Gedanken zu "Sein und Zeit"

Untertitel: Der Entwicklungsprozess der Liebe

(Hans-Peter Kolb, Hannover)

Zusammenfassung des Manuskripts

  • Zielgruppe: Alle, die an der Philosophie von Wikipedia Heidegger interessiert sind. Philosophische und psychologische Vorkenntnisse sind nützlich, aber nicht notwendig
  • Lernziele: Kritische Betrachtung von Wikipedia Sein und Zeit, Klärung der Begriffe (eigene Gedanken habe ich, ausgenommen dort, wo dies unmissverständlich klar ist, durch kursive Schreibweise gekennzeichnet. Ab Kapitel 14 habe ich es dann nicht mehr für nötig gehalten.)
  • Sind Co-Autoren gegenwärtig erwünscht? Inhaltliche Änderungen bitte nur auf die Diskussionsseite schreiben, ich füge sie an geeigneter Stelle ein!
  • Themenbeschreibung: Siehe Vorwort, insbesondere wird versucht, eine Beziehung von Heideggers Begriff der Eigentlichkeit zum Begriff Liebe herzustellen (siehe Untertitel: Der Entwicklungsprozess der Liebe)
  • Aufbau des Manuskripts: Siehe Vorwort. Wie man ansonsten anhand des Inhaltsverzeichnisses erkennen kann, wird Sein und Zeit systematisch und paragraphenweise durchgearbeitet. Höhepunkt des Manuskripts ist das neunte Kapitel, in welchem ich zeige, dass die Zeitlichkeit nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür ist, einen ausreichenden und damit vollständigen Rahmen zur Verfügung zu stellen, um das Sein des Daseins zu analysieren.


Vorwort

Trotz des Titels „Vorwort“ ist ein Vorwort nur für den Leser ein solches, für mich als Verfasser eher ein Nachruf, ein Abschied von einem Projekt, das mir viel Freude bereitet hat, auch wenn es anstrengend war und mich manche Nacht gekostet hat. Mein Rückblick soll dem Leser einen Vorblick auf das geben, was sie oder ihn auf den folgenden Seiten erwartet.

In den ersten zwölf Kapiteln referiere ich mehr oder weniger ausführlich Heideggers „Sein und Zeit“, jeweils ergänzt durch Auslegungen des von Thomas Rentsch herausgegebenen Buches über „Sein und Zeit“ (Rentsch, 2007). Außerdem habe ich „Sein und Zeit“ teils erweitert, teils geändert und, wie ich finde, dadurch verbessert. Ferner dienen entwicklungspsychologische und psychotherapeutische Theorien und Untersuchungen als phänomenale Bewährung der existenzial-ontologischen Interpretation, und die Interpretation bildet eine philosophische Fundierung psychologischer Theorien, die ich umformuliert habe unter Verwendung der existenzial-ontologischen Terminologie. Außerdem hat Heideggers Philosophie, wie ich zeigen werde, eine nicht unerhebliche Relevanz für die therapeutische Haltung (Anerkennung der Unverfügbarkeit des Therapeuten und des Patienten) und therapeutisches Handeln (Betonung des Verstehens des Worumwillens bzw. der Sorge und der eigentlichen Befindlichkeit sowohl des Patienten als auch des Therapeuten selbst).

