ein Gefühl für unsere Stärke, für Veränderbarkeit in den bereits existierenden Lebensverhältnissen (die nicht zu heroisieren oder zu beschönigen sind). Gesetze sind Ausdruck eines Kräfteverhältnisses, auf das es deshalb ankommt. Wir glauben, dass es noch nie eine so günstige Konjunktur für eine Legalisierungs­kampagne mit breiten mobilisierenden Wirkungen gegeben hat. Nicht vom Staat gewährte Rechte können mit anderen Kämpfen verbunden werden. Deren Durchsetzung hängt stark von den Formen der institutionalisierten Kompromisse ab, die der Antirassismus zu erzwingen bereit wäre. Die Trennung der emanzipatorischen Momente eines Kampfes um Rechte vom Recht als der Verwaltung des Lebens wird sich in der Frage verdeutlichen, ob dieser Kampf und seine Resultate den Bewegungsspielraum der Menschen erweitern oder einengen. Illegal, das können prinzipiell alle Leute werden, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben und ohne Ticket fahren, unangemeldet in der WG wohnen oder ganz einfach am Sonntag auf der falschen Baustelle arbeiten. Bis heute kann jede Migrantenfamilie eine Geschichte der Illegalisierung erzählen. Es geht um Rechte, die ihren realen Lebensverhältnissen entsprechen, und um neue Möglichkeiten und Bedingungen für KanakInnen und AntirassistInnen, ihren Widerstand offensiv zu organisieren.


Strategia Kanak - Recht auf Rechte global

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Im Wartezimmer des Weltgeistes ...

... sind nicht alle Plätze gleich behaglich verteilt. Wir alle wissen, wie das Gesetz zur "Regelung und Begrenzung der Zuwanderung" die Lebenschancen von Menschen ohne deutschen Pass hierarchisieren wird. In dieser Funktion - und zwar nur in dieser - unterscheidet es sich lediglich durch seine Vereinfachung und rassistische Radikalisierung vom Dschungel der früheren Ausländergesetzgebung.

Nun ist der Entwurf von Rechts ausgebremst und an den Deppen dieses Landes vorerst gescheitert. Kein Grund zur Freude, bedeutet es doch wahrscheinlich, dass die kommende Neufassung ausschließlich von rechts diktiert werden wird. Aber es bietet sich trotzdem die Chance in dieser Konstellation eine antirassistische Fundamentalopposition zu etablieren. Es ist wichtig zu verstehen, dass das Gesetz der Partizipation breiter zivilgesellschaftlicher Zirkel von Pro Asyl über feministischen Flüchtlingsunterstützerinnen bis zu kirchlichen AntirassistInnen bedurfte, die in der Hoffnung auf geringfügige inhaltliche Mitbestimmung mit an diesem Gesetz gebastelt und dadurch legitimiert hatten. Jetzt ist der Augenblick gekommen Bilanz zu ziehen und die Enttäuschung über das Scheitern, ein bisschen rotgrün mitzuregieren, in Verweigerung an diesem Projekt zu verwandeln. Nur ein klares Nein kann den Effekt haben, dass sich das kommende Einwanderungsgesetz zu unseren Gunsten neigt.

Denn nach wie vor steht es für den Versuch des Staates, abgestufte Lebensqualitäten für verschiedene Bevölkerungsgruppen festzulegen. InhaberInnen einer Greencard, StudentInnen anderer Länder, GastarbeiterInnen, Hausarbeiterinnen, deren Aufenthaltserlaubnis seit neuestem an einen bestimmten Arbeitgeber gebunden ist, Eheleute in privater Abhängigkeit von einem oder einer Partner/in mit deutschen Pass, ReproduktionsarbeiterInnen in Sex- und Pflegediensten, SaisonfeldarbeiterInnen und Bauarbeiter, in Lagern verwahrte und zur Untätigkeit verurteilte AsylbewerberInnen ihnen allen werden durch das Gesetz bestimmte Rechte verliehen oder aberkannt.

Zu diesem Composé gesellen sich die alltäglichen Gängelungen und Handgreiflichkeiten, die Denunziations- und Mordlust, sowie auch die AnhängerInnen des Multiculturalism, die ihren Gemüsetürken ebenso verteidigen wie ihre polnische Putzfrau, die zu black music cruisen und Kennenlern- und Solidaritätsfeste vor ihrem lokalen Asylbewerberheim organisieren, aber auch gerne mal mit Nazis über deren soziale Probleme reden. Zusammen mit den staatlichen Institutionen bilden sie das Migrationsregime, das je nach Interessenlage und Neurosenkonjunktur meint, mitentscheiden zu können, ob und welche Rechte MigrantInnen gewährt werden.

Das gesamte Setting der gesellschaftlichen Privilegierung und Entrechtung, die das Leben und Überleben von MigrantInnen garantieren oder in Frage stellen, wird dabei von den meisten Deutschen als etwas begriffen, was Kanaken abhängig von ihrer Nützlichkeit, ihrer Kooperationsbereitschaft und ihrem Verhalten passiv erhalten oder erleiden. Das Migrationsregime präsentiert sich als ein Prinzip des Gebens und Nehmens und der Terminus, um den sich dieser Kuhhandel dreht, wird Integration genannt.

No Integration !

Integration ist derzeit der zentrale Begriff zur Durchsetzung rassistischer Subordination in Deutschland. Er fungiert in doppelter Bedeutung: Zunächst als Forderungs- und Unterwerfungskatalog für widerspenstige Kanaken, dann aufgrund seines inhärenten falschen Versprechens als internalisierte Selbstentwaffnung von MigrantInnen selbst.

Auch historisch ist die Rede von der Integration als eine staatliche Entgegnung auf die Kämpfe von MigrantInnen zu verstehen. Im neuen Einwanderungsgesetz jedoch werden bisher willkürlich erwartete Integrationsleistungen nun erstmals einheitlich geregelt – als Punktesysteme für kulturelle Zwangsfortbildungen. Wer nicht genügend Punkte sammeln kann, den kostet es die Bürgerrechte oder die Aufenthaltsberechtigung.

Aber Integration ist mehr als ein Kampfmittel des Staates. Auch in der so genannten Zivilgesellschaft hat sich der Begriff – bis weit in die Linke hinein – durchgesetzt. Dort bedeutet Integration, Sympathievergabe für Kanaken an eine bestimmte, absolut willkürliche Vorstellung über deren Verhalten zu knüpfen, um ein gewünschtes Verhältnis von Biodeutschen zu Nichtdeutschen herzustellen. Behaupten die einen, Ausländer dann nicht mehr totschlagen zu wollen, wenn diese nicht mehr überall hin pissen und immer klauen würden, fordern die anderen weniger Sexismus bei den südländischen Männern, weniger Kopftuch bei den Frauen oder eine Abkehr vom individuellen Streben nach materiellem Wohlstand.

In der Reduktion migrantischer Alltagsverhältnisse auf Fragen des falschen Lebensstils erfüllt sich jedoch der einzige Zweck von Integration: Den Kampf um Rechte und Autonomie – die einzig wirklich interessante Option für Kanaken – in ein Projekt des Scheiterns zu überführen.

Die Geschichte des Integrationsterrors gegenüber Sinti und Roma, die hundertjährige Geschichte von schwarzen Deutschen oder die fünfzigjährige Geschichte der GastarbeiterInnen in diesem Land haben uns den Charakter dieser Integrationslüge mehr als deutlich werden lassen. Es wird kaum auf etwas aggressiver reagiert, als auf den Kanaken, der nicht mehr als solcher zu identifizieren ist. Die liminale Phantasie der Mehrheitsgesellschaft, die bestimmen möchte, was aus integrierten Kanaken wird, sieht keine Gleichheit vor, sondern eine exotisierte Fiesta der Kulturen, auf der die Schwarzen tanzen, die Italiener Pizza machen und die Zigeuner über die Lande fahren. Wer sich nach einem negativ ausgefallenen Ethno-Check schon einmal einen kulturkundlichen Vortrag geballter deutscher Volksweisheit über seine eigenen angeblichen migrantischen Wurzeln und Traditionen anhören durfte – nebst Gebrauchsanweisung für den authentisch-feurigen Habitus –, weiß von was hier die Rede ist. Oder anders gesagt: Integration heißt, ‘assimiliert euch, aber bleibt exotisch’. Das ist das doppelte Spiel des Rassismus und des falschen Antirassismus, das in der stereotypen Karnevalisierung von Alltagspraxen das rassistische Konzept von Multikulti plus Integration beschreibt.

Das Recht auf Legalisierung

Der Kampf um Rechte ist für uns damit automatisch ein Kampf gegen Integration, gegen die Willkür behördlicher Behandlung und gegen die Abhängigkeiten von deutschen antirassistischen Wohltätigkeitsbasaren. Dieser Kampf muss sich auf die Erfahrung eigener Netzwerke und Kollektive beziehen, die es MigrantInnen seit Generationen ermöglichen, dauerhaft in Deutschland leben zu können. Die Forderung nach Rechten ist somit kein Appell nach Legitimation an den Staat, sondern die Folge einer Reflexion der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen antirassistischer Kämpfe. Wer Rechte fordert, fordert keine Gesetze, sondern stellt sie zunächst einmal in Frage.

Beim Kampf um das Recht auf Legalisierung geht es uns auch nicht einfach um „die Illegalen“. Diese Zuordnung bleibt deshalb künstlich, weil sie keine Lebensverhältnisse beschreiben kann und damit auch keine politische Intervention ermöglicht. Der Status der Rechtlosigkeit überfällt einen nicht wie die deutsche Armee Polen, sondern erfolgt partiell und/oder schrittweise. So dürfen manche mit einem Universitätsvisum hier studieren, aber nicht arbeiten, andere kommen als TouristInnen, verlieben sich und wollen bleiben. Oder sie reisen als Ehegatten ein und trennen sich von ihrem deutschen Partner oder der deutschen Partnerin. GreencardlerInnen haben Arbeitsverträge, dürfen aber ihren Arbeitsplatz nicht wechseln, manche Flüchtlinge haben zwar das Recht, hier zu leben, dürfen aber wegen der Residenzpflicht ihren Wohnort nicht verlassen. Wieder andere dürfen als Gastarbeiter hier arbeiten und wohnen, aber nicht wählen. Schließlich gibt es noch die mehr als eine Million völlig ohne regulären Status hier lebenden Menschen, die aus ökonomischen Interesse geduldet werden, damit sie als unterstes Segment der Klasse die Deregulierung des Arbeitsmarktes auffangen sollen. Oder AsylbewerberInnen, deren Anerkennungsverfahren nicht positiv entschieden wird und die keine Lust auf die Torturen in den Korridoren der falschen Hoffnungen haben. Dann sind da noch die MigrantInnen, die schwarz arbeiten, aber dennoch erfolgreich ihren nicht erhaltenen Lohn einklagen. Wieder andere haben sogar einen deutschen Pass und werden dennoch ständig belästigt.

Illegal – das können prinzipiell alle Leute werden, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben und ohne Ticket fahren, unangemeldet in einer WG wohnen oder ganz einfach am Sonntag auf der falschen Baustelle arbeiten. Illegalisierung ist also ein Zustand und ein Prozess der Entrechtung, der alle Menschen ohne deutschen Pass und alle Kanaken per se betreffen kann.

Der Kampf für ein Recht auf Legalisierung kann somit keine Einpunktkampagne mit Stichtagsregelung für Sans Papiers sein, sondern setzt an den Lebensverhältnissen an, in denen MigrantInnen ohnehin schon für individuelle oder kollektive Rechte kämpfen: Für das Bleiberecht, für free movement oder bessere Löhne, für das Wahlrecht, gegen Abschiebung, für Greencards für SexarbeiterInnen, für Selbstverteidigung oder gegen die Ausbeutung innerhalb und außerhalb der Communities.

Seit einiger Zeit diskutieren wir deshalb zusammen mit migrantischen Gruppen, Flüchtlingsinitiativen, antirassistischen Netzwerken, Teilen der Gewerkschaften und vielen anderen, eine gemeinsame Offensive für das Recht auf Legalisierung. Wir erhoffen uns, dadurch möglichst viele Stränge, an denen MigrantInnen kämpfen, aufnehmen und miteinander verknüpfen zu können. Eine solche Bündelung könnte eine breite antirassistische Bewegung konstituieren, in der sich einzelne Politikfelder nicht einer großen Kampagne unterordnen müssen, sondern sich im Gegenteil jede Initiative auf die Mächtigkeit des gesamten antirassistischen Feldes berufen kann.

In dieser offensiven Überwindung der Arbeitsteilung sind die Kämpfe der MigrantInnen, ihre Erfahrungen, Niederlagen und Erfolge, ihre unabhängigen Netzwerke und subversiven Praktiken und Überlebensstrategien der gemeinsame Referenzpunkt; kurz: Die relative Autonomie der Migration, d.h. der subjektive Faktor einer Einwanderung, die sich nicht vollständig von staatlicher Politik steuern lässt.

Kommunismus

Diese Autonomie der Migration wird im Kampf „gegen die Festung Europa“ und „für offene Grenzen“, wie ihn viele deutsche Linke unter dem Motto „no border“ seit einigen Jahren proklamieren, ausgeblendet. Wer offene Grenzen fordert, behauptet oft genug – wie auch der BGS – die hermetische Geschlossenheit der EU-Außengrenzen. Damit wird jedoch deren faktische Durchlässigkeit, d.h. die organisierte, erfolgreiche und tagtägliche Grenzüberschreitung von MigrantInnen verschleiert oder als Verzweiflungstaten beschrieben, mit denen je nach politischem Kontext entweder die Festung Europa oder die Schlepperbanden skandalisiert werden sollen. In dieser aktuell dominanten Fokussierung auf das rassistische Grenzregime kommen Kanaken meist nur als Leichen zwischen den Surfbrettern von Tarifa oder an den Ufern der Oder/Neiße vor oder sie müssen als Grußadressen hinter stacheldrahtbewehrten Lagern herhalten.

Gewiss hat die Grenze die Funktion der Hierarchisierung, indem sie Pfade der Einwanderung zuweist, die oft Verelendung und Entrechtung mit sich bringen. Wer aber die sozialen Kämpfe jenseits und zwischen jeder beabsichtigten und vollführten staatlichen Reglementierung zum Bezugspunkt einer Politik macht, wird erkennen müssen, dass es migrantische Netzwerke gibt, die sich einen Dreck um diese Grenzen kümmern und sie organisiert überschreiten. Wer gegen Rassismus ist, den oder die sollte es doch inspirieren, dass dem Rassismus in unzähligen Momenten die Grundlage entzogen wird, und sich MigrantInnen längst faktisch die Rechte nehmen, die sie fordern. Er oder sie müsste zudem neugierig darauf sein, von diesen Praxen zu erfahren und sich mit den dahinter stehenden Menschen zu verbünden.

Jeder Hinweis auf erfolgreiche subversive Praxen von MigrantInnen und jeder Versuch, ihre Situation durch die Gewährung einzelner Rechte zu verbessern, verhallt in diesem leeren Ensemble linker Szenen ungehört. Genau hier schrumpft der antietatistische Radikalismus zum heimlichen Staatsfreund, da mit dem Gang aufs Ganze eine Kritik an der staatlichen Migrationspolitik als Verbesserungsvorschlag fehl gedeutet wird. Zurück bleibt das linksdeutsche Bedürfnis nach Stubenreinheit und der Antirassismus verkommt zum Bekenntnis zur caritativen Selbstverwaltung.

