Die essayistischen Einschaltungen in Goethes «Dichtung und Wahrheit». 2.Teil.

Zweiter Teil. Sechstes bis zehntes Buch


Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle.

Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten im stande sein werden. (II/9)


Anekdotisches: Die Begegnung mit Gottsched.

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Während seiner Leipziger Jahre besuchte der junge Goethe zusammen mit dem befreundeten Schlosser den Sprach- und Literaturreformer Johann Christoph Gottsched.

Er wohnte sehr anständig im ersten Stock des Goldenen Bären,[1] wo ihm der ältere Breitkopf wegen des große Vorteils, den die Gottschedischen Schriften, Übersetzungen und sonstigen Assistenzen der [Buch-]Handlung gebracht, eine lebenslange Wohnung zugesagt hatte.

Wir ließen uns melden. Der Bediente führte uns in ein großes Zimmer, indem er sagte, der Herr werde gleich kommen. Ob wir nun eine Gebärde, die er machte, nicht recht verstanden, wüßte ich nicht zusagen; genug, wir glaubten, er habe uns in das anstoßende Zimmer gewiesen. Wir traten hinein zu einer sonderbaren Szene; denn in dem Augenblick trat Gottsched, der große, breite, riesenhafte Mann, in einem gründamastnen, mit rotem Taft gefüttertem Schlafrock zur entgegengesetzten Thür herein; aber sein ungeheueres Haupt wahr kahl und ohne Bedeckung. Dafür sollte jedoch sogleich gesorgt sein; denn der Bediente sprang mit einer großen Allongeperücke auf der Hand (die Locken fielen bis an den Ellebogen) zu einer Seitenthüre herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockener Gebärde. Gottsched, ohne den mindesten Verdruß zu äußern, hob mit der linke Hand die Perücke vom Arm des Dieners, und, indem er sie sehr geschickt auf seinen Kopf schwang, gab er mit seiner rechte Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, sodaß dieser, wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt, sich zur Thür hinaus wirbelte, worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu sitzen nötigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand durchführte.

Goethe war auf Gottscheds «Versuch einer critischen Dichtkunst vor [für] die Deutschen» (1730) schlecht zu sprechen. Er nennt das allgemein respektierte Werk zusammengezimmert und Fächerwerk, welches eigentlich den inneren Begriff der Poesie zu Grunde richtet.

  1. In der heutigen Universitätsstraße gelegen

Betrachtungen

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Göttliche Erwähltheit

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Ich bin von Natur so wenig dankbar, als irgend ein Mensch und beim Vergessen empfangenes Guten konnte das heftige Gefühl eines augenblicklichen Mißverhältnisses mich sehr leicht zum Undank verleiten. (II/10)

Missverhältnis insofern, indem das, was sie empfangen,[1] irdisch und das, was sie dagegen leisten, höherer Art ist, so daß eine Kompensation nicht gedacht werden kann. - Für den Sterblichen, der der Gottheit opfert, ziemt es sich nicht, Dank von einem der Olympischen einzufordern.

  1. die Erwählten, aus denen das Überirdische zu uns spricht

Sich als Teil des Ganzen zu begreifen

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Erkennt man in den Taten Anderer die eigenen versäumten Ziele, dann tritt das schöne Gefühl ein, daß die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist, und daß der Einzelne nur froh und glücklich sein kann, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen. Die Sentenz relativiert das Schiller-Wort: „Der Starke ist am mächtigsten allein“ (Wilhelm Tell). Sie ist auch ein unbewusstes Bekenntnis zur Demokratie.

Zur Philosophie

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Goethe argumentiert als Heranwachsender, um unverbindlich zu bleiben. Und doch ist es der gereifte Goethe, der hier spricht.

Eine abgesonderte Philosophie sei nicht nötig, indem sie schon in der Religion und Poesie vollkommen enthalten sei.

