Benutzer:Methodios/Glossar/Johanna Kalex

Gesellschaft für Zeitgeschichte

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Der 13. Februar 1982 in Dresden und die Gruppe Wolfspelz

Jahre vor dem Wiederaufbau: Die Ruine der Frauenkirche in Dresden zu Beginn der 1980er Jahre. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Die Oppositionsgruppe Wolfspelz um die Dresdnerin Johanna Ebischbach (später Johanna Kalex) gehört zweifellos zu den ungewöhnlichsten Friedensgruppen, die Anfang der 1980er Jahre in der DDR entstehen.

Johanna Ebischbach, die Tochter eines Lehrers und Fachberaters, beginnt 1981 mit 17 Jahren ein pädagogisches Fachschulstudium. Schon in dieser Zeit hat sie erste Kontakte zur Jungen Gemeinde (JG) der Dreikönigskirche. Dort erhält sie Materialien über die Idee eines Sozialen Friedensdienstes (SoFD). Dieser soll als Wehrersatzdienst eingerichtet werden, fordert die Friedensbewegung in der DDR.

Schafe im Wolfspelz oder Wölfe im Schafspelz?

Als Johanna Ebischbach die an den Bildungseinrichtungen der DDR obligatorische Vormilitärische Ausbildung verweigert, wird sie exmatrikuliert. Sie beginnt an der medizinischen Fachschule für Pflegekräfte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Die junge, aufmüpfige Johanna verteilt an der Schule häufig Material der unabhängigen DDR-Friedensbewegung und verweigert auch hier die vormilitärische Ausbildung. Und nicht nur das. Es gelingt ihr, fast alle Mitschülerinnen zu einer schriftlichen Verweigerung des anstehenden Wehrlagers zu bewegen. Nach Einzelgesprächen mit der Schulleitung und Mitarbeitern der Staatssicherheit bleiben nur Johanna Ebischbach und eine Mitschülerin bei ihrer Verweigerung. Beide werden wegen „Nichterfüllung schulischer Pflichten“ exmatrikuliert.

Danach werden ihre Kontakte zur Friedensbewegung intensiver – unter anderem auch zum Initiator der Kampagne „Schwerter zu Pflugscharen“, Pfarrer Harald Bretschneider. In der Zwischenzeit heiratet Johanna Ebischbach ein anderes Mitglied der Friedensgruppe, Roman Kalex.

Die „Gruppe Ebischbach“, wie sie anfangs von der Stasi genannt wird, steht nicht nur im Konflikt mit dem Staat, sondern auch mit der Kirche. Die Aktivisten werfen den Kirchenleuten deren allzu große Kompromissbereitschaft gegenüber dem SED-Regime vor. Sie organisieren eigenständig Friedenswerkstätten und propagieren radikale pazifistische Positionen, die sich kaum mit der moderaten kirchlichen Friedensarbeit vertragen. Nachdem Bischof Johannes Hempel die Aktivisten um Johanna Kalex als „Wölfe im Schafspelz“ bezeichnet hat, nennt sich die Gruppe fortan Wolfspelz. Laut Johanna Kalex sind sie nämlich eher „Schafe im Wolfspelz“, die gefährlich auftreten, aber eine friedliche Gesellschaft zum Ziel haben.

Eine spektakuläre Aktion der Gruppe um Johanna Kalex ist die Organisation einer Gedenkfeier in Dresden am 13. Februar 1982, dem Jahrestag der Bombardierung der Stadt. In der Stunde des ersten Bombenangriffs von 1945, also kurz vor 22 Uhr, sollen sich die Menschen mit Kerzen und Blumen an der Ruine der Frauenkirche versammeln und „We Shall Overcome“ singen. Mit dieser Aktion wollen die jungen Leute gegen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft protestieren. (Über die Aktivitäten der Gruppe, den Aufruf und die Folgen berichtet Johanna Kalex im Zeitzeugen-Interview.)

Der Schweigemarsch zur Dresdner Frauenkirche

Der Staat ist äußerst beunruhigt. Ohnehin ist die Situation angespannt: Es hat sich eine starke Schwerter-zu-Pflugscharen-Bewegung entwickelt, und landesweit fordern Friedensgruppen die Einführung eines Sozialen Friedensdienstes. Man befürchtet zu Recht, dass viele Menschen dem Aufruf nach Dresden folgen werden. Johanna Kalex wird verhaftet, verhört und körperlich massiv bedroht. Doch ihre Eltern und die Kirche stehen zu ihr und wenden Schlimmeres ab.

Um die Menschen von der Demonstration auf der Straße abzulenken, öffnet die Kirchenleitung am 13. Februar die Dresdner Kreuzkirche zu einem Friedensforum. Doch die Demo wird ein voller Erfolg: Fast 8.000 Menschen aus der ganzen DDR pilgern in dieser Nacht erst ins Friedensforum in der Kreuzkirche und dann zur Dresdner Frauenkirche. Dort stellen sie Kerzen auf und legen Blumen nieder. Selbst die Westpresse ist vor Ort. Der Schweigemarsch ist eine der größten Aktionen der Friedensbewegung in der DDR.

Quelle/Zitierempfehlung: „Dresden und die Gruppe Wolfspelz“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung März 2012, www.jugendopposition.de/index.php?id=637


Blick vom Turm der Kreuzkirche auf die zerstörte Innenstadt Foto: Bundesarchiv Bis zum 13. Februar 1945 blieb Dresden weitgehend unzerstört. Durch die vier Angriffswellen vom 13. bis 15. Februar 1945 starben 25.000 Menschen, große Teile der Innenstadt und der Infrastruktur Dresdens wurden zerstört.

Die Zestörung der Kulturmetropole wurde einerseits von der Nazi-Propaganda benutzt und als "barbarischer Angriff auf die Zivilbevölkerung" deklariert, was bis heute fortwirkt. Andererseits entstand dadurch eine Haltung in der Bevölkerung, die "Nie wieder Krieg" forderte. Die Ruine der Frauenkirche, die als Mahnmal stehenblieb, wurde dadurch auch ein Symbol für die unabhängige Friedensbewegung in der DDR.

Mehr: http://de.wikipedia.org/wiki/Luftangriffe_auf_Dresden

http://www.gesellschaft-zeitgeschichte.de/geschichte/der-13-februar-in-dresden/

Bundesstiftung Aufarbeitung

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Kalex, Johanna geb. Ebischbach

8.7.1964

Bürgerrechtlerin

Biographische Angaben aus dem Handbuch "Wer war wer in der DDR?": Geb. in Dresden; Mutter Chemielaborantin, Vater Lehrer; POS in Dresden; Besuch der Jungen Gemeinde der Erlöser-Andreas-Kirche in Dresden-Striessen; 1981 nach polit. Konflikten Abbruch der Ausbildung zur Unterstufenlehrerin; 1981 / 82 Hilfspflegerin u. anschl. Ausbildung zur Krankenschwester im Friedrichstädter Krankenhaus Dresden, 1982 Exmatrikulation nach Protest gegen die vormilitär. Ausbildung; zählte zunächst zur Dresdner Hippieszene, rief in einem Flugblatt unter dem Eindruck der Ereignisse in Polen zum 13.2. 1982, dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens, dazu auf, sich mit Kerzen vor der Ruine der Frauenkirche zu versammeln u. gegen die Militarisierung der DDR-Gesell. zu protestieren, vom MfS festgenommen u. verhört; Engagement in der Friedensarbeit in versch. Dresdner Kirchgemeinden, 1982 Mitbegr. eines Friedenskreises, der u. a. Friedenswerkstätten in der Weinbergs-, Petri- u. der Matthäusgemeinde veranstaltete; Mitarbeit an Wanderausstellungen über die Militarisierung des Bildungswesens in der DDR, an einem Hörspiel u. Vorträgen zur Militarisierung sowie zur Neonaziszene in Dresden; ab 1985 orientierte sich die Gruppe zunehmend anarchistisch, erklärte ihre Unabhängigkeit von der Kirche u. organisierte sich unter dem Namen »Wolfspelz« (in Anlehnung an die Äußerung von Bischof Johannes Hempel, sie seien Wölfe im Schafspelz) in die Untergruppen Anti-Nazi-Liga, Menschenrechte u. Ökologie, die sich hauptsächl. in K.s Wohnung trafen; 1985 Protestbrief gegen den undemokrat. Charakter der Volkskammerwahl, Verteilung von Flugblättern am Rande des Olof-Palme-Marsches in Dresden, 1988 / 89 Proteste gegen den Bau des Reinsiliziumwerks Gittersee bei Dresden u. 1989 gegen das Massaker in Peking; Hrsg. der Samizdat-Ztschr. »Die Ahnungslosen«; 5.12. 1989 Beteiligung an der Besetzung der MfS-BV Dresden; 19.12.1989 Flugblätter u. Graffitis gegen den Besuch von Helmut Kohl in Dresden. Nach 1990 Betreiberin der Szene-Kneipe »Trotzdem« in Dresden-Neustadt; Engagement in der Initiative »Mensch braucht Toleranz«; lebt in Dresden.

Sek.-Lit. Kowalczuk, I.-S., Sello, T. (Hrsg.): Für eine freies Land mit freien Menschen. Opposition u. Widerstand in Biographien u. Fotos. Berlin 2006.

https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken/johanna-kalex

Neustadt-Geflüster 2014

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https://www.neustadt-ticker.de/tag/trotzdem

Kneipe „Trotzdem“ steht vor Streik

31. Januar 2014 Anton Launer

„Trotzdem“ von außen. Foto: Stadtteilarchiv Neustadt

Die Basisgewerkschaft Nahrung und Gastronomie (BNG FAU) hat heute erklärt, dass ab Morgen Abend die Kneipe „Trotzdem“ auf der Alaunstraße bestreikt wird. Nach Aussage des Sprechers der Gewerkschaft, Wolf Meyer, sind drei langjährige Kellner der Lokalität gekündigt worden. Die gekündigten Mitarbeiter waren allesamt Mitglieder der Gewerkschaft und hatten für das „Trotzdem“ eine Betriebsgruppe gegründet. Die Inhaberin der Kneipe, Johanna Kalex, war am Abend zu keiner Stellungnahme bereit.

Die Gewerkschaft will nun ab morgen unbefristet und mit Mahnwachen vor der Kneipe streiken. Um den Konflikt zu beenden, bietet die Betriebsgruppe der BNG FAU eine Lösung an: Die Kollektivierung des Betriebs durch die Beschäftigten bei Zahlung einer monatlichen Abfindung an die Chefin. Über die Hintergründe der Kündigungen mutmaßen die Streikenden auf ihrer Website unter anderem auch politische Gründe.

Das „Trotzdem“ wird seit dem Jahr 2000 von Johanna Kalex geführt. Sie ist vor allem bekannt für ihr Engagement in der Friedensbewegung der DDR. Sie war eine der führenden Kräfte der anarchistischen Gruppe Wolfspelz. In den Wendejahren engagierte sie sich gegen den erstarkenden Rechtsextremismus und wurde auch Opfer eines Überfalls.

Weitere Informationen zum Streik unter: trotzdemunbequem.blogsport.de

https://de.worldorgs.com/katalog/dresden/kneipe/trotzdem

https://www.neustadt-ticker.de/27536/aktuell/nachrichten/kneipe-trotzdem-steht-vor-streik

„Trotzdem“-Streik – Stellungnahme der Chefin

1. Februar 2014 Anton Launer

Kneipe "Trotzdem" auf der Alaunstraße

Nach der Streikankündigung der Basisgewerkschaft Nahrung und Gastronomie (BNG FAU) für die Kneipe „Trotzdem“ hat die Inhaberin heute reagiert. In einem offenen Brief an die Gewerkschaft teilt sie ihre Sicht auf die Dinge mit. Darin heißt es unter anderem:

„Die Kellner der Kneipe „Trotzdem“ wurden fristgemäß gekündigt, weil es in der Kneipe seit über einem halben Jahr zu fortgesetzten Diebstählen in einem Umfang kam, der für uns wirtschaftlich nicht länger tragbar ist (Diebstahl außerhalb der Öffnungszeiten im Lager, also verschlossen und nur zugänglich für Kellner). Da wir leider den oder die Täter nicht feststellen konnten, haben wir uns gezwungen gesehen, die gesamte Crew zu entlassen. Die Kündigungen geschahen in langen persönlichen Gesprächen, in denen alle Kellner Verständnis für unsere Situation gezeigt haben. Wir haben in den Gesprächen deutlich gemacht, dass wir es sehr bedauern, mit diesen Kündigungen auch Unschuldige zu treffen.“

Unterzeichnet ist der Brief von Johanna Kalex (Inhaberin des „Trotzdem“) und ihrem in der Kneipe mithelfenden Ehemann Steffen Otto.

Inzwischen hat auch die Gewerkschaft eine weitere Pressemeldung veröffentlicht. Darin wird geschildert, dass eine Kollegin der BNG-FAU von der Chefin beurlaubt und ihre Kündigung auf den 28. Februar vorverlegt wurde. Dies sei nach Ansicht der Gewerkschaft eine Aussperrung und eine Eskalation der Lage. Die von der Inhaberin angeführten Kündigungsgründe bezeichnet die Gewerkschaft als willkürlich.

Gestern Abend hatte die Kneipe geschlossen, ob heute geöffnet wird, stand zur Stunde noch nicht fest. Die Gewerkschaft will auf jeden Fall um 20 Uhr einen Streikposten besetzen. Mit dem Streik soll durchgesetzt werden, dass die Kündigungen zurück genommen werden. Außerdem besteht die FAU-Betriebsgruppe auf einem Hausvertrag.

Stellungnahme

Die Kellner der Kneipe „Trotzdem“ wurden fristgemäß gekündigt, weil es in der Kneipe seit über einem halben Jahr (aktenkundig) zu fortgesetzten Diebstälen in einem Umfang kam, der für uns wirtschaftlich nicht länger tragbar ist (Diebstahl außerhalb der Öffnungszeiten im Lager, also verschlossen und nur zugänglich für Kellner). Ein weiteres Abfedern der Diebstähle unsererseits wäre nicht möglich gewesen. Wir haben über ein halbes Jahr versucht, den Täter zu ermitteln. Wären diese Bemühungen erfolgreich gewesen, hätten wir sehr gern mit den anderen weitergearbeitet. Da wir leider den oder die Täter nicht feststellen konnten, haben wir uns gezwungen gesehen, die gesammt Crew zu entlassen. Die Kündigungen geschahen in langen persönlichen Gesprächen, in denen alle Kellner Verständnis für unsere Situation gezeigt haben. Wir haben in den Gesprächen deutlich gemacht, daß wir es sehr bedauern, mit diesen Kündigungen auch Unschuldige zu treffen. Dies hätte vermieden werden können, wenn wir den Dieb hätten feststellen können. Johanna Kalex (Inhaberin des „Trotzdem“) und Steffen Otto

Natürlich steht Privateigentum unter Schutz, aber da sich die Inhaberin immer noch als „Anarchistin“ bezeichnet, sollte sie damit umgehen können oder einfach dazu stehen, dass sie eine ganz normale Geschäftsfrau geworden ist, die eine politisch linke Einstellung hat. Was ich persönlich übrigens nicht verwerflich finde, dass man als Geschäftsmensch durchs Leben geht, aber man sollte auch dazu stehen und keine hohlen Phrasen dreschen.
Und jetzt zu eurem Szenario, welches ihr als Mahnwache betitelt:

Ein Mob Leute steht vor der Wohnung einer Frau und gröhlt, sie solle sich doch zeigen und Stellung beziehen. Großartig. In welcher Zeit leben wir noch mal? Die Forderungen, die ganze Aufmachung von eurem Pamphlet sind schlicht und ergreifend dreist und häßlich. An einem Haustarifvertrag ist nichts auszusetzen. Wenn ihr nur das wollt, warum schreibt ihr dann den ganzen anderen Müll?

Meine These nach dem Lesen aller verfügbarer Informationen (aufgrund der fortgeschrittenen Zeit und zur Fortsetzung der belustigenden Diskussion mal ohne detaillierte Begründung): Wenn man eins und eins zusammenzählt, haben sich alle drei Kellner bedient, vulgo geklaut. Ein solcher massiver Vertrauensmissbrauch ist immer auch ein Managementfehler. Scheint mir auch ein Fehler im System, vielleicht auch begründet in der Sozialisierung der Kneipe und der Inhaberin. Begründungen wollte ich mir ja an dieser Stelle sowieso sparen. :-) Nehmen wir also mal an, die Inhaberin hätte Recht. Es wird massiv und existenzbedrohend geklaut. Dann wird die Kneipe irgendwann ohne Gegenmaßnahmen aus Konkursgründen schließen. Müssen. Insofern wird dem finalen crash aus Verzweiflung nur vorgegriffen. Verzweiflung heisst auch, aus Unternehmersicht mit der gleichzeitigen Entlassung der drei Kollegen und den geschilderten Konsequenzen sehr ungeschickt vorgegangen zu sein. Nehmen wir mal an, nur einer hat geklaut und die Anderen werden in Sippenhaft genommen. Warum hat die Inhaberin den Übeltäter nicht gestellt? Weil es da enge Grenzen gibt und z.B. eine Videoüberwachung zwar im öffentlichen Raum durch die Polizei, aber nicht die Einschränkung der Privatsphäre durch Unternehmer möglich ist. Nehmen wir mal an, der „einzelne Dieb“ wäre die absolute Wahrheit. Würde einer der zwei Anderen mit einem zweifellosen, aber nicht festgestellten Dieb eine Kneipe „übernehmen“? Never! Nehmen wir mal an, die Forderung nach einem Haustarifvertrag wäre war. Warum gerade jetzt nach der „gemeinsamen“ Kündigung und nicht eher? Warum schaltet man jetzt eine obskure Gewerkschaft ein? Mit grotesken Forderungen vs. Angeboten einer „Kollektivierung“? Ich lach mich tot. Warum hat das team in einem Kollektiv nicht den Übeltäter selbst gestellt? Wegen dem eigenen Arbeitsplatz und so… Ihr Theoretiker. In diesen Bereichen geht es meist nicht Arbeitnehmer gegen Arbeitgeber. Meist verdient der sogenannte Arbeitgeber weniger als der Kollege nebenan.Sucht Euch für Eure Klassenkämpfe den richtigen Platz. Nehmen wir mal an, keiner weiß, was die letztendliche Wahrheit ist. Dann macht es Sinn, sich immer mal in das Denken des Gegenüber zu versetzen. Die Wenigsten können das, gerade auch hier. Schade. Nur ein Schlagabtausch vorgefertigter Meinungen und ein Stellungskrieg der Weltanschauungen.

Mh, ich bin etwas unsicher, was das soll…
1. in einem größeren betrieb würde ich das verstehen. aber in so einem kleinen geschäft? naja, ich bin selbst gewerbetreibende und verdiene in der regel viel weniger als 5€/stunde… die schweizer haben eine initiative: der chef soll nicht mehr als das 10-20fache vom angestellten verdienen. in deutschen konzernen ist das deutlich anders… hier sollte gestreikt werden!
2. die arbeitskräfte haben sich doch damals entschlossen, für die bedingungen zu arbeiten – warum sollten jetzt andere bedingungen her? warum suchen die sich nicht einfach eine bessere arbeit?
3. ich verstehe auch nicht, wieso ein gewebetreibender, der selbst prekäre beschäftigungsverhältnisse in seiner bude hat, diese streikleute unterstützt – per facebook: https://www.facebook.com/trotzdem.unbequem/friends
Seit wann muss man eine fristgerechte Kündigung begründen? Für eine fristlose sehe ich hier jetzt genug, da anscheinend viele viele interna gestreut wurden!! Wie stellen sich das die alten Arbeitnehmer den vor, die Chefin sagt – Entschuldigung – und morgen geht es weiter wie immer? Leute wacht doch mal auf…
Auf welcher Seite stehst Du? Die Entscheidung der Kellner_innen des „Trotzdem“ den Laden ist zu bestreiken, ist absolut unterstützenswert. Denn: Es betrifft nicht nur sie selbst! Die Auseinandersetzung, die die FAU- Mitglieder mit Johanna Kalex führen ist keine persönliche, sondern verweist auf ein strukturelles Problem, dem sich die Gewerbetreibenden der Dresdner Neustadt bisher nicht stellen. Gerade so genannte Szenekneiper_innen setzen auf die Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Kapital. Für das Aufzeigen dieser Grenzen und die Thematisierung der Machtverhältnisse verdienen die FAU-Mitglieder Respekt, Anerkennung und Unterstützung. Niedriglohnsektor – Dresdner Neustadt. Viele von uns kennen das. Keine Kohle – da ist es naheliegend in einer Kneipe zu jobben. Kneiper_innen in der Dresdner Neustadt werben und verdienen mit dem Label „Szeneviertel“ ganz gutes Geld. Ihre Interessen verteidigen sie schon mal mit Forderungen nach mehr Videoüberwachung und Sicherheitspartnerschaften mit der Polizei während der BRN. Die FAU BNG macht jetzt etwas zum Thema, was schon lange auf den Tisch gehört: nämlich Geschäftsmodelle, die von vornherein darauf setzen, dass die „Szeneclubs und -kneipen“ nur funktionieren, wenn sich andere ordentlich ausbeuten lassen. Da werden Kellner_innen auf Rechnung beschäftigt, um sich die Sozialversicherungsbeiträge zu sparen. Da werden Stundenlöhne unter 6 Euro bezahlt, mit der Ansage „Ihr habt ja noch das Trinkgeld“. Über die Gewährleistung sozialer Errungenschaften wie Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall wird noch nicht mal im Ansatz nachgedacht. Anstatt tatsächlich Arbeitsplätze zu schaffen, werden Minijobs, Scheinselbstständigkeiten und Aufstockung durch die ARGE einkalkuliert. Die Arbeitnehmer_innen laufen im Hamsterrad. Von einem Job zum nächsten, ohne langfristige Perspektiven, ohne ausreichenden Kündigungsschutz, ohne ein festes Kollegium und gewerkschaftliche Vertretungen. Dass die Arbeitnehmer_innen die ungesunden Kellner_innenjobs nicht ewig machen können und trotzdem keinerlei Absicherung für das Alter von den Besitzer_innen der Kneipen bekommen, scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein. „Links“ – ohne Arbeitskritik? Besonders brisant wird das, wenn sich um „linke“ Gewerbetreibende handelt. Sie hängen sich Plakate gegen Nazis in die Kneipen, Kapitalismuskritik ja – aber nur abstrakt. Ihre Beschäftigungsmodelle beruhen auf den genannten Säulen und zusätzlich nutzen sie aus, mit den Lohnarbeitenden aus der Szene „befreundet“ zu sein. Sie wissen, dass Freund_innen ihre Interessen nicht verteidigen werden. Sie bauen auf „Verständnis“ für das Zurückzahlen von „Krediten“ oder anderer Unwegsamkeiten, denen Kneipenbesitzer/innen so ausgeliefert sind. (Die Schulden ihrer „Freund_innen“ interessieren sie meistens wenig.) Man sei ja eigentlich auch links. Und man wolle ja auch kollektiv… Über die Ausgestaltung der Speisekarte darf man als Angestellte/r dann schon auch mal mitreden. Es wird als „Freundschaftsdienst“ begriffen, jemandem einen Job zu geben. Ohne Zweifel ist es nett, jemandem in einer Notsituation zu helfen. Und ohne Frage werden die Bedingungen nicht von Kneiper_innen geschaffen. Sie profitieren allerdings von ihnen und verdrängen das einfach. Die Hierachien sind eigentlich klar, werden aber verwischt. Die Besitzverhältnisse werden nicht in Frage gestellt. Das zeigt sich spätenstens dann, wenn es um Lohnforderungen geht. Kollektiv – statt nur dabei! Dies wirft einen weiteren Aspekt auf, den die FAU nun dankenswerterweise auch zum Thema macht. Es ist die Frage danach, warum kollektive Probleme immer wieder individualisiert werden. Die Forderung nach der Kollektivierung der Kneipe „Trotzdem“ erscheint zunächst abwegig – wer möchte den Gruftischuppen schon „haben“? Allerdings ist es tatsächlich ein Problem, wenn sich auch Linke für individuelle Geschäftsmodelle entscheiden anstatt kollektive Projekte in Angriff zu nehmen. Dadurch schwächen sie eine kollektive Organisierung. Sie wählen den leichten Weg. Kollektive Praxen beziehungsweise die Bewirtschaftung kollektiven Eigentums zu erproben ist kein Zuckerschlecken, aber ein ernst gemeinter Versuch, kapitalistischer Ökonomie tatsächlich etwas entgegenzusetzen. Und jetzt? Eine pseudolinke Kneiperin schmeisst Kraft ihrer Wassersuppe Gewerkschaftsmitglieder raus – einfach weil sie es kann. Das ist beileibe keine linke Praxis, sondern zutiefst autoritär! Aus all diesen Gründen ist es mehr als erfreulich, dass sich Leute trauen und massive persönliche Konflikte in Kauf nehmen, um all diese Missstände zu thematisieren. Ihr habt es geschafft, dass man sich klar auf eine Seite stellen kann. Die verwischten Grenzen habt ihr wieder deutlich gemacht. Ihr seid auf dem richtigen Weg! Gewerbetreibenden, gerade denen, die es eigentlich besser wissen müssten, kann man nur eins sagen: Schämt Euch!
mit copy und paste für die fau… Naja, haben wir schonmal besser gesehen. aber mit keinem wort auf meine argumentation eingehen: unter welchen bedingungen haben die leute bei johanna angefangen zu jobben? warum haben sie sich nichts besseres gesucht. (eine antwort habe ich: faulheit bzw. bequemlichkeit) – in meiner bude hat sich bisher keine/r von denen beworben, warum nicht? leider findet sich noch nichtmal eine reale adresse auf euren websites. was ist das für eine gewerkschaft, die kein büro hat? obskur, oder nicht?! - eine fristgerechte kündigung muss auch begründet werden… z.B. mit Betriebsbedingtheit
Fristgerechte Kündigungen sind nicht zu begründen, zumindest in Kleinstbetrieben in denen das Kündigungsschutzgesetz nicht greift.
mal ganz kurz gesagt lassen sich diese Gewerkschaftsutopien nur durch saftige Preiserhöhungen finanzieren… links hin oder her.. bei Forderungen nach bezahltem Urlaub usw kostet das Sterni dann eben 6,- € und dann hat sich die Geschichte ganz schnell von selbst erledigt
Ich weiß ja nicht, was sich diese „Gewerkschaft“ dabei gedacht hat! Wenn ich Kneiper wäre, dann würde ich doch jetzt nie im leben jemanden einstellen, der auch nur randlich mit der FAU zu tun hat. Die Konsequenz wäre ja offensichtlich, daß ich jedesmal, wenn ich jemanden entlasse, durch öffentliches Mobbing dazu erpresst werden kann, meinen Laden abzutreten! Schutzgelderpresser machen auch nichts anderes.
Der BNG blieb garkeine andere Wahl, als das rechtlich einwandfreie Mittel des Streiks (damit einhergehend das völlig normale Mittel von Streikposten), und eine damit verbundene Eskalation zu wählen, denn auf Verhandlungsanfragen ließ sich Frau Kalex nicht ein und so mussten Maßnahmen ergriffen werden, die die Gekündigten schnell zum Erfolg führen könnten – bevor die Kündigungen durch sind. Dass das nötig war, zeigt, dass eine Kündigung nun nochmal vorverlegt wurde! Dass nun auch der Vorwurf des massiven Diebstahls in den Raum geworfen wird, zeugt nicht gerade von einer Deeskaltionsbereitschaft seitens Frau Kalex. Ob sie damit durchkommen wird, wird wahrscheinlich später ein Gericht klären, vor dem sie erstmal beweisen muss, was an diesen Vorwürfen drann ist. Denn wenn es stimmt was sie behauptet, ist ja möglich, warum hat sie nicht schon viel früher reagiert und z.B. die Schlüssel ausgetauscht oder ähnliches. Dass diese Sache nun als Reaktion auf den Streik publik wird, ist schon seltsam. Aber dazu kann hier niemand was sagen, denn wissen tun es nur die direkt Beteiligten. Ich verstehe den ganzen Trubel hier nicht!? In z.B. Frankreich würde kein Hahn für so einen kleinen Arbeitskampf krähen. Syndikalistische Gewerkschaftspraktiken sind dort völlige Normalität, welche anderen Druckmittel hat einer Gekündigter, völlig egal, ob gerecht- oder ungerechtfertigterweise, denn sonst bei einem öffentlichen Betrieb, als öffentlich darauf aufmerksam zu machen? Einen langen Prozess führen? Ist eine Taktik, kann man machen, muss man aber nicht. Direkter zum Erfolg kann ein Streik führen und darum gehts ja letztendlich für die Gekündigten – zum Erfolg gelangen, also die Kündigungen unwirksam machen und einen Haustarifvertrag, also einen Vertrag, der eine faire Bezahlung (völlig irrelevant, was andere zahlen) und andere völlig normale! Arbeitnehmerrechte vertraglich festlegt (auch ein völlig legitimer Vorgang). Wir haben uns hier anscheinend so an lahme Gewerkschaften, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und abgebaute Arbeitnehmerrechte gewöhnt, dass hier einige denken, es bräche die Revolution in der Neustadt aus, wenn ein paar Kellner einen Streik ausrufen, um nicht gekündigt zu werden und einen Tarifvertrag zu erhalten. Macht euch mal locker.