Wer jedoch, wie viele Kanaken, unterhalb der Klassenmobilität soziale und ökonomische Netzwerke schafft und jenseits von Staatsbürgerschaften Bürgerrechte fordert, stellt durch seine oder ihre bloße Anwesenheit mehr als nur das Migrationsregime in Frage. Auch wenn diese Netzwerke in keiner anderen Logik als der vorherrschenden funktionieren, wird eine staatlich-kapitalistische Vergesellschaftung implizit in Frage gestellt, ohne dass die politischen Subjekte die tradierten Kataloge der Herrschaftsformen durch deklinieren müssen. Eine Einsicht, die nicht nur der regulationstheoretisch geschulten Antiglobalisierungslinken gut stehen würde, die Migration ausschließlich als problematischen Effekt des Neoliberalismus versteht und sich damit implizit in einen rassistischen Widerspruch zur Autonomie der Migration begibt, statt in den weltweiten Migrationsströmen einen Ausdruck aktueller und kommender Kämpfe zu erkennen, mit denen es sich zu verbinden gilt.

Eine Politik für das Recht auf Legalisierung wie wir sie verstehen, birgt die Möglichkeit einer antirassistischen Mobilisierung, die auch die Wohn- und Bildungsmisere, die verschiedenen Formen von Ausbeutung wie diskriminierende Arbeitsbedingungen und sexistische Geschlechterverhältnisse zur Sprache bringen kann. Diese Form der Mobilisierung taugt weniger zum Distinktionsgewinn, sondern zielt auf die Bildung einer breiten Bewegung und eröffnet Möglichkeiten der Politisierung von Alltagsverhältnissen für eine offensive Intervention, in der ganz unterschiedliche Menschen als Subjekte vorkommen können.

Aber eines muss man bereit sein, in Kauf zu nehmen – auch gegen die eigene Analyse dieser Welt: Dass sich die Dinge auch zum Besseren wenden können.

Massimo Perinelli Kanak Attak

Zwölf Quadratmeter Deutschland

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Staatliche Maßnahmen und das Konzept der Autonomie | Manuela Bojadzijev.

Zum Verständnis der Migrationspolitik unter dem Imperativ der Integration hilft eine Betrachtung der vergessenen Betriebskämpfe und Alltagserfahrungen von Migranten im Nachkriegswestdeutschland seit den sechziger Jahren. Manuela Bojadzijev kontrastiert die damaligen Vorstellungen von Arbeiterautonomie mit aktuellen antirassistischen Debatten über die Autonomie der Migration.

Integration ist gegenwärtig der Schlüsselbegriff staatlicher Migrationspolitik. Die Autonomie der Migration geistert dagegen als rhetorische Figur seit neuestem durch antirassistische Diskussionen. Interpretiert als eine postoperaistische Neuauflage des Slogans »Für offene Grenzen«, verweisen Verfechter wie Kritiker dieser Figur entweder auf autonome Migration oder auf autonome Migrantinnen und Migranten, auf die Autonomie des Prozesses oder der Subjekte also. Doch das Problem der Autonomie löst sich nicht in diesem Unterschied.

Die Stichwörter Autonomie und Migration liefern einen aufschlussreichen historischen Link zum Konzept der Arbeiterautonomie, auch in Deutschland. Denn in den Streiks Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre stellten sich hier vor allem Migrantinnen und Migranten als deren Protagonisten heraus. Und Teile der radikalen Linken entdeckten beim Versuch, operaistische Erfahrungen und Konzepte aus Italien nach Deutschland zu übertragen, in ihnen das Muster militanter Massenarbeiter. Es begann die Zeit der multinationalen Betriebsarbeit.

Der kurze Traum der Arbeiterautonomie

Migrantinnen und Migranten als Avantgarde der Arbeiterkämpfe, als das revolutionäre Subjekt sui generis, so müssen sich die damaligen Kämpfe in den Augen vieler Linker dargestellt haben. »Die Lohnforderungen, die im Mittelpunkt dieser Kämpfe standen, entstehen als eine Konkretisierung einer viel weiter reichenden Rebellion gegen die eigene Lage der Unterordnung und Diskriminierung, gegen die eigene Emigrantensituation.« Dieses Resümee zog 1974 Lotta Continua, eine auch in Deutschland aktive Organisation der italienischen Neuen Linken.

Lotta Continua betrieb keine besondere Exotisierung migrantischer Subjekte. Der Schwerpunkt ihrer Analyse lag vielmehr auf der Konjunktur, in der der Typus des Massenarbeiters hervortritt, und zwar unter den neuen Bedingungen der multinationalen Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Deren Autonomie zeichne sich durch nicht partei- oder gewerkschaftsförmige Organisierung, durch Selbstorganisation gegen das Kommando des Kapitals aus. Durch die Kämpfe wurde nach dieser Analyse ein Maß an Arbeitermacht erreicht, das die Kriterien für weitere politische Auseinandersetzungen liefern sollte. Doch gerade was die Kämpfe jenseits der Betriebe betrifft, gingen die Versuche der Theoretisierung häufig an den Praktiken der Migrantinnen und Migranten vorbei.

Klassenkampf und Antirassismus. Ein Versuch, diese Praktiken aufzunehmen und die Interessen von »ausländischen Arbeitern« im Betrieb und im Alltag selbst zu organisieren, war der Circulo Cultural, das so genannte Spanische Zentrum in Essen. Das in der Innenstadt gelegene Haus des Kultur- und Arbeitervereins wurde während der siebziger Jahre zu einem wichtigen Ort dieser Interessenartikulation. Neben kleineren Räumen gab es dort einen Buchladen, eine Kneipe und einen Festsaal, der für größere Veranstaltungen genutzt werden konnte. Das Zentrum gab mehrere Zeitungen heraus, sorgte für medizinische und juristische Beratung und bot Unterstützung an, etwa in Wohnungsangelegenheiten, bei politischer Betätigung oder in Betriebskämpfen.

»Das Spanische Kulturzentrum in Essen«, so wird das eigene Programm in einer Selbstdarstellung umrissen, »ist ein Modell einer Arbeiter-Selbstorganisation, entstanden aus der dringenden Notwendigkeit der ausländischen Arbeiter, ihre Probleme selbst in die Hand zu nehmen, sowie als logische Konsequenz der absoluten Unfähigkeit deutscher sowie spanischer Institutionen, unsere Probleme zu beantworten.« Und weiter heißt es dort: »So konnte unser Kulturkreis mit seinem Wachsen Barrieren einreißen, Kontakte schaffen, nationalistische Vorurteile zerstören usw. und schuf somit die Voraussetzungen, um unserer Organisation einen multinationalen Charakter zu geben. In unseren Räumen treffen sich deutsche, türkische, italienische Gruppen usw. Sie diskutieren ihre Probleme und lösen sie auch, und zwar nicht nur auf der Ebene ihrer Nationalität, sondern in Zusammenarbeit mit allen anderen.«

Veranstaltungen, Beratungstätigkeiten und Sprachkurse, aber auch politische Aktionen eröffneten schließlich die Möglichkeit, öffentlich Druck auszuüben. Als spanische ArbeiterInnen 1972 mit ihren Familien wegen unzumutbarer Wohnverhältnisse ein Haus besetzten, ging so vom Essener Spanischen Zentrum eine der ersten erfolgreichen Hausbesetzungen der siebziger Jahre aus. Eine weitere zentrale Aktion zielte auf die Neuregelung des Kindergeldes, einer Maßnahme der Steuerreform der SPD/FDP-Regierung.

Worum ging es? Im Rahmen der Steuerreform sollte ab Januar 1975 der Kinderfreibetrag herabgesetzt und so die Lohnsteuer erhöht werden. Zum Ausgleich sah die Reform eine Anhebung des Kindergelds vor. Diese Erhöhung sollte aber nur für Deutsche, für Migrantinnen und Migranten aus den damaligen EG-Staaten sowie für jene aus Nicht-EG-Staaten gelten, die bereits länger als 15 Jahre in der BRD lebten. Andere sollten die in bilateralen Abkommen zwischen der deutschen Regierung und den Regierungen einzelner Herkunftsländer (wie der Türkei, Jugoslawien, Spanien, Portugal und Griechenland) ausgehandelten geringeren Kindergeldbeträge erhalten. Für die übrigen, die Migrantinnen und Migranten etwa aus Marokko und Tunesien oder aus fernöstlichen Staaten, existierten keine Sondervereinbarungen, das heißt, es gab auch kein Kindergeld.

Das Spanische Zentrum sah diese Maßnahmen der Regierung in der Kontinuität der Verabschiedung von Ausländergesetzen, des Aufnahmestopps von 1973 und der Weigerung, die Arbeitserlaubnis für Ausländer zu verlängern, die sich weniger als fünf Jahre in der Bundesrepublik aufhielten.

In 19 Städten bildeten sich so genannte Kindergeldkomitees, die sich bundesweit koordinierten. Sie traten gegen die Diskriminierung der Migrantinnen und Migranten auf und forderten gleiche Rechte für Deutsche und Ausländer. Ab dem Sommer 1974 führte diese Organisierung zu Demonstrationen in verschiedenen Städten und dann im November zu einer bundesweiten Demonstration in Frankfurt.

Allein in Essen kamen bei einer Demonstration im Juni 1974 10 000 Leute zusammen. Sie protestierten nicht nur gegen die Reduzierung des Kindergelds, sondern forderten ein Ende der Diskriminierung am Arbeitsplatz, im Erziehungs- und Bildungssystem sowie bei der Wohnungsvergabe. Weiter gehende Ziele waren, einen Stopp für Entlassungen und Ausweisungen durchzusetzen, die Abschaffung des Ausländergesetzes und die Abschaffung der staatlich verfügten, zumeist gekoppelten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. »Wir wollen in Freiheit arbeiten und wohnen, wie und wann und wo wir wollen«, lautete der Anspruch in der Diktion des Spanischen Zentrums.

Über die Betriebe hinaus. Zahlreiche »multinationale Zentren« und migrantische Arbeiter- und Kulturvereine begannen sich in den Städten der Bundesrepublik zu gründen. Die Arbeiterföderation italienischer Emigranten (File) gehört dazu. Sie forderte das Wahlrecht für Ausländer und wollte gegen rassistische Polizeigewalt ebenso wie gegen Hetzkampagnen in der Presse vorgehen. Die Föderation setzte sich den Kampf gegen die besondere Ausbeutung der Emigranten, gegen die menschenunwürdige Wohn- und Familiensituation, gegen Unterbezahlung und Leichtlohngruppen der Frauen und gegen die Lohnabschlüsse des DGB und der italienischen Gewerkschaft CGIL zum Ziel. Nach Einschätzung der File waren allein autonome Arbeiterorganisationen in der Lage, diesen Kampf offensiv zu führen und die Rebellion von Migrantinnen und Migranten zu fördern.

Die selbstorganisierten Kämpfe der Migrantinnen und Migranten gegen die rassistischen Arbeits- und Lebensverhältnisse in Deutschland sollten demnach keine Ein-Punkt-Bewegung sein. Sie verknüpften rechtliche, politische und ökonomische Aspekte der Unterdrückung und Ausbeutung. Sie öffneten die enge Perspektive der Betriebskämpfe zu sämtlichen Lebensverhältnissen der Migration, zum Alltag, zur Sprache und Kultur und nicht zuletzt zu den Wohnverhältnissen, die neben der Fabrik den entscheidenden Kristallisationspunkt migrantischer Kämpfe bildeten.

Nicht nur die Unterbringung in schäbigen, beengten Wohnbaracken mit katastrophalen sanitären Anlagen oder die strikte, teils offen bekundete Weigerung vieler Vermieter, an »Gastarbeiter« zu vermieten, charakterisierte die Wohnungssituation. Auch die Stadtpolitik hatte erheblichen Einfluss auf eine Verschlechterung der migrantischen Wohnverhältnisse.

So erließ etwa die Westberliner Stadtverwaltung 1974 für die Bezirke Tiergarten, Wedding und Kreuzberg eine Zuzugssperre für Migrantinnen und Migranten und koppelte an diese Maßnahme die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen. Für Ausländer aus Nicht-EG-Ländern wurde eine solche nur noch erteilt, wenn sie eine Wohnung außerhalb dieser Bezirke nachweisen konnten. Solche Zuzugssperren galten vom April 1975 bis zum April 1977 in verschiedenen bundesrepublikanischen Ballungsgebieten.

Die Wohnbedingungen und die staatliche Wohnungspolitik lieferten dergestalt immer wieder Anlass für politische Konflikte. So im Fall der Häuserkämpfe im Frankfurter Westend. Es ist weitgehend unbekannt, dass die Proteste gegen zu hohe Mieten und miserable Wohnbedingungen zuerst von Migrantinnen und Migranten ausgingen. Die von ihnen organisierten Mietstreiks, die an die Erfahrungen der italienischen Mietstreikbewegung anknüpfen konnten, waren dann auch für die linke Szene ein wichtiger politischer Bezugspunkt.

Aber schon in den Jahren zuvor hatte es Proteste gegeben. Der Hinweis auf zwei Ereignisse mag das belegen. Anfang November 1963 streikten die Arbeiter aus dem so genannten Italienerdorf in Wolfsburg gegen ihre miserablen Wohnverhältnisse. Der Streik dauerte einen Tag und wurde von der Bereitschaftspolizei niedergeschlagen. 20 Italiener wurden entlassen, 200 gingen auf das Angebot der »freiwilligen Kündigung« ein. Am 25. April 1972 schmissen spanische Arbeiter aus Protest die Betten aus den Fenstern ihres Wohnheims in Bochum, da sich die Firma Opel eine Genehmigung zur Unterschreitung der Normen besorgt hatte, die den Wohnraum pro Person garantieren sollten.

Dass die Lebenssituation jenseits des Betriebs einen entscheidenden Stellenwert hat, erkannte auch eine Reihe von linken Gruppen in der Bundesrepublik, die wie die Proletarische Front in Hamburg, der Revolutionäre Kampf in Frankfurt oder die Arbeitersache in München das Konzept der Arbeiterautonomie propagierten. Umstritten war jedoch, ob die Thematisierung etwa der Ausbildungssituation ausländischer Kinder oder der Wohnverhältnisse auch tatsächlich zu einer »Totalisierung der Kämpfe« und damit zur angestrebten »Einheit der Arbeiterklasse« durch Ausweitung der Kämpfe in den »Reproduktionsbereich« führe, oder ob diese Ausweitung sie nicht vielmehr unterlaufe, wenn es nicht gelingt, gemeinsame Forderungen für Deutsche und Ausländer zu entwickeln.

Und es bildet sich die multinationale Arbeiterklasse ?

Der Topos von der »Spaltung der Arbeiterklasse« brachte innerhalb der beschriebenen historischen Konjunktur zwei unterschiedliche Artikulationen hervor. Während er den Migrantinnen und Migranten ermöglichte, ihre spezifische Diskriminierung in den Vordergrund zu rücken, trat er in den Appellen, vornehmlich der »deutschen Genossen«, an die Einheit der Arbeiterklasse wieder in den Hintergrund. Das Konzept der Arbeiterautonomie allein lieferte keinen hinreichenden Ansatz, um explizit antirassistische Dynamiken im Wirkungskontext des Klassenkampfs zu entfalten. Dem stand vielmehr ein verkürztes Verständnis des rassistisch segmentierten Arbeitsmarktes und des darin enthaltenen spezifischen sozialen Antagonismus im Weg.

Die Klassenanalyse ordnete den politisch gewollten, aber ökonomistisch artikulierten Antirassismus einer mechanischen Ableitung aus den Produktionsverhältnissen unter, der unterschiedlichen Verortungen der Subjekte (Vorarbeiter vs. Massenarbeiter) in ihnen. Im besten Fall kamen so zwar die Diskriminierungen der ausländischen Arbeiter in den Blick, wie mit ihnen aber theoretisch und praktisch umzugehen sei, darüber herrschte weiterhin Ratlosigkeit. Im schlechtesten Fall aber verdeckte das Konzept der Arbeiterautonomie sogar den Aspekt der rassistischen Spaltung der Arbeiterklasse, sodass wie zufällig die ausländischen Arbeiter zum Massenarbeiter und damit zur Avantgarde der Kämpfe objektiviert erscheinen. Anstatt also gerade die beobachtete rassistische Spaltung der Arbeiterklasse zum Ausgangspunkt einer neuen Form der Politik zu erklären, dethematisierte die usurpatorische Rede von der multinationalen Arbeiterklasse letztlich den Rassismus.