Der Philosophie gehöre das Verdienst, all das, wonach der Mensch nur fragen kann, nach angenommen Grundsätzen in bestimmten Rubriken „vorzutragen“. Selbst habe sie sich der Menge fremd, ungenießbar und endlich entbehrlich gemacht. (II/7)

Wie sich denn auch aus der Geschichte der Philosophie sehr geschwind darthun ließ[e], daß immer einer einen andern Grund sucht als der andere, und der Skeptiker zuletzt alles für grund- und bodenlos ansprach. [ ] An den ältesten Männern und Schulen gefiel mit am besten, daß Poesie, Religion und Philosophie in eins zusammenfielen.

Die Philosophie war also ein mehr oder weniger gesunder und geübter Menschenverstand, der es wagte, ins Allgemeine zu gehen und über äußere und innere Erfahrungen abzusprechen [sich zu besprechen]. Ein heller Scharfsinn und eine besondere Mäßigkeit, indem man durchaus die Mittelstraße und Billigkeit gegen alle Meinungen für das Rechte hielt, verschaffte solchen Schriften und mündlichen Äußerungen Ansehen und Zutrauen, und so fanden sich zuletzt Philosophen in allen Fakultäten, ja in allen Ständen und Hantierungen. (II/7) Mit Scharfsinn und Geltenlassen (Billigkeit) kam man ohne Schulphilosophie aus.

Denn wo Gespenster Platz genommen,
Ist auch der Philosoph willkommen. [ ]
Wenn du nicht irrst, kommst du nicht zu Verstand!
Willst du entstehn, entsteh auf eigne Hand!" (Mephistopheles in Faust II)

Kunstwerk oder Kunststück

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Denn der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das Ende der Kunst. Man wird zwar nicht leugnen, daß das Genie, das ausgebildete Kunsttalent, durch Behandlung aus allem alles machen und den widerspenstigsten Stoff bezwingen könne. Genau besehen, entsteht aber alsdann immer mehr ein Kunststück als ein Kunstwerk. (II/7)

Lessings «Minna von Barnhelm»

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Die gehässige Spannung, in welcher Preußen und Sachsen sich während dieses Krieges [1] gegeneinander befanden, konnte durch die Beendigung desselben nicht aufgehoben werden. Der Sachse fühlte nun erst recht schmerzlich die Wunden, die der überstolz gewordene Preuße geschlagen hatte.[2] Durch den politischen Frieden konnte der Friede zwischen den Gemütern nicht sogleich hergestellt werden. Dieses aber sollte gedachtes [das erwähnte] Schauspiel bewirken. Die Ammut und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen überwindet den Wert, die Würde, den Starrsinn der Preußen, und sowohl an den Hauptpersonen als an den Subalternen [3] wird eine glückliche Vereinigung bizarrer und widerstrebender Elemente kunstgemäß dargestellt. (II/7)

  1. des Siebenjährigen Krieges, 1756 - 1763.
  2. In Leipzig hat sich bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Redewendung „Das ist ja doch nur für den Alten Fritzen“ gehalten für vergebliche Anstrengungen. Entstanden ist die Floskel während der Kontributionen für das siegreiche, aber arme Preußen. Leipzig musste an Friedrich II. ungefähr 10 Millionen Taler zahlen.
  3. Kammerzofe und Diener

Goethe über sein Gesamtwerk

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Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist. (II/7)

Konfession bedeutet hier Bekenntnis, nicht im religiösen Sinn, sondern als Ausdruck von Subjektivität. Bekennende Subjektivität zu Form und Inhalt ist ein wesentliches Merkmal von Kunst. Kunst und Wissenschaft, zwei Felder von Kreativität, in der Antike geschwisterlich vereint unter der Schirmherrschaft Apolls, unterscheiden sich fundamental in diesem Punkt. Gemeinsam ist ihnen Ihre Herkunft aus der Intuition. Intuition ist sowohl in der Wissenschaft wie in der Kunst Vorgestalt und erster Impetus, dem die Ausführung folgt. Doch während die Wissenschaft nüchtern und objektiv bleibt, zu bleiben hat, will die Kunst emotional affizieren. Das gelingt umso mehr, je subjektiver der Künstler Form und Inhalt behandelt. Wobei in der Dichtung sich Form und Inhalt wechselseitig durchdringen. Hoch subjektiv, um dem Innovationszwang der Kunst gerecht zu werden. Erweist sich Kunst nicht als originär, zeigt sie ihre Wurzeln, was in der Wissenschaft legitim ist, gerät sie zum Plagiat oder gibt sich plagiatartige Züge, sollten im Werk Anklänge von fremder Formgebung erkennbar werden. Goethes Bruchstücke, die aus seinem dichterischen Gesamtwerk bekannt geworden sind, sind Bekenntnisse in diesem Sinn