https://www.neustadt-ticker.de/27547/aktuell/nachrichten/trotzdem-streik-stellungnahme-der-chefin


Kein Kneipenstreik mehr

27. Februar 2014 Anton Launer

knapp vier Wochen standen die Gewerkschaftler jeden Abend vor der Kneipe

Die Basisgewerkschaft Nahrung Gastronomie (BNG-FAU) hat heute ihren Streik vor der Kneipe „Trotzdem“ beendet. Nach Angaben von Wolf Meyer, dem Pressesprecher der Betriebsgruppe und vorher Kellner in der Kneipe, liegt der Grund für das Ende des Streiks im Verhandlungsunwillen der Betreiberin Johanna Kalex. Die will den Streik nach wie vor nicht weiter kommentieren.

Im Januar hatte sie drei Kellnern der Kneipe fristgerecht gekündigt. Hintergrund waren Diebstähle in der Kneipe. Die Kellner hatten vier bis sechs Abenden je Monat gearbeitet. Gegen die Kündigungen und für einen Haustarifvertrag richtete sich der Streik. In dem Haustarifvertrag wollten die Kellner unter anderem garantierte Einsatzzeiten für den Sommer erstreiten. Außerdem bot die BNG-FAU eine Kollektivierung der Kneipe an. Möglicherweise hat aber gar kein Streik stattgefunden. Denn aus arbeitsrechtlicher Sicht sollte ein Streik immer ein Tarifziel haben und erst nach Ablauf der Friedenspflicht begonnen werden. Außerdem darf kein Streik ohne vorherige Verhandlungen beginnen. Die Kündigungen waren aber schon ausgesprochen und Verhandlungen über einen Tarifvertrag mit Mitarbeitern, die in Kürze nicht mehr angestellt sein werden, fehlt die Grundlage.

Die Gewerkschaftsvertreter um Wolf Meyer haben nun die Strategie gewechselt. „Wir klagen auf Rücknahme der Kündigung“, sagt Meyer. Er sieht Chancen, weil der Kündigungsgrund Diebstahl auf Willkür in der Kündigung hinweise und diese damit nicht rechtens sei. Doch selbst wenn ein Gericht diese Willkür erkennen würde, könnte die Kneipenchefin einfach eine neue fristgerechte Kündigung aus betrieblichen Gründen nachschieben.

Etwa 80 Unterstützer der BNG-FAU zogen heute Abend durch die Neustadt.

Die Gewerkschafter der BNG-FAU hatten heute zur Demonstration eingeladen, um ganz allgemein auf die schlechten Arbeitsbedingungen in der Gastronomie aufmerksam zu machen. Etwa 80 Demonstranten zogen in den Abendstunden durch die Neustadt. Die BNG-FAU ist eine Untergruppe der der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU), eine anarcho-syndikalistische Gewerkschaftsföderation, die eine libertäre, klassenlose Gesellschaft anstrebt. Laut Pressesprecher Wolf Meyer ist die Anzahl der BNG-FAU-Mitglieder geheim. Für den Fall, dass sie mit ihrer Klage keinen Erfolg haben, trägt sich der gekündigte Kellner mit der Gründung einer Kollektiv-Kneipe, vielleicht im nächsten Jahr.

https://www.neustadt-ticker.de/28095/aktuell/nachrichten/kein-kneipenstreik-mehr

Alternative DDN

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https://www.addn.me/tag/trotzdem/

Wirbel in der Neustädter Gastroszene

23. Februar 2014


Die Mitte letzten Jahres ins Leben gerufene Basisgewerkschaft Nahrung und Gastronomie (BNG) der FAU-Dresden hat es sich zum Ziel gesetzt, die Arbeitsbedingungen im lokalen Gastronomiesektor öffentlich zu machen und Verbesserungen für die prekär beschäftigten Angestellten zu erwirken. Bereits kurz nach ihrer Gründung veröffentlichte die BNG einen Gehaltsspiegel auf ihrer Internetseite, um damit nach eigener Darstellung ein „umfassenendes Bild der Verhältnisse in der Dresdner Gastro-Branche zu zeichnen“. Neben den reinen Lohnzahlen werden darin Informationen zu unbezahlter Probearbeit und Urlaub, Anstellungsverhältnis bzw. „Selbstständigkeit“, sowie darüber hinaus den Arbeitsbedingungen veröffentlicht. Der unvollständige Gehaltsspiegel, welcher nicht den Charakter einer Negativliste haben soll, verdeutlicht bei Löhnen zwischen 4 – 8,50 Euro Stundenlohn, welches Gefälle im Niedriglohnsektor der Gastronomiebranche vorherrscht. Erklärtes Ziel der Gewerkschaft ist es, einen dresdenweiten Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde durchzusetzen.

Seit drei langjährigen Kellnerinnen und Kellnern der Szenekneipe „Trotzdem“ wegen angeblichen Diebstahls von der Inhaberin Johanna Kalex unvermittelt gekündigt worden war, organisierte die BNG einen Streikposten. Seit nunmehr schon drei Wochen versammeln sich vor der Kneipe in der Neustädter Alaunstraße allabendlich etliche Menschen, um sich mit den Streikenden solidarisch zu zeigen und Gäste über den Hintergrund der Aktion zu informieren. Die drei von der Kündigung betroffenen Personen sind allesamt in der BNG organisiert. Trotz des persönlichen Hintergrunds der Kneipenbetreiberin, die nach eigenem Bekunden bereits zu DDR-Zeiten in der Gruppe „Wolfspelz“ für anarchistische Gewerkschaften kämpfte und obwohl keinem der betroffenen Beschäftigten ein Diebstahl nachgewiesen werden konnte, entließ sie die drei anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsaktivistinnen und Gewerkschaftsaktivisten. Der aktuelle Streik in Form eines ständigen Streikpostens will nicht nur eine Rücknahme der Kündigungen, sondern auch einen eigenen Haustarifvertrag im „Trotzdem“ erstreiten. Die weitreichende mediale Aufmerksamkeit und die vielen Solidaritätsbekundungen mit der Dresdner FAU, die die Gewerkschaft teilweise sogar aus dem Ausland erreicht haben, sind nicht zuletzt auf den Seltenheitswert eines Streiks in der Gastronomiebranche zurückzuführen.

Dass es der BNG weniger nur um das „Trotzdem“ und die Rücknahme einzelner Kündigungen geht, sondern sie ihr Ziel eines dresdenweiten Mindestlohns nicht aus den Augen verloren hat, zeigt ihr jüngster Demonstrationsaufruf, der für den 27. Februar um 19 Uhr zu einer Demonstration vor dem „Trotzdem“ mobilisiert. Unter dem Motto: „So geht’s nicht weiter in der Gastro!“ wird deutlich, dass die BNG an einer stärkeren Vernetzung aller prekär Beschäftigten untereinander interessiert ist. Das Anliegen einer für Donnerstag geplanten längeren Runde durch das Kneipenviertel ist es, Personalkalkulation, Beschäftigungsmodelle sowie sexistische Einstellungspraxen kritisch zu hinterfragen und die Beschäftigten über ihre Rechte zu informieren. Im selben Kontext bemüht sich die Gewerkschaft um eine Ausweitung der Debatte auf die gesamte Branche in der Äußeren Neustadt. So fand als Reaktion auf die Ereignisse erst kürzlich eine öffentliche Schulung zum Thema Arbeitsrecht statt, an der auch Interessierte aus anderen Gastrobetrieben teilnahmen.

Da von der Betreiberin bisher kein Entgegenkommen signalisiert oder auf Gesprächsangebote reagiert wurde, ist bislang noch unklar, wie es jetzt für die drei Betroffenen weitergeht. Fest steht nur, dass die Kündigungen auf Grund einer Reihe von Diebstählen aus dem Warenlager der Kneipe ausgesprochen wurden, Fakt ist aber auch, dass zu dem Lager ebenso Verwandte der Betreiberin Zugang hatten. Dies ist auch der Grund, weshalb die Gewerkschaft ihren Vorwurf der Verleumdung bestätigt sieht und gegen die Kündigung Klage eingereicht hat. Ein jeder von uns sollte sich also in Zukunft als Gast von Restaurants, Kneipen und Klubs grundsätzlich die Frage stellen, ob die Menschen in diesen Lokalitäten überhaupt in der Lage dazu sind, von ihrem erarbeiteten Geld zu leben.

Interviews mit den Beteiligten: Feature von coloRadio

https://www.addn.me/news/wirbel-in-der-neustaedter-gastroszene/

Arbeitskampf im Gastrogewerbe der Neustadt

28. Februar 2014

Laut und motiviert zogen am frühen Donnerstagabend mehr als 70 Angehörige der Gewerkschaftssektion Nahrung und Gastronomie (BNG) der FAU-Dresden gemeinsam mit Sympathisantinnen und Sympathisanten durch die Straßen des Szeneviertels Äußere Neustadt. Der Auftakt der Demonstration fand vor der Kneipe „Trotzdem“ statt, deren Betreiberin zuvor drei Mitglieder der Gewerkschaft unter dem Vorwand des Diebstals von Getränken gekündigt hatte. Als Reaktion auf die Kündigung hatte die Gewerkschaft im Februar für vier Wochen mit einem Streikposten Stellung vor der Kneipe bezogen, um nicht nur die Öffentlichkeit auf ihren Fall aufmerksam zu machen, sondern ebenso für eine Wiedereinstellung und einen Haustarifvertrag zu protestieren.

Inhaltlich drehten sich die Redebeiträge vor allem um die prekären Beschäftigungsverhältnisse in einer Vielzahl Dresdner Gastronomieeinrichtungen. Es wurde von unzähligen desaströsen Einzelheiten aus dem Berufsalltag der Beschäftigten berichtet. So ist es beispielsweise von Seiten der Chefin oder des Chefs üblich, den Umgangston bewusst freundschaftlich und vertraut zu gestalten, während gleichzeitig miserable Stundenlöhne bezahlt oder das von den Gästen gezahlte Trinkgeld einbehalten wird. Der Trick, eine Beziehung auf persönlicher Ebene finanziell rentabel zu machen, findet sich auch in vielen Szenelokalen wieder. Dies führt dazu, dass Angestellte häufig lieber auf einen Diskussion für eine faire Bezahlung verzichten, als sich auf die Ebene einer persönlichen Auseinandersetzung zu begeben. Desweiteren stellt unbezahlter Urlaub eher die Regel, als die Ausnahme für Beschäftigte dar, die häufig nur als Selbstständige angestellt werden. Zudem sind viele Betriebe personell stark unterbesetzt, was ein stressiges und nicht zuletzt auch ein ungesundes Arbeitsklima zur Folge hat.

Ein weiteres Anliegen der Demo war der Ruf nach einem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, den die Gewerkschaft BNG/FAU für die Angestellten im Gastrosektor mittlerweile fordert. Bei realen Stundenlöhnen von stellenweise vier(!) Euro, scheint bereits dieser keineswegs hohe Betrag für viele prekär Beschäftigte eine utopische Forderung zu sein. Bei Zwischenkundgebungen auf der Louisenstraße und vor dem Hebedas wurden wertvolle Tipps gegeben, wie die Isolation für die Beschäftigten aufgebrochen und Belegschaften organisiert werden können. Dabei kommt es vor allem auch auf eine kritische Kundschaft an, die Arbeitsbedingungen hinterfragt und sich gegebenenfalls mit den Beschäftigten solidarisiert. Dies könnte dazu führen, dass im Zweifelsfall ein Laden einfach nicht mehr besucht wird, wenn die Löhne der Angestellten extrem niedrig oder die Arbeitsbedingungen katastrophal sind.

Viel positives Feedback kam von Passantinnen und Passanten, von denen sich auch einige der Demonstration spontan anschlossen. Ebenso die zahlreichen verteilten Flyer wurden dankbar angenommen. Auch wenn die Demonstration den vorläufigen Abschluss des Streikpostens vor dem „Trotzdem“ markiert, geht der Arbeitskampf weiter. Inzwischen haben die Gewerkschaftsmitglieder vor dem Arbeitsgericht Klage gegen die Kündigung eingereicht. Es ist an der Zeit, im angesagtesten Kneipenviertel der Stadt, die Missstände zu thematisieren und zu verbessern. „Hey ho, bewegt was in der Gastro!“.

https://www.addn.me/soziales/arbeitskampf-im-gastrogewerbe-der-neustadt/

FAU mit Teilerfolg vor dem Arbeitsgericht

11. April 2014

Nach dem mehr als zwei Monate andauernden Streik vor der Neustädter Szenekneipe „Trotzdem“ durch Mitglieder der Basisgewerkschaft Nahrung und Gastronomie (BNG), konnten die Aktivistinnen und Aktivisten vor dem Arbeitsgericht in der Hans-Oster-Straße offenbar einen Erfolg erzielen. Am Dienstag kam es zu einem Gütetermin, bei dem über die Wirksamkeit der drei am 28. Februar ausgesprochenen Kündigungen verhandelt wurde. Davor hatte es über 58 Tage vor der Lokalität auf der Alaunstraße einen Streikposten und Ende Februar eine Demonstration durch die Äußere Neustadt gegeben. Das erklärte Ziel der Gewerkschaft war es, eine Rücknahme der Kündigungen und einen eigenen Haustarifvertrag für das „Trotzdem“ zu erreichen.

Der Gerichtstermin am Dienstag endete in einem Vergleich. Eine Kündigung wurde unter der Maßgabe, alle von der Betreiberin erhobenen Diebstahlsvorwürfe fallen zu lassen, die restlichen Lohn- und Urlaubsgelder nachzuzahlen und ein „wohlwollendes und berufsförderndes“ qualifiziertes Arbeitszeugnis auszustellen, anerkannt. Die beiden anderen Kündigungen wurden vom Gericht für unwirksam erklärt. Beide Parteien verständigten sich darauf, dass eine Kündigung erst zum 31. März wirksam wäre und gleichzeitig alle Diebstahlsvorwürfe fallen gelassen werden. Ob auch in diesem Fall Löhne und Urlaubsforderungen, sowie gleichwertige Arbeitszeugnisse ausgestellt werden, muss womöglich erneut vor Gericht erstritten werden.

Eine Gewerkschaftsvertreterin zeigte sich nach den Verhandlungen zufrieden mit dem Ergebnis. „Wir konnten zwei der Kündigungen kippen und die Chefin musste ihre haltlosen Diebstahlsvorwürfe öffentlich zurückziehen. Damit ist auch viel über ihre Glaubwürdigkeit gesagt.“ Nach Einschätzung der Gewerkschaft bewegen sich die Anwalts- und Verfahrenskosten für die Chefin Johanna Kalex schon jetzt im vierstelligen Bereich. Kosten, die allerdings durch Verhandlungsbereitschaft und Dialog im Vorfeld hätten vermieden werden können. Der im Februar begonnene Arbeitskampf sei für sie der richtige Schritt gewesen, denn „schon jetzt haben wir mit der BNG-FAU mehr erreicht, als wir alleine erreicht hätten“. Ihr Engagement habe deutlich werden lassen, dass auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kleineren Betrieben „nicht wehrlos sind“, so die Sprecherin der Betriebsgruppe abschließend.

https://www.addn.me/soziales/fau-mit-teilerfolg-vor-dem-arbeitsgericht/

Sächsische Zeitung

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27.02.2014 11:45 Uhr

Kellnern in der Neustadt ist ein Knochenjob

Angestellte in der Gastronomie haben oft nur wenige Rechte. Die Basisgewerkschaft BNG will am Donnerstagabend dagegen demonstrieren.


Von Ulrike Kirsten

Kein Krankengeld, 14-Stunden-Schichten, unausgezahlte Trinkgelder, Bezahlung weit unter Tarif: Die Arbeitsbedingungen in manchen Kneipen und Restaurants in der Neustadt sind für die Basisgewerkschaft Nahrung und Gastronomie (BNG) nicht länger akzeptabel. Regelmäßig suchen Kellner, Köche und Putzkräfte deshalb bei Wolf Meyer von der BNG Hilfe.

Mit einer Demonstration möchte die BNG am Donnerstag Kneipengäste und Gastro-Angestellte für das Thema sensibilisieren. Ihre Forderungen: 8,50 Euro Mindestlohn, bezahlter Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

„Wir möchten dagegen angehen, dass die Arbeitgeber ihre Rechte immer weiter unterlaufen“, sagt Meyer. Bisher gibt es sieben Betriebsgruppen der BNG in Neustädter Kneipen. „In den Läden, wo Angestellte nicht Mitglied der BNG sind, werden wir bisher nicht aktiv.“ Mit der Demo möchte die Gewerkschaft auch für neue Mitglieder werben. Vom „Trotzdem“ aus will sie ab 18 Uhr durch die Neustadt ziehen. Vor der Kultkneipe hat die BNG vier Wochen lang gestreikt.

Der Grund: Inhaberin Johanna Kalex hatte drei angestellten Kellnern gekündigt, weil es im Lagerraum der Kneipe über einen längeren Zeitraum zu Diebstählen gekommen war. Diese sind allesamt Mitglieder der Gewerkschaft. Die ehemaligen Mitarbeiter bestreiten die Vorwürfe. Die BNG will nun gegen Johanna Kalex klagen. „Das gibt uns Anlass genug, auf die bisweilen willkürlichen Entscheidungen der Arbeitgeber in der Gastro-Branche aufmerksam zu machen“, sagt Meyer.

Gäste zeigen Verständnis

Viele Gäste zeigen indes Verständnis für die Mitarbeiter in Neustädter Kneipen. „Als Gast macht man sich oft keine Vorstellungen, wie die Arbeitsbedingungen aussehen. Man geht oft stillschweigend davon aus, dass alles rechtmäßig läuft“, sagt Sebastian Braun. Der 23-Jährige ist regelmäßig im Nachtleben unterwegs. „Wer selbst schon als Kellner gearbeitet hat, weiß, wie anstrengend der Job sein kann. Ich finde es sehr gut, dass die BNG das Problem nun verstärkt thematisieren will.“ Depressionen, Burn-Out und Alkoholismus sind nur einige Folgen der hohen Arbeitsbelastung. Dass Angestellte der Gastronomie in der Öffentlichkeit bisher kaum eine Lobby haben, ist für Wolf Meyer eines der größten Probleme in der Branche.

Gastronom Ferenc Weidel, Inhaber der Cafés Europa, Continental und Eckstein, hält nicht viel vom Wirbel der BNG. Er beschäftigt insgesamt 37 fest angestellte Mitarbeiter, ausschließlich ausgebildete Fachkräfte wie Nadine Pelz. „Ich kann nicht klagen. Ich habe bezahlten Urlaub, kriege mein Geld, auch wenn ich krank bin. Klar ist der Job anstrengend, auch psychisch. Wir werden ziemlich oft beleidigt. Bis zur Rente will ich das deshalb nicht machen“, sagt die 27-Jährige, die deutschlandweit in Restaurants gearbeitet hat. „Hier ist es wirklich gut. In Dresden spricht es sich eben schnell rum, wo die Bedingungen in Ordnung sind.“ Über ihre Erfahrungen in anderen Läden will die ausgebildete Hotelfachfrau aber lieber doch nicht sprechen. Jeder Arbeitgeber müsse selbst wissen, zu welchen Konditionen er seine Angestellten einstellt, sagt Ferenc Weidel. „Das muss man mit dem eigenen Gewissen ausmachen. Heutzutage kann sich keiner mehr ein schlechtes Arbeitsklima leisten. Man findet derzeit kaum noch gute Leute.“

Gerhard Schwabe, Geschäftsführer des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes Sachsen (Dehoga), sieht das ähnlich. „Je besser sich ein Chef kümmert, umso mehr arbeiten die Angestellten.“ Die Dehoga handelt alle zwei Jahre neue Tarifverträge mit ihrem Partner, der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG), aus. „Dort sind alle Gehälter klipp und klar geregelt.“ Etwa zehn Euro brutto bekommt ein fest angestellter Kellner.

In der Neustadt sind von etwa 100 Kneipen und Restaurants nur rund 15 Mitglied in der Dehoga und damit tarifvertragsgebunden. Der Verband versuche aber ständig Mitglieder zu gewinnen, so Schwabe. Das sei in der Neustadt besonders schwierig, weil die Besitzer der Läden häufig wechseln. „Sicherlich zahlen Arbeitgeber unter dem Mindestlohn. Schwarze Schafe gibt es in jeder Branche. Deshalb sollten sich Angestellte unbedingt gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren.“

https://www.saechsische.de/kellnern-in-der-neustadt-ist-ein-knochenjob-2784491.html?utm_source=szonline

Neues Deutschland

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Kneipe wirft Kellner raus

Von Hendrik Lasch, Dresden 28.02.2014

Arbeitskämpfe in Kneipen sind selten. Das »Trotzdem« in Dresden indes wurde über Wochen bestreikt. Die Gewerkschaft FAU drängt auf einen Haustarif. Ein solches Bild ist auch im Dresdner Szeneviertel Neustadt ungewöhnlich: Streikposten mit roten Westen und Plakaten, die allabendlich vor einer Kneipe aufziehen. Sie bewachen das »Trotzdem«, ein Lokal, das in der autonomen Szene eigentlich einen guten Ruf hatte. Gründerin Johanna Kalex ist nicht nur stadtbekannte Friedensaktivistin und gegen Nazis engagiert; sie bezahlt ihre Mitarbeiter auch vergleichsweise gut - sogar bei Krankheit. »Das ›Trotzdem‹«, sagt Wolf Meyer, »galt als vorbildlich.«

Meyer spricht indes in der Vergangenheitsform. Der Grund sind Kündigungen für drei Mitarbeiter des Lokals, die heute in Kraft treten. Die Chefin begründet das mit Diebstählen aus dem nur für Kellner zugänglichen Lager. Die Gefeuerten, die allesamt in der Gewerkschaft FAU (Freie ArbeiterInnen-Union) organisiert sind und eine Betriebsgruppe gegründet hatten, halten das für einen vorgeschobenen Grund - und traten in den Arbeitskampf. Bisher ...

https://www.nd-aktuell.de/artikel/925520.kneipe-wirft-kellner-raus.html?sstr=Kneipe

Trotzdemunbequem

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http://trotzdemunbequem.blogsport.de/


Meta

Die Kneipe Trotzdem ist seit Jahren als linker Schuppen bekannt. Nun wurden drei Kolleg_innen, allesamt Mitglied der Basisgewerkschaft Nahrung und Gastronomie (BNG FAU), gekündigt. Unter dem Motto „Trotzdem unbequem!“ wehren sich Gewerkschaft und Betriebsgruppe gegen die Kündigung und fordern zudem einen Haustarifvertrag oder die Kollektivierung der Kneipe.