Die ökonomistische Verkürzung der Klassenanalyse produzierte bezogen auf die rassistische Segmentierung des Arbeitsmarktes die Tautologie, nach der der bürgerliche Staat grundsätzlich eine rassistische Politik verfolgt, weil sie für seine Organisation und Struktur als Klassenstaat konstitutiv ist. Nach dieser Logik hätte der bürgerliche Staat mit der Anwerbung von Arbeitskräften im Interesse des Kapitals gehandelt, um so die allerdings nur in der Theorie vorausgesetzte einheitliche Arbeiterklasse rassistisch zu spalten. Statt die Zusammensetzung der Klasse in ihren Bedingungen, nämlich in ihrer strukturellen Spaltung, zur Sprache zu bringen, wurde erneut auf die Option einer Einheit der Arbeiterklasse gesetzt, die in der Vergangenheit bereits zu deren Niederlage beigetragen hatte. So gelang es nur, defensiv auf die Initiative eines vermeintlich einheitlich handelnden Kapitals zu reagieren.

Die migrantischen Kämpfe des Alltags gerieten unter dieser Option aus dem Blick. Die Klassenanalyse behandelte sie lediglich als eine »Ausweitung« der militanten Betriebsarbeit in die »Fabrikgesellschaft«, die offenkundig nur als einfache und gleichförmige Ausdehnung des Fabrikregimes auf sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gedacht war.

Abschottung und Integration

Unter dem Titel »Chance NRW« haben die Ford-Werke Köln in Kooperation mit dem Landesarbeitsministerium am 15. November 2002 mehrere Migrantinnen und Migranten für ihren »Erfolg« und ihre Leistungsbereitschaft ausgezeichnet. Die Preisträger erhielten einen »Fortbildungsgutschein« über 6 000 Euro, der ihnen zukünftig als Ausweis ihrer »Nützlichkeit« für die Wirtschaft dienen soll. Vom Arbeitsminister Harald Schartau bei der Preisverleihung in Essen als »gute Beispiele« bezeichnet, sollen sie »Unternehmen und Zugewanderte zur Nachahmung anregen und Mut« machen. So lautet die offizielle Redeweise, die Migrantinnen und Migranten nicht länger als soziale Problemgruppe kennzeichnen, sondern als integrationsfähige Bürger präsentieren will.

So kulant und einfallsreich war in den siebziger Jahren, als sich der Begriff der Integration zu einem ausländerpolitischen Paradigma verfestigte, noch niemand. Bis Mitte der siebziger Jahre versuchte die Bundesregierung zunächst durch eine Reihe juristischer Maßnahmen Arbeitsmigrantinnen und -migranten zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen oder gar zu nötigen. Eine Serie neuer Auflagen bei der Aufenthaltsgewährung führte zur Verdrängung einer großen Zahl von Eingewanderten und zielte zudem auf die Abschottung gegenüber den Migrationsbewegungen. Der Anwerbestopp von 1973 und die Weigerung, all jenen die Arbeitserlaubnis zu verlängern, die weniger als fünf Jahre in der Bundesrepublik waren, sind dafür nur die ersten deutlichen Zeichen.

Die einzige legale Möglichkeit nach dem Anwerbestopp, in die Bundesrepublik einzureisen, war der Zuzug auf der Grundlage des Gesetzes zur Familienzusammenführung, das Migrantinnen und Migranten großzügig zu nutzen versuchten. Eine Reihe von staatlichen Auflagen und Praktiken sollte dieser Praxis entgegenwirken: Diskriminierungen etwa in der schulischen Erziehung, im Wohnungssektor oder im Bereich der medizinischen Versorgung verschlechterten die Bedingungen der Familienzusammenführung. So erhöhte man im öffentlichen Wohnungssektor die vorgeschriebene Quadratmeterzahl pro Ausländer auf zwölf Quadratmeter und erklärte den Nachweis einer solchen »ordnungsgemäßen und zureichenden Wohnung« zur Voraussetzung für eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Zwischen 1975 und 1977 wurde diese Verordnung mit der bereits erwähnten Zuzugsquote in Ballungsgebieten kombiniert. Mit allen erdenklichen Mitteln wurde versucht, einen dauerhaften Aufenthalt von Ausländern und Ausländerinnen zu verhindern. Die Ausweisung von politisch Aktiven in Betriebs- oder Wohnkämpfen war die übliche Praxis.

Der öffentliche Diskurs verfügte schon damals über die Argumente zwischen »Eingliederung ja« und »Einwanderung nein«. »Eingliederung auf Zeit« lautete die Formel, um die Option auf eine Rückkehr in die Herkunftsländer auch in Zukunft beizubehalten. Die Ära der »Gastarbeiterbeschäftigung« war beendet und man begann öffentlich zu rechnen, wie viel die Ausländerbeschäftigung noch kosten werde.

Rekuperation des Widerstands. In dieser Situation drängte der Begriff der Integration sich vor allem in der Kommunalpolitik langsam in der Vordergrund. Ab Mitte der siebziger Jahre häuften sich die Stimmen, die die Existenz der so genannten zweiten Generation, ihre schlechte Schulbildung und die angebliche Bildung von »Ausländerghettos« beklagten. Artikuliert wurde dabei oft die Sorge um den Erhalt des »sozialen Friedens«.

Der Begriff der Integration bezeichnete dabei eine Rekuperation der Widerstandspraktiken und der Kämpfe der Migrantinnen und Migranten. Selbstverständlich lässt sich der Imperativ der Integration nicht schematisch als funktionale Politik, als schlichte Antwort des Staates auf die Kämpfe verstehen. Es lassen sich aber zahlreiche Hinweise dafür zusammentragen, dass die Migrantinnen und Migranten tatsächlich häufiger als eine politische und soziale Gefahr angesehen wurden. Es galt, sie entweder zu integrieren und zu befrieden oder auszuweisen. Integration und Abschottung würden so zu den tragenden Pfeilern der Ausländerpolitik ausgebaut. Sie sind als Reaktion zum einen auf die Unkontrollierbarkeit der Einwanderung und zum anderen auf die Kämpfe zu verstehen.

Im Memorandum über »Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland«, das 1979 Heinz Kühn, der erste Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, veröffentlichte, hieß es entsprechend, dass die bisherige negative Entwicklung »in absehbarer Zeit zu ganz erheblichen gesamtgesellschaftlichen Schäden führen« werde. Kühn schlug unter anderem vor, jede weitere Zuwanderung bei gleichzeitiger Anerkennung der faktischen Einwanderung sei zu unterbinden, Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der »ausländischen Kinder und Jugendlichen«, vor allem im schulischen Bereich, seien zu ergreifen und die Option auf Einbürgerung für in der BRD aufgewachsene und geborene Jugendliche sowie die Einführung des kommunalen Wahlrechts seien erstrebenswert.

Diese Vorschläge, die sehr deutlich einen prohibitiven Charakter tragen, konnten sich zwar nicht durchsetzen, da die Bundesregierung die faktische Einwanderung weiterhin leugnete. Dennoch setzte sich Integration als Dispositiv der Ausländerpolitik durch.

In den siebziger Jahren verringerte sich die Zahl der Migrantinnen und Migranten keineswegs, sondern erhöhte sich noch. Von 1973 bis 1979 blieb die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung stabil und nahm ab 1979 zu, sodass 1980 eine Million mehr Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland lebten als noch 1972, also vor dem Anwerbestopp. In dieser Hinsicht sind letztlich alle staatlichen Abschottungsbemühungen fehlgeschlagen. Die in der Migration aufgebauten sozialen Netze waren offenbar in der Lage, weitere Einwanderung zu organisieren.

Gleichzeitig finden sich in den staatlichen Erklärungen zur Bemühung um Integration, vor allem der so genannten zweiten Generation, alle Themen wieder, die schon in den Kämpfen der Migrantinnen und Migranten zu Beginn und im Verlauf der siebziger Jahre artikuliert wurden.

Es ist eine etatistische Entgegnung, die von Migrantinnen und Migranten zweifellos als Rekuperation ihrer Forderungen aufgefasst werden konnte. In der Erschwerung der Familienzusammenführung sah das Spanische Zentrum in Essen eine Fortsetzung der Ausbeutung und den staatlichen Versuch, die Kontinuität der Kämpfe zu zerstören. Denn auf diese Weise müssten sich die Migrantinnen und Migranten die Sprache und die Rechte immer wieder neu aneignen. Die Restriktion diene als Bremse der Radikalisierung seit dem Beginn der siebziger Jahre und ziele darauf, die Vereinheitlichung der Kämpfe zu verhindern.

Eine ähnliche Einschätzung vertrat auch die Gruppe Arbeitersache aus München. In dem Buch Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen (1973), das wahrscheinlich die ausführlichste Dokumentation eines Versuchs multinationaler Organisierung ist, kommt die Gruppe zu dem Schluss: »Die Integrationspolitik sowie die Initiativen zur Verschärfung der Repression gegen politisch aktive Ausländer sind zu einem Zeitpunkt in Bewegung geraten, zu dem sich zum ersten Mal die klassenkämpferische Militanz der ausländischen Arbeiter in größerem Ausmaß gezeigt hat.«

Das Dispositiv der Integration desartikuliert die kollektiven Ansprüche, verschiebt sie zu individuellen Anpassungsleistungen der Migrantinnen und Migranten und reduziert sie auf Infrastrukturprobleme, denen am besten mit einer Rückkehrförderung beizukommen sei. Vor allem aber ist die Forderung nach gleichen Rechten im Dispositiv der Integration vollständig absorbiert.

Auf die Fragen, die sich in den Kämpfen artikulierten, gibt das Dispositiv durch deren Reinterpretation entgegengesetzte Antworten und übersetzt die Forderung nach Kollektivrechten in individuell zu erbringende Leistungen. Die Bevölkerung erscheint auf dubiose Weise neu homogenisiert, Rechte und Pflichten scheinen neu verteilt. Dennoch bauen sich gerade Asymmetrien auf und Gegenseitigkeiten bleiben trotz aller Suggestion »gegenseitiger Annäherung« weiterhin ausgeschlossen. Die ungleichen sozialen Positionen der verschiedenen »Partner« korrespondieren mit dem Grad, nach dem ihnen politische und soziale Rechte vorenthalten bleiben. Das Recht, zumal es im Begriff der Integration vermittelt ist, kann so zwar niemals vollständig suspendiert sein, bleibt aber unrealisiert; seine Suspension ist daher ständig virulent.

Mobilität und Autonomie

Ausschließung und Integration drängen den möglichen Widerstand in den Hintergrund. In der Konsensformel der Integration hat sich die in den Fabriken thematisierte Spaltung der Arbeiterklasse längst zu institutionalisieren begonnen. Die langsame Entstehung des staatlichen Integrationsdispositivs seit dem Beginn der siebziger Jahre kann als Versuch gedeutet werden, die Geschichte und Erinnerung jener Arbeitergeneration zu zerstören, die antirassistische Forderungen erhob und Erfahrungen im Kontext der ökonomischen Kämpfe gemacht hatte.

Dennoch, vom Standpunkt der Materialität transnationaler Räume aus zeichnet sich in den letzten Jahren eine Veränderung im Migrationsregime ab, die nicht zuletzt Spuren migrantischer Beharrlichkeit trägt. An dieses Milieu der Beharrlichkeit knüpft das Konzept der Autonomie der Migration an, indem es auf den Drang zur Mobilität verweist, die sich nicht vollständig staatlich oder ökonomisch kontrollieren lässt und für den Nachschub an Arbeitskraft unabhängig vom jeweils herrschenden national-sozialen Kompromiss sorgt.

Es deutet auf die Überschreitung der Grenzen und auf das Leben auf der Basis und mit Hilfe von sozialen Netzwerken der Migration hin. Aber es handelt sich nicht um das Reich der Freiheit, wo die autonome Migrantin morgens den Grad ihrer Verwertung festlegt, mittags ihre Wege bestimmt und abends die Früchte ihrer Mobilität genießt. Im Gegenteil: Für ein Verständnis der Autonomie der Migration sind die Kämpfe der Migrantinnen und Migranten konstitutiv.

BORDER CLASH

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Politische Slogans machen zuweilen merkwürdige Karrieren in Almanya. Während die skurrile Metapher 'Festung Europa' schon längst jeden Resthauch an linksradikalen Konnotationen verloren hat und zur selbstverständlichen migrationspolitischen Vulgata sogar konservativer Politiker avanciert ist, fristete der genealogisch betrachtet verwandte Slogan Offene Grenzen für alle ein weitaus weniger glamouröses Dasein.

Die Zielrichtung der Forderung nach 'Offenen Grenzen', die noch bis vor kurzem sogar im Parteiprogramm der Grünen an prominentester Stelle zu lesen war, artikulierte sich sukzessiv schon Mitte der achtziger Jahre unter der Parole "Für freies Fluten". Auslöser einer breiten Diskussion war die Empörung über den Tod von Cemal Altun im September 1983. Cemal flüchtete in den Tod, indem er sich aus dem Fenster einer deutschen Behörde stürzte, bevor diese ihn im Geiste bester antikommunistischer Solidarität an die Henker des türkischen Regimes ausliefern konnte. Die im Anschluss an dieses Ereignis formulierte Forderung nach 'Offenen Grenzen' wurde jedoch erstaunlicherweise weniger vom Standpunkt der emphatischen Identifizierung mit dem Symptom des Ausschlusses (Zizek) deklariert, das heißt der 'subjektiven' Reproduktionsinteressen des nackten (Über-) Lebens der MigrantInnen, sondern aus der antiimperialistisch bzw. internationalistisch hergeleiteten 'objektiven' Analyse des Ausbeutungsverhältnisses von Metropole und Trikont begründet.

Das ist nicht nur als eine Provokation zu verstehen. In der Debatte um das Asylrecht und den Flüchtlingsbegriff, wie sie in den neunziger Jahren in Deutschland geführt wurde, setzte das Eintreten für das 'Bleiberecht für alle' und 'Offene Grenzen' einen radikalen Kontrapunkt zum Mainstream - zur Re-Nationalisierung der Diskurse auch innerhalb der Linken und zum Aufbau eines paneuropäischen restriktiven Migrations- und Grenzregimes. Das Vorrecht der Metropolen und ihrer Bürger gegenüber dem 'Rest' und den von dort einwandernden Menschen wurde radikal in Frage gestellt. Auf diese Weise konnte jedenfalls ansatzweise eine Diskussion um Struktur und Legitimation der herrschenden weltweiten Ausbeutungsverhältnisse initiiert werden, die allerdings das Schweigen über die eigene rassistische Verstrickung nicht zu Verdrängen in der Lage war.