Bühnenwirksamkeit

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Humoristische Kühnheiten, mit Geist und Sinn auf das Theater gebracht, sind von der größten Wirkung. [ ] Wenn nun solche gutmütige Schalks- und Halbschelmenstreiche zu edlen Zwecken mit persönlicher Gefahr ausgeübt werden, so sind die daraus entspringenden Situationen, ästhetisch und moralisch betrachtet, für das Theater von dem größten Wert. (II/7)

Friedrich II.

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Von den Einwohnern Leipzigs hörte der junge Goethe viel Absprechendes über Friedrich II., der in Preußen „Der Große“ genannt wurde:

Friedrich habe sich in keinem seiner Plane und in nichts, was er sich eigentlich vorgenommen, groß bewiesen. Solange es von ihm abgehangen, habe er nur immer Fehler gemacht, und das Außerordentliche sei nur alsdann zum Vorschein gekommen, wenn er genötigt gewesen, eben diese Fehler wieder gut zu machen; und bloß daher sei er zu dem großen Rufe gelangt, weil jeder Mensch sich dieselbige Gabe wünsche, die Fehler, die man häufig begehet, auf eine geschickte Weise wieder ins Gleiche zu bringen. Man dürfe den Siebenjährigen Krieg nur Schritt für Schritt durchgehen, so werde man finden, daß der König seine treffliche Armee ganz unnützerweise aufgeopfert und selbst schuld daran gewesen, daß diese verderbliche Fehde sich so sehr in die Länge gezogen. Ein wahrhaft großer Mann und Heerführer wäre mit seinen Feinden viel geschwinder fertig geworden. (II/7)

Satire und Kritik

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Besonders aufgeregt werde das Publikum von den beiden Erbfeinden alles behaglichen Lebens und aller heiteren, selbstgenügsamen, lebendigen Dichtkunst: Der Satire und der Kritik. In ruhigen Zeiten will jeder nach seiner Weise leben, der Bürger sein Gewerb, sein Geschäft treiben und sich nachher vergnügen; so mag auch der Schriftsteller gern etwas verfassen, seine Arbeiten bekannt machen und, wo nicht Lohn, doch Lob dafür hoffen, weil er glaubt, etwas Gutes und nützliches gethan zu haben. In dieser Ruhe wird der Bürger durch den Satiriker, der Autor durch den Kritiker gestört und so die friedliche Gesellschaft in eine unangenehme Bewegung gesetzt.

Goethes mythische Religiosität

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Goethe schreibt die folgenden Gedanken seinem zwanzigsten Lebensjahr zu, um sich nicht unnötig mit kirchlichen Autoritäten anzulegen.

Da ich oft hatte sagen hören, jeder Mensch habe am Ende seine eigene Religion, so kam mir nichts natürlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden könne. [ ] Ich mochte mir wohl eine Gottheit vorstellen, die sich von Ewigkeit her selbst produziert.[1] Diese eigengesetzliche Produktion ließ die heilige Dreifaltigkeit entstehen. Da jedoch der Produktionstrieb [2] immer fort ging, so schufen sie ein Viertes, das aber schon in sich einen Widerspruch hegte, indem es, wie sie, unbedingt [3] und doch zugleich in ihnen enthalten und durch sie begrenzt sein sollte. Dieses war nun Lucifer, welchem von nun an die ganze Schöpfung übertragen war und von dem alles übrige Sein ausgehen sollte.[4] Nach seinem Gleichnis schuf Lucifer sämtliche Engel. Von solcher Glorie umgeben, vergaß er seinen Ursprung und meinte, ihn in sich selbst zu finden. Aus diesem Undank entstand alles, was der göttlichen Absicht zuwider laufen scheint.