'strike of waiters in the bar "trotzdem" - informations in english

Anarcho-Syndicalist Waiters in Germany Strike Against Dismissals

Submitted by Secretariat on Sun, 02/09/2014 - 22:16


The FAU gastronomy section struggles for a strong movement in this branch. Waiters of a trendy leftist club in Dresden are on strike. All of them are members of an anarcho-syndicalist group and have been fired for dubious reasons. Now the local branch union fights for re-employment including a company agreement or alternatively the collectivisation of the business.

The colleagues founded a workplace group in May 2013, in which all waiters of the club have been organized. In May/June they forced a 20% wage increase. After that, they organised themselves with colleagues from other companies and founded the BNG-FAU (Gastronomy and Nutrition Section of the FAU) in July, 2013.

Last month, half of the employees were surprisingly fired. BNG-FAU interpreted this as attack on the waiters' unionist organisation and threatened to start a strike. When the owner of the restaurant "Trotzdem" refused to negotiate, all organised workers started a strike on February, 2014. Although the temperature sunk to -2 °C, around 10 to 20 people make an informational action for the customers every day from 8pm to 12 am. On the third day, the club owner started to engage scabs, yet the business dropped due to the solidarity customers who avoided visiting the club.

The press feedback ranges from local to nationwide reports about the conflict. Strikes of gastronomy workers, who earn 450€ a month at most, are uncommon in Germany. The centralised unions only have members in some of the few larger clubs and restaurants. So BNG-FAU already became more visible in Dresden's gastronomy scene than the social democrat NGG (Food, Beverages and Catering Union).

The club's owner is trying to sit out the situation while the number of guests steadily declines. The BNG-FAU pickets talk to colleagues from other clubs to extent the conflict to other companies. On February 10, two lectures and an open discussion to inform about the situation in the gastronomy sector are planned.

During the upcoming week, there will be a public labour law training course and a demonstration. The pickets of the BNG-FAU visit other clubs on a daily basis to inform people about the conflict and our union.

The comrades would be glad to receive solidarity greetings from other countries to exemplify the solidarity of libertarian workers.

More information: http://trotzdemunbequem.blogsport.de bng-dd [at] fau [dot] org

Bank Account for Donations:

Allgemeines Syndikat Dresden KTO: 4812891 BLZ: 83065408 IBAN: DE11 8306 5408 0004 8128 91 BIC (SWIFT-Code): GENODEF1SLR Kreditinstitut: VR-Bank Altenburger Land EG: Note: Trotzdem unbequem

Language: English

Section: FAU

Content type: Front page

Anarchosyndikalistische Kellner in Deutschland streiken gegen Entlassungen

Eingereicht vom Sekretariat am So, 02.09.2014 - 22:16

Für eine starke Bewegung in dieser Branche kämpft die FAU-Gastronomie. Kellner eines angesagten Linksclubs in Dresden streiken. Alle sind Mitglieder einer anarchosyndikalistischen Gruppe und wurden aus dubiosen Gründen entlassen. Nun kämpft die örtliche Branchengewerkschaft für eine Wiedereinstellung inklusive Betriebsvereinbarung oder alternativ die Kollektivierung des Betriebs.

Die Kollegen haben im Mai 2013 eine Betriebsgruppe gegründet, in der alle Kellner des Clubs organisiert sind. Im Mai/Juni erzwangen sie eine Lohnerhöhung von 20 %. Danach organisierten sie sich mit Kollegen anderer Unternehmen und gründeten im Juli 2013 die BNG-FAU (Gastronomie und Ernährung der FAU).

Im vergangenen Monat wurde überraschend die Hälfte der Mitarbeiter entlassen. Die BNG-FAU interpretierte dies als Angriff auf die Gewerkschaftsorganisation der Kellner und drohte mit einem Streik. Als der Besitzer des Restaurants "Trotzdem" Verhandlungen verweigerte, streikten alle organisierten Arbeiter im Februar 2014. Obwohl die Temperatur auf -2 °C sank, machen täglich ab 20 Uhr etwa 10 bis 20 Personen eine Informationsaktion für die Kunden bis 12 Uhr. Am dritten Tag begann der Clubbesitzer, Schorf zu bekommen, doch das Geschäft brach wegen der solidarischen Kunden ein, die den Clubbesuch vermieden.

Das Presse-Feedback reicht von lokalen bis hin zu bundesweiten Berichten über den Konflikt. Streiks von Gastronomiebeschäftigten, die höchstens 450€ im Monat verdienen, sind in Deutschland selten. Die zentralisierten Gewerkschaften haben nur Mitglieder in einigen der wenigen größeren Clubs und Restaurants. So wurde die BNG-FAU in der Dresdner Gastronomieszene bereits sichtbarer als die Sozialdemokratin NGG (Gewerkschaft Nahrung, Getränke und Gastronomie).

Der Clubbesitzer versucht, die Situation auszusitzen, während die Zahl der Gäste stetig sinkt. Die Streikposten der BNG-FAU sprechen mit Kollegen anderer Vereine, um den Konflikt auf andere Unternehmen auszudehnen. Am 10. Februar sind zwei Vorträge und eine offene Diskussion geplant, um über die Situation in der Gastronomie zu informieren.

In der kommenden Woche findet eine Schulung zum öffentlichen Arbeitsrecht und eine Vorführung statt. Die Streikposten der BNG-FAU besuchen täglich andere Vereine, um die Menschen über den Konflikt und unsere Gewerkschaft zu informieren.

Die Genossinnen und Genossen würden sich über solidarische Grüße aus anderen Ländern freuen, um die Solidarität der libertären Arbeiter zu verdeutlichen.

Unterstützer_innen

  • Kampagne 129eV Dresden
  • Quijote Kaffeerösterei
  • Undogmatische Radikale Antifa
  • Rote Hilfe Dresden http://blogsport.eu/wp-signup.php?new=rotehilfedresden Die Registrierung wurde deaktiviert.
  • Geigerzähler
  • Ausser Kontrolle Dresden http://ausserkontrolle.blogsport.de/ Gegen die Einheitsfeier in Dresden 9. August 2016
  • Verlag und Vertrieb Syndikat A
  • Anarchistische Gruppe Neukölln
  • SAC Schweden
  • Freie Arbeiterinnen und Arbeiter Union
  • Karakök Autonome
  • Internationale Arbeiter_innen Assoziation
  • Anarchosyndikalistische Gruppe Hamburg Altona
  • MASA Kroatien
  • ASJ Mainz
  • e*vibes Dresden
  • Libertäre Gruppe Karlsruhe
  • ASJ Bielefeld
  • Anarchistische Gruppe Düsseldorf
  • IWW Köln
  • ASJ Leipzig
  • Assoziation Autonomer Umtriebe Dachau
  • ASJ Berlin
  • Kosmotique Dresden
  • Institut für Syndikalismusforschung
  • Wiener Arbeiter*innensyndikat
  • IWW Indiana
  • Labournet
  • Gruppe Polar Dresden about:blank#blocked
  • Anarchistische Gruppe Krefeld


Rote Hilfe Dresden: Solidarität mit dem Arbeitskampf der FAU!

26. Februar 2014

Seit dem 31.01.2014 befinden sich 3 Mitarbeiter_innen der Dresdner Kneipe „Trotzdem“im Streik. Ihnen wurde eine Kündigung seitens der Inhaberin des Lokals ausgesprochen. Bereits im Mai 2013 haben sich die Mitarbeiter_innen dazu entschlossen, eine Lohnerhöhung durchzusetzen sowie eine Betriebsgruppe im Gastronomiebereich zu gründen. Nun halten seit dem Streikbeginn die Mitglieder der FAU und ihre Unterstützer_innen täglich von 20 bis 24 Uhr einen Streikposten vor dem Ĺokal.

Solidarität zeigen: Kommt zur Demo der FAU!

Donnerstag | 27. Februar | 19 Uhr | Aufruf

Dresden | Alaunstraße 81 | vorm „Trotzdem“


Soli-Erklärung Dresdner Gruppen

Check: www.trotzdemunbequem.blogsport.de | www.fau.org/dresden

Seit dem 31.01.2014 befinden sich 3 Mitarbeiter_innen der Dresdner Kneipe „Trotzdem“im Streik. Ihnen wurde eine Kündigung seitens der Inhaberin des Lokals ausgesprochen. Bereits im Mai 2013 haben sich die Mitarbeiter_innen dazu entschlossen, eine Lohnerhöhung durchzusetzen sowie eine Betriebsgruppe im Gastronomiebereich zu gründen. Nun halten seit dem Streikbeginn die Mitglieder der FAU und ihre Unterstützer_innen täglich von 20 bis 24 Uhr einen Streikposten vor dem Ĺokal. Mit dieser Erklärung unterstützen wir den Arbeitskampf der Streikenden.

Nachdem zunächst „betriebswirtschaftliche“ Gründe und die geplante Einstellung eines Freundes der Familie für die Kündigungen genannt wurden, schiebt die Besitzerin des „Trotzdem“ nun (angeblich) stattgefundene Diebstähle vor und betreibt damit Sippenhaft.

So oder so sind die Kündigungen nicht einfach hinzunehmen. Entlassungen aufgrund von „Eigenbedarf“ oder auf Grundlage von Unterstellungen sind nicht mal mit dem geltenden Arbeitsrecht vereinbar. Diese Form der Entlassungen in einem Lokal, dass unter einem linksalternativen Label geführt wird, betrachten wir als Zynismus.

Generell gilt: Alle Betriebe, die auf diese Art und Weise mit ihren Angestellten umgehen, gehören bestreikt. Wenn Arbeitgeber_innen , auf Grundlage von Mutmaßungen, händeringend nach Gründen für eine Kündigung organisierter Mitarbeiter_innen suchen, ist es erforderlich, solidarisch mit den Betroffenen zu sein. Somit wünschen wir den Streikenden viel Kraft und einen langen Atem.

Unterstützt die Streik-Kundgebungen der FAU, täglich von 20 bis 24 Uhr, vor dem Lokal in der Dresdner Neustadt.

Get organized! Soziale Kämpfe zusammenführen!

Check: www.trotzdemunbequem.blogsport.de | www.fau.org/dresden

Unterstützer_innen:

Gruppe Polar, Ausser Kontrolle Dresden, URA Dresden, Rote Hilfe OG Dresden, Kampagne 129ev


Streik-Ticker #17:

27. Februar 2014 in Neues Geschlossen

+++ Montag: +++ 6-10 Menschen am Streikposten. +++ Über 35 Betriebe wurden von Aktivist_innen über Demonstration am Donnerstag informiert. +++ Dienstag: +++ Ca. 10 Menschen am Streikposten. +++ Mittwoch: +++ 8-12 Menschen am Streikposten. +++ Kleine Diskussion mit Person aus der Kneipe, darüber ob die FAU Leute aktiv davon abhält ins Lokal zu gehen. +++ Sonst keine Besonderheiten und weiterhin keine Reaktion seitens der Chefin. +++ ‚Normaler‘, nochmal relativ gut besuchter letzter Streikposten. +++

Demo-Presse

28. Februar 2014

Leider kam es in der Presse falsch an, der Streik geht natürlich weiter, nur die täglichen Streikposten bleiben vorerst aus.

  • MDR 1, Lokalnachrichten, 27. Februar
  • Sächsische Zeitung Kellnern in der Neustadt ist ein Knochenjob, 27. Februar
  • Neues Deutschland, Kneipe wirf Kellner raus, 28. Februar
  • DNN, Kellner gehen auf die Straße
  • OAZ, Demo für bessere Arbeitsbedingungen für Kellner, 28. Februar
  • Neustadtgeflüster, Kein Kneipenstreik mehr, 28. Februar


Fotos von der Demonstrations „So geht’s nicht weiter in der Gastro!“

28. Februar 2014

Demonstration am 27. Februar

Für einen sozialen Betrieb

Unsere Krise heißt Lohnverzicht

Erwartet nichts. Von niemand. Organisiert Euch!

Organisiert Euch! Oder ihr werdet organisiert!

Streik ist unsere beste Option.


Heute wieder Streikposten!

7. März 2014

Während wir uns noch auf unsere erste gerichtliche Auseinandersetzung mit der Chefin vorbereiten, wollen wir unseren Streik an diesem und dem kommenden Freitag wieder mit Streikposten begleiten. Wir sind wie gewohnt ab 20 Uhr vor dem Lokal ansprechbar.


PM: BNG-Streik wird fortgeführt – Erster Gerichtstermin verschoben

14. März 2014

Weitere Streikposten im März, Verhandlung zur Klage gegen die Kündigung am 1. April

Auch nach der gut besuchten Demonstration am 27.2. wird der Streik um die Szene-Kneipe „Trotzdem“ weitergeführt. Am 18. März stand bislang die Verhandlung des Arbeitsgerichts zur ersten Kündigung an, der Termin wurde auf den 1. April verschoben. Mittlerweile erfolgte jedoch bereits eine zweite Kündigung, diesmal zum Ende diesen Monats. Die BNG stellt bisherige Erfolge der Kampagne fest und kündigt weitere Streikposten im März an.

Nach der Demonstration der BNG-FAU in der Dresdner Neustadt und der anschließend bekannt gegebenen vorläufigen Aussetzung des Streikpostens wird es nun bis mindestens zum 18. März erneut Streikposten vor dem Lokal geben. „Auf Grund der bislang erfolgten großflächigen Aufklärung von Besucher_innen und Beschäftigten des Szeneviertels soll der Streikposten am Wochenende als Anlaufstelle für Interessierte dienen und weitere Konfliktbereitschaft anzeigen“, so Franziska Schwarz (28) von der BNG. Als Termine wurden der 7. und 14. März jeweils ab 20 Uhr festgesetzt.

Die Aushändigung der zweiten Kündigung, diesmal ohne eine konkrete Begründung, ist nach Erachten der BNG ein Eingeständnis der Chefin, dass die bisherige Kündigung so nicht rechtens war und bestärkt damit die Ansicht der Gewerkschaft, dass die Diebstahlsvorwürfe gegen die Gekündigten unhaltbar sind. Die BNG-Mitglieder sind somit mindestens bis zum 31. März weiter beschäftigt und können damit den Arbeitskampf fortführen.

Nicht nur an dieser Stelle kann die Basisgewerkschaft einen Erfolg verzeichnen. In den vergangenen Wochen ging eine Vielzahl von Solidaritätsbekundungen ein, so zum Beispiel aus weiten Teilen der EU sowie im internationalen Raum, bis in die USA und sogar Japan. Darüber hinaus konnten im unmittelbaren Umfeld des Streikpostens und bei Gastro-Angestellten im Quartier weiter reges Interesse geweckt sowie neue Mitglieder der Gewerkschaft gewonnen werden.


PM BNG streikt weiter – Neuer Klagetermin

2. April 2014

Der Streik in der Kneipe Trotzdem wird weiter fortgeführt, jedoch vorläufig ohne regelmäßige Streikposten. Die Basisgewerkschaft Nahrung und Gastronomie BNG/FAU konzentriert sich jetzt auf den eingeschlagenen Rechtsweg.

Da die streikende Betriebsgruppe des Szenekneipe Trotzdem die erste Kündigung nicht anerkennt und die Chefin Mittels einer zweiten, diesmal unbegründeten Kündigung nach Auffassung der BNG-FAU ein Eingeständnis der Ungültigkeit der ersten Kündigung abgab, besteht für die drei gekündigten Kolleg_innen weiterhin die Möglichkeit zu streiken. Der Streik wird damit bis mindestens zum ersten April fortgesetzt. Regelmäßige Streikposten wird es in dieser Zeit nicht mehr geben, da die Ziele der Kampagne für die BNG-FAU als erreicht gelten. Nichtsdestotrotz wird es weitere, den Arbeitskampf unterstützende Aktionen geben.

Als Zeitpunkt für den ersten Gütetermin, der die Möglichkeit einer außergerichtlichen Einigung bedeuten würde, wurde vom Arbeitsgericht Dresden ebenfalls der erste April festgelegt. Bei diesem Termin sind keine Besucher_innen zugelassen, die BNG behält sich allerdings vor, vor dem Gericht in Form einer Kundgebung auf den Sachverhalt aufmerksam zu machen.

Sollte am Dienstag der kommenden Woche keine Einigung erzielt werden, wird der Streit vor Gericht weitergetragen. Bei der aktuellen Belastung der Arbeitsgerichte wäre ein Prozesstermin im kommenden halben Jahr zu erwarten.


PM: Gütetermin beim Arbeitsgericht – Arbeitskampf der BNG-FAU

10. April 2014

Vergangenen Dienstag, dem 8. März, trafen sich die drei gekündigten Gewerkschaftsaktivist_innen der BNG-FAU aus der Kneipe „Trotzdem“ mit der Arbeitgeberinnenseite zu einem Gütetermin im Arbeitsgericht. Bei dem Termin wurde sich unter anderem auf die Unwirksamkeit zweier Kündigungen und die Rücknahme aller Diebstahlsvorwürfe geeinigt. Weitere Verhandlungen stehen noch aus. Der Fall hatte vor Allem durch den 58-tägigen Streik der Belegschaft Aufsehen erregt.

Bei dem Gütetermin wurde ab 9 Uhr im Saal 3 des Arbeitgerichtes Hans-Oster-Straße 4 über die Wirksamkeit dreier Kündigungen verhandelt, die von der Betreiberin des „Trotzdem“ gegen die drei Gewerkschaftsmitglieder zum 28. Februar ausgesprochen worden waren. Am Ende einigten sich die Parteien auf einen Vergleich. In einem Fall wurde eine Kündigung zum 28. Februar anerkannt, unter der Bedingung jegliche Diebstahlsvorwürfe fallen zu lassen, die restlichen Lohn- und Urlaubsgelder nachzuzahlen und ein „wohlwollendes und berufsförderndes“ qualifiziertes Arbeitszeugnis auszustellen. In den beiden anderen Fällen einigten sich die Parteien, dass eine Kündigung erst zum 31. März wirksam wäre, da die zunächst zum 28. Februar ausgesprochenen Kündigungen vom Gericht als unwirksam angesehen wurden. Auch hier werden alle Diebstahlsvorwürfe von Seiten der Chefin fallen gelassen. Löhne und Urlaubsforderungen, sowie gleichwertige Arbeitszeugnisse müssen in diesen Fällen noch erstritten werden. Bleibt die Chefin uneinsichtig, könnte es hier zu weiteren Klagen der Gewerkschaftsaktivist_innen kommen.

„Wir sind mit dem Ergebnis bis jetzt zufrieden. Wir konnten zwei der Kündigungen kippen und die Chefin musste ihre haltlosen Diebstahlsvorwürfe öffentlich zurückziehen. Damit ist auch viel über ihre Glaubwürdigkeit gesagt.“, äußerte sich Jeanette Schmidt von der Betriebsgruppe in einem Auswertungsgespräch. Nach Schätzungen der Gewerkschaft bewegen sich die Anwalts- und Verfahrenskosten für die Chefin schon jetzt im vierstelligen Bereich. Kosten, die durch Verhandlungsbereitschaft und Dialog hätten vermieden werden können.

„Es war richtig den Schritt des Arbeitskampfes zu gehen. Schon jetzt haben wir mit der BNG-FAU mehr erreicht, als wir alleine erreicht hätten. Außerdem konnten wir mit unserem Engagement uns und anderen beweisen, dass auch Minijobber_innen im Kleinbetrieb nicht wehrlos sind.“, so die Sprecherin der Betriebsgruppe.

Stimmen aus der Provinz

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Trotzdem Arbeitskampf – Die BNG-FAU in der Dresdner Neustadt 26/02/2014 von Gumbel

Seit gut einem Monat gibt es vor einer der letzten linken Szenekneipen, dem Trotzdem, in der Dresdner Neustadt einen Streikposten der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) und ihrer Berufssparte der Basisgewerkschaft Nahrung und Gastronomie (BNG), zusammengefasst als BNG-FAU. Das gestreikt wird, hat gute Gründe und führt außerdem vor Augen, dass kapitalistische Verwertungslogik auch nicht vor linken Einrichtungen mit ohnehin schon prekären Arbeitsverhältnissen halt macht.


Der Streik begann, als seitens der Chefin Johanna Kalex, ehemalige Friedensaktivistin und die sich selbst als Anarchistin versteht, drei Angestellten die Kündigung zum 01.04.2014 ausgesprochen wurde. Ganz zufällig natürlich betrifft es genau diejenigen Personen, die sich basisgewerkschaftlich organisiert und die auch eine Lohnerhöhung durchgesetzt hatten. Die Begründung der Kündigungen waren laut Kalex Diebstähle im Lager des Trotzdem, zu dem angeblich nur das Personal Zugang hätte. Dennoch konnten keinem der Betroffenen ein Diebstahl nachgewiesen werden.[1] Im Gegenteil musste Kalex schließlich einlenken und zugeben, dass noch mehr Personen zum Lager Zugang hatten.[2] Vielmehr drängt sich die Vermutung auf, dass die Chefin einem Freund eine Vollzeitstelle im Trotzdem geben wollte und ihr wohl auch das gewerkschaftliche Engagement der Beteiligten sauer aufstieß. Anscheinend kamen dazu noch diverse Meinungsverschiedenheiten politischer Natur.[3] Gesprächsangebote der BNG-FAU ließ Kalex verstreichen, ebenso das Angebot, den Betrieb zu kollektivieren.[4]

Dank der transparenten Berichterstattung der BNG-FAU zu den Hintergründen und dem beworbenen Streikposten entwickelte sich ein überregionales Medieninteresse. Von DNN[5] über die Jungle World[6] bis hin zur taz[7] und dem Regionalfernsehen des MDR[8], alle berichteten über den Streik.

Auch innerhalb der linken Szene gab und gibt es harte Auseinandersetzungen. Beispielhaft dafür sind die Kommentarspalten der jeweiligen Beiträge,[9] wobei die Diskussion oftmals emotional und nicht sachlich geführt wird, insbesondere bei Verteidiger_innen des Trotzdem.

Das Hauptproblem beim szeneinternen Schlagabtausch ist, dass anscheinend viele sich als links verstehende Menschen nicht begreifen, dass auch linke Läden, zumindest in dem Format, wie das Trotzdem, nach kapitalistischen Kriterien geführt werden und mit sozialromantischen Vorstellungen nichts zu tun haben.

Das heißt in dem Fall zuallererst, dass es eine rechtliche Sphäre gibt zwischen Arbeitgeber_in und Arbeiternehmer_innen, die letztendlich hierarchisch ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass dieses Verhältnis bspw. auf einer freundschaftlichen Basis beruht oder in einer gleichen politischen Ausrichtung. Kommt es hart auf hart und das war hier der Fall, treten sich beide Parteien als das Gegenüber, was sie rechtlich sind: Arbeitgeber_in vs. Arbeitnehmer_in.

Im Gastronomiegewerbe kommt, wie die BNG-FAU selbst festhält, verschärfend hinzu, dass die Arbeitsverhältnisse oftmals prekär sind[10] und speziell linke Geschäfte einer Subsistenzwirtschaft gleichen. Deswegen geht die Perspektive der BNG-FAU auch über den konkreten Arbeitskampf hinaus und macht auf die Arbeitsumstände in der gesamten Neustadt in der Gastronomie aufmerksam und bietet Arbeitsrechtsschulungen an.

Deswegen war der Zusammenschluss zu einer basisgewerkschaftlichen Vertretung aus linker Sicht nur ein konsequenter und richtiger Schritt zur Artikulierung der eigenen Interessen bspw. dem Durchsetzen von Lohnerhöhungen und einer besseren Rechtssicherheit. Dementsprechend geht man nun auch mit der Kündigung um, in dem man einen Streik durchführt. Und genau da liegt der Knackpunkt, den einige nicht sehen oder nicht sehen wollen, dass die BNG-FAU an dieser Stelle nicht mutwillig oder aus bösen Absichten heraus handelt, sondern einen Arbeitskampf um ihre Rechte führt. Das schließt die Klage gegen die Betreiberin des Trotzdem als weiteres Rechtsmittel mit ein,[11] nach dem die anderen Möglichkeiten einer Verständigung zu keiner Annäherung noch nicht mal zu einem Gespräch geführt haben.

Das Angebot der Kollektivierung des Betriebs ist in dem Zusammenhang Ausdruck des Versuchs einer Entschärfung der Problemlage im kapitalistischen Normalvollzug, um speziell die Hierarchisierung abzubauen und allen Beteiligten trotz prekärer Arbeitsverhältnisse wenigstens ein halbwegs sicheres Beschäftigungsverhältnis zu verschaffen.