Als Anfang der neunziger Jahre die Zunahme rassistischer Übergriffe und nationalistischer Stimmung in Deutschland langsam zur Stärkung der antirassistischen Politszene beitrugen, war dies zugleich die Geburtsstunde einer defensiven Arbeitsteilung mit allen obskuren Nebeneffekten, wie etwa der Tabuisierung der identitätspolitischen Disposition der deutschen Linken. Mit der de facto Abschaffung des Asylgesetzes 1993 haben sich die Verhältnisse verändert: Die Definitionsmacht darüber, wer als Flüchtling zu gelten hat und wer nicht, eroberte sich der Staat vollständig zurück. Mit dem Ende des zeit- bzw. vergleichsweise liberal gehandhabten Asylrechts endet auch seine zentrale Bedeutung für die Migrationsprozesse und die MigrantInnen. Die Mobilisierung der Linken und der liberalen Öffentlichkeit hatte auf die Verteidigung des Asylrechts gezielt. In Kombination mit der Devise "Offene Grenzen für alle" tat sich eine Schere zwischen der Radikalität einer Forderung und der faktischen Defensivität einer Politik auf, was sich auf diese Weise nicht in den Alltag hinein realisieren ließ. Insofern überlebte der Slogan 'Offene Grenzen' die Verhältnisse, auf die er sich konfrontativ bezog. Seine Karriere als normativer Gradmesser linksradikaler politischer Korrektheit, als Residuum einer imaginären Radikalopposition, sicherte fortan ein Verhältnis der unbefleckten Äußerlichkeit gegenüber der Macht, die er anzugreifen versuchte. Öffentliche Kampagnen für das 'Bleiberecht' hatten seither höchstens im Zusammenhang mit Abschiebewellen in besonders üble Herkunftsländer eine gewisse Wirkung - mit geringem Erfolg bisher. Der Zuschnitt auf die globale Perspektive ließ Migration vor allem als Zwang begreifen, sah MigrantInnen als Opfer der Globalisierung und überbetonte im Zusammenspiel mit der 'Festungs-Metapher' die neototalitaristische Abschottung der Grenzen Europas.

Polysemie des Grenzregimes Grenzen kann man sich nicht als perforierte Mauern am Rande von nationalstaatlichen Territorien vorstellen. Über ihre Produktivität und vielfältigen Funktionen ist inzwischen viel gesagt und geschrieben worden. Als Grenzregime bezeichnet man nicht einfach nur die formalen oder informellen Mechanismen, die Staaten insbesondere zur Abschottung der Grenzen gegen Migranten und Flüchtlingen entwickeln. Darüber hinaus versichern sich die grenzpolizeilichen und strafverfolgenden Behörden seit wenigen Jahren der aktiven Fahndungshilfe durch die Bevölkerung im Grenzraum, wie eine Studie an der deutsch-polnischen Grenzen der 'Forschungsgesellschaft Flucht und Migration' in Zusammenarbeit mit dem Polnischen Zentralrat Berlin untersucht hat. So genannte Bürgertelefone und Kontaktbeamte des Bundesgrenzschutzes (BGS), kommunale runde Tische von BGS und Landespolizei mit der örtlichen Industrie- und Handelskammer, dem Ordnungs- und Verkehrsamt und die Einbindung von Taxifahrern "In verschiedenen Regionen wurden Taxifahrer strafrechtlich verfolgt, wenn sie - bei Inlandfahrten - Personen beförderten, die möglicherweise heimlich über die Grenze gekommen sind, und diese nicht per Funk der Polizei anzeigten. In der Grenzstadt Zittau wurde über ein Drittel der Taxifahrer bereits mit Strafverfahren überzogen." Helmut Dietrich, Grenzgänger. Am Ende der alten Welt, in: Jungle World, 51/2000 und Leihwagenfirmen sind inzwischen elementarer Bestandteil der operativen Grenzfahndung: "Einerseits ist eine wachsende Stigmatisierung von Flüchtlingen als Illegale und Kriminelle, andererseits ein wachsender korporativer Zusammenschluss von Behörden und Teilen der Bevölkerung zu beobachten." Vgl. Helmut Dietrich, Das Phantom einer homogenen Gesellschaft in der ostdeutschen Grenzregion, in: Mittelweg 26, 5/1998 Grenzen organisieren so eine Topographie polyzentrischer Intensitätsgrade der Kontrolle gefährlicher Orte. So sind Grenzen um die so genannten Grenzzonen erweitert und gesetzlich auf eine Breite von 30 Kilometern festgelegt. Für Flüchtlinge, die Grenzen zu überschreiten versuchen, bedeutet das, dass ihre Rechte in dieser Zone territorial abgeschwächt oder außer Kraft gesetzt werden, weil sie in diesem Bereich kaum Chancen auf eine Asylantragstellung haben und von sofortiger Rückschiebung in das Nachbarland bedroht sind. Helmut Dietrich, Grenzgänger. Am Ende der alten Welt, in: Jungle World, 51/2000 Die strategische Kombination des 'ins Recht setzen' der an den Grenzen Angesiedelten und der 'Entrechtung' der Migrierenden führt in diesen Regionen zu zahlreichen rassistischen Übergriffen. Das 'Klima des Verdachts' entsteht in diesem System nicht aufgrund von Hinweisen auf ein Delikt, sondern schlicht wegen vermuteter Migration, unter Rückgriff auf phänotypische Kriterien. Alle AnwohnerInnen können sich beteiligen. Die Grenze wird so als Schengener Außengrenze in Alltagsprozessen sozial neu erfunden. Flüchtlinge verwandeln sich für diese AnwohnerInnen in Illegale und in Kriminelle. Ein Phänomen, das insbesondere nach den Anschlägen des 11. September 2001 in New York und Washington in deutschen Großstädten zu beobachten war. Die Sikh-Gemeinde in Frankfurt hatte etwa mit der verstärkten Denunziationsbereitschaft in der Bevölkerung zu kämpfen. So führte ein 'Hinweis aus der Bevölkerung' zu einer Helikopterjagd nach 'Männern mit Turbanen' in einem Frankfurter Stadtteil und endete mit der Abschiebung von 30 Personen nach Indien. Darüber hinaus versucht die Polizei erheblichen Druck auf die Sikh - Gemeinde selbst auszuüben: Zu deren religiösen Statuten gehört es, dass Menschen Essen und ein Dach über dem Kopf angeboten wird. Nun versucht man sie zu zwingen, selbst die Papiere der Besucher ihres Tempels zu kontrollieren und gegebenenfalls Leute ohne Papiere an die Polizei zu übergeben. Über die Kooperation von Arbeitsämtern und BGS bei Razzien zur 'Aufdeckung illegaler Ausländerbeschäftigung' - zum Beispiel auf Baustellen und die 'verdachtsunabhängigen' Identitätskontrollen in Bahnhöfen und Flughäfen - erweitert sich der Wirkungsbereich des Grenzregimes um ein Vielfaches. Eine Entterritorialisierung der Grenzen ist insofern nicht nur über eine Ausweitung der Grenzzone auf die 30 Kilometer oder auf das Bahn- und Autobahnnetz zu verzeichnen, sondern Grenzen durchziehen über die Einbindung der Bevölkerung und Anmaßungen gegenüber Communities, wie im Fall der Frankfurter Sikh-Gemeinde, das staatliche Territorium selbst. Grenze ist aber nicht gleich Grenze. Grenzen haben in der Praxis weder dieselbe Bedeutung noch die gleichen Adressaten. Die Untersuchung der Schengener Außengrenze in dem oben genannten Projekt hat ergeben, dass auf beiden Seiten unterschiedliche 'Grenzerfahrungen' gemacht werden: In der Tschechischen Republik und in Polen gibt es kein Pendant für diese gesellschaftliche Entwicklung. Zwar wurde in technischer und gesetzlicher Hinsicht ein ähnliches Grenzregime installiert, aber die Bevölkerung verhält sich anders. In Interviews längs der polnisch-deutschen Grenze betonen viele der Befragten ihre alten Arbeits- und Reiseerfahrungen in der ehemaligen DDR, in der alten Bundesrepublik und in anderen Ländern. Sie sagen, sie kennen Europa, und sie gehören auch dazu. Transitflüchtlinge und Menschen aus der GUS, die an der Schengener Grenze kleine Geschäfte machen, stellen für sie keine Bedrohung dar. Die Grenze hat möglicherweise für sie eine viel geringere Bedeutung, weil ihre Lebens- und Erfahrungshorizonte und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt bis in die EU reichen: "Die Botschaft dieser Menschen ist, dass man Grenzen eben doch überschreiten kann, auch wenn das mit lebensgefährlichen Risiken verbunden ist." Ebd. Autonomie der Migration Dass man Grenzen trotz repressiver Migrations- und Grenzregime überschreiten kann, ist auch die Grundlage der Überlegungen von Yann Moulier Boutang. Er bezeichnet diese Bewegung als Autonomie der Migration. Autonomie der Migration bedeutet hier, dass sich Einwanderung - historisch betrachtet - nicht ohne Weiteres von staatlichen Politiken beeinflussen ließ. Auf diese Weise kann der Abschottungs- und Regulierungspolitik etwa der bundesdeutschen Regierung ein nicht rein defensives Argument entgegen gehalten werden. Yann Moulier Boutang hatte 1993 in einem Interview angemerkt, dass es einen sehr ernst zu nehmenden 'subjektiven Faktor' gibt, der das Gehen oder Bleiben von MigrantInnen beeinflusst und der nicht unter staatliche Regulierungskontrolle gebracht werden kann: "Das ist anscheinend schwierig zu kapieren, aber trotzdem wichtig; auch wenn sich Myriaden von Experten und Beamten in den Behörden und staatlichen und internationalen Einrichtungen mit der Emigration beschäftigen, haben sie keine Ahnung von dieser (...) Autonomie der Migrationsflüsse. Sie haben vielmehr die Vorstellung, dass alle miteinander verbundenen Faktoren und Phänomene auf die Wirtschaftspolitik zurückzuführen und daher nur Gegenstand der verwaltungsmäßigen Regulierung wären. Natürlich wird bei diesem Denkansatz die Objektivität der Politik und speziell der Wirtschaftspolitik grotesk überschätzt, es wird völlig vergessen, daß es eine Eigendynamik der Auswanderung gibt. Man kann zwar der Emigration mit repressiven Mitteln begegnen, die Rückkehr der Immigranten 'fördern', aber man kann nicht die Flüsse nach Programmierung und Dafürhalten öffnen und sperren." Yann Moulier Boutang, Interview, in: Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 5, Berlin/Göttingen 1993, S. 38 Das gerade in Deutschland verabschiedete Zuwanderungsgesetz kann in dieser Lesart als Versuch verstanden werden, eben diese Autonomie staatlich unter Kontrolle zu bringen und zu kanalisieren. Jedenfalls notiert Peter Müller von der CDU: "Trotz restriktiver Bestimmungen und Kontrollen ist es bisher nicht gelungen, das unkontrollierte und weitgehend ungesteuerte Nebeneinander unterschiedlichster Zuwanderungsgruppen zurückzuführen, geschweige denn in einem bedarfsgerechten, arbeitsmarkt- und sozialverträglichen Gesamtkonzept der Einwanderung aufgehen zu lassen. Die Gesamtschau der Einwanderungspolitik in Deutschland ergibt vielmehr ein unbefriedigendes Missverhältnis der erwünschten gegenüber unerwünschten Zuwanderungstatbeständen." Peter Müller, Von der Einwanderungskontrolle zum Zuwanderungsmanagement, Rede am 1.7. 2001

Das Zuwanderungsgesetz erkennt also in ganz spezifischer Weise die relative Autonomie der Migration an, wie an dem Versuch einer umfassenden Zuwanderungssteuerung abzulesen ist. Es scheint als hätten die konziptiven Ideologen des Abschiebeapparats dafür akribisch alle Punkte aufgelistet, die MigrantInnen bis jetzt als Schlupflöcher nutzten und die eine relative Autonomie der Migration gegenüber der staatlichen Politik ausdrückte. So bedeutet die Abschaffung des Duldungstitels, wie in dem Einwanderungsgesetz vorgesehen, für 250.000 - darunter nicht nur abgelehnte Asylsuchende - nichts anderes als Illegalisierung. Die noch von der Süssmuth-Kommission empfohlene Legalisierungsregelung, die sich auf etwa 1,7 Millionen MigrantInnen bezogen hätte, fällt weg. Vgl. Manuela Bojad?ijev, Tobias Mulot, Vassilis Tsianos, Legalisierung statt Integration. Anmerkungen zum Zuwanderungsgesetz, in: 1999, 01/2002 Was Moulier Boutang als "schwer zu kapieren" bezeichnet hat, wird nun erstmals im Regierungswissen etabliert und in Führungstechnik übersetzt. Diese staatliche Politik begibt sich mit dem Versuch der Verrechtlichung und Steuerung der Migration auf ein für sie ungewisses Terrain: Sie greift in das instabile Gleichgewicht von Gleichheit und Freiheit innerhalb der nationalen Gemeinschaft ein, in die Trennung von Volk und Nation. Während im deutschen Gesetzentwurf zur Zuwanderung auf Basis des Integrationsimperativs die Ausschlussbarriere des nationalbildenden Staatsvolkes weiterhin aufrechterhalten wird, zeichnet sich auf europäischer Ebene eine Tendenz ab, Staatsbürgerschaft von diesen hergebrachten Konzepten abzukoppeln. Das Projekt des europäischen Zusammenschlusses, der eigentlich einem Einschluss gleichkommt, verbindet Mittel der präventiven Aufstandsbekämpfung an den Rändern des Migrationsregimes - also an den Grenzen, die inzwischen Europa nicht nur umfassen, sondern auch durchziehen - mit einem Prozess der rassistischen Stratifikation im Inneren. Vgl. Etienne Balibar, Topographie der Grausamkeit. Staatsbürgerschaft und Menschenrechte im Zeitalter globaler Gewaltverhältnisse, in: Subtropen, 12/2001 Die Feststellung, dass die Autonomie der Migration bzw. ihre Geschichte in die gegenwärtige Konjunktur eingeschrieben ist, bedeutet auch, dass die Kämpfe auch dort 'anwesend' sind, wo sich ihre Niederlagen manifestiert haben: in den Ausländer- und Staatsbürgerschaftsgesetzen, im Zuwanderungsgesetz, aber auch in den widerständigen Alltagspraktiken der MigrantInnen. Die neuen Widersprüche sind absehbar. Es wird weiterhin Einwanderung geben, die sich der Steuerung entzieht. Insofern birgt die Durchsetzung der Verrechtlichung der relativen Autonomie der Migration mit dem Ziel gesteigerter nationalstaatlicher Kontrolle, wie sie jetzt in dem Zuwanderungsgesetz vorgesehen ist, politischen Sprengstoff. Denn das Zuwanderungsgesetz ignoriert jene Einwanderung und jene Grenzüberschreitungen, die nur unter der Bedingung der Kriminalisierung und Illegalisierung stattfindet und in Zukunft einer der wichtigsten Migrationswege nach Deutschland bzw. nach Europa bilden wird.

Recht auf Legalisierung An diesem Punkt stellt sich die Frage nach 'Offenen Grenzen' ganz konkret. Die Wahrnehmung der unterschiedlichen Funktionen von Grenzen, ihre Durchlässigkeit nach qualitativen und nicht nur quantitativen Kriterien ermöglicht einen Perspektivwechsel, der die Forderung nach 'Offenen Grenzen' auf ungeahnte Weise aktualisieren könnte, indem er auf jene Bewegung verweist, die eine Politik der 'Offenen Grenzen' bereits wirkungsmächtig praktiziert. Eine Glorifizierung dieses hierarchisierten Eintritts ist dabei nicht angebracht und nicht gemeint. Man wird sich etwa an den verzweifelten Versuch hunderter Flüchtlinge erinnern, nach Großbritannien zu laufen, die in einem schrecklichen Lager des Roten Kreuzes leben müssen. Sie überrannten in Frankreich die Sicherheitsbeamten und die Absperrungen des Eurotunnel. Der Aufstand endete mit Festnahmen und Tränengas, der Zugverkehr musste für jene Nacht eingestellt werden. Dokumentiert ist, dass jede Nacht Dutzende Flüchtlinge, die in Wohnwagen und Zelten des Flüchtlingslagers leben, die gefährliche Überfahrt riskieren, entweder indem sie versuchen, auf Züge aufzuspringen oder den Tunnel zu Fuß zu durchqueren. Die meisten werden geschnappt, andere schaffen es zur englischen Seite. Für Einige endet die Reise in einer Tragödie. Im Juni 2000 wurden auf der englischen Seite des Eurotunnels in Dover 58 chinesischen Flüchtlinge erstickt auf der Ladefläche eines LKW gefunden. Anfang Dezember wurden acht Tote und fünf Überlebende auf der Ladefläche eines LKW in einem Hafen im Süden Irlands entdeckt.