Ein Teil der Engel hielt es mit Lucifer, ein anderer Teil besann sich auf das genealogisch Vorangegangene und wendete sich dem Göttlichen zu. Lucifer und die Engel, die bei ihm geblieben waren, schufen die Materie. Das Wirken Lucifers und seiner Engel war auf Konzentration gerichtet. Ihnen fehlte alles, was durch Expansion allein bewirkt werden kann; und so hätte die sämtliche Schöpfung durch immerwährende Konzentration sich selbst aufreiben, sich mit ihrem Vater Lucifer vernichten können. Die Elohim sahen dem eine Weile zu. In der Wahl, die Äonen abzuwarten, bis wieder Raum für eine neue Schöpfung geworden war oder einzugreifen, entschieden sie sich für das letztere und gaben dem unendlichem Sein die Fähigkeit, sich auszudehnen, sich gegen sie zu bewegen; der eigentliche Puls des Lebens war wieder hergestellt.

In dieser Epoche trat auch das Licht [5] hervor und es begann, was wir mit dem Worte Schöpfung zu bezeichnen pflegen.[6] Bei aller sich nun entwickelnden Mannigfaltigkeit fehlte aber ein Wesen, das die ursprüngliche [7] Verbindung mit der Gottheit herzustellen imstande war. So wurde der Mensch geschaffen, der Gott gleich sein sollte. Eigenständig und zugleich beschränkt [8] wurde er das vollkommenste und zugleich unvollkommenste, das glücklichste und unglücklichste Geschöpf. [ ] Man sieht leicht, wie hier die Erlösung nicht allein von Ewigkeit her beschlossen, sondern als ewig notwendig gedacht wird.

  1. Im Anfang war die Tat. (Faust I)
  2. Das Werdende, was ewig wirkt und lebt (Faust I)
  3. eigenständig
  4. Mephistopheles:
    Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft.
  5. Licht ist ein Symbol für Erkennen, für Geist.
    Mephistopheles:
    Ich bin ein Teil des Teils, der Anfangs alles war,
    Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar.
    Mephistopheles über Licht (Geist):
    Und doch gelingt’s ihm nicht, da es, soviel es strebt,
    Verhaftet an den Köpern klebt.
  6. Schöpfung meint in diesem Zusammenhang Entwicklung.
  7. vor dem Abfall Lucifers
  8. dem Göttlichen verpflichtet

Selbstapotheose des Genies

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Nichts ist in diesem Sinne natürlicher, als daß die Gottheit selbst die Gestalt des Menschen annimmt, die sie sich zu seiner Hülle schon vorbereitet hatte und daß sie die Schicksale derselben auf kurze Zeit teilt, um durch diese Verähnlichung das Erfreuliche zu erhöhen und das Schmerzliche zu mildern.

Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.

Die Buchreligionen

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Formal Vergangenes beschreibend, redet Goethe einer natürlichen Religion das Wort. Das Licht der Natur reiche hin für die Erkenntnis Gottes. Dessen Innewerden führe zurVerbesserung und Veredelung unserer selbst. Toleranz gegenüber sämtlichen positiven Religionen gab diesen gleiche Rechte, wodurch denn eine mit der anderen gleichgültig und unsicher wurde.

Der Bibel bietet mehr als jedes anderes Buch Stoff zum Nachdenken und Gelegenheit zu Betrachtungen über die menschlichen Dinge. Das ist eine dichterische Wertung, die sich auf die Kunst- und Thementauglichkeit der biblischen Begebenheiten, Lehren, Symbole, Gleichnisse bezieht und nur bedingt ein Ausdruck von Religiosität.

Gottesverständnis der Aufklärung

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Hinsichtlich der Bibelexegese sei man während Goethes Studienjahren der Auffassung gewesen, Gott habe sich nach der Denkweise und Fassungskraft der Menschen gerichtet.