Deshalb sei zum Schluss auf die Demonstration „So geht’s nicht weiter in der Gastro!“ der BNG-FAU am 27.02.2014 hingewiesen, die 19 Uhr vor dem Trotzdem beginnt.[12]

[1] http://www.neustadt-ticker.de/aktuell/nachrichten/trotzdem-streik-stellungnahme-der-chefin/. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[2] http://trotzdemunbequem.blogsport.de/2014/02/08/eine-woche-bng-streik-chefin-muss-vorwuerfe-berichtigen/. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[3] Zusammengefasst im Positionspapier zum Streik: http://trotzdemunbequem.blogsport.de/images/Argumentationspapier1.pdf. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[4] http://www.fau.org/artikel/art_140201-013904. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[5] http://www.dnn-online.de/dresden/web/dresden-nachrichten/detail/-/specific/Klassenkampf-in-linker-Szenekneipe-das-Trotzdem-in-der-Neustadt-wird-bestreikt-752328028. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[6] http://jungle-world.com/artikel/2014/07/49333.html. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[7] http://www.taz.de/Trubel-um-Dresdner-Szene-Kneipe-/!132411/. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[8] Der Fernsehbeitrag ist leider nicht mehr aufrufbar, wie das bei zeitlich begrenzten Sendungen in der jeweiligen Mediathek üblich ist.

[9] Siehe hier die Kommentarspalte: http://www.neustadt-ticker.de/aktuell/nachrichten/trotzdem-streik-stellungnahme-der-chefin/. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[10] https://www.libertaeres-netzwerk.org/allgemeines-syndikat/bng/. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[11] http://trotzdemunbequem.blogsport.de/2014/02/23/pressemitteilung-bng-streik-klage-gegen-chefin-und-demonstration/. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

[12] http://www.fau.org/artikel/art_140221-172642. Zuletzt aufgerufen am 26.02.2014.

Zeitzeugenportal

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https://www.zeitzeugen-portal.de/zeitraeume/jahrzehnte/1980/die-grenze-ist-offen/mqMzE6DDbr4

JOHANNA KALEX

Sturm auf die Stasi-Zentrale in Dresden

Johanna Kalex, damals Krankenschwester, über das Glücksgefühl, das Stasi-Gebäude nicht als Opfer, sondern als Richter zu betreten.

mit den beiden großen Kindern

2 min 09 - 2011?

https://www.zdf.de/dokumentation/momente-der-geschichte/biermann-und-die-opposition-in-der-ddr-104.html

Johanna Kalex, damals Krankenschwester, engagierte sich während der Wende in einer selbstorganisierten syndikalistischen Gruppe, die für politische Veränderungen in der DDR eintrat.

1 min 50 - 06.10.2011

https://archive.org/details/Geschichte-Mitteldeutschlands_mdr_13-Februar-1982

Beitrag zum 13. Februar 1982 in Dresden in: Geschichte Mitteldeutschlands vom 2. Oktober 2012 im mdr (ab Minute 15:26 bis 22:30) mit Johanna Kalex (ehemals Annett Ebischbach) und Oliver Kloss (Initiatoren) sowie mit Elke Schanz (Druckerin des Flugblattes).

Aufruf zum 13. Februar 1982 in Dresden

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verfasst von Annett Ebischbach, Torsten Schenk und Oliver Kloss in Druckfassung von Elke Schanz und Heike Kerstan.

https://archive.org/details/1981_Aufruf-zum-13-Februar-1982-in-Dresden_Druckfassung

Wikipedia

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https://de.wikipedia.org/wiki/Gedenken_an_den_13._Februar_1945_in_Dresden#Widerstand_in_Ostdeutschland_ab_1981

Ein von Staatsinteressen unabhängiges Gedenken begannen Jugendliche der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR. Sie verbreiteten auf illegalen Flugblättern ab September 1981 den Aufruf zum 13. Februar 1982. Vor der Ruine der Frauenkirche sollte eine symbolische Kerzenaktion gegen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft stattfinden. Letztlich wurde der Impuls des Aufrufs der Jugendlichen mit deren Zustimmung in die Kreuzkirche kanalisiert. Das Friedens-Forum vom 13. Februar wurde 1982 zu einem Höhepunkt der staatskritischen Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“, woran seit 2010 das Mahnmal „Steine des Anstoßes“ vor dem Südportal der Kreuzkirche erinnert.

Forum Politikunterricht

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http://www.dvpb-bayern.de/images/files/fpu/1_13/lv-sachsen.pdf

Oliver Kloss: Der Dresdner Aufruf zum 13. Februar 1982. In: Forum Politikunterricht. Heft 1 (2013). Hrsg. von der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung – Landesverband Bayern, ISSN 0941-5874, S. 41 f.

Der Aufruf zum 13. Februar 1982 wurde von drei Jugendlichen, Annett Ebischbach, Torsten Schenk und Oliver Kloss, in Dresden verfasst. Nach dem Vorbild des erfolgreichen Kettenbriefes zum Sozialen Friedensdienst (SoFd) von Christoph Wonneberger wurde der Aufruf ebenfalls als Kettenbrief verbreitet. Das heißt, er wurde mit der Aufforderung versehen, er möge abgeschrieben und weiter gegeben werden. Elke Schanz, eine überaus mutige Auszubildende in der Dresdner Zeitungsdruckerei, druckte das Flugblatt sogar illegal in den Pausen auf übrige Papier-Rollen. Schnell fand sich ein Kreis von Jugendlichen, zuerst Niels Reifenstein, Jan Schmidt, Mac Scholz und Ulrike Stephan. Sie verbreiteten den Text in verschiedenen Städten im Süden der einstigen „DDR“ bis Berlin. Im November und Dezember kamen weitere Jugendliche hinzu und beteiligten sich an der Verbreitung des Aufrufes: Annett Eiselt, Thomas Just, Daniel Ludewig, Susanne und Eckehard Möller, Katrin Maria Rätze, Michael Schmidt, Tobias Schmidt und andere besonders aus der Szene um die Dresdner Mokkastube am Altmarkt und aus der Dresdner Neustadt. Mit ca. 5.000 Besuchern allein zum Friedensforum in der Kreuzkirche führte der Aufruf trotz der Kontrolle der Zufahrtsstraßen und der Bahnhöfe Dresdens zur größten Veranstaltung der staatskritischen Friedensbewegung in der „DDR“. An der Spitze des staats-offiziellen Propaganda-„Friedenskampfes“ marschierte dereinst die SED-Führung und forderte die Abrüstung im Westen. In der staatlichen Propaganda korrespondierte Ende der 70er/ Anfang der 80er Jahre die Polemik gegen die NATO der Irenik bezüglich der „progressiven Friedensbewegung“ in Westeuropa. Derweil sank sogar in den Reihen der SED-Genossen angesichts zunehmend deutlicher Militarisierung der „DDR“- Öffentlichkeit (Wehrerziehung in den Schulen, paramilitärische GST etc.) die Glaubensbereitschaft an das Ideologem von der vermeintlich „wesensmäßigen Friedfertigkeit des Sozialismus”. Als in Polen 1981 die Miliz unter Kriegsrecht auf Streikende geschossen hatte, regierte danach Jaruzelski, ein General mit Sonnenbrille. – Ein Bild, wie es Jugendliche in der „DDR“ bislang nur mit dem chilenischen Faschismus unter General Augusto

Pinochet zu assoziieren gewohnt waren. Bei vielen – und besonders bei Jugendlichen – wuchs die Einsicht, die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarnoćś habe zumindest erreicht, dass dem Sozialismus die Maske vom Gesicht des Staatsterrors gefallen sei, sobald die vermeintlich „herrschende Klasse“ im „Arbeiter“-Staate sich unabhängig zu organisieren begonnen und angesichts des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus den grundstürzenden Vorwurf der „Ausbeutung durch Ineffizienz” an den Sozialismus sich zu erheben erkühnt hatte. Die Initiativgruppe des Aufrufes zum 13. Februar 1982 unternahm ein ordnungspolitisches Experiment mit dem Staate, das ihn vor ein Legitimationsproblem stellen sollte. Angesichts des in der Verfassung verbürgten, aber faktisch nicht vorhandenen Rechtes der Versammlungsfreiheit war der Aufruf zur Versammlung eine klare Provokation. Der schwer diffamierbare und zugleich massenwirksame Inhalt „Frieden“ hingegen erschwerte offenen staatlichen Gewalt-Einsatz. Kurz: Die Initiativgruppe betrieb bewusst die Subversion des offiziellen Feindbildes und stellte auf diese Weise die Staatsideologie selbst in Frage. Wenngleich die Intention letztlich weitgehend – und angesichts des Verfolgungsdrucks auch mit überwiegender Zustimmung der Initiatoren – von der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens integriert und von der Frauenkirche in die Kreuzkirche kanalisiert worden war, wuchs in der DDR sowohl in der Kirche wie in deren Umfeld eine staatskritische Friedensbewegung heran, deren Akteure sie später in eine Bürger- und Menschenrechtsbewegung auszuweiten vermochten. Annett Ebischbach begründete später in Dresden die Gruppe Wolfspelz. Oliver Kloss gehörte in Leipzig 1986 zu den Mitbegründern der Arbeitsgruppe Menschenrechte, einer der subversiven Gruppen, die auf Massendemonstrationen hingewirkt und den Appell zum 9. Oktober 1989 mit verfasst haben. Für die Herausbildung des organisierten Widerstandes gegen den Staatssozialismus war der Aufruf zur illegalen Versammlung an der Frauenkirche zum 13. Februar 1982 in Dresden als massenwirksames Experiment ein wichtiger Schritt. Erst mit der gelungenen Massendemonstration vom 9. Oktober 1989 in Leipzig war die Befreiung vom Staatssozialismus unumkehrbar vollbracht. Oliver Kloss, Dresden

WEIL KNEIPEN NUR HALBVOLL SEIN DÜRFEN: FÜR WIRTE WIRD'S JETZT DOPPELT SCHWER

Von Pia Lucchesi 17. Mai 2020

Dresden - Seit Freitag dürfen Gaststätten und Hotels mit strengen Hygieneauflagen in Sachsen wieder öffnen. Doch lohnt sich das überhaupt?

Zum Wohl! Die Gastronomie hofft, dass die Leute jetzt nach den Lockerungen wieder mit großem Durst und Hunger ausgehen und einkehren. © 123rf/Volodymyr Melnyk

Kaum jemand in der Branche taumelt vor Glück wegen der Lockerungen. Der Pleitegeier kreist weiterhin über vielen Betrieben.

Kampflos aufgeben will aber niemand. Die Hoffnung ist groß, dass die Gäste zurückkehren und mit ihnen das Glück. Ein Wirtschafts-Report - im wahrsten Sinne des Wortes.

Sorgenfalten auf der Stirn Das "Trotzdem" auf der Alaunstraße 81 in der Dresdner Neustadt ist eine Institution.

Lauer Frühlingswind wärmt die Dresdner Neustadt. Johanna Kalex sitzt im Hinterhof des Szene-Lokals "Trotzdem" und schaut nachdenklich über die Tische, die vereinzelt mit reichlich 1,5 Meter Abstand im Garten stehen und auf Gäste warten.

"Wir haben alle Corona-Hygiene-Vorgaben penibel umgesetzt. Die Zahl unserer Tische und Plätze in der Kneipe hat sich dadurch fast halbiert", sagt die 55-Jährige mit Sorgenfalten auf der Stirn.

Seit 20 Jahren führen sie und ihr Mann Steffen Otto als Familienbetrieb das "Trotzdem". Die Kiez-Kneipe sichert dem Paar den Lebensunterhalt. Zum Anhäufen von Reichtümern taugt sie nicht.

Johanna Kalex: "Wir erlebten mit der Corona-Pandemie eine Zäsur." In der Zeit vom 9. März bis zum 15. Mai hatte die Familie keinen Cent an Einkommen.

Sie lobt: "Die beantragten Soforthilfen kamen über Nacht. Mit dem Geld von Bund und Land konnten wir die Fixkosten begleichen." Die Reserven des Betriebes gingen für das Kurzarbeitergeld der fünf Mitarbeiter drauf. Auf ihr privates Hartz-IV-Geld warten sie noch.

Kalex: "Um über die Runden zu kommen, haben wir unser Erspartes für den Urlaub verfuttert." Jetzt ist das Paar privat und geschäftlich finanziell am Limit. Damit nicht genug. Die Dresdnerin sorgt sich auch um ihre Gesundheit: "Ich gehöre zur Risikogruppe."

Stammkundin zaubert Johanna Kalex ein Lächeln ins Gesicht

Das Szene-Lokal von Johanna Kalex macht jetzt eine Stunde früher auf. Die Wirtsleute hoffen, so Umsatzeinbußen durch die Verringerung des Platzangebotes wettmachen zu können. © Steffen Füssel

Das Ende ihrer erzwungenen Arbeitslosigkeit erlebt Johanna Kalex mit gemischten Gefühlen: "Ich hoffe innig, dass unter den gegebenen Umständen unsere Einnahmen reichen, um alle Kosten zu decken."

Sie freut sich, dass die Politik dem Gastgewerbe helfen will. Warum die vereinbarte Mehrwertsteuer-Senkung aber nur für Speisen gelten soll, will sie nicht verstehen.

"Unser Lokal hat kein Speiseangebot. Diese Steuersenkung bringt Bars, Vinotheken und Kneipen gar nichts", sagt sie zornig. Die Wirtin ergänzt diplomatisch: "Ich fände es darum nur fair, wenn man bei Gastronomen, die keine Speisen anbieten, die Getränke fördert."

https://www.tag24.de/nachrichten/regionales/sachsen/weil-kneipen-nur-halbvoll-sein-duerfen-fuer-wirte-wirds-jetzt-doppelt-schwer-1518107

Erinnern versus Vergessen

1. Oktober 2020

drObs Oktober 2020


Ab Montag, 05.10.20 auf Dresdens Straßen und Plätzen: die Oktober-drObs.

Der goldene Herbst ist da – und unsere Oktober-Ausgabe zeigt sich ganz im Zeichen des Themas „Erinnern vs. Vergessen“. Vor 30 Jahren wurde aus zwei deutschen Staaten wieder ein vereintes Deutschland – ein Prozess, der bei vielen Menschen Narben hinterlassen hat. Narben, die nicht selten stärker wiegen als die offensichtlichen Verbesserungen, die die Wende gerade für die Menschen in Ostdeutschland brachte.

Heute zieht es nicht wenige wieder auf der Straße – unter dem alten Credo „Wir sind das Volk“, im Kampf gegen eine vermeintlich drohende oder längst wieder installierte Diktatur.

👉Wir haben Johanna Kalex, einst DDR-Jugendoppositionelle und Stasi-Opfer, heute Betreiberin der Neustadt-Bar „Trotzdem“, gefragt, wie sich die Vorstellung, wir lebten längst wieder in einem Polizeistaat ohne Grundrechte, für sie anfühlt und warum sie selbst eher enttäuscht ist vom Resultat der deutschen Wiedervereinigung. Haben wir vielleicht einfach nur vergessen, wie das war damals, in der Diktatur?

👉Unser zweites Titelthema widmet sich anlässlich des Welt-Alzheimertages am 21. September dem Thema Demenz. Die Diagnose trifft keineswegs nur Ältere, auch immer mehr Junge erkranken daran – mit häufig folgenschwererem Verlauf.

👉Wir schauen außerdem auf die bevorstehende Öffnung der Dresdner Nachtcafés ab 1. November unter erschwerten Bedingungen, die noch im April mehr als nur infrage stand: Damit die Cafés auch im Falle einer weiteren Zunahme des Corona-Infektionsgeschehens geöffnet bleiben können, werden dringend JUNGE HelferInnen gesucht!! Warum, erklärt euch Nachtcafé-Leiter Gerd Grabowski.

👉Last but not least wollen wir euch Marco vorstellen. Marco wuchs im rechtsradikalen Drogenmilieu von Heidenau auf, war Skinhead. Mit 14 wird er zu „lebenslanger“ Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt verurteilt. Zehn Jahre sitzt er ein, fast sechs davon zu Unrecht – bis er freikommt, weil eine Psychologin früheren Gutachten widerspricht. Nach dem völligen Absturz mit Drogensucht und Wohnungslosigkeit kriegt Marco mithilfe von Diakonie und Suchthilfe schließlich die Kurve. Seit drei Jahren ist er clean – und kämpft nun um eine bessere Zukunft für seinen 13-jährigen Sohn .


https://drobs-strassenzeitung.de/2020/10/01/erinnern-versus-vergessen/

Lieber Freund!

Friedensbewegung Vor 25 Jahren formierte sich in den Kirchen und auf den Straßen der Protest gegen die Aufrüstung in der DDR

Matthias Dell

Das Jahr 1982 ist lange her an diesem milden Februartag. Harald Bretschneider, Jahrgang 1942, sitzt in seinem Büro beim Landeskirchenamt Sachsen im Süden von Dresden. Sein Blick aus dem Erdgeschoss des respektablen Baus geht auf die benachbarte Lukaskirche, die in ihrer Baufälligkeit aus der Zeit gefallen scheint, versonnenes Gestern, geträumtes Morgen. In Bretschneiders Büro regiert das Jetzt, Akten stapeln sich auf dem Schreibtisch, füllen die Schränke. Zeit ist ein knappes Gut im Diktat des Terminplans. Bretschneider kommt von Staatssekretär und Minister, mit denen er vier Stunden gesprochen hat. Sein Fahrer lugt herein, morgen geht es in aller Frühe nach Wetzlar, danach Bonn, 50 Jahre Militärseelsorge, Bretschneider wird mit Angela Merkel sprechen.

Johanna Kalex, Jahrgang 1964, wohnt in einem Haus in der Neustadt, dem Ausgehviertel von Dresden. Im Parterre liegt die Kneipe, die sie betreibt. Im Treppenhaus begrüßt den Besucher der Geruch von kaltem Rauch und geleerten Bierflaschen. Oben in der Wohnung steht ein Tisch aus grobem Holz, die Wände sind farbig, die Einrichtungsgegenstände Erinnerungen an die Ferne, die Johanna Kalex in den neunziger Jahren länger bereist hat, Mittelamerika, Indien. Schwermütig liegt der altersschwache Hund auf dem Boden. Als Kneipenwirtin lebt man in einer anderen Zeit, der Morgen beginnt mittags, die Arbeit um 20 Uhr. Dann öffnet das Trotzdem im Erdgeschoss.

Vor 25 Jahren haben sich die Wege von Johanna Kalex und Harald Bretschneider zum ersten Mal getroffen, heute sind sie längst entwirrt. Was nicht heißt, dass es keine Kreuzungen mehr gibt, Berührungspunkte in der Sache, um die es damals ging und heute auch noch, irgendwie.

Im Februar 1982 begann die Friedensbewegung in der DDR sich zu formieren. Der "Berliner Appell" von Robert Havemann und Rainer Eppelmann war gerade in westdeutschen Zeitungen erschienen, die "Schwerter zu Pflugscharen"-Aufnäher noch nicht verboten. Für den 13. Februar, dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens 1945, hatte Johanna Kalex zu einer Demonstration aufgerufen. Weniger aus Kalkül für den Zeitgeist als aus einem Gefühl kindlicher Ernsthaftigkeit heraus. Johanna Kalex war damals 17, gehörte zu einer Gruppe von Jugendlichen, die im Umfeld von Junger Gemeinde, langhaarig und Parka tragend, an einem alternativen Entwurf eines besseren Lebens bastelte. Sie lasen Müll von den Elbwiesen auf, kümmerten sich um ältere Leute; und aus der Empfindung, für ihre Vorstellungen vom richtigen Leben mit Taten eintreten zu müssen, setzte sich die Krankenschwesternschülerin an die Schreibmaschine ihrer Eltern und tippte ein Flugblatt: "Lieber Freund!" Mit dem Aufruf zur schweigenden Versammlung am 13. Februar 1982 um 21.50 Uhr an der Ruine der Frauenkirche wollte die junge Frau ihrem Unmut Luft machen - über die einseitige Kritik an den Pershings des Westens durch die DDR, deren Regierung sie geplante Stationierung von Kurzstreckenwaffen im eigenen Land zuzulassen drohte und in der die Schule vormilitärische Übungen abhielt.

Tausende Menschen fanden sich schließlich zusammen zum "ersten großen und öffentlichen Treffen der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR", wie es auf der gut gemachten Internetseite jugendopposition.de heißt, die das Berliner Matthias-Domaschk-Archiv mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung vor drei Jahren eingerichtet hat. Die genaue Zahl der Teilnehmer ist unklar. In den Stasi-Akten ist von 400-500 Menschen die Rede. Dass es mehr waren, hat Johanna Kalex von Freunden erfahren. Sie selbst saß zum Zeitpunkt des von ihr initiierten Treffens zu Hause, sicherheitshalber. Die Geschichte von der stummen Demonstration war nicht mehr allein ihre Geschichte.

Die Staatssicherheit war auf Johanna Kalex schon aufmerksam geworden am Tag, als sie die ersten Flugblätter auf dem Bauernmarkt in Dresden verteilte. Das war im Oktober 1981. Schnell ermittelten die unsichtbaren Beobachter die Identität des ihnen unbekannten Mädchens. Es folgten Befragungen, Verhöre, die Notlüge von dem Anonymus, von dem sie das Flugblatt bekommen haben wollte, flog auf. Als der Druck zu groß wurde, wandte sich ein Freund von Johanna Kalex an Harald Bretschneider, damals Landesjugendpfarrer. Die Kirche schaltete sich ein, vom Landesjugendpfarrer über den Superintendenten bis zum Bischof, schließlich einigte man sich mit der SED-Bezirksleitung auf einen Kompromiss. Um eine öffentliche, freie Konfrontation mit dem Staat zu vermeiden, wurde zu einem Friedensforum in die Kreuzkirche geladen, Johanna Kalex und ihre Freunde durften an dem Programm mitwirken. Übervoll war die Kirche, 6.000 Menschen, schätzt Bretschneider heute, Westmedien protokollierten zum Teil hitzige Gespräche. Die Versammlung an der Frauenkirche fand trotzdem statt.

Johanna Kalex hat bis heute oft über ihren Aufruf gesprochen. Für sie war das nicht der "viehische Heldenakt", zu dem die Angelegenheit aus der Sicht von Historikern und Journalisten werden kann. Was andere Mut nennen, ist für sie nur: keine Angst. Eigentlich habe sie nie Angst gehabt, auch als Kind nicht, "mir wird schon nichts passieren." Die Gespräche, die in der Stasi-Akte protokolliert sind, etwa mit einem Lehrer der Schwesternschule, zeugen von dieser Selbstsicherheit. Aufrichtig und tapfer bleibt die junge Frau, wo der Lehrer scharf wird, anklagt, die Konterrevolution wittert, den Westen, einen größeren Zusammenhang. Das Gespräch ist, von heute aus betrachtet, ein Dokument der absurden Verhältnisse, geboren aus der Freund-Feind-Logik des SED-Staats. Dabei war Johanna Kalex nur eine Persönlichkeit, wie sie die DDR sich auf dem Papier vorgestellt hat.

In die Erinnerung an den 13. Februar 1982 mischt sich bei Johanna Kalex heute das Gefühl, um etwas betrogen worden sein. Die Diskussionen im Vorfeld liefen unter den Erwachsenen, für sie gab es "Anweisungen, wie ich mich verhalten sollte". Nach dem Auftritt in der Kreuzkirche, bei dem Johanna Kalex und ihre Freunde Warnzeichen hochhielten, wurde sie in einem kircheneigenen Auto nach Hause gefahren. Es blieb der Eindruck, die ganze Sache sei ihr aus der Hand genommen und auch ein bisschen verbogen worden. Das sagt Johanna Kalex nicht böse oder verbittert. Und sie sagt auch: "Natürlich haben die mir damals den Arsch gerettet." Aber wer keine Angst hat, will keinen Schutz.

"Hätten sie das alleine gemacht, wären sie weggefangen worden", sagt Harald Bretschneider über die Aktion von damals. Bretschneider hat sich immer als Dolmetscher der Jugendlichen verstanden, als jemand, der ihre Anliegen weitergab und mögliche Gefährdungen ausschloss. Das habe die junge Frau damals verstanden, "auch wenn Anett Ebischbach sich heute manchmal anders äußert." Wenn er von Johanna Kalex spricht, sagt Harald Bretschneider immer noch Anett Ebischbach. Ebischbach ist ihr Mädchenname, Anett der Name, den ihr die Eltern gegeben haben und der einem frühen Freund nicht gefiel, weshalb er sie fortan Johanna nannte und die anderen auch. Harald Bretschneider hat selbst oft genug erfahren, wie es ist, wenn die eigene Aktivität durch ablehnendes Wohlwollen gebremst wird. Das sei ihm, der schon als Pfarrer auf der Baustelle für einen friedlichen Staat gestritten hat, öfter so gegangen mit höheren Stellen in der Kirche: "Gute Idee, aber das können wir leider nicht machen."

Bei "Schwerter zu Pflugscharen" war das anders, da gab der Kirchensekretär Manfred Stolpe persönlich grünes Licht. Harald Bretschneider bereitete die erste Friedensdekade in der DDR im November 1980 und suchte nach einem Logo, wie man heute sagen würde. Bretschneider wusste schon immer um die Strahlkraft von Symbolen, zehn Jahre zuvor hatte er einen Ton-Bild-Vortrag unter dem Titel "Ohne kleine Leute keine großen Kriege" zusammengestellt. Das Logo für "Schwerter zu Pflugscharen" war geschickt gewählt. Es zeigte einen Mann, der ein Schwert umschmiedete - ein Kunstwerk des unverdächtigen, ja offiziellen sowjetischen Künstlers Jewgenij Wutschetitsch. Von ihm stammte das Ehrenmal in Berlin-Treptow und die riesige Statue Mutter Heimat ruft, die im früheren Stalingrad an die Kriegswende gegen Hitler-Deutschland erinnert. Zudem hatte die Sowjetunion die "Schwerter zu Pflugscharen"-Plastik der UNO geschenkt, und weil sich durch das Zitat aus dem Buch des Propheten Micha herstellen ließ, schien das Logo ideal: eine christliche Botschaft, die durch den Verweis auf den "großen Bruder" schwerlich als Provokation abgetan werden konnte.