Die Grenze hat die Funktion der Hierarchisierung, wo sie Pfade der Einwanderung zuweist, die sowohl Verelendung als auch Entrechtung bedeuten. Insofern geht es angesichts dieser Veränderungen vor allem um die Frage nach Kollektivrechten für Einwanderer. Kollektivrechte können zur Vervielfältigung der Freiheiten von Subjekten beitragen, deren kollektive widerständige Praxis ohnehin die systematische Vereinzelung durch die verallgemeinerte Struktur der Ausschließung untergraben. Betont man in diesem Zusammenhang nicht so sehr den Abschottungscharakter der Grenzen, sondern die relative Autonomie der Migration, lassen sich die illegalisierten Migrationspfade und Aufenthaltspraktiken als solche Modalitäten widerständiger Praxis verstehen. Wichtig ist dabei, die vorhandenen und entstehenden Solidaritätszusammenhänge wahrzunehmen, die eine Existenz als Sans Papiers erst ermöglichen. Das heißt zu verstehen, dass Migration nie die Aktion eines isolierten Individuums ist, sondern auf soziale Netzwerke zurückgreifen muss, um aus einem individuellen Vorhaben ein erfolgreiches Projekt zu machen. Vgl. Moulier Boutang, Nicht länger Reservearmee, in: Subtropen, 04/2002 Aber nicht nur das: Diese Netzwerkstrukturen helfen auch die Lebensbedingungen zu verbessern, indem sie auf dem informellen Markt für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen sorgen, Wohnungen vermitteln, etc. - zumindest für jene, die darin organisiert sind. Geht es also um die Frage, wie eine solche relative Autonomie der Migration ins Politische übersetzt werden könnte, sollte ein Recht auf Legalisierung der hier lebenden MigrantInnen ohne Papiere und eine Politik, die politische und soziale Rechte unabhängig von jeder Staatsbürgerschaft einfordert, realisiert werden. Denn prinzipiell ist es für jede Person ohne deutsche Staatsbürgerschaft möglich, den Aufenthaltstitel zu verlieren und somit illegalisiert zu werden - sei es wegen Erhalt von Sozialhilfe oder einer Straftat.

Die Leistungsdispositive, die MigrantInnen nur nach ihrer Arbeitskraft be- und verwertet und die die Diskussion um Einwanderung zur Zeit bestimmen, könnten eine solche Politik für ein Recht auf Einwanderung untergraben. Eine mögliche Politik für das Recht auf Legalisierung birgt darüber hinaus die Möglichkeit, antirassistische Arbeit nicht auf Fragen von Rassismus zu begrenzen, sondern sie kann Wohnverhältnisse, Bildungsmisere, Ausbeutung, Arbeitsbedingungen und Geschlechterverhältnisse zur Sprache zu bringen und wäre womöglich endlich in der Lage, die Hierarchisierung von MigrantInnengruppen durch das Ausländergesetz und das Grenzregime in Frage zu stellen, d.h. ganz einfach: Den unterschiedlichen Existenzweisen von MigrantInnen, ihrem und unserem Alltag und Widerstand zu entsprechen.

Manuela Bojadzijev, Vassilis Tsianos


Legalisation instead of Blanket Computer Searches Migration, Racist Regime and Leftist Anti-Racism - A Conversation with Kanak Attak

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In the summer of this year, the border camps prompted Kanak Attak to suggest an initiative which focuses on the social status of the undocumented migrants. The demand for legalisation is an intervention in the official debate on immigration. At the same time, as a one-point programme, its intention is to give new orientation to antiracist work in Germany. In this conversation, Kanak Attak discuss the relevance of this attempt to bring anti-racist politics out of the defensive. Today the demand for legalisation represents a confrontation with the current, repressive new order of the migration regime.

Subtropen: According to your analysis, the starting conditions for a legalisation campaign were still extremely positive a few weeks ago. Do the attacks in New York and Washington and Nato's declaration of war mean that the ground has been cut from beneath the feet of this initiative?

Kanak Attak: Certainly, the alteration in the situation since September has forced us to reconsider these starting conditions. In particular, the pressure of crimination has increased considerably. As a result, the conditions for a discussion about legalisation are no longer as good as they were before. At an estimate, five million undocumented immigrants live in the EU. You don't need a particularly vivid imagination to picture how much worse the conditions of their existence have become in the context of the blanket searches, the new so-called anti-terror laws, the extension of the police apparatus and other measures. The "lasting war" which has been announced limits the echo experienced by a demand for legalisation. Instead, space is being given to all kinds of suspicion. The urgency of such legalisation, in this situation in particular, is matched by the unwillingness of public opinion to accept a demand in this direction at present. But if we reconsider the starting conditions, this rethink still includes the analyses and estimates which we developed before September. Our estimate of the crisis of anti-racism in the Federal Republic most certainly constitutes part of these new starting conditions. To take up your phrase, therefore, the ground has not been entirely cut from beneath our feet, but the present political constellation calls for further development of our ideas.

Subtropen: Okay, but before we return to this aspect, let us first attempt to clarify the conditions under which anti-racist work has taken place over the past years. You talk of a division of anti-racist labour, which tends to hinder anti-racist work rather than furthering it. What does this division of labour look like, how did it develop, and what are its effects?

Kanak Attak: This division of labour is demonstrated in the fact that each of the different groups has its own special theme. They concern themselves with asylum policy or the supervision of asylum-seekers, with refugee regimes and the practice of deportation, or with the auto-organisation of refugees, with left-wing anti-racist work or anti-fascism. They are all concerned with the racist regime, but with individual aspects of it. A structure of labour division has evolved within which the competencies and responsibilities are fixed, a structure which it seems impossible to challenge. We see this fixed division of labour itself as an expression of the crisis in the anti-racist system. It has been dragging this structure about with it for around ten years. And the division of labour had already developed before that, if you think of the charitable associations. In a certain sense, the left has adopted this structure. In this way, however, certain political forms are also fixed, such as non-government organisation or selforganisation, and these are bound up with a political practice which is directed towards supervision or selfdefence. We are not criticising the individual elements of this policy, but its structure. A defensive attitude is already written into its structure. The decisive point of our criticism is that anti-racist work does not go beyond a reaction to transformations in society. Every tightening up of laws leads to a counter-reaction, but this is always calculable. The political forms available still correspond to those of charitable associations. They lag behind the initiative of those in power because it does not seem to be possible to consolidate the various elements of anti-racist activities.

Subtropen: But surely this attitude is something far more fundamental, to be found in the defensiveness of emancipatory politics. The reactive stance towards the conditions of state apparatus and the government, towards racist campaigns by the conservatives and towards fascist politics was surely connected at the outset to the fact that it is not really possible to clarify a society-changing process which could bring these elements of anti-racist activity together. Your criticism of the limitations of certain activities - for example of the supervising function or the constitution of non-government organisation or of the limitations of auto-organisation among those directly involved - will not be able to overcome these deficits of its own accord. And in addition, precisely these anti-racist groups organise a minimum of contact, of relations and direct dealings. Would it not be possible for anti-racism to find a new orientation on this narrow, but at least existing basis?

Kanak Attak: That would only be possible if the various elements really were considered together on this basis, if it were possible to develop a position here which one might refer to as "universal anti-racism". But the structure of labour division obstructs this. It is correct to point out the lack of leftist emancipatory options. Anti-racism has thus inherited the burden of a defeat which took place far earlier. Anti-racism as we know it and within which we ourselves experienced our political socialisation is the product of the genealogy of the German left's past defeats. In many respects it seems something like a compensatory project for an emancipatory policy. It is still held spellbound by the shock which many leftists experienced when nationalism and racism spread perceptibly after 1989. It is still difficult to articulate anti-racism and anti-capitalism, we still observe a certain animosity towards theory which shrinks from criticism of capitalism because it does not believe that this can be communicated. These are results of the historical defeat. Problematic relations to questions of migration and towards the migrants and their communities is also connected to the state of the German left. The lack of emancipatory options for this society leads to a nonreaction towards these social phenomena, instead people hold fast to already established organisational structures. We start out with the assumption that the racist regime of the FRG has changed in recent years. New relations of power were produced during this transformation, but these have not been fully perceived. We refer to this as the crisis of anti-racism.

Subtropen: How would you pin down this change in regime? It's true that now the FRG has officially declared itself to be an immigration society, a serious difference to the conservative government under Kohl, which always rejected that notion. But in concrete terms, this long overdue concession only means the control and limitation of immigration. And in the question of citizens' rights there is also a move away from the principle of descent, from blood rights towards a territorial principle, birth rights linked to place - but the introduction of dual nationality as a possibility for immigrants has been completely stopped. What new opportunities for action have resulted from these changes?

Kanak Attak: The fundamental transformation of the racist regime becomes evident when one looks at the state's relation to migration. The difference between the earlier denial of immigration and the new definition as an immigration society today has effects which we do not so much link with the change in government, but with a shift in political climate. The churches, the state representatives for foreigners and the Federation, and the charitable associations have now been heard; standpoints expressing a friendly view towards migrants could be heard publicly. These standpoints had already crystallised prior to the change of government in 1998. A new code has emerged as a result of the Red-Green government. The debate on the immigration law created a contingent situation which could not be reduced to definite positions from the start. The government attempted to organise civil agreement from all sides. The S?ssmuth commission sought to involve the rightwing parliamentary camp, but opportunities also emerged for critical voices to be raised which had had no chance before. This change in climate even extended into the CDU. Last summer the process of negotiation was not yet finished.

Subtropen: But didn't the CDU in Hesse mobilise the racist consensus in society against the government's policy with its campaign against dual nationality at the beginning of 1999, a campaign which enjoyed massive support from the mass media? In structural terms, is there not a conservative hegemony in the FRG?

Kanak Attak: The background conditions are clear, and in the case of dual nationality they were well marked out: the government only pursued its project halfheartedly, as could be seen from its hurried retreat. 2 The question is, did Red-Green really want to make progress with their own project? Using the concept of integration, they provided constant points for a mobilisation of the right-wing. And there is another aspect: it became obvious in the Green Card discussion that the government was concerned first and foremost with a new division and segregation of immigrants according to categories of potential capitalist usefulness. Here it was sure of support from dynamic, internationalised factions of capital. We do not have any illusions about the new immigration law. But from the perspective of migrants in particular, the change in political climate was not insignificant. The transformation of the racist regime brought a simplification of the section referring to residence. The situation was relaxed and some space was made for involvement. A contingent situation means that there are opportunities for intervention. That is what the demand for legalisation is aiming for. It is an attempt to formulate - in a suitable way in this context - the justified demand for open borders in a concrete situation, in order to facilitate political action. The formula is quite simple: legalisation before amendment. First those made illegal by immigration must receive a different social status, and only then can there be legislation regarding immigration. In the question of legislation, political pressure from the left must aim in this direction. At present, an attempt appears to be being made to abolish the contingency again completely, keeping the discussion under control. If this succeeds, the only remaining alternative is that of those in power - that is, to make immigration impossible or to dose it according to the requirements of capitalist exploitation.

Subtropen: That is, the alternative between nationalists and economists. You have already mentioned the perspective of the migrants. On other occasions you have spoken about the autonomy of migration. Up until now we have only taken into account the changed conditions of racist rule. Is migration independent of the ruling nationalist or economic political forms? In this sense, does it follow rules of its own? In brief, what does the autonomy of migration mean in your view?

Kanak Attak: An example of this was immigration to the FRG after the recruitment stop in 1973. The legal possibility of reuniting families was employed, whereby "the family" was subjected to an original interpretation by immigrants, or at least the pattern they used was not the Fordist, German small family. It was possible to observe a similar attitude in the handling of asylum law. Put in another way, autonomous practices by which migration was organised developed within the legal possibilities. The autonomy of migration was revealed primarily in the totally chaotic and decentralised manner in which cheap labour forces were ethnicised, and also the way in which these labour forces used the opportunities available to them for entering the country. It was impossible to foresee and to control this process. Initially, the control policy had no effect; up to a certain point, the reuniting of families and the asylum law were unassailable. The second aspect is that presence has altered the conditions under which the immigrants' struggle for survival takes place - for example, the way in which ethnic communities emerge. An important thread in the legislation concerning immigration is concerned with regulating the migration which took place in such a chaotic way in the past. But every new regulation, every new legal codification may also lead to new, autonomous tactics employed by individuals and collectives. These tactics remain unforeseeable. They cannot be strategically planned, although one may presuppose the dominance of the ruling migration regime in the final instance.

Subtropen: The tactics you are talking about can only be described as autonomous in a very limited sense. At least they have very little in common with an emphatic concept of autonomy. These tactics are employed under the dominance of the ruling migration regime, as you yourself say, so they have only a short-term, partial effect before the controlling mechanisms take over. But that is only one aspect. One might go even further and say that these tactics are the opposite of autonomy. They are subject to the heteronomy of the migration regime, and not only in the final instance. They are also heteronomous because of their informal character, which does not necessarily have anything to do with individual autonomy, but may be determined by clan structures or governed by an ethnic identity policy. You brought up the ethnic communities. But there you face the problem of the reflecting relation between ethnicising and self-ethnicising. The bourgeois notion of autonomy was full of images of identity; with notions of personality and education, of nation and culture. Racism and ethnicising have always had the function of supporting an authoritarian, homogenising formation of collectives. Shouldn't the criticism be aimed at both sides: at the racist regime of those in power and at the ethnic identity policy of those ruled over? Would it not be possible to find a link between the autonomous tactics you have listed and an extended social, individual and collective autonomy in the perspective of double criticism?

Kanak Attak: Yes, but we reject an abstract form of criticism which gives orders from behind a desk as to how people may or may not conduct their lives. For the figure of the reflecting relation between ethnicising and self-ethnicising is already problematic. It 3 implies an equal value and a simultaneity regarding the structure of this subjection. Ethnicising from outside and of the self cannot be separated analytically, and it is certainly not possible to oppose them separately. Always, the identity policy of those ruled over is also a strategy of self-authorisation under the conditions of a misery stratified according to race. This means that when we refer to the ethnic communities, we are well aware that they provide immigrants with protection under the conditions of the racist regime, and that this improves their conditions of survival. This aspect is often withheld, but it is very important. However, it does not mean that everything should remain as it is in these communities. We support a non-polemic relation in which criticism keeps an eye on other possible practices, according to each individual situation. It is necessary to work out the dialectic aspect. We have positive possibilities for a different form of socialisation here, just as we have negative, reactionary ones which we don't want. By autonomous tactics we understand something which takes place in everyday life anyway. We are attempting to present a dimension of materialisation which cannot be reduced to the moral-ideological sphere. The materiality of the tactics can never be fully worked out with respect to identity policy. This presents the opportunity for left-wing criticism. The tactics have materiality in the concrete conditions of production and reproduction. The shaping of identity and its fetters can only be set aside if internal aspects in the reproduction of living conditions are altered. We plead in favour of practical criticism which uses what is inherent in the possibilities and articulates this use politically.

Subtropen: It is very obvious - for example in the revue "Opelpitbulautoput" at the Kanak-Attak event at the Volksb?hne in April - that in this context you refer to the labour struggles of late Fordist formation, for example the strikes at Ford during 1973. But what about a reference to the last decade?