Aphorismen und Reflexionen

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„Dieweil ich bin, muß ich auch tätig sein.“ (Homunculus in Faust II)

  • Daß es im Leben bloß aufs Thun ankomme, das Genießen und Leiden finde sich von selbst.

Das Erhabene

  • Soviel ist gewiß, daß die unbestimmten, sich weit ausdehnenden Gefühle der Jugend und ungebildeten Völker allein zum Erhabenen geeignet sind. Gewinne das Erhabene Form, zeige es sich uns in einer Größe, der wir nicht gewachsen seien.[1] Es sei denn, es ist glücklich genug, sich zu dem Schönen zu flüchten und sich innig mit ihm zu vereinen, wodurch den beide gleich unsterblich und unverwüstlich sind.
  1. Gestaltet hat Goethe dies in Fausts Begegnung mit dem Erdgeist und nochmals in Fausts Auftakt-Monolog im zweiten Teil der Dichtung. [1]

„Das ewig Weibliche“ (Chorus mysticus in Faust II)

  • Ein Freund, der es zu deutlich merken läßt, daß er an euch zu bilden gedenkt, erregt kein Behagen; indessen eine Frau, die euch bildet, indem sie euch zu verwöhnen scheint, wie ein himmlisches, freudebringendes Wesen angebetet wird.

Goethe deutet, indem fortfährt, die hintergründige Sinnlichkeit und Erotik des Schönen an. Bezogen auf seine zurückliegende Jugendliebe schreibt er: Aber jene Gestalt, an der sich der Begriff des Schönen mir hervorthat, war in die Ferne weggeschwunden.

In Faust II allegorisiert Helena die Verbindung von Eros und Schönheit. - Ähnlche Bezüge finden sich bei Wagner. Im sog. Preislied singt Tannhäuser, an Frau Venus gerichtet: „Dein süßer Reiz ist Quelle alles Schönen.“

Professoren

  • Professoren so gut wie andere in Ämtern angestellte Männer können nicht alle von einem Alter sein; da aber die jüngeren eigentlich nur lehren, um zu lernen, und noch dazu, wenn sie gute Köpfe sind, dem Zeitalter voreilen, so erwerben sie ihre Bildung durchaus auf Unkosten der Zuhörer, weil diese nicht in dem unterrichtet werden, was sie eigentlich brauchen, sondern in dem, was der Lehrer für sich zu bearbeiten nötig findet. Unter den älteren Professoren dagegen sind manche schon lange Zeit stationär; sie überliefern im ganzen nur fixe Ansichten und, was das Eigentliche betrifft, vieles, was die Zeit schon als unnütz und falsch verurteilt hat.

„Mein Leipzig lob’ ich mir.“ (Faust I, Auerbachs Keller)

  • In Jena und Halle war die Rohheit aufs höchste gestiegen, körperliche Stärke, Fechtergewandtheit, die wildesten Selbsthülfe war dort an der Tagesordnung. [ ] Dagegen konnte in Leipzig ein Student kaum anders als galant sein, sobald er mit reichen, wohl und gesitteten Einwohnern in einigem Bezug stehen wollte.

Anleitung

  • Wenn ältere Personen recht pädagogisch verfahren wollten, so sollten sie einem jungen Manne etwas, was ihm Freude macht, es sei von welcher Art es wolle, weder verbieten oder verleiden, wenn sie nicht zu gleicher Zeit ihm etwas anderes einzusetzen oder unterzuschieben wüssten.

Natur als Kunstvorlage

  • Der Maler ahmte die Natur offenbar nach; warum der Dichter nicht auch? Aber die Natur, wie sie vor uns liegt, kann doch nicht nachgeahmt werden; sie enthält so vieles Unbedeutende, Unwürdige, man muß also wählen; was aber bestimmt die Wahl? Man muß das Bedeutende aussuchen.

Nachruhm

  • Nicht insofern der Mensch etwas zurückläßt, sondern insofern er wirkt und genießt und andere zu wirken und zu genießen anregt, bleibt er von Bedeutung.