Im ersten Jahr wurde das Logo nur als Lesezeichen produziert, für die Friedensdekade 1981 hatte Bretschneider, nachdem Jugendliche sich das Lesezeichen an ihre Jacken geheftet hatten, einen Aufnäher drucken lassen, auf Filz, weil dafür keine Genehmigung erforderlich war. Die hohe Popularität des Zeichens wirkte auch auf kirchenferne Menschen, so dass der Staat schließlich gegen die stilisierte Abbildung eines Denkmals vorging, das er zuvor in seinen eigenen Jugendweihebüchern verbreitet hatte. Die Kirchenleitung gab im Herbst 1982 trotz kontroverser Ansichten unter den Bischöfen und Pfarrern dem staatlichen Druck um des "Friedens willen" nach.

Das Jahr 1982 ist lange her an diesem milden Februartag, eine ferne Zeit, in der Geopolitik etwas Übersichtliches war, die im Feierabend der Gegenwart melancholisch stimmt. Was ist geblieben vom Engagement für den Frieden? "Ich bin Pazifist", sagt Harald Bretschneider, obwohl er von Helmut Schmidt persönlich erfahren durfte, dass dieser das Wettrüsten als einzigen Weg zum Zusammenbruch der Sowjetunion betrachtet hat. Schröders klares "Nein" zum Irak-Krieg habe ihm Bestätigung gegeben, meint Bretschneider und schaut durch das Fenster in seinem Büro zur Lukaskirche. Aber Schröders Friedensliebe ist seit der Kurnaz-Affäre eine zwiespältige Angelegenheit.

"Das hat sich auch gut angefühlt", sagt Johanna Kalex irgendwann über die damalige Zeit, die Wichtigkeit, die der mächtige Staat ihrem Blatt Papier beimaß, die große Wirkung, die man mit so wenig erreichen konnte. Johanna Kalex verspürt noch immer Wut über die laufenden Ungerechtigkeiten in der Welt oder auch nur in Dresden. "Krieg ist Scheiße, das klingt so oberflächlich, aber das würde ich immer noch sagen." Aber wie?

Die Instrumente des Protests haben sich abgenutzt, Gespräche, Aufruf, Demo. Und wenn ein paar hundert Leute kommen, ist es den Lokalnachrichten kaum eine Meldung wert. Nach Gorleben fährt sie noch jedes Jahr, mit ihrer Tochter, die sich gegen Atomkraft engagiert, was die Mutter freut. Klingt wie Widerstands-Tourismus, aber so würde Johanna Kalex das nicht sagen, auch wenn sie ihre Ratlosigkeit nicht verbirgt. "Vor sechs, sieben Jahren waren wir noch sicher, den Castor aufhalten zu können." Heute lässt man sich wegtragen oder wegprügeln. "Das ist nur noch symbolisch", meint Johanna Kalex, und man merkt, wie unbefriedigend die tätige Frau diese Erkenntnis findet.

Robert-Havemann-Gesellschaft

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ROBERT-HAVEMANN-GESELLSCHAFT

Berlin 2006

Findbuch zum

Bestand

DDR-Opposition

bis 1989

bearbeitet von Anne-Dorothee Vogel

Überarbeitete Auflage von 2016

Dieses Findbuch ist Ergebnis eines Erschließungsprojektes, das durch die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und den Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR des Landes Berlin finanziert wurde.

Robert-Havemann-Gesellschaft e.V.

Schliemannstraße 23

10437 Berlin

www.havemann-gesellschaft.de

Bestandsverzeichnis

1. Oppositionelle Gruppen 1

1.1. Regionale Gruppen 1

1.1.4. Sachsen 16

S. 18: 55: RG/S 02/01

1984 - 1994

Oppositionsgruppen in Dresden (1)

Unterlagen von verschiedenen Dresdner Gruppen:

1. Ökumenischer Friedenskreis Dresden-Johannstadt

2. Autonomer Kreis "Wolfspelz", darunter:

  • - Notizheft von Johanna Kalex, o. D. [vermutl. 1984], [Kopie],
  • - Initiative für Volksentscheid - Deutschland ohne Armee, o. D.,
  • - Brief von J. Kalex an Christian Siegert, Betreff: Treffen in der Umwelt-Bibliothek Berlin, o. D. [vermutl. 1994];

3. Autonomer Kreis "PAX":


S. 19: 56: RG/S 02/02

1984 - 1989

Oppositionsgruppen in Dresden (2)

Unterlagen von verschiedenen Dresdner Gruppen:

1. Gruppe der "20" Dresden/Arbeitsgruppe Entmilitarisierung, darunter:

2. Ökologischer Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke, darunter:

3. Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer Dresden: Arbeitsmaterial zur Wehrdienstverweigerung, o. D.;

4. Friedensbibliothek Dresden: Selbstdarstellung, 1988;

5. Arbeitsgemeinschaft Frieden bei den Dresdner Kirchenbezirken über das Ev.-Luth.

Jugendpfarramt Dresden: Stellungnahme von Dresdner Basisgruppen zur gegenwärtigen Ausreisewelle, 13.9.1989

https://www.havemann-gesellschaft.de/fileadmin/robert-havemann-gesellschaft/archiv/oppositon_bis_89/Opposition_Fb.fb.pdf

Jugendopposition

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Dresden, Winter 1982. Angeregt durch ein Vorbild aus Polen, ruft Johanna Kalex mit 17 Jahren zu einer Friedensdemonstration an der Ruine der Dresdner Frauenkirche auf. Sie entwirft ein Flugblatt, auf dem steht, man möge sich am 13. Februar 1982 an der Frauenkirche versammeln und ein Kreuz aus Kerzen aufstellen. Uhrzeit: zehn Minuten vor 22 Uhr, dem Beginn der Bombenangriffe von 1945. Pikant: Am selben Tag gibt es bereits eine hoch offizielle staatliche Kundgebung. Johanna Kalex ruft die Gegenveranstaltung nicht nur zum Gedenken an die Bombardierung Dresdens ins Leben, sondern auch aus Protest gegen die Aufrüstung. Sie und eine Freundin lassen heimlich mehrere Tausend Exemplare des Aufrufs in der Druckerei der Sächsischen Zeitung herstellen und verteilen die Flugblätter in Dresden.

Das alles bleibt der Staatssicherheit nicht verborgen. Johanna Kalex wird noch vor der geplanten Demonstration festgenommen und unter massivem Druck verhört. Man droht der nun 18-Jährigen mit elf Jahren Haft. Hilfe bekommt sie vom Landesjugendpfarrer Harald Bretschneider und vom Superintendenten Christoph Ziemer, die sich schützend vor sie stellen und mit Stasi und SED verhandeln. Ihr würde nichts passieren, sagt man ihr, wenn es am 13. Februar 1982 zu keiner Konfrontation zwischen Demonstranten und Polizei käme.

An diesem Tag organisiert die Kirchenleitung in der Dresdner Kreuzkirche ein Friedensforum, um so die Leute von der Frauenkirche fernzuhalten und den offenen Konflikt mit der Staatsmacht zu verhindern. Johanna Kalex und ihre Freunde werden in dessen Gestaltung einbezogen, dürfen aber nichts Wesentliches mitbestimmen. Trotz der Gegenmaßnahmen der Kirche folgen rund 8.000 Menschen aus der ganzen DDR dem Aufruf von Johanna Kalex, pilgern zur Frauenkirche und schmücken die Ruine mit Blumen und Kerzen. Selbst die Westmedien sind da und berichten von diesem ersten großen und öffentlichen Treffen der Friedensbewegung in der DDR.

Johanna Kalex selbst kann nur die Berichte im Deutschlandfunk hören, denn Freunde fahren sie zu ihrem Schutz direkt von der Kreuzkirche nach Hause zu ihren Eltern. Mit einer derartigen Resonanz ihres Aufrufs hat sie nicht gerechnet; selbst 200 Demonstranten wären ihr schon viel vorgekommen.

Auch danach bleibt die Gruppe um Johanna Kalex eine der aktivsten in der DDR-Opposition. Sie organisiert eigenständig Friedenswerkstätten und vertritt radikale pazifistische Positionen, die sich kaum mit der gemäßigten kirchlichen Friedensarbeit vertragen. Die Aktivisten werfen den Kirchenleuten zu große Kompromissbereitschaft gegenüber dem SED-Regime vor.

Nachdem Bischof Johannes Hempel die Aktivisten im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Linie der Kirche als „Schafe im Wolfspelz“ bezeichnet hat, nennt sich die Gruppe fortan Wolfspelz. Wolfspelz hält Kontakte zu anderen Oppositionsgruppen in der DDR, aber auch in Polen und der CSSR (Charta 77).


Biografische Angaben zu Johanna Kalex finden sie im Personenlexikon. Zitierempfehlung: „Johanna Kalex“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145513

https://www.jugendopposition.de/zeitzeugen/145513/johanna-kalex


Biografie Johanna Kalex

DDR-Opposition

geb. am 8. Juli 1964 in Dresden als Annette Ebischbach

Sie wächst als Einzelkind in gutbürgerlichen Verhältnissen mit Reit- und Gitarrenunterricht auf. Den Namen Johanna erhält sie von ihren Freunden in der Dresdner Hippieszene, die sie mit 13 Jahren kennenlernt. Sie besucht die Schule bis zur zehnten Klasse und verweigert den Wehrkundeunterricht. Mit zwei Mitschülern geht sie regelmäßig zur Jungen Gemeinde bei Pfarrer Zeitz und lässt sich mit 14 Jahren taufen.

1981

beginnt sie ein Studium zur Unterstufenlehrerin, wird jedoch nach sechs Wochen exmatrikuliert. Unter anderem, weil sie Informationsmaterial über den Sozialen Friedensdienst verteilt, öffentlich ihr FDJ-Hemd verbrennt und die vormilitärische Ausbildung verweigert. Sie arbeitet als Putzhilfe im Krankenhaus und beginnt eine Ausbildung zur Krankenschwester.

1982

initiiert Johanna Kalex als 17-Jährige den Aufruf zur Friedensdemonstration an der Ruine der Dresdner Frauenkirche zum 13. Februar, dem circa 8.000 Menschen aus der ganzen DDR folgen. Im selben Jahr heiratet sie Roman Kalex. Die beiden bekommen vier Kinder. Die Traurede arbeiten beide mit aus. Sie wird ein Plädoyer für Totalverweigerung und Friedensarbeit.

1985

konstituieren Johanna und Roman Kalex die unabhängige Gruppe Wolfspelz in Dresden. Sie ist anarchistisch orientiert und agiert unabhängig von der Kirche. Wolfspelz beteiligt sich an Friedenswerkstätten, führt Flugblatt- und Plakataktionen durch und wird Teil eines Oppositionsnetzwerks. Hierzu gehören auch die Umwelt-Bibliothek Berlin, die Leipziger Gruppen und die Charta 77 in der Tschechoslowakei.

1989/90

weiterhin mit Wolfspelz v.a. gegen Neonazis aktiv

1992/93

verlässt sie Deutschland nach einem Überfall von Neonazis in ihrer Wohnung und lebt mit ihrem Mann in der Dominikanischen Republik. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland lassen sich Johanna und Roman Kalex scheiden.

Heute

Besitzerin der Szenekneipe Trotzdem in der Dresdner Neustadt

https://www.jugendopposition.de/lexikon/personen/148255/biografie-johanna-kalex


Harald Bretschneider Theologe

geboren am 30. Juli 1942 in Dresden

1960 Abitur in Döbeln

1960-1965 Studium der Theologie an der Karl-Marx-Universität Leipzig

1965-1966 Hilfsarbeiter auf verschiedenen Großbaustellen, Berufsabschluss als Zimmerer beim Baukombinat Magdeburg

1966-1967 Bausoldat bei der Nationalen Volksarmee, erste Bemühungen um den Einsatz von Bausoldaten in zivilen Bereichen

1969 Predigerseminar in Leipzig

1969-1970 Beteiligung an der Herstellung der Tonbildserie „Ohne kleine Leute keine großen Kriege“

1969-1979 Vikar und Pfarrer in Wittgensdorf bei Zittau, einer der wichtigsten Inspiratoren und Initiatoren kirchlicher Friedensarbeit

1979-1991 Landesjugendpfarrer für Sachsen in Dresden, Gründungsinitiator verschiedener kirchlicher Friedenskreise und Organisation von Gruppentreffen in Karl-Marx-Stadt, Schöpfer der Symbole „Schwerter zu Pflugscharen“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“

seit Anfang der 80er Jahre Berater für Wehrdienstverweigerer und Inhaftierte, später auch für Ausreisewillige

1982 Initiator des Forums Frieden mit der Jugend, 6.000 Menschen nehmen am 13. Februar 1982 in Dresden teil

1985 Konflikt mit der Kirchenleitung nach der Thematisierung der Frage nach dem Machtmonopol der SED

seit 1987 Beteiligung an den Vorbereitungen der jährlichen DDR-weiten Treffen kirchlicher Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen im Rahmen des Netzwerkes „Frieden konkret“, Mitarbeit an der Konzipierung eines Zivildienstes

Herbst 1989 Betreuung inhaftierter Demonstranten, Mitarbeit in der „Gruppe der 20“

1991 bis 1997 Leiter der Stadtmission Dresden

1996 bis 2007 Oberlandeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen

2004 Sächsische Verfassungsmedaille

2011 Martin-Luther-Medaille

2012 Bundesverdienstkreuz 1. Klasse

Quellen:

- Müller-EnbergsWielgohs/Hoffmann, Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Ch. Links Verlag, Berlin 2000

- Hans-Joachim Veen (Hg.), Lexikon. Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Propyläen Verlag, Berlin, München 2000

https://www.jugendopposition.de/lexikon/personen/148020/harald-bretschneider


Christoph Ziemer

Theologe

geboren am 28. August 1941 in Gollnow, Pommern

1960-1965

Studium der evangelischen Theologie

1965-1967

Konviktsinspektor am Sprachenkonvikt in Halle/Saale, Vikariat in Leipzig

1967-1972

Pfarrer in Pirna, Sachsen

1972-1974

Studieninspektor am Predigerseminar in Lückendorf bei Zittau

1974-1980

Leiter der Theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK)

1980-1992

Pfarrer der Kreuzkirche und Superintendent in Dresden-Mitte

1988/1989

Vorsitzender des Präsidiums der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR

1989

Juli: fordert auf dem Leipziger Kirchentag „Zivilcourage auch gegen Staat und Kirche“, September: spricht sich in der Leipziger Nikolaikirche für eine „Suchbewegung zur Umgestaltung des Sozialismus“ aus

1992

Direktor der Evangelischen Akademie in Meißen

1992

Ausscheiden aus dem kirchlichen Dienst, anschließend ein Jahr im kroatischen Osijek

ab 1993

Berlin, Flüchtlingsarbeit

seit 1997

Interreligiöse Friedensarbeit in Sarajewo, Bosnien und Herzegowina

seit 1999

Direktor der Vereinigung für interreligiöse Friedensarbeit ABRAHAM in Sarajewo

2003

Ehrenbürger der Stadt Dresden

Quellen:

- Müller-Enbergs/Wielgohs/Hoffmann, Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Ch. Links Verlag, Berlin 2000

- Hans-Joachim Veen (Hg.), Lexikon. Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Propyläen Verlag, Berlin, München 2000

https://www.jugendopposition.de/lexikon/personen/148155/christoph-ziemer


Johannes Hempel

Evangelischer Bischof

geboren am 23.03.1929 in Zittau

1947

Abitur

1947-1950

Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie, Theologie in Tübingen, Heidelberg, Berlin und Leipzig

1955-1958

Hilfsgeistlicher und Gemeindepfarrer in Gersdorf

1956

Ordination

1958-1963

Pfarrer an der Thomas-Kirche in Leipzig, Studieninspektor

1960

Promotion

1963-1971

Studentenpfarrer in Leipzig

1967-1971

Studiendirektor am Leipziger Predigerkolleg St. Pauli

1971

Wahl zum Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen

1973-1977

Stellvertretender Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung der DDR

ab 1975

Mitglied des Zentral- und Exekutivausschusses des Ökumenischen Rats der Kirchen

1983-1991

Präsident des Rates

1985

Februar: Treffen mit Erich Honecker in Dresden, Unterstützung der Forderung kirchlicher Friedensgruppen nach Anerkennung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung und Einführung eines sozialen Friedensdienstes

1990

Mitautor der „Locumer Erklärung“ mit dem Plädoyer für eine baldige Herstellung der Einheit der evangelischen Kirchen in Deutschland

1991

Stellvertretender Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirchen Deutschlands

Quelle:

Müller-Enbergs/Wielgohs/Hoffmann, Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Ch. Links Verlag, Berlin 2000

https://www.jugendopposition.de/lexikon/personen/148071/johannes-hempel

Telegraph

Bearbeiten

11.02.2013 00:01 Uhr

Heft 4 1992, S. 16-25

Wie das stille Gedenken entstand

1982 setzten ein paar junge Dresdner unter vielen Schwierigkeiten einen Wunsch in die Tat um: Sie wollten am 13. Februar ein alternatives Friedenszeichen setzen.


Von Claudia Jerzak

Vielen gilt das „Stille Gedenken“ heute als die ursprüngliche und originäre Art und Weise, wie sich „die Dresdner“ an die Bombenangriffen vom 13. Februar 1945 öffentlich erinnern. Tatsächlich hat sich diese Form des Gedenkens erst spät entwickelt. Die Initiative entsprang der Idee einiger junger Dresdner, die sie 1982 in die Tat umsetzten. Zuvor war es auch um jene staatlich organisierten und politisch aufgeladenen Großkundgebungen stiller geworden, die schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs alljährlich organisiert worden waren. Nach einer relativen „Ruhephase“ der Erinnerungskultur in den Sechzigern und Siebzigern gedachte man dem 13. Februar mit verschiedenen Einzel-Aktionen wie der Kranzniederlegung auf dem Heidefriedhof, einer Kundgebung am Altmarkt oder dem Glockengeläut. Erst Anfang der Achtziger wurde das Dresdner Gedenken an die Bombardierungen durch eine pazifistische Initiative wiederbelebt.


1982 fand in der Kreuzkirche das erste Friedensforum zum 13. Februar statt. Danach zogen viele Teilnehmer zur Frauenkirche, um dort in Stille zu gedenken. Foto: Hartmut Häckel/epd 1982 fand in der Kreuzkirche das erste Friedensforum zum 13. Februar statt. Danach zogen viele Teilnehmer zur Frauenkirche, um dort in Stille zu gedenken. Foto: Hartmut Häckel/epd 1981 entstand ein loser Zusammenhang von Jugendlichen in Jungen Gemeinden und der Hippie-Bewegung. Sie trafen sich in der Innenstadt auf der Einkaufsmeile Prager Straße oder in Cafés wie der Mokkastube. Einige von ihnen – Johanna Kalex, Torsten Schenk, Oliver Kloß, Nils Reifenstein und Mac Scholz – hatten das Bedürfnis, am kommenden 13. Februar auf eigene Weise ihren „Wunsch nach Frieden auszudrücken“. Dieser Wunsch stand im Zusammenhang mit dem weltweiten Aufschwung der Friedensbewegung seit 1977. Zum einen wurde damals bekannt, dass die USA an der Entwicklung einer Neutronenbombe arbeiteten. Zudem sollten als Reaktion auf die Stationierung sowjetischer Raketen laut Nato-Doppelbeschluss von 1979 atomare US-amerikanische Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Europa aufgestellt werden. Es gab die Befürchtung, die USA würden ihre politischen Interessen in einem Atomkrieg in Europa verteidigen. Hinzu kam, dass die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte.

Mit-Organisatorin Johanna Kalex wollte mit der geplanten Aktion ihrer Überzeugung Ausdruck verleihen: „Wenn man für den Frieden ist, darf man keinen Krieg anfangen.“ Das auf Basis der dimitroff’schen Faschismus-Theorie propagierte und seit Ende der Vierziger im Dresdner Gedenken präsente anti-imperialistische Selbstverständnis der DDR als „Friedensstaat“ sah sie konterkariert durch diese Aufrüstungsmaßnahmen in den Ost- ebenso wie den Westblockstaaten. Kalex bezweifelte auch die verkürzte Darstellung des Kalten Krieges nach dem Motto „Wir werden angegriffen, wir sind bloß die Guten“.

Nicht nur dagegen wollten die jungen Dresdner Stellung beziehen. Der später hinzugekommene Roman Kalex etwa hatte vor Augen, „wie unwidersprochen unsere Eltern und Großeltern ihren nationalsozialistischen Alltag gelebt haben“. Deshalb sollte an erster Stelle der Aktion eine Mahnung stehen, die gegenüber den typischen Unwissenheits- und Unschuldsbehauptungen auf die Bombardierungen verwies. Dieses Geschichtsbild war auch nationalismuskritisch. Kalex wollte verdeutlichen, er stünde „für so einen Krieg nicht zur Verfügung“. „Wir haben nicht diese Beziehung zu einem Vaterland, (...) für das wir gern irgendwas tun würden. Und wir fanden das so überhaupt nicht sexy, die Idee, dass unser bis dahin ja noch relativ kurzes Leben beendet werden soll von ein paar Leuten, die der Meinung sind, ihre Vaterländer gegeneinander verteidigen zu lassen.“

Um die Konsequenzen militärischer Auseinandersetzungen aufzuzeigen, bot sich die zerstörte Stadt Dresden geradezu an. Noch immer war der Krieg sichtbar in unzähligen Ruinen, vor allem an der Frauenkirche, die bereits 1966 zum Mahnmal deklariert worden war. Nicht nur DDR-weit war sie zum Symbol geworden, unter anderem für die Folgen eines durch „externe“ NS-Täter initiierten Eroberungskrieges. Auf diese Deutung bezog sich der Friedenskreis ebenso wie auf die lokale Bedeutung des 13. Februar als Gedenk- und Anti-Kriegstag. Selbst in der später verfassten Stasi-Akte zu jener Aktion heißt es, einer der Initiatoren bemängele, „wie viele Dresdner dieses Datum bereits vergessen haben“.

So verfasste Johanna Kalex im Oktober 1981 auf ihrer Schreibmaschine zwölf Flugblätter. Binnen weniger Stunden kopierten viele andere Menschen diese Handzettel und verteilten sie. In den nächsten Tagen stellte Elke Schanz illegal mehrere Tausend Stück davon in der Druckerei der Sächsischen Zeitung her. Die Initiative kam innerhalb der „Späthippieszene“ in Dresden und in der DDR gut an; die Aufrufe verbreiteten sich zwischen Oktober 1981 und Februar 1982 republikweit.

Im Flugblatt beschrieben die Initiatoren den geplanten Ablauf so: „– 21.50 Uhr Treffen wir uns alle an der Frauenkirche, jeder bringt Blumen und eine Kerze mit (…), 22.00 Uhr läuten die Glocken, danach warten wir etwa 2 min und singen dann ,We shall overcome‘. Das Ganze läuft in absoluter Ruhe ab. Es wird nicht gesprochen.“

Doch bald wurde klar, dass auch die Staatssicherheit von der Aktion Wind bekommen haben musste. Den Jugendlichen war klar, dass sie mit ihrem Vorhaben auch die politische Deutungshoheit der SED um Aufrüstung und Militarisierung gravierend infrage stellen würden. Um staatliche Repression wegen „pazifistischer, systemfeindlicher Hetze“ zu vermeiden, akzeptierten sie schließlich das Angebot der Evangelischen Kirche, die Kundgebung nicht vor der Frauenkirche abzuhalten, sondern sie in die Kreuzkirche zu verlegen.

Bereits 1980 hatte der damalige Superintendent des Kirchenbezirks Dresden-Mitte, Christof Ziemer, die Genehmigung eines öffentlichen Gedenkgottesdienstes an der Ruine der Frauenkirche beantragt. Anlass gaben ihm die seit 1980 stattfindenden Friedensdekaden mit ihrer Forderung nach vollständiger Entmilitarisierung beider deutscher Staaten und die damit verbundene Symbolik von Schwerter zu Pflugscharen. Nun nahm die Kirche das Anliegen der Jugendlichen auf und wollte es im Rahmen eines „Friedensforums“ verwirklichen.

So kamen am 13. Februar 1982 in die Kreuzkirche rund 5 000 Menschen. Kirchliche Amtsträger positionierten sich zu anonym auf Zetteln eingereichten Fragen zum Sozialen Friedensdienst, zu Rainer Eppelmanns Festnahme nach seinem Berliner Appell bis hin zur „Möglichkeit eines gewaltlosen Widerstandes“. Gegen 21.45 Uhr, so die Stasi, endete das Friedensforum. Dann aber gingen viele Teilnehmer doch zum Neumarkt. Die Stasi notierte: „Ca. 400–500 Jugendliche, vorwiegend im Alter von 15–18 Jahren, trafen sich in Gruppen und Grüppchen an der Ruine der Frauenkirche, wobei der Bewegungsablauf diszipliniert von statten ging und keine Organisationsformen erkennbar waren. Durch die Jugendlichen wurden bis ca. 50 Kerzen angezündet.“ Bis 23 Uhr wurden Blumen niedergelegt, man sang „We shall overcome“ und „Sag mir, wo die Blumen sind“ und stellte ein Kreuz aus Kistenbrettern auf mit der Schrift „35 000 Tote – warum“. Dann löste sich die Veranstaltung auf.