Kanak Attak: Certainly, those were the struggles of the first generation. Today the factory as a location of production is no longer the focus of immigrant struggles. But more has changed. There is a different qualification structure of ethnicised work; for example the second generation, by contrast to the first, can now assert itself in terms of industrial law. This has something to do with what has been accomplished by antiracist work and by ideas of normality regarding possible migrant everyday life in the meantime. It is not possible to supervise these people, their everyday practice does not fit into the stigmatised clich? of the migrant victim. Many have a legal residence permit - that is, they have fairly safe residential status. They are able to use the German language as a matter of course, and this opens up quite different opportunities to articulate their interests. These changes came about as a result of two aspects we can establish by taking a look back: firstly, from settling into the existing society, awful as conditions might be, and on the other hand from resistance. This is not expressed in a primarily political way - although there is that as well -, but it is possible to observe an astonishing legacy of resigned indifference. First and foremost, resistance is demonstrated in everyday practices. In this respect as well, the reproduction of living conditions becomes the focal point. The symbolic, imaginary or also ideological level is of especial significance here. We can observe a paradoxical relation, for example in the "migrant jet set". This visualises social mobility in an ethnicising way, but in its realisation and performativity it cannot be traced back to the ethnic. In the contradictory nature of reproduction, therefore, there are points to be taken up. In addition, there is the fragmentation of ways of living. One cannot concern oneself with immigrants per se. Those seen as undocumented, migrants of the second generation and the still-to-be-recruited Green Card holders cannot be tied down to a single political line. This would only lead to universalizing which would in turn remain empty. Far more, a common position would represent a certain general precondition.

Subtropen: Is the demand for legalisation aimed at the creation of such a position? Is it intended to produce a certain degree of generalisation?

Kanak Attak: The demand for legalisation is not aimed at representation and not at participation. Indeed, its intention is to express a political position rather than fix a line. It is raised with reference to a process of negotiation taking place concerning the legislation on immigration. It does not require any political subject, it is suggested as an open concept by which means a political subject may constitute itself; one which could be workable through to all social milieus. It is a matter of mobilising unexpected resources of power. Starting from this position - or at least this was our opinion in the summer - it would be possible to produce conditions of communication which overcame the division of anti-racist labour for a time; and in this way it would have exemplary character.

Subtropen: So let's return to the beginning of this conversation. How has the state of affairs changed in this respect since September? You laid stress on a political offensive, on an offensively presented political position. How can we estimate this claim's political potential at present? How might the demand for legalisation be developed in today's situation?

Kanak Attak: Today we have a situation in which the conditions for an offensive policy - as we saw them during the summer - no longer exist in the same way. The topic of immigration has been shifted completely into the field of controlling policies, and of course this poses new demands. It is not a matter of adopting the position "now more than ever", which would be both abstract and helpless. Far more, an attempt must be made to grasp what aspects of the present economic situation may enable us to oppose the racism which is at present articulated in the guise of anti-Islamic feeling and debates on security. Schily's anti-terror package No. 1, for example, is only nominally directed against terrorism. The central register of foreigners - which has already existed for a long time and ensures the full registration of information concerning the entire life of a group of the population defined according to origins - now permits online comparisons between the authorities, whereby the individual's basic rights are threatened, not only in abstract terms. The creation of a file for naturalised ex-foreigners makes the revanchist target of these measures even more obvious. This is the political withdrawal of the postulate of equality for naturalised immigrants. But above all, the situation for the undocumented immigrants is aggravated. In the context of the current computer searches and the hassling which preceded these, around 1500 illegalised immigrants have already been deported throughout Europe, and this although it was not possible to prove incriminations in the majority of cases. In this respect in particular, the campaign for legalisation needs to be reconsidered. Whilst during the summer it was necessary to demand legalisation as a one point programme, today we should be focusing on the "side effects" - chance arrests in the course of the computer searches and the enthusiasm for denunciation within the population - and demanding compensation for immigrants in the form of legalisation.

Participants in this discussion were Manuela Bojadÿzijev, Serhat Karakayalõ and Vassilis Tsianos (Kanak Attak) and Thomas Atzert and Jost M?ller (Subtropen).


Selbstermächtigung unter Bedingungen eines rassistisch stratifizierten Elends

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Kanak Attak im Gespräch mit SUBTROPEN

Subtropen: Vergangenen Sommer habt ihr anlässlich der Grenzcamps eine Initiative vorgeschlagen, die im Kern auf den gesellschaftlichen Status der illegalisierten Migrantinnen und Migranten zielt. Die Forderung nach Legalisierung soll in die offizielle Einwanderungsdebatte eingreifen und zugleich als Ein-Punkt-Programm die antirassistische Arbeit in der Bundesrepublik neu orientieren. Nach eurer Analyse waren die Ausgangsbedingungen hierfür noch im Sommer besonders günstig. Ist mit den Anschlägen in New York und Washington und dann mit der Kriegserklärung der NATO dieser Initiative der Boden entzogen worden?

Kanak Attak: Die veränderte Lage seit September zwingt uns tatsächlich dazu, über diese Ausgangsbedingungen erneut nachzudenken. Insbesondere der Kriminalisierungsdruck hat erheblich zugenommen. Damit sind sicherlich die Bedingungen für eine Diskussion um Legalisierung nicht mehr so gut wie zuvor. In der EU leben schätzungsweise fünf Millionen Illegale. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, wie sich deren Existenzbedingungen unter den Fahndungsaktivitäten, den neuen sogenannten Antiterror-Gesetzen, dem Ausbau des Polizeiapparats und so weiter verschlechtern werden. Der verkündete langandauernde Krieg schränkt die Resonanz für eine Forderung nach Legalisierung ein. Stattdessen wird Verdächtigungen aller Art Raum gegeben. So dringend eine Legalisierung gerade in dieser Lage wäre, so wenig ist die Öffentlichkeit jetzt noch bereit eine Forderung in dieser Richtung aufzunehmen. Aber wenn wir über die Ausgangsbedingungen neu nachdenken, dann gehören die Analysen und Einschätzungen, die wir vor dem September entwickelt haben, zu diesem Nachdenken dazu. Unsere Einschätzung der Krise des Antirassismus in der Bundesrepublik geht in diese neuen Ausgangsbedingungen unbedingt ein. Insofern ist uns nicht der Boden völlig entzogen worden, um eure Formulierung aufzugreifen, aber die gegenwärtige politische Konstellation verlangt nach einer Weiterentwicklung.

Subtropen: Einverstanden, bevor wir auf diesen Aspekt zurückkommen, können wir erst mal versuchen, die Voraussetzungen zu klären, unter denen antirassistische Arbeit in den vergangenen Jahren stattgefunden hat. Ihr sprecht von einer antirassistischen Arbeitsteilung, die die antirassistische Arbeit eher belastet als voranbringt. Worin besteht diese Arbeitsteilung, wie hat sie sich herausgebildet und was sind ihre genaueren Wirkungen?

Kanak Attak: Die Arbeitsteilung zeigt sich darin, dass die verschiedenen Gruppen jeweils ihre Spezialthemen haben. Sie beschäftigen sich mit Asylpolitik und Asylbetreuung, mit den Flüchtlingsregimes und der Deportationspraxis, mit der Selbstorganisation von Flüchtlingen, mit linker Antirassismusarbeit oder mit Antifaschismus. Alle beschäftigen sich mit dem rassistischen Regime, oder besser, mit einzelnen seiner Aspekten. Hier hat sich eine Struktur der Arbeitsteilung ergeben, in der die Kompetenzen und Zuständigkeiten festliegen, eine Struktur, die unangreifbar scheint. Für uns ist diese verfestigte Arbeitsteilung selbst Ausdruck der Krise der antirassistischen Szene. Sie schleppt diese Struktur seit ungefähr zehn Jahren mit. Schon vorher hatte sich diese Arbeitsteilung herausgebildet, wenn man an die Wohlfahrtsverbände denkt. Die Linke hat diese Struktur in gewisser Weise übernommen. Damit sind aber auch bestimmte Politikformen wie Non-Goverment-Organization oder Selbstorganisation festgelegt, verbunden mit einer politischen Praxis, die auf Betreuung oder Selbstverteidigung ausgerichtet ist. Wir kritisieren nicht die einzelnen Elemente dieser Politik, sondern ihre Strukturierung. In ihrer Struktur ist die Defensive schon eingeschrieben. Der entscheidende Punkt unserer Kritik ist der, dass die antirassistische Arbeit nicht über ein reaktives Verhältnis zu den gesellschaftlichen Transformationen hinauskommt. Jede Verschärfung eines Gesetzes ruft eine kalkulierbare Gegenreaktion hervor. Die Formen der Politik entsprechen immer noch denen von Wohlfahrtsverbänden. Sie hinken der Initiative der Herrschenden hinterher, weil es nicht möglich scheint, die verschiedenen Elemente der Aktivitäten zusammenzudenken.

Subtropen: Aber diese defensive Haltung ist doch viel grundlegender in der Defensive emanzipatorischer Politik zu suchen. Das reaktive Verhältnis zu den Vorgaben staatlicher Apparate und der Regierung, zu den rassistischen Kampagnen der Konservativen und auch zur Politik der Faschisten hängt doch ursächlich damit zusammen, dass das eine gesellschaftsverändernde Praxis, die diese Elemente antirassistischer Aktivität zusammenbringen könnte, sich nicht so recht verdeutlichen lässt. Die Kritik an den Grenzen bestimmter Tätigkeiten, an der Betreuungsfunktion etwa, oder an der Verfasstheit als Nicht-Regierungsorganisation oder an den Beschränkungen der Selbstorganisation unmittelbar Betroffener kann diesen Mangel doch nicht aus sich selbst heraus überwinden. Daneben sind es doch gerade diese antirassistischen Gruppen, die ein Minimum an Kontakt, an Beziehungen und an direktem Umgang organisieren. Kann auf dieser zwar schmalen, aber immerhin vorhandenen Grundlage der Antirassismus nicht eine neue Orientierung finden?

Kanak Attak: Das ist nur möglich, wenn auf dieser Basis tatsächlich die verschiedenen Elemente zusammengedacht werden, wenn sich hier eine Haltung herausbilden ließe, die man als universellen Antirassismus bezeichnen könnte. Dem steht aber die Struktur der Arbeitsteilung im Weg. Es ist richtig, den Mangel einer linken emanzipatorischen Option festzustellen. Der Antirassismus trägt so die Mitgift einer Niederlage, die viel früher stattgefunden hat. Der Antirassismus, wie wir ihn kennen und in dem wir selbst uns ja auch politisch sozialisiert haben, ist das Produkt der Genealogie der Niederlage der deutschen Linken. In vielem erscheint er wie ein Kompensationsprojekt für eine emanzipatorische Politik. Er ist immer noch gebannt durch den Schock, den viele Linke hatten, als nach 1989 sich Nationalismus und Rassismus wahrnehmbar ausbreiteten. Noch immer ist es schwierig, Antirassismus und Antikapitalismus zu artikulieren, noch immer beobachten wir eine gewisse Theoriefeindschaft, die vor der Kapitalismuskritik zurückschreckt, weil sie sie für nicht kommunizierbar hält. Das sind Folgen der historischen Niederlage. Auch das problematische Verhältnis zu Fragen der Migration und zu den Migrantinnen und Migranten und ihren Communities hängt mit diesem Zustand der deutschen Linken zusammen. Das Fehlen einer emanzipatorischen Option für diese Gesellschaft führt zu einem Nicht-Verhalten gegenüber diesen sozialen Phänomenen, stattdessen hält man starr an einmal gefundenen Organisationsstrukturen fest. Wir gehen davon aus, dass sich das rassistische Regime der Bundesrepublik in den letzten Jahren transformiert hat. In dieser Transformation haben sich neue Kräfteverhältnisse hergestellt, die nicht wahrgenommen wurden. Das bezeichnen wir als Krise des Antirassismus.

Subtropen: Woran lässt sich dieser Regimewechsel in euren Augen festmachen? Sicherlich, die Bundesrepublik bekennt sich jetzt staatsoffiziell als Einwanderungsgesellschaft, ein gravierender Unterschied zur konservativen Regierung unter Kohl, die das immer abgelehnt hat. Doch in den konkreten Formulierungen meint dieses längst überfällige Eingeständnis doch nur die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Auch in der Frage des Staatsbürgerrechts gibt es eine Ablösung vom Verwandtschaftsprinzip, dem Blutsrecht, hin zum Territorialprinzip, dem an den Ort gebundenen Geburtsrecht, aber die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft als Möglichkeit für Migrantinnen und Migranten ist ausgebremst worden. Welche neuen Handlungsmöglichkeiten haben sich durch diese Veränderungen ergeben?

Kanak Attak: Grundlegend ist die Transformation des rassistischen Regimes, wenn man sich das Verhältnis von Staat und Migration anschaut. Der Unterschied zwischen der Verleugnung der Einwanderung früher und der Definition als Einwanderungsgesellschaft heute hat Wirkungen, die wir nicht so sehr am Regierungswechsel selbst festmachen, sondern an der Verschiebung des politischen Klimas. Die Kirchen, die Ausländerbeauftragten in Land und Bund, die Wohlfahrtsverbände fanden nun Gehör, migrantophile Positionen waren öffentlich zu vernehmen. Schon vor dem Regierungswechsel von 1998 hatten sich diese Positionen herauskristallisiert. Durch die rot-grüne Regierung entstand ein neuer Code. Die Debatte um das Einwanderungsgesetz erzeugte eine kontingente Situation, die nicht von vorne herein auf bestimmte Positionen reduzierbar war. Die Regierung versuchte zivilgesellschaftliche Zustimmung aus alle Richtungen zu organisieren. Mit der Süssmuth-Kommission sollte das rechte parlamentarische Lager eingebunden werden, aber auch für kritische Stimmen, die zuvor nie zu Wort kamen, eröffneten sich Möglichkeiten. Dieser Klimawechsel reichte bis in die CDU hinein. Der Aushandlungsprozess war im vergangenen Sommer noch nicht abgeschlossen.

Subtropen: Aber hat die CDU in Hessen mit ihrer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft Anfang 1999, massiv unterstützt von den Massenmedien, nicht den zivilgesellschaftlichen rassistischen Konsens gegen die Regierungspolitik mobilisiert? Gibt es nicht strukturell eine konservative Hegemonie in der Bundesrepublik?

Kanak Attak: Die Rahmenbedingungen sind klar, und bei der doppelten Staatsbürgerschaft wurden sie deutlich und auch abgesteckt: Die Regierung verfolgte ihr Projekt nur halbherzig, was man dann an ihrem eiligen Zurückweichen erkennen konnte. Fraglich ist, ob Rot-Grün das eigene Projekt wirklich voran bringen wollte. Mit dem Konzept der Integration wurden ja ständig Anschlüsse für die Mobilisierung der Rechten geliefert. Ein weiterer Punkt kommt hinzu, in der Green Card-Diskussion hat sich gezeigt, dass es der Regierung in erster Linie um eine neue Aufteilung und Segregation der Migration nach Kategorien der kapitalistischen Verwertbarkeit geht. Hier war sie sich der Unterstützung dynamischer internationalisierter Fraktionen des Kapitals sicher. Also, wir haben keine Illusionen in die Einwanderungsgesetzgebung. Gerade aus migrantischer Perspektive war der Wechsel des politischen Klimas jedoch nicht unwichtig. Die Transformation des rassistischen Regimes brachte eine Vereinfachung der Aufenthaltstitel. Die Situation war aufgelockert und Raum für Einmischung war gegeben. Eine kontingente Situation bedeutet, dass es Interventionsmöglichkeiten gibt. Darauf zielt die Forderung nach Legalisierung. Sie ist der Versuch, die berechtigte Forderung nach offenen Grenzen in einer konkreten Situation eine dieser Situation angemessene Formulierung zu geben, um politisch handeln zu können. Die Formel ist ganz einfach, sie lautet: Legalisierung vor Novellierung. Erst müssen die Illegalisierten der Migration einen anderen sozialen Status erhalten, dann erst kann eine Einwanderungsgesetzgebung stattfinden. In dieser Richtung müsste an diesem Punkt der Gesetzgebung politischer Druck von links ausgeübt werden. Gegenwärtig nun scheint der Versuch unternommen zu werden, die Kontingenz wieder völlig auszuschalten und die Diskussion unter Kontrolle zu halten. Wenn das gelingt, bleibt wieder nur die Alternative der Herrschenden, also Zuwanderung unmöglich zu machen oder sie zu dosieren nach den Erfordernissen der Kapitalverwertung.

