Benutzer:Methodios/Exerzitien unter der Straße/Büttners letzte Blaubeeren

Und noch vier Monate bis Buffalo ...

... nur noch vier Monat bis zur rettenden Rente!

Aber Büttner wirkte schon sichtlich angeschlagen. Wer ihn kannte und die letzten Monate Revue passieren ließ, der ahnte, ja der wußte schon im Voraus: das konnte nichts mehr werden.

Vor knapp einem Jahr kam die Heizkostenabrechnung. Ein Geschrei vom Amt: das übernehmen wir nie! Raus kam ein Darlehen, was Büttner von seinem bißchen Hartz IV abzustottern hatte. Dabei mußte er schon zur Miete über zweihundert Euro zubuttern, die das Amt nicht übernahm.

Sie müssen sich eine billigere Wohnung suchen, krähte das Amt. Aber woher Büttner die nehmen sollte, verriet ihm keiner. Die Wartezeiten auf Sozialwohnung hatten sich von vier auf sieben Jahre erhöht, und er als einzelner, älterer Herr bekam er noch nicht einmal einen Antrag ausgehändigt. Wir müssen Familien mit Kindern bevorzugt versorgen, hieß es. Ehe sie dran sind, müssen sie vielleicht schon in ein Altersheim. Aber auch da gibt es lange Wartelisten ...

Büttner meldete sich im Altersheim an. Aber lange schon vor den theoretisch sieben Jahren Wartezeit auf eine Sozialwohnung brauchte Büttner auch keinen Altersheimplatz mehr. Und er meldete sein Telefon ab. Schweren Herzens. Er hatte über vierzig Jahre einen Anschluß besessen.

Im Oktober 2005, dem Jahr der Einführung von Hartz IV, traf ich Büttner das erste Mal - in einer kleinen, feinen Buchhandlung, die inzwischen schon längst von den Buchketten erdrosselt wurde. Am Schaufenster verblich noch die Werbung für das 300-jährige Jubiläum des herzoglichen Buchhändler-Privilegs. Wenige Jahre ungebremster Neoliberalismus im Buchgeschäft zerstörten kurz darauf Jahrhunderte gewachsene Tradition.

Die Buchhandlung war vor der Weltwirtschaftskrise 1929 auch lange Zeit Verlagsbuchhandlung und verfügte noch über reichliche Bestände von Regionalliteratur aus dieser Zeit. Für mich lohnte es sich, sie immer mal wieder aufzusuchen, zumal die kleine, aber um so feinere antiquarische Abteilung auch schon längst vergriffene andere Regionalliteratur führte. So kam es, dass ich auch meine Sortimentsbestellungen dort abwickelte.

Büttner erwies sich als ein profunder Kenner von Geschichte und Geschichten. Letztere brachte er gelegentlich zu Papier. Er war Jahrgang einundvierzig und klassisch sehr gebildet, hatte das Große Latinum und auch das Graecum in seinem Humanistischen Gymnasium abgelegt und hätte lieber Geschichte und Philosophie studiert als seinen Brotberuf Ingenieur.

Seine Mutter hatte ihn auf dieses "Liceo Classico" geschickt, damit er einmal Priester werfen könne. Zu diesem Zweck büffelte er sogar ein paar Jahre Hebräisch. Seitdem sein Vater auf dem Feld der Ähre gefallen war, klammerte sich seine Mutter an die Kirche.

Aber Büttner erkannte schnell den Machtmißbrauch und die Verlogenheit und Verkommenheit des Klerus. Damit wollte er nichts zu schaffen haben. Er ließ sich auch nicht die Geschichte verklären. Karl des Großen Missionierung mit Feuer und Schwert nannte er eine gewaltsame Kolonisation der Sachsen und nicht die Überbringung der Heilsbotschaft. Er konnte sich in Rage reden, wenn es um diesen düsteren Abschnitt der Geschichte Niedersachsens ging. Wir waren da ziemlich einer Meinung.