Als sich die öffentliche Aktion im Folgejahr wiederholte, nahmen die Initiatoren des ursprünglichen Friedenskreises und des ersten Stillen Gedenkens selbst nicht mehr daran teil. Stattdessen thematisierten sie deutsche Schuld im Zweiten Weltkrieg und Nationalsozialismus 1985 in der Ausstellung „... oder Dresden“. Damit reagierten sie auf den schon zu DDR-Zeiten wieder erwachenden Nationalismus. Wenig später wurden Skinheadgruppen Teil des Straßenbildes, fielen Migranten und Linke ihren Überfällen zum Opfer

Im Rückblick auf die erste Aktion eines Stillen Gedenkens 1982 wird auch deutlich, dass die Frauenkirche in der DDR sowohl ein Raum des Protestes als auch des Gedenkens war. Die Symbolik des Stillen Gedenkens setzte sich zusammen aus Bezügen zur Friedens- und Bürgerrechtsbewegung und christlicher Zeichensetzung. Doch die zeitlichen und politischen Rahmendingungen, die die Protestaktion 1982 begründet und legitimiert hatten, blieben und bleiben in den Diskussionen über das öffentliche Erinnern an den 13. Februar 1945 weitgehend unberücksichtigt. So wurde auch nicht klar, dass selbst die pazifistischen Botschaften des Gedenkens im vereinten Deutschland zumeist ein Bild der zerstörten Stadt als Opfer prägten. Dieses reine „Opfer-Bild“ wurde in den Neunzigern anschlussfähig für Gruppen aus dem extrem rechten Spektrum, die den 13. Februar seither für ihre revanchistische Propaganda nutzen.

Mit den geschichtspolitischen Deutungskämpfen, die ab 1989 wieder aufflammten, nahm auch der Gedenk-Raum Frauenkirche noch an Bedeutung zu. Helmut Kohl schwor dort 1989 Friedensengagement und Besinnung auf deutsche Geschichte. Die Initiative für den Wiederaufbau der Kirche griff dies in ihrem „Ruf aus Dresden“ unmittelbar auf. Dennoch wurde die Friedensbotschaft seither weit weniger hörbar im Dresdner Gedenken, denn gleichzeitig mit dem Wiederaufbau der Frauenkirche wurde sie durch den Versöhnungsbegriff abgelöst.

Nicht nur die Historikerin und Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Dresdens, Nora Goldenbogen, ist gegenüber diesem Versöhnungsbegriff skeptisch: „Bei uns ist etwas anderes wichtig. Nicht, dass du dich mit anderen versöhnst, sondern dass die anderen sich mit dir versöhnen. Anders gesagt: Dass du dich für Versöhnung einsetzt, indem du darüber nachdenkst, was du selber falsch gemacht hast, im Großen wie im Kleinen.“



https://www.saechsische.de/plus/wie-das-stille-gedenken-entstand-2505586.html


https://www.dnn.de/Dresden/Lokales/Klassenkampf-in-linker-Szenekneipe-das-Trotzdem-in-der-Neustadt-wird-bestreikt


„Schafe im Wolfspelz“ Teil 1

aus telegraph 4/1992

Zum (damals) zehnjährigen Bestehen des Anarchistischen Arbeitskreises Wolfspelz in Dresden

Seit 1982 besteht in Dresden die Gruppe, die sich seit einigen Jahren „Anarchistischer Arbeitskreis Wolfspelz“ nennt. Ein Teil des Kreises wird jetzt für einige Zeit eine Ökoprojekt in der Dominikanischen Republik machen. Weil sie nicht mehr an Perspektiven in Deutschland glauben und weil die Dresdener Nazis bei permanenten Überfällen auch vor dem Zusammenschlagen der Kinder der Wolfspelz-Leute nicht mehr zurückschrecken. Wir sprachen mit Johanna und Roman Kalex, die seit 1982 dabei waren, über Geschichte und Erfahrungen des Kreises.

telegraph: Wann fing es eigentlich mit Wolfspelz an? Ich habe gehört, daß das 1982 war, mit dem Aufruf für einen Gedenktag an die Zerstörung Dresdens.

Johanna: Nein, Wolfspelz gab es damals noch nicht, aber es begann schon 1981. Es gab eine Hippieszene in Dresden, der ich mich zugehörig fühlte. Ein Freund war in Polen bei einer Wallfahrt der katholischen Kirche. In Krakau wurde auf dem Domplatz aus Kerzen ein riesengroßes Kreuz gebildet.

Dazu gab es ein stilles Friedensgebet. Er war sehr beeindruckend, und wir haben dar­ über geredet. Ich habe gedacht, daß wir so etwas auch einmal machen müssen, bin nach Hause gegangen, habe mich an die Schreibmaschine gesetzt und einen Aufruf geschrieben. Erst einmal mit zwei Durchschlägen 12 Stück. Ich bin mit meinem Henkelkörbchen losgegangen und habe sie bis auf einen verteilt. Dann erst bin ich zu meinen Freunden gegangen und habe ihnen das Papier gezeigt. Die fanden es gut und meinten, wir müßten noch mehr Abzüge machen. Ich bin zurückgefahren und habe vier bis fünf Stunden später von jemandem schon einen Aufruf gekriegt, den ich nicht selbst abgeschrieben hatte. Dann haben wir alle wie die Weltmeister mit Zweifingersuchsystem den Aufruf abgeschrieben. Eine Freundin arbeitete bei der „Sächsischen Zeitung“ und hat auf der Druckmaschine heimlich 20.000 Stück gedruckt.

Johanna und Roman Kalex, Quelle: telegraph 4/1992

Roman: Dann war da noch ein Rotbart aus Westberlin. Der hatte versprochen, ein paar Abzüge zu machen und kam über den Check Point mit ein paar tausend Stück. Die Flugblätter wurden überall verteilt. Ich erinnere mich, daß ich auch welche aus dem Zug geworfen habe. Es ist sehr breit verteilt worden und war vor allem in der damaligen Hippieszene in der ganzen DDR im Gespräch. Es gab eigentlich niemanden, der nicht davon wußte. Alle fanden den Aufruf gut, und sehr bald interessierte sich die Staatssicherheit dafür.

Johanna: Es gab Verhöre für mich, denn ich hatte die Flugblätter auf dem Bauernmarkt verteilt. Ich hatte einen knallbunten Rock an, eine weiße Bluse, tausend Ketten, Stirnband; im Henkelkörbchen hatte ich die Flugis. Ich bin dort herumgerannt wie ein Pfingstochse, habe die Flugblätter verteilt und habe mich von allen Seiten fotografieren lassen. Da gab es ein Foto, auf dem ich einen bärtigen Biertrinker im Arm hatte und auf der anderen Seite das Flugblatt.

Ich wurde erst einmal als Verteiler der Flugblätter vorgeladen und verhört. Aber die Szene hat da ziemlich gut funktioniert. Wir haben ausgemacht, daß wir eine Personenbeschreibung von einem Menschen geben, der uns das Flugblatt gegeben hat. Wir haben einen Typen um die Zwanzig mit langen blonden Haaren und Studentenkutte erfunden. Bei einer solchen Beschreibung kamen zwölf auf ein Dutzend. Die Stasi hat mir hunderte Fotos vorgelegt, die ich zum Teil aus der Tramp-Szene kannte, zum Teil auch nicht. Ich habe den natürlich nie identifizieren können.

Die Sache wurde für mich dann langsam ziemlich heiß. Ich wurde von Leuten unter Druck gesetzt, irgendwelche Morddrohungen kamen. Während einer Disco kam jemand auf mich zu und sagte, er hätte den Auftrag, mich umzubringen. Ich weiß nicht, wer er war, ob er tatsächlich zur Stasi gehörte oder irgendein Sadist war. Dieser Tag, der 21. Oktober 1981, war mein Unglückstag. Ich habe mich dann von Freunden zur Straßenbahn begleiten lassen, weil mir das ein bißchen unheimlich vorkam. Ich bin nach Hause gefahren und die Bertelstraße heruntergegangen. Plötzlich gab es zwei Einschläge neben mir an einem Auto. Ich habe mich umgesehen und da saß in einem erleuchteten Fenster jemand mit einer Knarre. Ich bin weggerannt. Dann hat mich beinahe noch ein Auto überfahren. Das kann aber an meiner Hektik gelegen haben. Ich bin völlig in Panik verfallen.

Ein paar Tage später kam dieser Typ, der gedroht hatte, mich zu ermorden, auch wieder auf dieser Bertelsstraße an. Er hat gesagt, ich soll auf sein Motorrad aufsteigen. Ich bin aufgestiegen, warum weiß ich nicht, vielleicht aus Neugier. Er fuhr in die Südstadt in eine Laubenkolonie. In einer Holzlaube hat er ein Brett auf dem Boden hochgehoben und mich in den Keller geschoben. Dort standen Kisten. Er begann plötzlich herumzuheulen. Die DDR würde Rauschgift in den Westen schmuggeln, in den Kisten sei Opium. Weil ich das jetzt wüßte, würde er mich und sich umbringen. Er hat die Leiter nach oben geschoben, damit ich nicht mehr nach oben kann. Danach hat er mich vergewaltigt und mich völlig zusammengeschlagen. Ich habe mich nicht gewehrt, sondern nur herumgeheult. Dann fing er an, sich aufhängen zu wollen, dann lachte er plötzlich hysterisch, hat die Leiter wieder heruntergeholt und hat mich dort liegen lassen.

Ich habe ihn später mal mit einem Bekannten zusammen gesehen und der sagte mir, er wäre Fallschirmjäger und hieße Ingo Behrends.

Ich habe mich dann in so eine Stasihysterie hineingesteigert, bin nur noch in gebückter Haltung unter dem Fenster entlang gekrochen und habe meine Eltern und meine Freunde verrückt gemacht.

telegraph: Und in dieser Situation bist du dann bei der Kirche gelandet.

Johanna: Ich hatte mal wieder eine Vorladung zur Stasi. Da meinte ein Freund, der Ekki Möller, ich soll mit ihm zum Landesjugendpfarrer gehen, weil es so nicht weitergeht. Ich habe Brettschneider alles erzählt. Er ist aus allen Wolken gefallen und hat eine Reihe von Leuten per Telefon und Auto herangeholt. Pfarrer Altus war dabei, der Superintendent Ziemer und Kirchenpräsident Domsch. Ich mußte alles noch einmal erzählen, und sie sagten, daß sie sehr stolz auf mich sind und mir jetzt unbedingt helfen wollten. Ich weiß nicht, ob schon an diesem Abend verhandelt wurde, wie man mich aus der Affäre zieht. Auf jeden Fall haben sie· Verhandlungen m t dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Gysi, und mit dem Bezirksparteichef Modrow geführt. Sie verhandelten dann mit meinen Eltern über meinen Kopf hinweg.

Es gab wieder Stasiverhöre und ich habe mich dazu bekannt, das Flugblatt verfaßt zu haben. Das war mir empfohlen worden. Ich habe natürlich trotzdem versucht, alles abzuwiegeln und die Anzahl der Flugblätter herabgedrückt. Als ich nicht da war, fand eine Haussuchung bei meinen Eltern statt. Es war total hektisch, weil dann meine Eltern durchgedreht sind. Es gab immer wieder Verhöre.

Irgendjemand hatte ausgerechnet, daß das für 11 Jahre Knast reicht. Entweder waren die Kirchenoberen selbst in Hektik, oder sie haben es geschafft, mich weiter in Hektik hineinzutreiben. Ich sollte mich ver­ stecken, bin mit Kirchenautos zur Arbeit gefahren und wieder abgeholt worden, damit ich nicht auf der Straße herumlaufe. Zwischendurch habe ich während eines Verhörs unterzeichnet, daß ich jetzt den § 48 (Gaststättenverbot und Arbeitsplatzbindung) habe, nicht aus dem Bezirk Dresden herausdarf und mich beim Abschnittsbevollmächtigten der Polizei regelmäßig melden muß. Das war eigentlich rechtlich gar nicht möglich. Den § 48 hätte man mir erst im Gefolge einer Gerichtsverhandlung geben können. Es ist aber trotzdem praktiziert worden. Als ich zwischendurch eine Woche in Berlin war, haben sie mich erwischt und mit einem Bullenauto nach Dresden gefahren, nachdem ich in einem Weißenseer Polizeirevier ziemlich schlimm behandelt worden war.

telegraph: Du warst offenbar für beide Seiten zum Symbol geworden.

Johanna: Ich hätte nie gedacht, daß das Flugblatt solche Reaktionen auslöst. Ich nahm an, daß vielleicht 200 Leute kommen und danach Ruhe ist. Ich war völlig über­ fordert. Die Sache hatte nichts mit Mut zu tun. Ich bin da hineingerutscht, ohne die Folgen abschätzen zu können.

„telegraph“: Wie lief dann die Vorbereitung für den 13. Februar 1982?

Johanna: Irgendwann hatten sich die Kirchenoberen mit Gysi und Modrow darauf geeinigt, daß mir dann nichts passiert, wenn die Kirche für die Veranstaltung verantwortlich zeichnet, das Ganze in der Kreuz kirche stattfindet statt vor der Frauenkirche und nichts passiert.

Dann herrschte endlich Ruhe, es gab keine Verhöre mehr. Die Vorbereitungsgruppe bestand zu 90% aus Pfarrern und sonstigen Kirchenvertretern, von uns Jugendlichen waren nur vier da, Schenki, Öli, Ekki und ich. Wir Jugendlichen durften nur einen winzigen Teil der Veranstaltung gestalten; es wurden Maßgaben gesetzt, in denen wir uns zu bewegen hatten. Ich hatte einen großen Zettel mit einer Uhr in der Hand und mußte sagen: „Es ist fünf vor zwölf!“

Roman: In irgendwelchen mystischen Bildern seid ihr herumgesprungen und konntet je zwei oder drei Sätze sagen. Brettschnei­ der-Verschnitt eben, so ein kultisches Ding.

Johanna: Nach meinem Flugblatt sollten sich alle 10 vor zehn vor der Frauenkirche treffen, und 10 vor zehn fing die Veranstaltung in der Kreuzkirche an. Brettschneider hatte mich gebeten, die Leute aufzufordern, nicht zur Frauenkirche zu gehen. Eine ganze Menge gingen zur Tür, als es zu läuten begann, und ich habe irgend etwas gesagt: Sie sollen dableiben, es wäre zu gefährlich. Ich habe an diesem Tag auch zum einzigen Mal in meinem Leben gebetet. Ich hatte fürchterliche Angst. Niemand hatte das natürlich kapiert, ein Viertel der Leute rannte trotzdem hinaus.

telegraph: Könntet Ihr schildern, was außerhalb der Kreuzkirche an diesem 13. Februar los war?

Johanna: Sämtliche Autobahnen und Bahnhöfe wurden im Vorfeld dicht gemacht. Viele Leute, die von außerhalb kamen, wurden abgefangen. Trotzdem waren in der Kreuzkirche nach vorsichtigen Schätzungen der Pfarrer 8.000 Besucher.

Sie war völlig überfüllt. Nach Meldungen der Westmedien waren an der Frauenkirche

12.000 Leute und viele liefen auch in der Stadt herum. Nicht zu reden von denen, die abgefangen wurden.

Roman: „in irgendwelchen mystischen Bildern seid ihr herumgesprungen …“, Quelle: telegraph 4/1992

telegraph: Das waren alles Jugendliche, Leute aus der Hippie-Szene?

Johanna: Nein, das war völlig gemischt. Es waren zum einen Leute bis 30 und dann wieder Leute ab 60 Jahren. Soweit ich das mitgekriegt habe, lief das alles sehr friedlich ab. Die Bullen haben sich völlig im Hintergrund gehalten und es kam zu keiner Verhaftung, wenigstens ist nichts bekannt geworden. *

Roman: An der Frauenkirche war eine wahnsinnig gute Situation. Die Leute waren total still und vom Thema berührt. Das war das Wichtige, daß die Sache ein Stück Opposition war, aber das Thema nicht weg­ gerückt war. Es ging bestimmt über eineinhalb Stunden. Wir haben dagestanden, geschwiegen, Peacer-Lieder gesungen, uns ein bißchen unterhalten. Natürlich rannten irgendwelche Spitzmützen durch die Gegend und guckten sich jeden an, aber das hat niemanden interessiert. Viele Leute hatten Blumen mitgebracht. Alle stand voller Blumen und Kerzen. Leute hatten Plakate und Kreuze gemacht, die sie dort abstellten. Auf einem Plakat stand beispielsweise „35.000 Tote. Warum? Wofür?“. Es waren alte Leute da, die die Zerstörung Dresdens erlebt hatten, eine sehr starke emotionale Bindung an diesen Tag hatten und davon erzählten.

telegraph: Ihr habt ja offenbar mit diesem Flugblatt einen wichtigen Punkt getroffen. Warum kamen so viele Leute?

Johanna: Es gab schon immer in Dresden kleinere Gottesdienste zum Gedenken an die Zerstörung der Stadt, und die Glocken läuteten seit Jahren um zehn vor zehn, dem Zeitpunkt, als der Luftangriff begann.

Auf dem Flugblatt stand, daß es um eine Aktion gegen Aufrüstung geht. Die Leute sollten sich an der Frauenkirche treffen, auf die Ruine Kerzen stellen, das Lied „We shall overcome“ singen und dann gehen. Es stand auch auf dem Flugblatt, daß es eine Aktion außerhalb von Kirche und Staat ist, weil man auch für den Frieden sein kann, wenn man weder sozialistisch noch christlich ist. Ich nehme an, daß es eine Menge Leute gab, die für Frieden waren, ohne sich mit Kirche oder Staat zu identifizieren. Das muß der Punkt gewesen sein, den ich mehr oder weniger zufällig getroffen habe.

Roman: Ich denke, bisher kam zu kurz, wie Leute sich dort eingesetzt haben, und anfingen, etwas zu organisieren, selbst Flugis zu machen. Irgendwie haben alle an diesem Datum gehangen und waren völlig auf diese Geschichte fixiert. Dieses Datum hatte für uns etwas Epochemachendes. Die Zeit war eingeteilt in vor und nach dem 13. Februar

1982.

Johanna: Silvester 1981 war ich in einem Dorf in der Nähe von Cottbus. Die Dorfjugendlichen haben dort mit Freunden gefeiert. Als es 12 Uhr war, haben wir flennend draußen gestanden und haben vom 13. Februar geredet, als wenn sich da etwas völ­ lig ändert, als wenn da eine Revolution los­ geht. Wir hatten Angst und Vorfreude.

Roman: Es hat sich an diesem Tag etwas Gewaltiges geändert. Bis zu dieser Zeit war das Thema Frieden Kirchensache. Der Bischof mußte sich in der brechend vollen Kreuzkirche während des Friedensforums einiges gefallen lassen. Vorne saßen Hempel, Garstecki und Brettschneider, die sich sozusagen dem Friedenswillen der Jugend stellten. Irgendwer hatte die Frage vorgebracht, wie das mit der Totalverweigerung und dem Knast ist. Da sagte doch Hempel: „Das dürfen Sie nicht so verbissen nehmen!“ Mit einem Schlag kippte die Stimmung in der Kirche total. Ein Typ, Klärehen aus Chemnitz, lehnte sich in der zweiten Empore über die Brüstung und führte quer durch die ganze Kirche hindurch einen Disput mit dem Bischof.

telegraph: Damals hieß Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt

Roman: Naja, damals war es für mich Chemnitz, vielleicht heißt es jetzt Karl­ Marx-Stadt. Ich kann solche Namen nie ertragen.

Eine Generation fing an, ihre eigenen Schritte zu gehen. Das entstand auch zeitlich parallel in anderen Städten, z.B. in Jena. Da ist jemand plötzlich aufgestanden und hat etwas gemacht, egal wie es aussieht.

Die Friedenswerkstatt in Berlin hatte in der Kirche noch einen geschützten Raum, was bei der Jenenser Friedensgemeinschaft gar nicht der Fall war. Es gab ja auch in Dresden in der Jungen Gemeinde von Wonneberger den Kreis, der sich mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für einen Sozialen Friedensdienst beschäftigte. Womit diese Kirchenleute gar nicht zurecht kamen, war die Tatsache, daß da einfach etwas wild entsteht und eigentlich keinen Führer hat.

telegraph: Wie ging es nach dem 13. Februar weiter?

Johanna: Der Landesjugendpfarrer Brettschneider kam mit dem Angebot, wir könnten in einem kirchlichen Friedenskreis mit­ machen. Wir vier, Schenki, Öli, Ekki, ich und Roman, den ich inzwischen kennengelernt hatte, gingen hin. Es war ein Kreis von etwa zehn Leuten, Pfarrer, Diakone und zwei aus dem Sühnezeichen-Spektrum.

Trotzdem haben wir uns parallel noch mit unseren Leuten in Cafes und auf der Straße getroffen. Wir nannten das damals noch nicht Wolfspelz. Wir sagten einfach: „Wir machen Kreis.“

Roman: Ungefähr 120 Leute trafen sich ständig bei Feten, in der Mokkastube und sonst wo. Darunter etwa 10 Leute, die nach dem 13. Februar anfingen, eine richtige Friedensarbeit aufzubauen. Diese 10 gingen dann auch zum Friedenskreis von Pfarrer Wonneberger in der Weinbergsgemeinde, um Verbindung mit anderen Leuten zu halten.

Die nächste Orientierung nach dem 13. Februar war der 1. Mai. Wir waren der Meinung, daß wir sofort etwas nachsetzen müßten. Die Stasi hatte alle Blumen und Kerzen um die Frauenkirche abgeräumt. Wir brachten regelmäßig neue Blumen und Kerzen, doch die Stasi räumte sie immer wieder weg. Unsere Idee war, am 1. Mai einen eigenen Block in der offiziellen Demonstration zu bilden. Wir wollten uns mit weißen Hemden und Stirnbändern als die Hippies von Dresden präsentieren und als verbindendes Zeichen zum 13. Februar unsere Blumen an der Trümmerfrau ablegen, ein Denkmal für die Trümmerfrauen, die Dresden wiederaufgebaut haben.

Die Stasi begann im April, sehr scharf die Vorbereitungen zu diesem 1. Mai zu unterbinden. Nicht nur die Leute, die die Vorbereitungsarbeit gemacht haben, sind massiv bedrängt worden, sondern auch die Sympathisanten. Es wurde auffällig bespitzelt, verhört. Bei den meisten hatten sich irgendwelche Dummlinge an die Fersen geheftet, die sicher nie einen Bericht geschrieben haben, sondern nur präsent waren, um gesehen zu werden.

Johanna: Einmal haben sogar zwei bei uns geklingelt und haben uns mitgeteilt, daß sie die sind, die uns heute bewachen. Als wir losgingen, liefen sie uns hinterher. An diesem Tag weiß ich noch, trafen wir uns mit Freunden und jeder hatte irgendjemand dran.

telegraph: Was geschah am 1. Mai? Johanna: Unsere Demo am 1. Mai wurde verhindert. Wir sind zwei Tage vorher fest­ genommen und ziemlich bekniet worden. Einer von uns, der psychisch ziemlich labil war, wurde so unter Druck gesetzt, daß er am Zwinger, wo wir uns treffen wollten, herumrannte und alle Leute wieder weggeschickt hat.

Roman: Für die Mehrheit der Leute war das nicht erträglich. Durch dieses massive Agieren der Staatssicherheit kam es für die Leute zu einer Bekenntnissituation. Sie waren gefragt, ob sie etwas tun wollen oder nicht. Daran ist letztendlich diese Hippieszene in ihrer ungestörten Destruktivität kaputtgegangen. Im Laufe des Sommers waren es dann nur noch 60 Leute, die sich einmal in der Woche im Großen Garten auf der Wiese trafen. Wir fingen an, den Großen Garten aufzuräumen, irgendwelchen alten Leuten zu helfen, die krank waren. Wir haben Aktionen gegen Kriegsspielzeuge gemacht. Wir sind in Geschäfte gegangen und haben Diskussionen angezettelt.

Johanna: Mehrere gehen in das Geschäft und tun so, als ob sie sich nicht kennen. Der eine kauft Kriegsspielzeug, der andere spricht ihn darauf an. Das haben wir gemacht, bis der ganze Laden diskutiert hat, dann haben wir uns verdrückt und uns gefreut.

Roman: Dann haben wir auch einmal einen Laden von Kriegsspielzeugen leergekauft und das Zeug auf der Prager Straße in einem wüsten Happening zertrampelt. Es war wunderschön.

Der Kreis ist dann von diesen 60 Leuten heruntergeschrumpft. Es gab immer noch diese Nachstellerei, und die seelische Verbundenheit hatte einen gewissen Knacks gekriegt. Weil Aktivitäten und Bekenntnis gefordert waren, gab es Schwierigkeiten miteinander. Letztendlich sind wieder etwa zehn Leute zurückgeblieben, die hauptsächlich mit der Kirche zusammenarbeiteten, die Friedensdekade vorbereiteten und an so einer blöden Fotoserie mitarbeiteten. Wir haben Altenhilfe und solche Sachen gemacht. Das war ja das damalige Verständnis mit „vertrauensbildenden Maßnahmen“. Aber diese Dinge gefielen uns nicht mehr so sehr.