National-Epos

  • In diesem Sinne muß jede Nation, wenn sie für irgend etwas gelten will, eine Epopöe [1] besitzen, wozu nicht gerade die Form des epischen Gedichts nötig ist.
  1. ältere Bezeichnung für Epos

Der protestantische Gottesdienst

  • hat zu wenig Fülle und Konsequenz,[1] als das er die Gemeine [Gemeinde] zusammenhalten könnte; daher geschieht es leicht, daß Glieder sich von ihr absondern und entweder kleine Gemeinen bilden oder ohne kirchlichen Zusammenhang nebeneinander geruhig ihr bürgerliches Wesen treiben.
  1. im Vergleich zum katholischen Ritus

Gewohnheit

  • In sittlichen und religiösen Dingen ebensowohl als in physischen und bürgerlichen mag der Mensch nicht gern etwas aus dem Stegreife thun; eine Folge, woraus Gewohnheit entspringt, ist ihm nötig; das, was er lieben und leisten soll, kann er sich nicht einzeln, nicht abgerissen denken, und um etwas gern zu wiederholen, muß es ihm nicht fremd geworden sein.

Im Rückblick sich wahrnehmen als den, der man gewesen ist

  • Nichts gibt uns mehr Aufschluß über uns selbst, als wenn wir das, was voreinigen Jahren von uns ausgegangen ist [Briefe, Texte; alles selbst Gefertigte], wieder vor uns sehen, so daß wir uns selbst nunmehr als Gegenstand betrachten können.

Carpe diem

  • Die Zeit ist unendlich lang und ein jeder Tag ein Gefäß, in das sich sehr viel eingießen läßt, wenn man es wirklich ausfüllen will.

Aus Fehlern klug werden

  • Leider ist es im Diätetischen wie im Moralischen: wir können einen Fehler nicht eher einsehen, als bis wir ihn los sind.

Ambivalenz

  • Der Geist des Widerspruchs und die Lust zum Paradoxen steckt in uns allen.

Dünkel und was er verrät

  • Es ist in der Welt nicht schwer zu bemerken, daß sich der Mensch am freiesten und am völligsten von seinen Gebrechen [1]

los und ledig fühlt, wenn er sich die Mängel anderer vergegenwärtigt und sich darüber mit behaglichem Tadel verbreitet.

  1. charakterliche Gebrechen

Klatsch

  • Es ist schon eine ziemlich angenehme Empfindung, uns durch Mißbilligung und Mißreden über unsersgleichen hinauszusetzen, weswegen auch hierin die gute Gesellschaft, sie bestehe aus wenigen oder mehr mehreren, sich am liebsten ergeht.

Besserwisserei aus Unverstand

  • Nichts aber gleicht der behaglichen Selbstgefälligkeit, wenn wir uns zu Richtern der Obern und Vorgesetzten, der Fürsten und Staatsmänner erheben, öffentliche Anstalten ungeschickt und zweckwidrig finden, nur die möglichen und wirklichen Hindernisse beachten und weder die Größe der Intention noch die Mitwirkung anerkennen, die bei jedem Unternehmen von Zeit und Umständen zu erwarten ist.

Zur Vertreibung der Jesuiten aus Straßburg 1764

  • Wie froh sind die Menschen, wenn sie einen Widersacher, ja nur einen Hüter los sind, und die Herde bedenkt nicht, daß da, wo der Rüde fehlt, sie den Wölfen ausgesetzt ist.

Sammlerglück

  • Das, was uns umgibt, erhält [ ] ein Leben, wir sehen es in geistiger, liebevoller, genetischer Verknüpfung, und durch das Vergegenwärtigen vergangener Zustände wird das Augenblickliche erhöht und bereichert.

Charisma

  • Der Mensch wirkt alles, was er vermag, auf den Menschen durch seine Persönlichkeit.
Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gestehn’ zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.
Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermißt;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist. (West-östl. Divan)


Objektivität durch poetische Ironie

  • Eigentlich fühlte ich mich aber in Übereinstimmungmit jener ironischen Gesinnung, die sich über die Gegenstände, über Glück und Unglück, Gutes und Böses, Tod und Leben erhebt und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt.


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