Im ersten Kapitel bin ich näher auf den Begriff der Ontologie eingegangen, im zweiten Kapitel habe ich das Existenzial der Wirksamkeit eingeführt, um Heideggers Begriff der daseinsmäßigen Räumlichkeit ursprünglicher beschreiben zu können, und im dritten Kapitel habe ich den Begriff der Kongruenz von Erfahrungen und deren Repräsentanz in der Weltlichkeit des Daseins mit hinzugenommen und so eine Verbindung zur Gesprächspsychotherapie von Rogers gezogen. Im zweiten Kapitel habe ich den Begriff der Sorge von Heidegger dahingehend erweitert, dass ich darunter Ergriffenheit und Erwartung verstehe. Dadurch sind in der Sorge auch Täuschung und Enttäuschung enthalten, sowie die Verfallenheit als Festhalten an bzw. Aufrechterhaltung der Täuschung. Letzteres habe ich im sechsten Kapitel genauer abgehandelt. Da Heidegger zwar auch menschliche Gemeinschaften betrachtet, aber bei der Analyse des Daseins lediglich die Arbeitswelt einbezieht, habe ich ab dem vierten Kapitel die Analyse dadurch erweitert, dass ich auf das sozial-emotionale Geschehen in Gemeinschaften dieselben Analyseschritte anwende wie Heidegger auf die Arbeitswelt. Im fünften und sechsten Kapitel habe ich nicht nur die Angst, sondern auch die Befindlichkeiten der Wut, des Leids, der Abscheu und der Freude betrachtet und so in Kapitel zehn eine philosophische Grundlage für eine psychologische Theorie der Emotionen geschaffen, die im Sinn des Seins gründet. Im fünften Kapitel zeige ich zudem auf, dass der Selbstentwurf des Daseins durch die Struktur der Selbstbedeutsamkeit eine analoge Struktur besitzt wie eine Gemeinschaft. Während das Entwerfen und der Entwurf bei Heidegger noch ziemlich funktional betrachtet werden im Verstehen als Entwerfen und Entwurf eines Seinkönnens, wird das Dasein in der Selbstbedeutsamkeit, woraus ich das Konzept der achtsamen Übertragung entwickle, dessen gewahr, dass es selbst entwirft und dass andere daseinsmäßig Seiende dies ebenfalls tun, das Verstehen wird so zum Sich-Selbst-Verstehen und zum Verstehen seiner Befindlichkeit, ein reflexives Verstehen im Unterschied zu einem lediglich funktionalen. Im neunten Kapitel erhält der Selbstentwurf noch eine weitere Struktur, nämlich die der Selbstbewusstheit. Dabei spielen sowohl dynamische als auch ökonomische Aspekte eine wichtige Rolle. Mit der Selbstbewusstheit gewinnt das Verstehen des Daseins zusätzlich noch autobiografische Züge. Damit bekommt das Entwicklungskonzept des Selbst von Fonagy et al. (2008), dass das Gewahrsein eines Kindes erst funktional, dann reflexiv und schließlich autobiografisch wird, eine philosophische Fundierung und diese philosophischen Überlegungen eine phänomenale Bewährung. In Kapitel zehn führe ich dann aus, dass die Befindlichkeit das Dasein durch die Grundbefindlichkeiten Angst, Wut, Leid und Abscheu auf seine Prozesshaftigkeit und durch die Grundbefindlichkeit der Freude auf sein eigentliches Entwicklungsziel der Liebe hinweist. Eigentlich ist das Dasein darauf ausgerichtet, in der Beziehung zum Sein in der Befindlichkeit der Freude zu sein, sodass der eigentliche Sinn des Seins des Daseins die auf Liebe hin ausgerichtete Prozesshaftigkeit ist, wobei der Ursprung, von dem die Entwicklung des Daseins ausgeht, die Abhängigkeit von der Welt ist, die nur durch echtes und unmittelbares Verstehen entschlossen und hingebungsvoll angenommen und damit überwunden werden kann. Sinn ist hierbei als die möglichen Richtungen der Prozesshaftigkeit verstanden. Der uneigentliche Sinn des Seins des Daseins, also die uneigentlichen Richtungen seiner Prozesshaftigkeit, ist auf (Friedhofs-)Ruhe und Kontrolle bzw. auf Abhängigkeit statt auf Liebe ausgerichtet.