Dixilandfestival in Dresden, Quelle: telegraph 4/1992

Johanna: Es gab immer mal Aktionen, mit denen wir versuchten, wieder etwas Unabhängiges zu machen. Z.B. auch eine Grafitti-Aktion, die wahrscheinlich sogar von der Stasi eingerührt wurde, um uns zu kriegen. Wir wollten ein Riesen-Graffitti an einer Mauer am Postamt machen. Wir hatten uns Autospray besorgt. Es war ganz intern und nur sehr wenige Leute machten mit. Als wir ankamen, stand am Treffpunkt alles voll Stasi-Leute. Soweit ich weiß, haben sie niemanden hochgezogen, aber wir sind völlig panisch auseinandergestürzt.

Man muß aus der heutigen Sicht sagen, daß wir in der Kirche einfach abgewürgt wurden. Wir haben uns wochenlang damit beschäftigt, ein Arbeitspapier für die Friedensdekade vorzubereiten und in dem offiziellen Arbeitspapier stand nicht ein Detail von unseren Ideen drin. Sie haben uns beschäftigt und dann noch alles wegzensiert. Das hat uns zunehmend frustriert. Dann kam der nächste 13. Februar. Ich durfte an der Vorbereitung nicht teilnehmen, weil ich schwanger war. Unsere Einwände zu den Vorbereitungen waren, daß die meisten Dresdner keine Christen sind und der Tag deshalb nicht rein christlich begangen werden kann. Das wurde mit dem Hinweis abgewürgt, daß diesmal der Staat auch eine Veranstaltung durchführt. Die Nichtchristen könnten ja dorthin gehen. Die Veranstaltung ging dann wieder total ins kirchliche: „Der Frieden und der liebe Gott“.

Roman: Wir haben diese Kirchenteile gemacht und nebenbei ein paar kleine Aktiönchen vorbereitet, aber das war weder Fisch noch Fleisch. Gleichzeitig haben wir zwei eine Wohnung ausgebaut und sind dann 1984 dort eingezogen.

telegraph: Hattet Ihr geheiratet?

Roman: Das war schon 1982. Unsere Hochzeit war auch eine politische Veranstaltung, bei der gespitzelt wurde. Es waren eben 300 Leute da. Uns wurde die Fete von der Stasi verboten. Es war sozusagen eine Friedenskundgebung.

Johanna: Wir haben die Traurede zusammen mit Brettschneider ausgearbeitet. Es war ein Plädoyer für Totalverweigerung und Friedensarbeit. Ich habe da zum ersten Mal erlebt, daß die Leute in der Kirche klatschen. Aber Brettschneider vertrug das. Obwohl er einerseits uns ständig bremste, wenn wir politisch offensiv werden wollten, hat er uns doch total gut verstanden. Bei dieser Hochzeit hat er mitgespielt. Das war Hippie-Treffen aus der ganzen DDR. Mich hat jemand zu meiner eigenen Hochzeit eingeladen, er wusste nicht daß ich das bin.

Roman: 1984 haben wir dann, in der ersten Woche, in der wir die Wohnung hatten, den Kreis in unsere Wohnung geholt. Für uns in Dresden war immer das Dixiland-Festival eine wichtige Sache. Es war zwar vom Staat organisiert, es traf sich aber die Hippieszene der ganzen DDR. Das wichtigste war, sich nach den Karten anzustellen. Das dauerte immer länger. 1984 haben wir eine ganze Woche angestanden, einfach weil es Spaß machte, dort zu kampieren, zu musizieren, zu betteln. Es war einfach eine bunte Garde, die in der Stadt herumhauste.

Johanna: Es ging nicht darum, sich anzustellen. Die anderen haben sich einen Tag angestellt und sind danach gegangen. Es ging einfach darum, mitten in der Stadt ein Zigeunerlager zu haben, zu diskutieren, zu quatschen und Musik zu machen.

Das war jedes Jahr. Aber im September 1984 haben wir parallel dazu mit dem Pfarrer Deckert eine Werkstatt gemacht. Diesen armen Pfarrer, der ganz neu in Dresden war, haben wir ein bißchen übers Ohr gehauen. Ich habe mit ihm die Kirche begutachtet Und die Architektur gelobt. Als er anfing, Panik zu bekommen, weil er vermutlich von der Stasi unter Druck gesetzt wurde, haben wir ihn einfach zur Seite gestellt und unser Ding gemacht. Er konnte einem wirklich etwas leidtun. Er hat dann immer versucht zu bremsen, und gesagt, daß nicht genügend Parkplätze für die Kirchenbesucher da wären.

Roman: Das Thema war „Hoffnunglos, verantwortungsbewußt“. Das war diese no­future-Situation nach der Nachrüstung. Wir hatten die Orientierung gesetzt, daß auch in einer hoffnungslosen Situation die Verantwortung wahrgenommen werden muß. Die Hauptarbeit war eine Ausstellung, etwa 20 Tafeln, zur Militarisierung der Gesellschaft. Die wollte man uns wegzensieren, aber Johanna hat sie dann wieder aufgehängt, nachdem sie der Bischof abgehängt hatte.

Johanna: Wir hatten einen riesigen Regenbogen, der etwa 10 Meter lang war, lauter aneinandergenähte Mullbahnen und darauf ein `Schwerter zu Flugscharen´-Männel. Das haben ein paar Bergsteiger oben im Gebälk der Kirche über den Altar befestigt. Als der Kirchenvorstand meckerte, wir sollten unbedingt den Regenbogen abmachen, haben wir gesagt, sie sollen das selbst tun. Sie haben sich nicht getraut, es war zu hoch. Dadurch hing der Regenbogen dort noch wochenlang beim Gottesdienst.

Ich habe bei dieser ersten Werkstatt gelernt, aufrecht zu sein, und irgendwelche Stolpersteine, die in den Weg gelegt werden, nicht zu beachten, sondern einfach zu machen. Da wirst du natürlich schief angeguckt. Das war auch der Punkt, daß ein Großteil der Dresdner Pfarrer Panik bekam, wenn ich auftauchte und eine Aktion machen wollte. Es gab nur noch sehr wenige Pfarrer, die mit uns zusammenarbeiteten. Sie hatten Angst, daß wir uns wieder über die Maßgaben hinwegsetzen.

Roman: Die Werkstatt verlief übrigens völlig harmonisch, wir hatten nur 600 Bockwürste übrig. Das kann schon mal passieren. Es gab bei uns wochenlang Bockwürste.

Nach der Werkstatt haben wir uns in der schon lange existierenden AG Frieden eingeklinkt, wo die Leute total über uns ent­ setzt waren. Das war so‘ ein Kontaktkreis, der sich etwa alle dreiviertel Jahre über schwerwiegende Dinge unterhielt und irgendwelche Veranstaltungen vorbereitete. Die hatten sich beschwert, daß wir eine Werkstatt ohne die Friedenskreise von Dresden machen. Es gab diese ja kirchli7 eben Friedenskreise, aber bei keiner Aktion, die wir später durchführten, war einer von denen dabei. Wir setzten uns über das Quotensystem in der AG Frieden hinweg und kamen en bloc herein. Dann malte sich immer Entsetzen in ihre Gesichter, weil es jetzt wieder Ärger gab.

Johanna: Wir bildeten einen Haufen Untergruppen mit irgendwelchen Namen, damit möglichst viele Leute von uns dort Stimmrecht hatten.

Roman: Es ging einfach darum, daß es um den 13. Februar jedes Mal Kampfabstimmungen gab.

In dieser Zeit haben wir sehr stark begonnen, uns um Friedenskontakte zu kümmern. Wir sind beispielsweise nach Naumburg zu Edelbert Richter gefahren, der sich um ein internationales Friedensnetzwerk kümmerte und persönliche Friedensverträge zwischen Einzelnen und Gruppen in Ost und West vermittelte. Das war sehr gut, weil daraus für uns internationale Kontakte entstanden, speziell mit Leuten aus dem skandinavischen Raum. Wir haben damals begonnen, zu irgendwelchen Friedenswerkstätten und Veranstaltungen mit einem Beitrag oder Ausstellungen anzurücken und uns mit politischen Themen zu beschäftigen.

Johanna: Dann haben wir 1985 die Gruppe geteilt, die einen wollten sich um Werkstätten kümmern, die anderen wollten den Tag der Befreiung vorbereiten.

Roman: Nein, den Tag der Befreiung haben wir noch zusammen gemacht. Das war eine Multi-Media-Show, das war eigentlich unsere wirkungsvollste Veranstaltung. Es sind dann alle wie vor den Kopf geschlagen aus der Kirche gegangen. Das war eine Gleichsetzung der Militarisierung vor und nach dem 2. Weltkrieg. Diese Aufrüstung im zivilen Bereich, diese dauerhafte Bereitschaft, das mitzutragen, das Faszinierende des Militärischen, die Passivität – das waren die Themen, die wir dort hineinbrachten. Dazu haben wir unter anderem ein Hörspiel von Eich verarbeitet. Da fahren eine ganze Menge Leute, Großeltern, Eltern und Kinder in einem Güterwagen. Die Großeltern wissen noch, wie es draußen war, die Kinder sind im Güterwagen geboren. Vor allem der Großvater erzählt von draußen und die Eltern sind dagegen, daß er das tut. Irgendwann ist plötzlich ein Spalt im Güterwagen, so daß man nach draußen gucken kann. Zunächst geht es darum, ob man rausgucken darf. Irgendwann sehen die alten Leute nach draußen, und sehen ganz andere Menschen, als sie gewöhnt waren. Sie kommen damit nicht zurecht und bekommen Angst. Zum Schluß verstopfen sie den Spalt wieder und fahren in die Ewigkeit.

Johanna: Nein, sie fahren eben nicht in die Ewigkeit. Nachdem sie die Löcher verstopft haben, denken sie: „Gottseidank, unsere Welt ist wiederhergestellt.“ Da kriegt das Enkelkind zuerst mit, daß der Zug immer schneller fährt. Dann fragen sie, wer ihnen hilft.

Roman: Dazu hatten wir mit Musik, Texten und einer Diaserie diese Kriegsbilder durchgezogen. Das war eine Marschmusik, die von Liza Minnelli parodiert wurde. Da gingen alle mit, selbst uns ging es so, bei die­ sen schönen Bildern von der Aufrüstung. Dann kam irgendwann ein Bruch, und es ging mit Katharsis von Czeslaw Njemen weiter. Dazu gab es dann die Kriegsbilder.

Johanna: Zum Schluß geht die Musik so ganz leicht weiter. Dazu hatten wir das einzige Bunt-Dia, das Dresdner Schloß, wie da so langsam Gras darüber wächst. Es gab dann noch tonnenweise Gedichte und der Schluß war: „Seid Sand im Getriebe dieser Welt!“

Roman: Das hat für uns eine völlig neue Arbeitsweise erschlossen. Es war ein ganz neues Erlebnis für uns, daß es möglich ist, Leute zu faszinieren, sie mit der Nase auf die Dinge zu stoßen. Die Kirche fand’s nicht so gut, weil „der christologische Anteil fehlte“. Ich habe den Pastor erst ein­ mal gefragt, woher er dieses gräßliche Wort hat. Dann wurde uns noch vorgeworfen, daß wir uns „äquidistanziert“ zwischen den beiden Systemen in Ost und West verhalten.

Johanna: In der Kirche war man nämlich der Meinung, daß man entweder für den Westen oder für den Osten sein müsse. Wenn man gegen den Westen war, mußte man demzufolge für den Osten sein. Das war auch die Zeit, wo wir angefangen haben, uns im Kreis mit bestimmten theoretische Sachen zu beschäftigen. Wir waren damals ein ganz gemischter Kreis, Christen, Marxisten, Leute aus so einer Sekte waren auch dabei.

telegraph: Eine Sekte?

Johanna: Diese Sekte gibt es nur im Dresdner Raum und heißt „Gemeinschaft des göttlichen Sozialismus“. Die gibt es nur in Kreischa. Das ist aus Amerika herübergeschwappt. Sie sind der Meinung, daß der Weltuntergang schon vorbei sei. Jetzt geht es für sie darum, die Gemeinschaft der Heiligen zu realisieren. Das ist der göttliche Sozialismus, das Paradies auf Erden soll gebaut werden.

Wir hatten einen zweiten Ekki im Kreis, der war Marxist, aber nie in der Partei. Wir haben uns mit Randgruppen der Gesellschaft beschäftigt, mit Arbeit, Sozialismusdiskussion.

Roman: Dazwischen, im Herbst 1985, war dann wieder Werkstatt in der Weinbergsgemeinde. Es kamen etwas mehr Leute aus der übrigen DDR. Wir lernten Peter Grimm kennen, der damals die Spielgruppe Wühl­ maus leitete. Aus Potsdam waren Leute von „Terra Unida“ da, aus Berlin-Weißensee Mattias Tomaske und Sarah Jaszinszczak, Stephan Krawczyk spielte, usw. Wir hatten ein ziemlich gründlich vorbereitetes Thema, das auch wieder einige Leute abschreckte, an so etwas teilzunehmen, zum Beispiel den Herrn Eppelmann. Das Thema war: „Wer wird denn gleich aus dem Rahmen fallen – Randgruppen in der DDR.“ Wir hatten ein Papier gemacht, in dem wir diese Randgruppensituation beleuchteten und im Extrakt herausbekommen, daß, solange Machtstrukturen existieren, Leute ins Abseits gedrängt werden.

Johanna: Wir hatten eine ganze Menge über Sozialutopien gearbeitet, Bloch usw., und in einem Referat zum ersten Mal gesagt, daß Demokratie Terror gegen Minderheiten ist. Damit meinten wir ebensosehr den sogenannten „Demokratischen Sozialismus“ in der DDR wie auch westliche Demokratievorstellungen.

Roman: Damals verabschiedeten wir uns gerade von demokratischen Sozialismusutopien.

telegraph: Ihr habt Euch vom marxistischen Sozialismus verabschiedet?

Roman: Ein Abschied von einer sozialistischen Utopie. Ein marxistisches Gesellschaftsverständnis, eine marxistische Ana­ lyse, einige marxistische Grundaussagen über gesellschaftliche Entwicklungen sind vielleicht noch tragbar, aber ein utopischer Sozialismus ist nicht tragbar.

telegraph: Ich verstehe immer noch nicht.

Johanna: Nach und nach bekamen alle Leute, die damals im Kreis waren, ein Gefühl dafür, daß Autoritäts- und Machtstrukturen, gleich unter welchem Vorzeichen, Menschen zerstören. Ohne daß das von uns selbst damals Anarchismus genannt wurde, waren wir damals eigentlich schon Anarchisten.

Der Anarchistische Arbeitskreis Wolfspelz, Quelle: telegraph 4/1992

Roman: Damals wurde gerade in der Szene, besonders in Berlin, über Pluralismus diskutiert. Wolfgang Templin hielt sehr viel von diesem Begriff. Ich schrieb dazu einen Artikel, weil ich mit dieser Inflation nicht mehr umgehen konnte. Ich brauche keinen Pluralismus westlicher Couleur, weil das, was da praktiziert wird, einfach Terror gegen Minderheiten ist. Vielleicht waren wir beide in dieser Zeit besonders für solche Fragen sensibel, weil wir noch mit einem anderen Mann zusammenlebten, sozusagen in Drei-Ehe. Bei uns gab sich die Schwulenszene von Dresden die Klinke in die Hand. Wir wußten schon aus ganz persönlichen Erfahrungen, was eine Minderheitssituation ist und hatten auch in unserer Hippiezeit Erfahrungen mit Isolation von Minderheiten gemacht. Insofern bin ich sehr sensibel gegen irgendwelche Mehrheitsbeschlüsse. Aus dieser Diskussion heraus war es klar, daß es in unserem Kreis keine Mehrheitsbeschlüsse gibt. Es hat in diesem Kreis nie Mehrheitsbeschlüsse gegeben. Es hat immer nur Leute gegeben, die etwas taten.

Die Werkstattvorbereitung 1985 war ziemlich hart. Es gab Leute, die taten etwas, andere machten nichts. Und daher gab es massive Spannungen. Zum Schluß blieben ziemlich wenig Leute im Kreis übrig. Das baute sich erst später, ein, zwei Monate nach der Werkstatt wieder auf. Für uns waren damals zwei Dinge erledigt: Demokratie und damit sozialistische Utopie, weil die auch so ein Massenprodukt darstellt, eine schöne neue Welt, oder wie es Huxley sagt: „Alle machen, was alle wollen und keiner macht, was er will.“ Die zweite Sache, die sich für uns erledigt hatte, war Kirche. Es hat derartig viel Spannungen und Konflikte gegeben.

Johanna: Wir hatten uns bei dieser Werkstatt wieder über sämtliche Maßgaben hinweggesetzt, die uns die Kirche gesetzt hatte. Danach konnten wir selbst zu den progressivsten Pfarrern gehen – es wurde geblockt. Sie haben selbst abgelehnt, mit uns zu verhandeln. Wir haben uns dann entschlossen, aus der Kirche herauszugehen.

Roman: Wir wurden damals von Bischof Hempel als „Wölfe im Schafspelz“ bezeichnet. Daraufhin hat sich der Kreis den Namen „Wolfspelz“ gegeben. Dazu kommt noch, daß wir im Umkreis dieser Werkstatt diskutierten, daß Friedensarbeit im Rahmen der Kirche für den normalen DDR-Bewohner nicht nachvollziehbar ist. Sie fand in einem Raum statt, der für normale Leute eigentlich nicht betretbar ist, oder zu mindestens wußten sie nicht, daß er betretbar ist. Außerdem hatte die Kirche allzu sehr eine Schutzfunktion. Wir wollten Friedensarbeit und Menschenrechtsarbeit, die wir damals langsam als politische Arbeit begriffen, außerhalb der Kirche machen. Im Januar 1986 haben wir uns offiziell für autonom erklärt.

Johanna: Wir hatten also auch in der Kirche Bescheid gesagt, daß sie nicht mehr berechtigt sind, mit irgendwelchen Staatsorganen Gespräche über uns zu führen. Natürlich haben sie sich nie darangehalten. Aber wir haben darauf gepocht, daß sie nicht über unsere Köpfe hinweg verhandeln dürfen, sondern die Stasi zu uns schicken sollen:, wenn sie etwas von uns will. Das hat uns die Kirchenleitung verdammt übelgenommen.

Roman: Wir haben uns dann mit richtiger Kontaktadresse präsentiert und unsere Flugblätter mit „Wolfspelz“ unter­ schrieben. Peter Grimm wollte in Berlin eine unabhängige Zeitung machen, das wurde der „Grenzfall“. Zur gleichen Zeit haben wir versucht, eine Zeitung zu machen. In Berlin war das möglich, iff Dresden endete es im Sand. Wir haben ein mit Schreibmaschine vervielfältigtes Probeexemplar herausgebracht, das wir an die Kreise von Dresden und einzelne Interessierte gegeben haben. Jeder Artikel war ein einzelnes Blatt. Wir haben gesagt, daß es keinen Sinn macht, wenn Wolfspelz eine Zeitung macht, sondern wir haben dazu aufgefordert, mitzumachen. Es haben zwei Sachen nicht geklappt: der Staat hat es nicht zugelassen und es kam nichts von außen hinzu.

Johanna: Ich habe eine Vorladung bekommen und zwei Leute aus dem Kreis mitgenommen. Die durften aber nicht mit mir hinein. Mir wurde mitgeteilt, daß ich die Zeitung allein gemacht habe. Dann wurde mir eine drastische Strafe angedroht, wenn das noch einmal vorkommt. Mir wurde dann eine „gesellschaftliche Rüge“ ausgesprochen, was das auch immer sei. Ich sollte dazu Stellung neh­ men. Da habe ich gesagt, sie sollen mich mal am Arsch lecken. Das wurde dann ins Protokoll reingeschrieben, das ich unterschreiben mußte und dann kam nie wieder etwas. Aber angedroht wurde eine drastische Strafe. Daraufhin haben wir uns bemüht, mit den kirchlichen Friedenskreisen eine Zeitung herauszugeben.

Roman: Die AG Frieden hat dann irgendwann unsere Idee aufgegriffen und nach langem, gründlichem Überlegen, das sich mindestens über ein Jahr hinzog, eine Zeitung herausgegeben, die „Die Ahnungslosen“ hieß.

telegraph: Das war im Jahre 1988. Bei uns in Berlin kam die Information an, daß „Die Ahnungslosen“ beschlagnahmt wur­ den, aber immerhin der Superintendent Ziemer sich vor das Blatt stellte.

Roman: Eine Zeitung, die furchtbar technokratisch von außen aussah, sehr genau gesetzt war und auf dem Kopierer vervielfältigt wurde, was für die damaligen Verhältnisse ziemlich aufwendig und unpraktisch war.

Johanna: Wir haben damals Flugis vom Wolfspelz immer zwischendurch zwischen dem „Ahnungslosen“ .vervielfältigt. Das ist dann aber herausgekommen und es gab wieder einen tierischen Crash mit der Kirche, weil wir das Vertrauen mißbraucht hätten.

Das Gespräch führte r.1.

  • Red: Wir erfahren gerade, daß wenige Tage vor dem 13. Februar 1982 ein Mitarbeiter des Friedenskreises der Dresdner Weinbergsgemeinde, Roland Brauckmann, wegen seiner Beteiligung an der Vorbereitung verhaftet und aus der Haft in den Westen transportiert wurde.

https://telegraph.cc/schafe-im-wolfspelz-teil-1/


„Schafe im Wolfspelz“ Teil 2

aus telegraph 5/1992

S. 27 - 35

Zum (damals) zehnjährigen Bestehen des Anarchistischen Arbeitskreises Wolfspelz in Dresden

telegraph 5/1992

Im ersten Teil des Interviews im letzten “telegraph” berichteten Roman und Johanna, wie in Zusammenhang mit einem Aufruf zum Gedenktag an die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1982 aus losen Zusammenhängen von Hippiegruppen ein Kreis von Friedensaktivisten entstand. Die Tendenz einer unabhängigen Basisbewegung, die damals in Dresden, ebenso wie in Jena bestand, wurde immer wieder durch das Angebot der Kirche gebrochen, bitter notwendigen Schutz gegen staatliche Repressionen zu geben. Auch Veranstaltungen schienen nur im Raum der Kirche möglich zu sein, die in der DDR die einzige Institution war, die halbwegs unabhängig vom SED-Regime agieren konnte. Aber die Dresdner Radikalen wollten nicht den Preis zahlen, den die Kirche forderte: Anpassung und Vermeidung von öffentlichkeitswirksamen Aktionen.’ Deshalb wurden sie vom Dresdner Landesbischof Hempel 1985 als “Wölfe im Schafspelz” bezeichnet. Der Kreis nannte sich seitdem “Wolfspelz”. Schon im ersten Teil wurde geschildert, daß die Wolfspelz-Leute in der thematischen Vorbereitung von Aktionen und Werkstätten zunehmend zu anarchistischem Gedankengut fanden.

telegraph: Ich habe immer noch nicht genau verstanden, was Ihr unter Ablehnung von sozialistischen Utopien versteht.

Johanna: Wir sind eigentlich gleich anarchistisch eingestiegen. Irgendjemand hatte ein Bakuninsches Anarchismusmodell ausgebuddelt, Kommunen, die gemeinsam leben und produzieren und untereinander Waren austauschen. Das waren die Vorstellungen, die wir diskutiert haben, ohne das Anarchie zu nennen. Der Begriff Anarchie kam erst im Sommer 1986. Ich lag im Krankenhaus und Roman hat mir “Was tun?” von Tschemi- schewski geschenkt. Das habe ich gelesen und das war das, was ich dachte. Im Vorwort habe ich gelesen, daß Tschemische- wski ein Anarchist war.

Ich dachte, daß ich dann wohl auch eine Anarchistin bin.

Roman: Damit hatten wir endlich den Namen gefunden, für das, was wir empfunden haben.

Johanna: Daraufhin hatten wir im Wolfspelz wieder eine kleine Spaltung, wenn auch nicht so ganz wesentlich. Die Leute, die stark christlich vorgeprägt waren, gingen. Ekki sagte: “Ihr sagt Bakunin, ich sage die Bibel!” Von Bakunin sind wir inzwischen auch wieder weg. Bakunin, Vera Figner und Tschemischewski, das waren damals die ersten Dinge, die wir bekamen. Wir haben zuerst einmal versucht, alles zu lesen, was mit dem Thema zusammenhängt. Damals existierte auch ein Mütterkreis, der sich mit freien Schulen beschäftigte. Wir hatten in der Hohen Tatra einen Lehrer von der Westberliner Freien Schule kennengelemt. Er hat uns Infomaterial geschickt, das komischerweise ankam und wir haben mit ihm Lesungen gemacht. Wir haben auch Material über antiautoritäre Erziehung bekommen und haben im Frauenkreis diskutiert, ob wir einen freien Kindergarten machen können. Wir versuchten, diese Idee sofort zu verwirklichen, was natürlich an keinem Ende klappte. Dann haben wir eine “thematische Meditation” gemacht, ich weiß nicht, ob es das Wort überhaupt gibt. Wir haben Kinderdias gezeigt und dazu einen Vortrag über antiautoritäre Erziehung mit Zitaten, Beispielen und Erlebnisberichten gehalten. Diese Veranstaltungen haben wir dann in Kirchen gemacht. Der Kreis löste sich irgendwann auf, weil sich kein Kindergarten fand, der unsere Ideen verwirklichen wollte.

Das war die Zeit, als wir in immer wiederkehrenden, endlosen Diskussionen Macht und Autorität als das Böse erkannt wurde und vom Kreis der Begriff Anarchie für die eigenen Anschauungen akzeptiert wurde. Wir waren damals natürlich noch völlig pazifistisch.