Es gab nur ein Thema, das ihn noch mehr erboste: die aktuellen Verhältnisse bei VW und im Land Niedersachsen. Als er vor vierzig Jahren mit seinem Brotstudium fertig war, fand er in seiner Heimat keine Anstellung und mußte seine Arbeitskraft bei Daimler-Benz im Schwabenland verkaufen. Dort blieb er ein Vierteljahrhundert immer nur ein Rein'gschmeckter, ein Zug'reister, ein Herg'laufener, ein Gastarbeiter, der ordentlichen Leuten Arbeit und Brot stahl. Da halfen auch keine Tschaka-Seminare und das Beschwören von Daimler, "wir sind ja alles ein große Familie". Ihm blieb auch nichts anderes übrig, als eine italienische Gastarbeiterin zu heiraten. Für die war das ein Aufstieg, sie hörte gleich nach der Hochzeit traditionell italienisch mit der Brotarbeit auf. Für Stuttgarterinnen - und natürlich auch Stuttgarter - war er ein Plebs. Da sich das auch nicht im nächsten viertel oder halben Jahrhundert ändern würde, nahm er neunzig ein Angebot an, von Daimler an VW verliehen zu werden und ging zurück nach Braunschweig.

Seiner Frau gefiel das weniger. Sie hielt sich nun alle naselang in Sizilien auf. Aber Büttner blühte in seiner Heimat wieder auf, konnte an alte Wurzeln anknüpfen. So wurde er schnell warm mit seinen Kollegen. Und obwohl es "eigentlich" verboten war, über Gehälter zu sprechen, kam doch sehr schnell heraus, daß Büttner weit unter dem Haustarif des VW-Konzerns bezahlt wurde. Das wurmte nicht nur an ihm - er wurde dadurch auch zur Zielscheibe ewigen Spottes. Zunächst versuchte er die anderen und vor allem sich selbst noch dadurch zu beruhigen, daß er ja nur befristet verliehen war. Außerdem machte ihm VW Hoffnung, daß man ihn vielleicht sogar übernehmen würde. Aber das waren nur die üblichen Vertröstungen, die üblichen Verarschungen.

Statt dessen wurden die befristeten Leiharbeitsverträge immer wieder verlängert, eine andere Wahl ließ man ihm nicht. Zweitausend wurde sein Schicksalsjahr. Die Gehaltsdifferenz zu seinen Kollegen war schmerzhaft gestiegen. Er konnte sich nicht mehr im Spiegel sehen und unterschrieb den Lohnraubvertrag nicht wieder. Daimler hatte zehn Jahre die Differenz eingesteckt, ohne einen Finger zu krümmen. Damit sollte jetzt endlich Schluß sein. Es war schließlich keine Dauerleihgabe.

Seine Bewerbung direkt bei VW verlief im Sande, trotz zehnjähriger sehr guter Arbeit. Später erfuhr er, daß VW und der Betriebsunrat schon seit September neunundneunzig einen ganz Großen Coup ausgeheckt hatten: "Auto 5000". Lohnraub sollte nicht nur vereinzelt, sondern im ganz großen Stile betrieben werden: fünftausend ArbeiterInnen sollten und wurden zwanzig Prozent unter dem Tarifvertrag von VW eingestellt. Das sparte tausend volle Gehälter. Dieses Tarifdumping wurde auch vom Betriebsunrat mit ausgeheckt und getragen. Der bekam dafür Boni, die das mehrfache seines Tarifgehaltes betrugen. VW sparte noch immer weit über 900 Gehälter ein.

Büttner schimpfte über die gekauften Arbeiterverräter. Der Gewerkschaftsbeitrag war eine der ersten Sparmaßnahmen, als er im Jahr zweitausend arbeitslos wurde. Und er schaffte sofort sein Auto ab. In Braunschweig konnte er alles gut zu Fuß erreichen. Vierzig Jahre lang hatte er ei Auto besessen, jetzt war Ende Allende. Seine Frau saß in Sizilien. Die einzigen Nachrichten von ihr waren ihre unerhörten Geldforderungen. Da war es günstiger, sich schnell scheiden zu lassen. Nach der Scheidung war seine Altersvorsorge futsch - und seine etliche Jahre jüngere Frau angelte sich in Stuttgart den nächsten gut situierten Deutschen. Bevor bei ihr der Lack ab war.

