Die essayistischen Einschaltungen in Goethes «Dichtung und Wahrheit». 4.Teil.
- Nemo contra deum nisi deus ipse
- (Nur Gott selber darf sich in Frage stellen.)
Künstlertum
Am furchtbarsten erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgendeinem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten,[1] selten sich an Herzensgüte empfehlend; [2] aber eine ungeheuere Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wieweit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? [3] Alle vereinten sittliche Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene [4] oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden, als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; [5] und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare, aber ungeheure Spruch entstanden sein: Nemo contra deum nisi deus ipse. [6]
- ↑ Nicht unbedingt intellektuell veranlagt, dafür aber von starker intuitiver Begabung.
- ↑ egozentrisch
- ↑ eine Anspielung auf Göttlichkeit
- ↑ als Irrende
- ↑ titanenhaft
- ↑ Der wohl auf Goethe zurück geht.
Die Subjektivität im Auffassen vom Gesprochenem oder Geschriebenem
Denn daß niemand den anderen versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe, was der andere denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehen.
Stoff und Material aus der Wirklichkeit
Goethe hat in seiner Kunstauffassung versucht, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben.[1] In der Poesie das Imaginative [2] zu verwirklichen gibt nichts wie dummes Zeug.
- ↑ Die Kunst hat er abgespiegelte Wahrheit genannt. Abgespiegelt im Sinne von bearbeitet, da das Spiegelbild verändert, z. B. indem es die Seiten vertauscht.
- ↑ im Sinne von Erfindung
Über Lavater
Seine unaufhaltsame Neigung, das Ideelle verwirklichen zu wollen, brachte ihn in den Ruf eines Schwärmers, obwohl er sich gleich überzeugt fühlte, daß niemand mehr auf das Wirkliche dringe als er; deswegen er denn auch den Mißgriff in seiner Denk- und Handlungsweise niemals entdecken konnte. [ ] Seine Schriften sind schwer zu verstehen, denn nicht leicht kann jemand eindringen in das, was er eigentlich will. [ ] Er war weder Denker noch Dichter, ja nicht einmal Redner im eigentlichen Sinne. Keineswegs im stande [Stande] etwas methodisch aufzufassen, griff er das Einzelne einzeln sicher auf, und so stellte er es auch kühn nebeneinander. [ ] Es waren darunter Bemerkungen zum Entsetzen; allein es machte keine Reihe, alles stand vielmehr zufällig durcheinander, nirgends war eine Anleitung zu sehen oder eine Rückwirkung zu finden.
Bezauberung
Jedes Talent, das sich auf eine entschiedene Naturanlage gründet, scheint uns etwas Magisches zu haben, weil wir weder es selbst noch seine Wirkungen unterordnen können. [1]
- ↑ In «Wilhelm Meisters Lehrjahre» nennt eine der Romanfiguren die Kunstrezipienten „Bezauberte“, den Künstler „Zauberer“. (I/5)
Die Autobiographie endet mit Goethes Abreise aus Heidelberg nach Weimar, wo er am 7. November 1775 morgens eintraf. Das Amt und das gesellschaftliche Leben in der kleinen Residenzstadt, damals halb Dorf, halb Stadt, waren wohl kein kunsttauglicher Stoff. Autobiographisches setzt erst wieder mit Goehtes Beschreibung seines Aufenthaltes in Italien ein .