Im Frühjahr 1986 haben wir – Peter Grimm, ich und andere – dann vergeblich versucht, den Leuten vom DDR-weiten Friedensseminar “Frieden konkret” unsere Machtdiskussion zu vermitteln. Wir haben versucht zu verhindern, daß “Konkret für den Frieden” nach dem Mord an Olof Palme der Witwe ein Beileidstelegramm schickte, einerseits weil es ein Mächtiger war, andererseits weil wir von schwedischen Friedensleuten wußten, daß Olof Palme auch tief im Waffenhandel steckt.

Roman: Es gab endlose Endzieldiskussionen. Wir haben uns mit der Frage nach einer Gesellschaft ohne Geld und mit freien Arbeitsstrukturen beschäftigt. Wir haben festgestellt, daß für uns das Wesentliche nicht Anarchie ist, sondern Anarchismus: Es kommt nicht darauf an, ein Ziel auszumalen, wieder eine neue Utopie in diese Inflation von Utopien hereinzuwerfen, sondern es kommt darauf an, zu leben und einen Prozeß zu gestalten, sich in diesem Prozeß anständig und vernünftig zu verhalten und den Anspruch auf Aktivität nicht aufzugeben.

Johanna: Ganz stark im Vordergrund stand für uns das Vor-Leben. Jeder sollte in dem Bereich, in dem er steht, das tun, was Leute weiterbringt. Eine winzige Sache war beispielsweise eine Gemeinschaftswäscheleine im Haus. Wir wollten versuchen, auf die Menschen, mit denen wir zu tun hatten, gemeinschaftlich einzuwirken. Und die Leute aus unserem Kreis haben das auf Arbeit, in der Schule und zu Hause versucht.

Roman: Es ging um das Begreifen, daß politisches Leben wichtig ist, nicht politische Arbeit. Es kam darauf an, daß es nicht damit getan ist, einmal in der Woche Wolfspelz zu spielen oder alle vier Wochen in einem anderen Kreis. Es kam darauf an, daß du denkst, was du sagst und daß du das, was du sagst, auch wirklich lebst. Weil wir das einfach verkörperten, haben wir unsere politische Papiere an den Arbeitsstellen verteilt und gelesen. Ich habe in einer Firma mit über 1.000 Leuten den “Grenzfall”, die “Umweltblätter” und vieles andere verteilt Ich bekam natürlich Schwierigkeiten und sollte aus dem Betrieb fliegen. Aber die Papiere lagen offiziell auf den Arbeitstischen. Es gab im Betrieb eine Abonnentenliste. Es war einfach normal.

telegraph: Was hat denn die Stasi dazu gesagt?

Roman: Die Stasi hat mich verhört. Die Obrigkeit in meinem Betrieb, dem Zentrum für Mikroelektronik, der Programmiererfirma von Robotron, das waren alles Stasi-Leute. Das ging gar nicht anders. Dort wurde hauptsächlich mit Geräten gearbeitet, die im Westen gestohlen waren. Sie haben immer wieder versucht, mich zu terrorisieren. Gleichzeitig gab es offenbar eine Vorgabe, mich nicht herauszuwerfen. Ich war damals der Beste auf Arbeit und deshalb hatte ich für einen Großrechner die Verantwortung, wäre also normalerweise Schichtleiter gewesen. Da wollten sie dann den “Schichtleiter” in “Master Operater” umbenennen, am liebsten hätten sie den Job “Brühschwein” genannt, aber nicht mehr “Schichtleiter”.

SED-Intern-Information über Roman Kalex

Wir haben dann unter den Leuten, die an diesem Rechner arbeiteten, eingeführt, daß jeder für sich selbst die monatliche Leistungsbewertung macht. Dahinter stand hartes Geld, 200 bis 300 Mark Unterschied. Jeder hat sich selbst eingeschätzt, und wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Es war auch sehr integrativ. Beispielsweise wurde zu mir, weil ich das schwarze Schaf war, ein Schwererziehbarer an die Anlage geschickt, der eigentlich nichts als dumme Sprüche konnte und kein Wort geradeaus geredet hat. Der Typ kam einfach nicht mit dieser Leistungsgesellschaft zurecht. Aber ich denke, er hat bei uns seine Komplexe verloren. Ein ganzer Mensch, konnte vielleicht nie aus ihm werden, aber er konnte sich jetzt annehmen. Ich denke, daß es wichtig war, darauf zu achten, in dem Job zu bleiben und in einer Gesellschaft, wie sie real existiert, sich nicht selbst auszugrenzen.

Wir wollten auf keinen Fall eine Elitegeschichte machen. Deshalb unsere Fixierung auf Dresden, die Ausrichtung auf die betriebliche Arbeit und die Kiezarbeit, wie das heute heißt. Wir wollten Leute in unserer Umgebung rebellisch machen.

Johanna: Ich muß sagen, daß ich auch sehr gute Erfahrungen gemacht habe. Mein Berührungskreis war Mütterkreis, Kinderberatung, wo ich mich sozusagen unter normalen Menschen herumgedrückt habe. Z.B. hat uns die eine Frau, die ich bei der Mütterberatung kennengelemt habe, geholfen, als uns eine Haussuchung drohte. Sie hat die Sachen in ihrem Kinderwagen versteckt und hat sie an Adressen verteilt. Die Leute aus dem Haus haben geklingelt und gesagt, daß die Stasi unten steht. Einmal saß ich mit den Kindern auf dem Hof und die Stasi fragte die Nachbarin, wo ich bin. Sie hat gesagt, daß ich nicht da bin. Die Leute haben natürlich nicht aktiv mitgemacht, sie haben uns aber unterstützt. Einmal kam sogar ein Bulle und sagte uns Bescheid, daß eine Haussuchung kommt. Damit weiß ich bis heute nichts anzufangen.

Roman: Das gab es einfach. Das ist eines der Mysterien dieser DDR, daß es Leute in den protegiertesten Stellungen gegeben hat, die sich auf die andere Seite geschlagen haben. Und es hat Leute gegeben, die haben bei Verhören das Tonband zurückgespult. Es hat Leute gegeben, die haben in Verhörprotokollen ganze Passagen unterdrückt oder Fragen weggelassen.

telegraph: Ich denke, wir sollten wieder in die Ereignisse einsteigen.

Johanna: Ja, 1986 haben wir unter anderem eine Wahleingabe gemacht. Das war ein Riesentext mit einer langen Unterschriftenliste. Mit der Eingabe zusammen haben wir unsere Wahlaufforderungskarten urückgeschickt.

Roman: Die Eingabe bestand aus zwei Teilen. Den ersten Teil konnten sehr viele unterschreiben, er richtete sich gegen das Wahlsystem. Im zweiten Teil hatten wir uns, gutmütig wie wir waren, wirklich einmal Gedanken gemacht, wie man im Sozialismus leben könnte. Es kam so eine Art Rätemodell heraus, mit dem Primat der Entscheidungen in den Wohngegenden, mit kommunalen Entscheidungsprivilegien.

Johanna: Wir haben die Eingabe eingeschickt und am Tag der Wahl eine Wallfahrt nach Wählen gemacht, das ist so ein Ort. Vorher gab es noch einige Unruhe, weil einige von uns zu Wahlhelfern bestimmt wurden.

Roman: Ein paar Leute hatten noch eine Aktion auf der Straße gemacht. Sie sind auf den Altmarkt gegangen und luden ein zum Wahlkarten abgeben. Und einige Leute haben tatsächlich ihre Wahlkarten abgegeben. Das war natürlich schön.

Johanna: Dann gab es das Menschenrechtsseminar in Berlin im November 1986. Dort haben wir das Thema Kinder- und Jugendrechte mit vorbereitet. Wir sind zum Friedensseminar in Meißen gefahren.

Roman: Wir sind zu sehr vielen-Veranstaltungen mit vorbereiteten Themen gegangen und haben versucht, dort etwas zu machen. Nach Tschernobyl sind wir zu Urania-Vorträgen gegangen und haben versucht, dort unsere Standpunkte einzubringen. Wir sind bei Kulturbundveranstaltungen gewesen, haben versucht, eine Menschenrechtsarbeit auf die Beine zu stellen. Zum Tag der Menschenrechte wollten wir eine gemeinsame Fahrt all der Leute an die tschechoslowakische Grenze organisieren, die Reisebeschränkungen hatten. Das ist dieselbe Idee, die später die Berliner mit einer gemeinsamen Flugreise nach Prag hatten. Nur, daß wir kein Medienspektakel machen wollten, sondern versuchen wollten, aus der Sache eine öffentliche Veranstaltung zu machen.

Johanna: Zum Olof-Palme-Marsch durfte man ja wegen des gleichzeitigen Besuchs von Honecker in Bonn zum ersten Mal offiziell eigene Plakate mitbringen. Wir hatten ein Flugi gemacht, in dem stand, daß das, was heute Ausnahme ist, eigentlich politischer Normalzustand werden müßte. Das haben wir von der Empore heruntergeschmissen. Die Emporen waren zugeschlossen, weil sie etwas spitz gekriegt hatten. Da habe ich gelogen und gesagt, der Superintendent Ziemer hätte bestimmt, daß die Emporen offen sind. Der Hausmeister hat aufgeschlossen und Ziemer war dann ganz entsetzt. Am nächsten Tag gingen 500 bis 600 Leute mit eigenen Plakaten zum Theaterplatz, die FDJ-Leute hielten ihre Fahnen davor, damit man das nicht sehen kann.

Roman: Die Zeit wurde dann immer hektischer. Permanent wurden irgendwo irgendwelche Leute verhaftet, wie beispielsweise Du, Wolfgang, im November 1987, und wir haben uns solidarisiert Wir mußten allzuoft oft nur reagieren, was mir gar nicht so gefällt.

Johanna: Ende 1987 hatten wir dann unseren eigenen Skandal. Im September war in Berlin der Überfall von Nazis auf ein Konzert in der Zionskirche. Daraufhin haben wir hier in Dresden die Anti-Nazi- Liga gegründet, und Angelos und ich haben die Flugblätter dazu bei Euch in der Umwelt-Bibliothek gedruckt. Beim Flugblattverteilen in Dresden wurden dann einige Leute erwischt und es gab einen Haufen Verhöre. Ihr habt dann einen, der beim Verhör umgefallen war, in einem Häuschen in der Nähe von Berlin versteckt, der rückte dann aber wieder aus. Dann bin ich zusammen mit Elisa zu Dir nach Berlin gefahren, aber Du warst bereits verhaftet. Ich wurde in der Umwelt-Bibliothek hart angefahren, daß die ganze Sache an Dresden liege, telegraph: Das war natürlich völliger Unsinn und wahrscheinlich ein von Inoffiziellen Mitarbeitern verbreitetes Gerücht, um Verunsicherung zu schaffen. Unsere Verhaftung hatte damit gar nichts zu tun, es war die “Aktion Falle” bei der es der Stasi darum ging, die Zeitschrift “Grenzfall” und die Umwelt-Bibliothek zusammen zu erledigen.

Johanna: Ich nahm in Berlin an der Mahnwache für Euch teil und stand telefonisch mit Dresden in Verbindung. Die Wolfspelz-Leute versuchten währenddessen eine Solidaritätsaktion für Euch auf die Beine zu stellen. Wir haben in der AG Frieden versucht, etwas zu bewegen, ohne Erfolg. Wir haben daraufhin beschlossen, daß wir eine Kirche besetzen. Den Kirchenleuten haben wir gesagt, wenn sie wollen, daß wir verhaftet werden, sollen sie ihre Kirchen geschlossen halten. Wir machen dann eine Aktion auf der Straße.

Roman: Ich habe den Dresdner Landesjugendpfarrer Brettschneider angerufen, der saß in Berlin zusammen mit dem Berliner Stadtjugendpfarrer Hülsemann in einer Sitzung und führte am Konferenztisch seinen privaten Kampf mit dem Staat. Ich habe ihn herausrufen lassen und habe ihm gesagt: “Lieber Harald, ich wollte Dir bloß sagen, daß wir morgen verhaftet werden, weil in Dresden die Solidarfähigkeit der Kirche auf Null gesunken ist. Wir werden unsere Mahnwache auf der Straße machen.” Er wurde hektisch und ich habe aufgelegt. Am nächsten Abend kam er zu uns. Wir haben dann die Mahnwache doch nicht gemacht, weil wir den Anfang vom Neubeginn der Mahnwache in Berlin abhängig gemacht hatten. Dort waren ja mittlerweile einige Forderungen erfüllt worden, anderes war abgewiegelt worden.

Diese Versuche, Solidaritätsaktionen auf die Beine zu stellen, haben aber bei den Leuten persönliche Veränderungen ausgelöst. Superintendent Ziemer beispielsweise hat sich stark verändert. Einerseits waren die Kirchenleute noch ärgerlicher auf uns und konnten noch schwerer mit uns umgehen, andererseits begriffen sie, daß wir es ernst meinen und ernst zu nehmen sind. Und so ist im Endeffekt die Solidarfähigkeit der Leute gewachsen.

Johanna: Das kam dann alles Schlag auf Schlag. Es kamen immer mehr Leute zu Wolfspelz, sodaß wir dann verschiedene Gruppen gebildet haben.

telegraph: Das war ab Januar 1988, als überall die Ausreisewilligen in die Gruppen kamen.

Johanna: Es waren auch Ausreisewillige dabei, das war aber nicht die Masse. Wir haben Gruppen gebildet, eine zum Thema Menschenrechte, eine zur Ökologie, eine zur Kindererziehung, eine zur Nazifrage. Die Arbeit der Menschenrechtsgruppe bestand darin, zu versuchen, sich offiziell anzumelden. Das erwies sich natürlich als unmöglich.

Roman: Naja, ich denke, sie haben damit mehr versucht, sich in diesem Staat abzumelden. Das waren 12 Ausreisewillige. Johanna: Die Gnippen lösten sich leider schnell wieder auf. Die Anti-Nazi-Grup- pe hat einen sehr guten Vortrag gemacht, der bei vielen Veranstaltungen gehalten wurde.

telegraph: Lösten sich die Gruppen im Ergebnis des unentschiedenen Ausgangs der Luxemburg-Affäre im Februar 1988 aus?

Johanna: Diejenigen, die in den Westen gehen wollten, gingen in den Westen. Und andere blieben weg. Wolfspelz ist ja ohnehin eine Gruppe, die schnell wächst oder schrumpft. Heute abend ging es, manchmal kannst du gar nicht mehr treten vor lauter Leuten, dann sind mal wie letzte Woche nur 5 Leute da.

Roman: Das wesentliche an einer solchen Gruppe ist ja, daß eine Integration stattfmdet. Die Dynamik, die bei jungen Leuten leicht in Destruktivität abdriftet, muß ein bißchen dirigiert werden. Es muß sich jemand darum kümmern, daß eine Gruppe funktioniert. Sonst funktioniert sie nicht, jedenfalls nicht unter Menschen, wie wir es sind. Bei aller Anarchie und aller Ungebundenheit muß doch für den Gruppenzusammenhalt gesorgt werden. In einigen der damaligen Gruppen fehlte das.

Johanna: Dann gab es ziemlich viel Streß mit Verhören. Dazu kam, daß Kiste fortwährend Intrigen spann und wir sehr viel Zeit damit vertaten, freundschaftliche Beziehungen zwischen Leuten wieder geradezurücken oder Positionen zu beziehen. Es war eine Zeit von unangenehmem persönlichen Streit.

Manfred Rinke, Spitzname Kiste, Stasiname "IMB Raffelt"

telegraph: Kiste, der “IMB Raffelt”, war ja 20 Jahre im Dienst der Staatssicherheit. Hat er bis 1988 nichts gegen Euch unternommen?

Roman: Kiste war im großen ganzen bis dahin kooperativ. Kiste war aber, egal welche Funktion er für die Staatssicherheit erfüllt hat, ein Schwein. Er hat mit Johanna und mir Schwierigkeiten gekriegt, und er hat versucht, uns kaputtzumachen. Ich denke, das hat er nicht nur als IMB, sondern auch persönlich versucht.

Johanna: Er hat mit ausnahmslos jeder Frau, die bei ihm auftauchte, versucht zu schlafen und hat gegen jede Frau, bei der er das nicht geschafft hat, eine Hetzkampagne gestartet.

Roman: Er hat im Wissen, daß in Berlin ohnehin wegen dieser Flugblattaffäre schon böse Zungen gegen uns existierten, gegen uns gehetzt. Kiste hat mit seinem Telefon und seinen landesweiten Verbindungen zu Leuten gegen uns gearbeitet. Er erzählte allen, daß Johanna einen Hungerstreik macht. Tom Sello von der Umwelt-Bibliothek kam eigens deshalb nach Dresden und traf Johanna beim Abendbrot an. Aber die Berliner Prominenten hat das Dementi von Tom nicht interessiert, sie hatten von ihrem zuverlässigen Freund Kiste die Information, daß Johanna Hungerstreik macht. Er hat mit diesem Verfahren großen Erfolg gehabt.

telegraph: Ich denke, Ihr könnt das nicht nur als persönliche Aktion werten. Das ist ein eiskalter Zersetzungsplan, der von der Stasi angeordnet wurde.

Roman: An bestimmten Stellen war es sicher auch ein Zersetzungsplan. Klar war, daß Kiste Schallplatten, die vom französischen Fernsehen geschickt wurden, um mit dem Geld Wehrdiensttotalverweigerer zu unterstützen, einfach behalten hat. Er hat gesagt, die Schallplatten sind nicht angekommen. Plötzlich hatte er zwar hunderte französische Schallplatten, aber die hatte er eben von Roland Jahn aus Westberlin gekriegt. Roland Jahn schickte eine Masse Bücher von Wensierski für uns ab und keins kam an. Und Kiste posaunte herum, daß er gerade Geld auf das Konto der Dresdner Friedenskreise eingezahlt habe. Gerade die Leute mit Promi-Neigung, wozu ich Ralph Hirsch oder Bärbel Bohley, Kuli und Kaktus zählen möchte, haben das alle für bare Münze genommen und überhaupt keinen Widerspruch geduldet. Er kannte all diese Promis. Und ein echter Promi braucht einen Günstling, sonst ist er kein Promi. Er ist der Hund der Leute gewesen, die seine Hunde waren. Johanna: Wir hatten auch Probleme mit Euch. Er ließ die “Umweltblätter” für uns abholen und hat sie dann nicht an uns weitergegeben. Und Ihr habt da mitgemacht. Selbst als er dann in Mecklenburg war, lag die Dresdner Aboliste für die “Umweltblätter” in Mecklenburg. Ihr habt unsere “Umweltblätter” an Kistes Leute gegeben und Kiste hat sie dann an seine Günstlinge weitergegeben. Wir haben ewig gebraucht, bis wir genügend “Umweltblätter” für unsere Abos hatten. Als wir dann genügend hatten, wurde die Aboliste geklaut.

Roman: Es blieb uns einfach nichts anderes übrig, als diesen Typen selbst fertig zu machen.

Johanna: Das war für uns eine Überlebensfrage.

Roman: Wir haben ihm hier das Agieren unmöglich gemacht. Wir haben mit ihm um die Dresdner Szene gekämpft. Wir haben ihn überall madig gemacht. Johanna: Von einem, der einen kleinen Teil unserer Akten gelesen hat*, habe ich erfahren, daß Kiste endlose Jammerberichte geschrieben hat. Ich hätte konkret gesagt, daß er ein Stasi-Mann ist und hätte versucht zu beweisen, daß er Bücher und Geld unterschlagen hat, daß er Leute auseinanderbringt und Informationen nicht weitergibt. Wir haben ständig mit Leuten geredet und versucht, zu beweisen, daß Kiste, wenn er nicht von der Stasi ist, jedenfalls alles kaputtmacht,

telegraph: Ihr habt also nichts anderes gemacht, als die Dinge, die Kiste ohnehin tat, öffentlich zu machen.

Johanna: Wir haben uns beispielsweise über die Leute lustig gemacht, die bei ihm gerade Hausdiener machten. Und mit solchen Dingen haben wir ihn sehr schnell geschafft. Er ist dann im Sommer 1988 nach Mecklenburg umgezogen.

Johanna: Nach der Relegierung der Schüler von der Berliner Ossietzky-Schu- le haben wir auch wieder gegen den Widerstand von Kirche und Friedenskreisen Veranstaltungen gemacht. Da hieß es dann wieder, daß die Eltern der relegierten Kinder darum gebeten hätten, daß keine Veranstaltungen gemacht werden. Dann ging diese Scheiße mit den Verhaftungen in Leipzig los, im Januar 1989. Wir haben uns nur noch damit beschäftigt, irgendwelche Protestgottesdienste zu organisieren, mit Pfarrern und Kirchenkreisen zu verhandeln. Einmal waren wir sogar in einer katholischen Kirche.

Roman: Da wimmerten sie dann: “Herr, Herr, erhöre uns, erhöre unseren Protest!” Irgendwelche Leute gingen nach vom, stellten Kerzen hin und salbaderten irgend etwas.

Johanna: Ja, Gott sollte den Herrschenden den Verstand zurückgeben. Ich weiß nicht, wie er das anfangen sollte, telegraph: Das erste Dresdner Ereignis im Jahr 1989 waren dann die Aktionen gegen den Aufbau des Reinstsilizi- umwerkes i,n Dresden-Gittersee? Johanna: Die Gittersee-Aktionen begannen schon im Herbst 1988. Das hat in Gittersee die Kirchgemeinde zunächst vollständig im Gemeinderahmen gemacht. Jeden ersten Sonntäg im Monat wurde eine Veranstaltung gegen dieses Werk gemacht. Das sprengte diesen Rahmen, je mehr Leute das mitkriegten. Die Umweltgruppe Pax hat das früher davon gehört als wir. Jedenfalls haben sie schon mitgemacht, als wir dazu kamen, das war im Juli. Da gingen die Leute zum ersten Mal zum Zaun des Werkes und brachten dort ihre Protestplakate an. Es passierte nichts, weil das ZDF gerade filmte. Wir haben dann im August angeboten, daß wir eine Veranstaltung vorbereiten. Am 6. August gab es am Zaun eine Polizeiaktion und wir wurden abgeräumt. Es folgten schlimme Ordnungsstrafen, auch wegen der Aufnäher, die die Pax-Leute und wir gemacht hatten.

Roman: Im Frühjahr haben wir ein Seminar in der Versöhnungskirche zum Thema “Quo vadis DDR?” gemacht, ein Plattformseminar für die Friedenskreise Dresdens. Schon die Vorbereitung war übergreifend. Es gab eine neue Gruppe, die hieß IDE (“Initiative demokratische Erneuerung”), die Pax-Leute, von denen einige früher im Wolfspelz gewesen waren. Die Werkstatt kam ziemlich gut an, vor allem die Idee, daß wir durch Wahlbeobachter in den Einzel Wahllokalen das tatsächlich Wahlergebnis ermitteln wollten. Dieselben Leute, die diese Werkstatt vorbereitet hatten, haben dann angefangen, diese Wahlauszählung vorzubereiten. Das war ein ziemlicher Erfolg.

Johanna: Die radikalsten Leute aus den verschiedensten Kreisen haben einen Kreis gebildet, der sich traute, auch heiße Sachen zu machen.

Roman: Wir haben eine Reihe von guten Flugblättern gemacht und auch die Wahlauszählung hat geklappt. Es sind nur zwanzig Wahllokale in der Stadt nicht ausgezählt worden. Dadurch rückten die Leute sehr stark aneinander und es wurden immer mehr. Auch die Arbeit der normalen Friedenskreise hat sich politisiert. Zu den Gittersee-Andachten kamen ebenfalls immer mehr Leute und sie versuchten auch, irgendwie die Stimmung noch anzuheizen.

Dann kam “Trommeln für den Frieden” nach dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking. Das haben in Dresden Leute gemacht, die früher zum Wolfspelz gehörten. Sie haben die Kreuzkirche besetzt und zu trommeln begonnen. Ein riesiges Bullenaufgebot umgab die Kreuzkirche, wo getrommelt wurde. Rundherum standen viele Leute und klingelten mit ihren Schlüsselbunden.

Johanna: Jeder, der aus der Kirche herauskam, wurde festgenommen. Der Pfarrer Müller von der Kreuzkirche und die Frau von Superintendent Ziemer haben sich dann bemüht, die Situation zu entschärfen. Sie haben uns aus der Kreuzkirche bis zur Straßenbahnhaltestelle gebracht. Wir sollten auf keinen Fall eine Demo machen, aber dadurch, daß wir so viele waren, waren wir wieder eine Demo. Es war lustig. An der Haltestelle verabschiedeten sich die Pfarrer und sofort kamen die Bullen. Ich hatte Schwein, ich hatte das ganze Material unter der Matratze im Kinderwagen. Ich kam noch in die Straßenbahn. Alle anderen wurden von den Bullen gegriffen. Es gab dann Ordnungsstrafen über Ordnungsstrafen. Aber wie gesagt, es war keine Aktion von uns.

Roman: Das ist, denke ich, nicht zu trennen. Einige Dinge wurden von anderen Gruppen gemacht, einige von uns. Es gehörte in diesem Dresdner Raum alles irgendwie zusammen.

Das Gespräch führte r.l.

  • Red: Die Gruppe Wolfspelz bekommt von der Gauck-Behörde ihre Akten nur einzeln und geschwärzt. Wenn sie als Gruppe ihre Akten bekommen wollten, müßten sie eingetragener Verein werden. Eben das wollen sie aber aus Überzeugung nicht.

Beim nächsten Mal:

gewaltsame Auseinandersetzungen in Dresden im Oktober 1989

Versagen der DDR-Basisgruppen – Ansätze zu einer Fehlerdiskussion

Versuche des Kreises, sich im neuen Deutschland einzubringen

Perspektiven und Perspektivlosigkeiten

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