Auch Büttners Bewerbungen woanders verliefen alle im Sande. Entlaufenen Sklaven von VW und Daimler getraute sich niemand anzustellen. Man hatte Verträge: ich klau Dir keine Sklaven, und dafür klaust Du mir keine.

Das Amt wollte ihn mit sechzig in den Ruhestand abdrängen. Bereinigung der Statistik. Oder Beschönigung. Büttner wollte nicht mitmachen, wollte nicht aus der Statistik fallen, hatte fünfunddreißig Jahre tüchtig in die Arbeitslosenkasse eingezahlt. Die sollte dafür auch blechen. Er hatte ein Anspruch auf ein recht gutes und recht langes Arbeitslosengeld erarbeitet. Und die Arbeitslosenhilfe danach war auch nicht so viel weniger. Damit würde er locker bis zur guten Rente kommen. Zu fast zwölf Prozent Rentenabschlag war er auch nicht bereit.

Aber Büttner übersah, was sich schon seit langem zusammenbraute. Schon Ende der Achtziger war das Land am Ende. Der Stern titelte im April neunundachtzig mit einem sehr angeschlagenen Kohl-Konterfei: blutend, überall Pflaster, zerbrochene Brille ... Schon damals wurde die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ernsthaft diskutiert. Eine Wende in der DDR hatte niemand auf der Rechnung. Auch die hochbezahlten "Deutschlandforscher" nicht. Die verschwanden nach der Wende sang- und klanglos in der Versenkung. Dann kam die Wiedervereinigung, die CDU vereinigte sich mit dubiosen Ost-CDU-Politikern, um ans Ruder zu kommen und sorgte dafür, daß das Volkseigentum vom Bund geschluckt wurde. Der war dadurch vorerst saniert - auf Kosten der Ostdeutschen. Der immense Nachholbedarf im Osten Deutschlands stabilisierte den Westen zusätzlich.

Aber zweitausenundeins, als Büttner die Rente mit sechzig verweigerte, stand die Krise erneut an. Schon im nächsten Januar, als die Einführung des Teuro alles überschattete, hatte der nichtöffentlichen Arbeitskreises der Bertelsmann-Stiftung „Zur Diskussion um die Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ ein internes Papier erarbeitet, das sich in großen Teilen in den Vorschlägen der Hartz-Komission wiederfand, welche im schon im darauffolgenden Februar eingesetzt wurde.

Bei Hartz spuckte Büttner Gift und Galle. Bei unserer ersten Begegnung Mitte Oktober nullfünf hatte die Staatsanwaltschaft Braunschweig bereits ein Ermittlungsverfahren gegen Hartz wegen Verdachts der Untreue eingeleitet. Hartz war nichts zu teuer, Betriebsunrat Peter Volkert zu kaufen: mit Luxus- und Lustreisen und Prostituierten - von denen auch Hartz profitierte, mit Maßanzügen und einer Luxuswohnung und und und. Klaus Volkert erhielt außerdem zehn Jahre lang jährlich zweihunderttausend Teuro Sonderbonus, und selbst seine brasilianische Geliebte Adriana Barros bekam neunzigtausend im Jahr. Damit konnte sich Klaus Volkert neben seiner Ehefrau noch eine Nebenfrau leisten.









Aber Büttner hat sie nicht mehr erreicht - er starb fünfzehn Monate nach Einführung von Hartz IV ausgehungert und entnervt in seiner Wohnung.

Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.


"Dauerleihgabe" von Daimler an VW

unterschrieb die x-te Verlängerung nicht mehr

weigerte sich mit 60 mit großem abschlag in die Rente abgeschoben zu werden - da gab es noch kein Hartz IV statt Arbeitlosenhilfe

ab Januar 2005 arm wie eine Kirchenmaus

saß in einem Buchladen, um zu Hause Heizung zu sparen

war als Ingenieur sehr gebildet - hatte Latinum, Graecum ...

brauchte Mehrbedarf wegen seine Krankheit

mit der Bescheinigung vom Hausarzt wischte sich das Amt den Arsch ab - es zauberte ein Gefälligkeitsgutachten vom Amtsarsch hervor