Subtropen: Die Alternative zwischen Nationalisten und Ökonomisten also. Ihr habt die migrantische Perspektive bereits angesprochen. Bei anderen Gelegenheiten sprecht ihr von der Autonomie der Migration. Bisher haben wir lediglich die sich verändernden Bedingungen rassistischer Herrschaft berücksichtigt. Ist die Migration von den herrschenden nationalistischen oder ökonomistischen Formen der Politik unabhängig? Folgt sie in diesem Sinn einer eigenen Gesetzlichkeit? Kurz, was bedeutet in euren Augen Autonomie der Migration?

Kanak Attak: Ein Beispiel dafür ist die Einwanderung in die Bundesrepublik nach dem Anwerbestopp von 1973. Hier wurde die gesetzliche Möglichkeit der Familienzusammenführung genutzt, wobei der Topos Familie von Seiten der Migranten und Migrantinnen eine eigenwillige Auslegung erhielt, zumindest war nicht die deutsche fordistische Kleinfamilie das Muster. Ähnliches war im Umgang mit dem Asylrecht zu beobachten. Anders gesagt, innerhalb der gesetzlichen Möglichkeiten entwickelten sich autonome Praktiken, um die Mirgration zu organisieren. Die Autonomie der Migration zeigt sich vor allem in der absolut chaotischen und dezentralen Art, in der billige Arbeitkräfte ethnisiert wurden und zugleich diese Arbeitskräfte die sich ihnen bietenden Möglichkeiten zur Einreise nutzten. Dieser Prozess war nicht vorhersehbar und auch nicht kontrollierbar. Die Kontrollpolitiken haben zunächst nicht gegriffen, die Familienzusammenführung, das Asylrecht waren bis zu einem bestimmten Punkt nicht angreifbar. Das zweite Moment ist, dass die Präsenz die Formen verändert hat, unter denen der Überlebenskampf von Migrantinnen und Migranten stattfindet, zum Beispiel die Art wie ethnische Communities entstanden. Ein wichtiger Strang in der Einwanderungsgesetzgebung geht im Grunde darum, die in der Vergangenheit chaotisch abgelaufene Migration zu verregeln. Doch jede neue Regel, jede neue juristische Kodifizierung kann auch neue autonome Taktiken der individuellen und kollektiven Nutzung hervorrufen. Diese Taktiken bleiben unvorhersehbar. Sie sind nicht strategisch planbar, obwohl in letzter Instanz von der Dominanz des Migrationsregimes der Herrschenden auszugehen ist.

Subtropen: Die Taktiken, von denen ihr sprecht, sind doch nur in einem sehr beschränkten Verständnis als autonom zu bezeichnen. Mit einem emphatischen Autonomiebegriff haben sie zumindest wenig gemein. Diese Taktiken finden Anwendung unter der Dominanz des herrschenden Migrationsregimes, wie ihr selbst sagt, sie haben nur eine befristete und parzielle Wirkung, dann greifen wiederum die Kontrollmechanismen. Das ist aber nur die eine Seite. Man kann sogar noch weitergehen und sagen, diese Taktiken sind das glatte Gegenteil von Autonomie. Sie stehen unter der Heteronomie nicht nur in letzter Instanz durch das Migrationsregime. Sie sind heteronom auch aufgrund des informellen Charakters, der nichts mit individueller Autonomie zu tun haben muss, sondern möglicherweise von Clanstrukturen bestimmt sein kann oder von einer ethnischen Identitätspolitik beherrscht wird. Ihr führt die ethnischen Communities an. Damit aber steht man vor dem Problem des Spiegelverhältnisses von Ethnisierung und Selbstethnisierung. Die bürgerliche Vorstellung von Autonomie war reichlich angefüllt mit Identitätsbildern, mit denen der Persönlichkeit und der Bildung, denen der Nation und der Kultur. Rassismus und Ethnisierung haben dabei immer die Funktion gehabt, autoritäre, homogenisierende Kollektivbildungen zu stützen. Muss die Kritik nicht auf beide Seiten zielen: auf das rassistische Regime der Herrschenden wie auf die ethnische Identitätspolitik der Beherrschten? Wäre in der Perspektive der doppelten Kritik nicht eine Verbindung zwischen den von euch angeführten autonomen Taktiken und einer erweiterten sozialen, individuellen wie kollektiven Autonomie zu suchen?

Kanak Attak: Ja, wir wenden uns aber gegen eine abstrakte Form der Kritik, die vom Schreibtisch aus verfügt, wie die Lebensformen aussehen dürfen oder nicht. Denn schon die Figur des Spiegelverhältnisses von Ethnisierung und Selbstethnisierung ist problematisch. Sie impliziert eine Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit, was die Strukturierung dieses Verhältnisses von Unterwerfung betrifft. Fremd- und Selbstethnisierung können nicht einfach analytisch auseinandergehalten werden, geschweige denn sind sie separat zu bekämpfen. Die Identitätspolitik der Beherrschten ist immer auch eine Selbstermächtigungsstrategie unter Bedingungen eines rassistisch stratifizierten Elends. Das heißt, wenn wir von den ethnischen Communities sprechen, dann haben wir klar vor Augen, dass sie den Migrantinnen und Migranten unter den Bedingungen des rassistischen Regimes einen Schutz gewähren, der ihre Überlebensbedingungen verbessert. Dieser Aspekt wird häufig unterschlagen, er ist aber sehr wichtig. Was wiederum nicht heißt, dass in diesen Communities alles so bleiben soll, wie es ist. Wir treten für ein nicht-polemisches Verhältnis ein, in dem die Kritik je nach Situation mögliche andere Praktiken im Blick behält. Man muss das dialektische Moment herausarbeiten. Es gibt hier positive Möglichkeiten einer anderen Form der Vergesellschaftung wie negative, reaktionäre, die wir nicht wollen. Unter den autonomen Taktiken verstehen wir etwas, was sowieso im Alltag stattfindet. Wir versuchen damit eine Dimension der Materialisierung anzugeben, die nicht moralisch-ideologisch zu reduzieren ist. Die Materialität der Taktiken geht niemals völlig identitätspolitisch auf. Darin liegt die Chance linker Kritik. Die Taktiken haben eine Materialität in den konkreten Produktions- und Reproduktionsverhältnissen. Die identitären Prägungen und Fesseln können nur abgestreift werden, wenn interne Momente in der Reproduktion der Lebensverhältnisse transformiert werden. Wir plädieren für eine praktische Kritik, die die Immanenz der Möglichkeiten nutzt und diese Nutzung politisch artikuliert.

Subtropen: Auffällig ist, zum Beispiel auch in der Revue Opelpitbulautoput bei der Kanak Attak-Veranstaltung im April in der Volksbühne, dass ihr euch dabei auf die Arbeitskämpfe in der späten fordistischen Formation, etwa die Streiks bei Ford 1973, zurückbezieht. Wie sieht es aber mit Bezug auf das letzte Jahrzehnt aus?

Kanak Attak: Sicher, das waren Kämpfe der ersten Generation. Heute steht Fabrik als Produktionsort nicht mehr im Zentrum migrantischer Kämpfe. Aber es hat sich noch mehr geändert. Es gibt eine andere Qualifikationsstruktur der ethnifizierten Arbeit, auch arbeitsrechtlich beispielsweise kann sich die zweite Generation anders als die erste nun behaupten. Das hat auch zum Teil damit zu tun, was die antirassistische Arbeit und der kanakische Alltag inzwischen als Normalitätsvorstellungen davon, wie man leben kann, durchgesetzt hat. Diese Leute sind nicht betreubar, sie verfügen über eine Alltagspraxis, die nicht zu dem stigmatisierenden Klischee des kanakischen Opfers passt. Viele verfügen über eine geregelte Aufenthaltserlaubnis, also ziemlich sichere Aufenthaltstitel. Sie können mit der deutschen Sprache selbstverständlich umgehen, was ganz andere Artikulationsmöglichkeiten eröffnet. Diese Veränderungen resultieren aus zwei Momenten, die sich im historischen Rückblick festmachen lassen: Zum einen das Hineinleben in die bestehende Gesellschaft, so beschissen wie die Verhältnisse auch sind, und der Widerstand, der sich nicht in erster Linie politisch artikuliert, das zwar auch, aber hier ist eine erstaunliche Vererbung der resignativen Gleichgültigkeit zu beobachten, sondern er zeigt sich vor allem in alltäglichen Praktiken. Auch in dieser Hinsicht rückt die Reproduktion der Lebensverhältnisse in den Mittelpunkt. Die symbolische, imaginäre oder auch ideologische Ebene ist dabei von besonderem Gewicht. Hier können wir ein paradoxales Verhältnis beobachten, zum Beispiel bei der Kanak-Schickeria, erstens visualisiert sie den Aspekt der soziale Mobilität auf eine ethnisierende Art, zweitens aber ist dies in der Performativität nicht ethnisch zurückzuführen. Also in der Widersprüchlichkeit der Reproduktion gibt es Anknüpfungspunkte. Hinzu kommt eine Fragmentierung der Existenzweisen. Es kann nicht um den Migranten per se gehen. Illegalisierte, Kanaken der zweiten Generation und noch anzuwerbende Green Card-Besitzer können nicht auf eine politische Linie festgelegt werden. Dies führte nur zu einer Allgemeinheit, die leer bliebe. Eher schon bestünde eine gewisse allgemeine Voraussetzung in einer gemeinsamen Haltung.

Subtropen: Richtet sich die Forderung nach Legalisierung auf die Erzeugung einer solchen Haltung? Soll damit ein gewisser Grad an Verallgemeinerung hergestellt werden?

Kanak Attak: Die Forderung nach Legalisierung zielt nicht auf Repräsentation und nicht auf Partizipation. Mit ihr sollte tatsächlich eher eine politische Haltung zum Ausdruck gebracht, als eine Linie fixiert werden. Sie ist mit Bezug auf einen stattfindenden Aushandlungsprozess um die Einwanderungsgesetzgebung gestellt. Sie setzt kein politisches Subjekt voraus, sondern ist als offene Konzeption vorgeschlagen, durch die sich ein politisches Subjekt konstituieren kann und die bis in die zivilgesellschaftlichen Millieus hinein tragfähig werden könnte. Es geht um die Mobilisierung unerwarteter Kräfteressourcen. Hieraus, so war zumindest im Sommer unsere Einschätzung, könnten die Bedingungen der Kommunikation hergestellt werden, die die antirassistische Arbeitsteilung zeitweise überwinden; und damit hätte sie einen exemplarischen Charakter. Subtropen: Kommen wir auf den Anfang des Gesprächs zurück. Wie hat sich die Lage in dieser Hinsicht seit September geändert? Ihr habt den Akzent auf eine politische Offensive gelegt, auf eine offensiv vorgetragene politische Haltung. Wie ist gegenwärtig mit diesem Anspruch das politische Potenzial einzuschätzen? Worin könnte eine Weiterentwicklung der Forderung nach Legalisierung in der heutigen Situation bestehen?

Kanak Attak: Heute haben wir eine Situation, in der die Bedingungen einer offensiven Politik, wie wir sie noch im Sommer sahen, nicht mehr in gleicher Weise existieren. Das Thema Einwanderung ist komplett auf ein kontrollpolitisches Terrain verschoben, was neue Anforderungen stellt. Es geht nicht darum, eine Haltung des Jetzt erst recht einzunehmen, die gleich abstrakt und hilflos wäre. Man muss vielmehr versuchen zu verstehen, welche Momente der gegenwärtigen Konjunktur es uns ermöglichen könnten, dem im Gewand des Antiislamismus und dem Sicherheitsdiskurs sich artikulierenden Rassismus etwas entgegenzusetzen. So richtet sich Schilys Terrorbekämpfungspaket Nr. 1 nur nominell gegen den Terrorismus. Das schon lange existierende Ausländerzentralregister, das die informationelle Totalerfassung aller Lebensbereiche einer nach Abstammung definierten Wohnbevölkerungsgruppe gewährleistet, erlaubt neuerdings einen innerbehördlichen Online-Datenabgleich, womit nicht nur abstrakt die Grundrechte angegriffen werden. Mit der Erstellung einer Datei für eingebürgerte Ex-Ausländer verdeutlicht sich das revanchistische Angriffsziel dieser Maßnahmen genauer. Es geht um die kontrollpolitische Zurücknahme des Gleichheitspostulats für eingebürgerte Einwanderer. Verschärft ist vor allem aber die Lage für die Illegalisierten. Aktuell wurden europaweit im Rahmen der Rasterfahndungen und der ihnen vorausgehenden Schikanen schon zirka 1500 Illegalisierte abgeschoben, und dies obwohl für die absolute Mehrheit der Festgenommenen die Inkriminierung nicht nachgewiesen werden konnte. Genau an dieser Stelle könnte die Legalisierungskampagne neu überdacht werden. Galt es im Sommer die sofortige Legalisierung als One-Point-Programmatik zu fordern, geht es heute eher darum, den "Beifang" im Zuge der Rasterfahndungen und des Denunziationseifers in der Bevölkerung in den Mittelpunkt zu rücken und ihre Entschädigung durch Legalisierung zu fordern.

Für Kanak Attak Manuela Bojadijev, Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos. Für Subtropen Thomas Atzert und Jost Müller.


Kommentar zum Zuwanderungsgesetz

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Manuela Bojadzijev, Tobias Mulot und Vassilis Tsianos

Die rot-grüne Koalition trat 1998 mit dem Versprechen an, die "Einwanderungsfrage" zu modernisieren und den Status der hier lebenden Migrantinnen und Migranten durch ein neues Staatsbürgerschaftsmodell zu verbessern: ein Paradigmenwechsel hin zur regulierten Einwanderung, der allerdings seinen Vorläufer im 1992 zwischen den Fraktionen der christlich-liberalen Regierungskoalition und der SPD im Rauch der Brandsätze ausgehandelten euphemistisch bezeichneten "Asylkompromiß" hat. Die Ebene der legislativen Aushandlung antizipierte bereits die Konturen des Konflikts, der jetzt die aktuelle Migrationsdebatte prägt. Denn der unausgesprochene Gegenstand des "Reformprojekts Einwanderung" war schon 1992 ein umfassendes, zum ersten Mal seit dem Anwerbestopp 1973 anvisiertes Gesetzespaket zur generellen Steuerung der Migration in Deutschland. Die Demontage des Asylrechts fand aufgrund einer Reihe von Vereinbarungen eine breite parlamentarische Mehrheit: Einbürgerungserleichterungen für die "zweite Generation", die Reform des Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts, die Einschränkung und jährliche Quotierung der "Aussiedlermigration", die rechtliche Absicherung von Vertrags- und Saisonarbeitern und - last but not least - die Option auf eine kommende "Regelung zur Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung" in Form eines Einwanderungsgesetzes. Unter dem Terminus "Asylkompromiß" firmierte also in Wirklichkeit nichts anderes als der erste "Migrationskompromiß" der deutschen Nachkriegszeit, und als solcher war er eine wirkungsmächtige Vorlage für die aktuellen rot-grünen Modernisierungspläne.

Die nun also geplante Umsetzung des Vorhabens, das selbst in den Reihen der SPD umstritten blieb, scheiterte schon bald an einer bundesweiten Unterschriftenaktion der CDU, die darauf abzielte, wesentliche Grundrechte im Sinne der Verfassungstradition weiterhin als exklusive Rechte der Deutschen festzuschreiben. Nach dem Wahlsieg der Konservativen in Hessen verschwand die Frage der Einwanderung zunächst von der politischen Agenda der Bundesregierung, und die angestrebte Reform der Staatsbürgerschaft kollabierte in einem "Kompromiß" mit einer Reihe von ausländerrechtlichen Verschlechterungen.

Erst ein Jahr später gelang es Bundeskanzler Schröder mit der Einführung der Green Card das Thema Einwanderung wieder ins Spiel zu bringen. Es handelte sich dabei um eine modernisierte Variante des altbekannten "Gastarbeitermodells". Indem der Kanzler seine Initiative als Einwanderungsbegrenzungsmodell für Hochqualifizierte vorstellte, schien es wieder möglich - mit dem expliziten Verweis auf die Stärkung des "Standorts Deutschland" und einer partiellen Öffnung im europäischen Migrationsregime im Zuge der postfordistischen Wende (vgl. hierzu Frank Düvell in Heft 1/2000) -, einen sogenannten pragmatischen Umgang mit der Einwanderung zu finden. Allerdings bleiben die Pfade dieser migrationspolitischen Wende notwendig verschlungen. Während Otto Schily mit der rassistischen Metapher der "Grenze der Belastbarkeit" hantierte, um die ohnehin schwache linke Opposition im eigenen Lager prophylaktisch zu disziplinieren, rief er zusammen mit dem Kanzler die außerparlamentarische "Süßmuth-Kommission" für Zuwanderungsfragen ins Leben. Primär war sie eine politische Reaktion auf die Kritik an der zögerlichen Haltung gegenüber der Einwanderungsgesetzgebung in der linksliberalen Presse und in den eigenen Reihen. Die Strategie versprach, die Debatte über Zuwanderung geschickt aus der Koalition auszulagern und stabilisierte gleichzeitig die diskursive Hoheit über die Migrationsfrage, indem Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände eingebunden wurden.

Das Recht auf Einwanderung, kein Einwanderungsgesetz! Nach einer kurzen Phase sommerlicher publizistischer Euphorie stellte sich im vergangenen Jahr heraus, daß die junge Koalitionshegemonie über die "Migrationsfrage" nur über weitgehende Zugeständnisse an den Modernisierungsflügel der CDU, der sich um den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller gruppierte, zu erlangen war. Mit der Vorlage seines "Referentenentwurfs" im August letzten Jahres brachte es Schily fertig, die migrationspolitischen Modernisierungsvorschläge der Süssmuthkommission mit seinem "Zuwanderungsgesetzesentwurf" zu umgehen. Die Chiffre Zu- und nicht Einwanderungsgesetz illustriert die zugrunde liegende Steuerungsprogrammatik. Tatsächlich geht es weniger um Zuwanderung als um eine umfassende Neuregelung des Ausländerrechts, die Fragen des Aufenthalts, der Erwerbstätigkeit und Integration - all in one - regelt. Die als innovativ propagierte Vereinfachung der Aufenthaltstitel ist nur nominell, da der Zugang zur neuen "Niederlassungserlaubnis", die einen dauerhaften Aufenthalt sichert, durch die Abschaffung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und durch verschärfte Anforderungen massiv erschwert wird. Für einen Großteil der 1,7 Millionen Migrantinnen und Migranten mit befristeter Aufenthaltserlaubnis wird die Verlängerung so fast unmöglich gemacht.

Es scheint als hätten die konziptiven Ideologen des Abschiebeapparats akribisch alle Punkte aufgelistet, die Migrantinnen und Migranten bis jetzt als Schlupflöcher nutzten und die eine relative Autonomie der Migration gegenüber der staatlichen Politik bedeutete. So bewirkt die Abschaffung des Duldungstitels für 250.000 - darunter nicht nur abgelehnte Asylsuchende - nichts anderes als Illegalisierung. Die noch von der Süssmuth-Kommission empfohlene Legalisierungsregelung, die sich auf etwa 1,7 Millionen Migrantinnen und Migranten bezogen hätte, fällt weg. Die bisher stets als gesonderter Bereich behandelte Flüchtlings- und Asylpolitik wird in das Modell der Zuwanderungssteuerung einbezogen. Der Imperativ der Integration, auf den sich scheinbar alle einigen, rückt an zentrale Stelle.

Tatsächlich impliziert der Begriff "Integration" einen Politikwechsel, der über das Zuwanderungsgesetz hinausweist: 1. Die Integrationsmaßnahmen werden auf eine zentralstaatliche Steuerungsebene gehoben. 2. Im Gegensatz zu alten Sozialstaatskonzepten (und dem Multikulturalismus-Ansatz der achtziger Jahre) ist gar keine Rede mehr von politischen und sozialen Rechten bzw. vom Ausgleich komparativer Defizite etwa bezüglich Bildung und sozialer Partizipation. Die Regulation wechselt die Richtung: Die Gewährung von Rechten wird an vorab zu erbringende individuelle Leistungen gebunden. Zwar werden Kurse angeboten; sie sind allerdings am ehesten mit den Zwangsqualifizierungsmodellen zu vergleichen, mit denen seit Jahren Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger belästigt werden. Wird dort ständig mit der Drohung der Leistungskürzungen oder dem Entzug von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gearbeitet, so wird den Migrantinnen und Migranten mit der Beendigung des "Aufenthalts" gedroht.

Interlude Zwischenzeitlich schien aufgrund der allgemeinen Empörung über den NYC 9/11-Day der Referentenentwurf allerdings vom Tisch gewischt. Wie sollte unter den zu Integrierenden der Schläfer erkannt werden? Otto Schily präsentierte im Geiste eines fieberhaften legislativen Aktionismus als Sofortmaßnahme zwei gesetzliche Initiativen, die ganz offensichtlich schon längst in den ministerialen Schubladen gelegen hatten: die Ergänzung des Strafgesetzbuches um einen §129b und ein Gesetz zur Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht. Dem folgte das zweite Anti-Terror-Paket, mit dem die Rechtspositionen der zum Sicherheitsrisiko Nr. 1 erklärten Migrantinnen und Migranten erneut massiv verschlechtert wurden. Unter dem Deckmantel der "Terrorbekämpfung" gelang es Schily, ausländerrechtliche Verschärfungen, die eigentlich Teil des Zuwanderungsgesetzes sein sollten, vorab durch den Bundestag zu bringen. Konkret geht es um die erweiterte Definition des "Mißbrauchs des Gastrechtes". Gemeint sind die im Abschiebejargon verfassten Ergänzungen unter dem Stichwort "besondere Versagungsgründe" im Aufenthaltsverlängerungsverfahren. Sie ermöglichen es, selbst jenen die Aufenthaltsgenehmigung oder deren Verlängerung zu verweigern, die eigentlich einen Anspruch hätten. Die mit dem Paket II geschaffenen neuen Internierungsmöglichkeiten in sogenannten "Ausreisezentren" korrespondieren mit einer Perfektionierung der Erhebung, Übermittlung und Nutzung von Daten hier lebender Migrantinnen und Migranten ("Ausländer", "Sans Papiers" und "Eingebürgerte"): De facto wird so das Recht von mehr als 10 Millionen Menschen auf informationelle Selbstbestimmung aberkennt.

Autonomie der Migration? Die Analyse dieses Kurswechsels war notwendig, um das Terrain zu identifizieren, auf dem Widerstand entstehen könnte. Der Schily-Entwurf erkennt in ganz spezifischer Weise die relative Autonomie der Migration an, wie an dem Versuch einer umfassenden Zuwanderungssteuerung abzulesen ist. Autonomie der Migration bedeutet, daß sich Einwanderung - historisch betrachtet - nicht hat ohne Weiteres von staatlichen Politiken beeinflussen lassen. Die Proklamation der Autonomie der Migration war in den antirassistischen Diskussionen im Verlauf der neunziger Jahren relativ beliebt. Der Vorteil bestand zum einen darin, die Behauptung entkräften zu können, Deutschland sei kein Einwanderungsland, zum anderen konnte auf diese Weise der Abschottungs- und Regulierungspolitik der bundesdeutschen Regierung ein nicht rein defensives Argument entgegen gehalten werden. Yann Moulier Boutang hatte 1993 in einem Interview angemerkt, daß es einen sehr Ernst zu nehmenden "subjektiven Faktor" gibt, der das Gehen oder Bleiben von Migrantinnen und Migranten beeinflußt und der nicht unter staatliche Regulierungskontrolle gebracht werden kann: "Das ist anscheinend schwierig zu kapieren, aber trotzdem wichtig; auch wenn sich Myriaden von Experten und Beamten in den Behörden und staatlichen und internationalen Einrichtungen mit der Emigration beschäftigen, haben sie keine Ahnung von dieser (...) Autonomie der Migrationsflüsse. Sie haben vielmehr die Vorstellung, daß alle miteinander verbundenen Faktoren und Phänomene auf die Wirtschaftspolitik zurückzuführen und daher nur Gegenstand der verwaltungsmäßigen Regulierung wären. Natürlich wird bei diesem Denkansatz die Objektivität der Politik und speziell der Wirtschaftspolitik grotesk überschätzt, es wird völlig vergessen, daß es eine Eigendynamik der Auswanderung gibt. Man kann zwar der Emigration mit repressiven Mitteln begegnen, die Rückkehr der Immigranten 'fördern', aber man kann nicht die Flüsse nach Programmierung und Dafürhalten öffnen und sperren." (Yann Moulier Boutang, Interview, in: Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 5, Berlin/Göttingen 1993, S. 38)

Was Moulier Boutang hier als "schwer zu kapieren" bezeichnet, wird nun erstmals, im Regierungswissen etabliert und in Führungstechnik übersetzt. Die Initiative der rot-grünen Bundesregierung für ein Einwanderungsgesetz besteht - nach Einführung der sogenannten Green Card-Einwanderung - in dem Versuch, eben diese Autonomie staatlich unter Kontrolle zu bringen und zu kanalisieren. Auch Peter Müller von der CDU hat dem zugestimmt: "Trotz restriktiver Bestimmungen und Kontrollen ist es bisher nicht gelungen, das unkontrollierte und weitgehend ungesteuerte Nebeneinander unterschiedlichster Zuwanderungsgruppen zurückzuführen, geschweige denn in einem bedarfsgerechten, arbeitsmarkt- und sozialverträglichen Gesamtkonzept der Einwanderung aufgehen zu lassen. Die Gesamtschau der Einwanderungspolitik in Deutschland ergibt vielmehr ein unbefriedigendes Mißverhältnis der erwünschten gegenüber unerwünschten Zuwanderungstatbeständen." (Peter Müller, Von der Einwanderungskontrolle zum Zuwanderungsmanagement 1.7 2001) Für ein antirassistisches Verständnis dieser Prozesse genügt die Feststellung einer Autonomie der Migration eben darum nicht. Moulier Boutang präzisiert seine Überlegungen in einem später erschienenen Text noch einmal im Hinblick auf einen Angriff gegen die rassistische Segmentierung des Arbeitsmarkts und ein gesichertes Grundeinkommen. Gerade in Zeiten der Arbeitslosigkeit, gehe es um das Recht auf Freizügigkeit, das Recht, ein Einkommen zu haben, das Recht auf ein Leben, im allgemeinen Sinne des Wortes, unabhängig vom Herkunftsland und Besitz eines Arbeitsplatzes. Boutang versucht mit dieser Perspektive, die Grenzen der Kämpfe aufzuzeigen und zu überschreiten. Es geht hier sowohl um die allgemeine Unterhaltsleistung als auch um die allgemeine Staatsbürgerschaft. (vgl. Yann Moulier Boutang, "Papiere für alle", in: Die Beute, 1/1997, S. 54)

No integration! Legalisation! We insist! Bezogen auf die gegenwärtige Situation und die Konjunkturen der Auseinandersetzungen um Rassismus in den neunziger Jahren ist festzustellen, daß sich der Angriff auf Migrantinnen und Migranten in einem doppelten Schweigen manifestiert: auf der einen Seite das beredte Schweigen des Integrationsimperativs, der, wie ein Gegen-Recht, die Aufgabe erfüllt, unüberwindbare Asymmetrien einzuführen und Gegenseitigkeiten auszuschließen; auf der anderen Seite das Schweigen über die mehr als 2 Millionen anwesenden Migrantinnen und Migranten ohne Papiere. Einerseits erkennt der Gesetzesentwurf an, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist und daß alle Abschottungsmaßnahmen und Schikanen nicht verhindern konnten, daß es stets faktisch Einwanderung gab. Andererseits wird im Gesetzesentwurf erneut versucht, Einwanderung staatlicher Steuerung zu unterwerfen.

Die neuen Widersprüche sind absehbar, es wird weiterhin Einwanderung geben, die sich der Steuerung entzieht. Die Feststellung, daß die Autonomie der Migration bzw. ihre Geschichte in die gegenwärtige Konjunktur eingeschrieben ist, bedeutet nicht nur, daß wir aus der "Geschichte" und den Erfahrungen "derjenigen vor uns" lernen müssen. Es geht um mehr: die Kämpfe sind auch dort "anwesend", wo sich ihre Niederlagen manifestiert haben: in den Ausländer- und Staatsbürgerschaftsgesetzen, in der geplanten Gesetzesinitiative zum Einwanderungsgesetz, aber auch in den widerständigen Alltagspraktiken der Migrantinnen und Migranten. Insofern birgt die Durchsetzung der Verrechtlichung der relativen Autonomie der Migration mit dem Ziel gesteigerter nationalstaatlicher Kontrolle politischen Sprengstoff. Diese staatliche Politik begibt sich mit dem Versuch der Verrechtlichung und Steuerung der Migration auf für sie ungewisses Terrain: Sie greift in das instabile Gleichgewicht von Gleichheit und Freiheit innerhalb der nationalen Gemeinschaft ein, in die Trennung von Volk und Nation. Während im deutschen Gesetzentwurf zur Zuwanderung auf Basis des Integrationsimperativs die Ausschlußbarriere des Nation bildenden Staatsvolkes weiterhin aufrechterhalten wird, zeichnet sich auf europäischer Ebene eine Tendenz ab, Staatsbürgerschaft von diesen hergebrachten Konzepten abzukoppeln. Das Projekt des europäischen Zusammenschlusses, der eigentlich einem Einschluss gleichkommt, verbindet jedoch Mittel der präventiven Aufstandsbekämpfung an den Rändern des Migrationsregimes - also an den Grenzen, die inzwischen Europa nicht nur umfassen, sondern auch durchziehen - mit einem Prozeß der rassistischen Stratifikation im Inneren. (Vgl. Etienne Balibar, Topographie der Grausamkeit. Staatsbürgerschaft und Menschenrechte im Zeitalter globaler Gewaltverhältnisse in Subtropen, 12/2001, S. XX)

Angesichts dieser Veränderungen geht es zunächst um die Frage nach Kollektivrechten für Einwanderer. Kollektivrechte können zur Vervielfältigung der Freiheiten von Subjekten beitragen, deren kollektive widerständige Praxen ohnehin die systematische Vereinzelung durch die verallgemeinerte Struktur der Ausschließung untergraben. Realisiert werden sollte eine Legalisierung der hier lebenden Migrantinnen und Migranten ohne Papiere und eine Politik, die dem herrschenden Integrationsimperativ die bereits existierenden Widerstandspraxen entgegensetzt und politische und soziale Rechte unabhängig von jeder Staatsbürgerschaft einfordert. So könnte eine radikale Politik hinsichtlich des Rechts auf Einwanderung jene Leistungsdispositive untergraben, die Migrantinnen und Migranten nur nach ihrer Arbeitskraft be- und verwertet. Antirassistische Arbeit läßt sich aus dieser Perspektive indessen nicht auf Fragen von Rassismus begrenzen, sondern muß Wohnverhältnisse, Bildungsmisere, Ausbeutung und Geschlechterverhältnisse zur Sprache zu bringen, d.h. ganz einfach: den unterschiedlichen Lebensaspekten von Migrantinnen und Migranten, ihrem und unserem Alltag und Widerstand zu entsprechen.