Im fünften Kapitel habe ich die Auslegung und ihre besondere Bedeutung für den hermeneutischen Zirkel mithilfe einer deutlicheren Abgrenzung von der Rede als bei Heidegger herausgestellt. Rede ist spielerische begriffliche Gliederung von bedingtem Seinkönnen und entwerfender Bedingtheit, während Auslegung Ausdruck und damit Austausch mit begegnendem Seienden bedeutet, anhand dessen das Dasein praktische Erfahrungen macht, die es entweder in seiner Weltlichkeit integriert oder aber von denen es sich abkehrt und an einer entsprechenden Täuschung festhält, sodass es in der Abkehr von ihm selbst verfällt. Entwicklungspsychologisch ist die Auslegung die bei Fonagy et al. (2008) dargestellte Integration des Äquivalenz-Modus (alles ist, wie es dem Dasein nach seiner momentanen Bedeutung zu sein scheint, wobei die verschiedenen Bedeutungen des in der Welt Begegnenden noch nicht miteinander verknüpft sind) in den Als-ob-Modus, in welchem das Dasein in spielerischer begrifflicher Gliederung (Rede) zusammen mit der Mutter ihre Weltlichkeit erforschen konnte. Die Fähigkeit des Daseins zur Auslegung kennzeichnet damit den Abschluss seiner sozialen Geburt mit etwa vier Jahren, wenn es die verschiedenen Bedeutungen zu einer Gesamtbedeutsamkeit der Welt verbindet und ab diesem Zeitpunkt seine eigene Weltlichkeit hat. Dann wird aus seinem gegenwärtigen Selbst ein autobiografisches Selbst.

Dem Sein zum Tode im siebten Kapitel habe ich das Sein vom Anfang her beigefügt, da meines Erachtens so die Ganzheit des Daseins von zwei Seiten beleuchtet und damit phänomenal gehoben ist. Entsprechend dem Sein zum Tode habe ich daher analog das Sein vom Anfang her analysiert. Die Entschlossenheit im achten Kapitel wurde von mir ergänzt durch Reue, Wiedergutmachung und Selbstreinerhaltung, wobei ich den Beitrag von mehreren Befindlichkeiten zum Erreichen der Eigentlichkeit betrachtet habe, und nicht nur den der Angst wie Heidegger. Dabei kommt der Befindlichkeit der Abscheu eine besondere Rolle zu, indem sie die Befindlichkeit ist, durch die dem Dasein sein ursprüngliches Schuldigsein und sein prinzipielles und ständiges Schuldigseinkönnen erschlossen sind. Die Abscheu und ihr uneigentlicher Modus, der Ekel, sind dem Leiblichen und damit dem daseinsmäßig Räumlichen zugeordnet und heben deren Bedeutung hervor, während Angst, Wut und Leid primär zeitlich sind. Zusammen mit der Freude kann jede Befindlichkeit mithilfe dieser fünf Grundbefindlichkeiten vollständig analysiert werden, wie ich in Kapitel zehn zeigen werde.

Bereits im fünften Kapitel habe ich das Thema Liebe aufgegriffen und in den folgenden Kapiteln immer ausführlicher und grundlegender beschrieben, wie bei einer Entwicklung des Daseins zu seinem eigentlichen Seinkönnen, also seiner Eigentlichkeit, die Sorge als Ergriffenheit und Erwartung sich immer mehr in Richtung Liebe und Erfüllung entwickelt.

Im neunten Kapitel zeige ich dann auf, dass Heidegger bei seiner Analyse insofern einen Fehler begangen hat, als dass er nur die Zeitlichkeit und nicht auch die Räumlichkeit als Rahmen bzw. Sinn des Seins genommen hat. Dies erscheint mir als das größte Manko von „Sein und Zeit“. Zusammengenommen bilden Zeitlichkeit und Räumlichkeit die Prozesshaftigkeit. Damit lassen sich dann sowohl die Alltäglichkeit als auch die Geschichtlichkeit und die Innerprozesshaftigkeit in den Kapiteln zehn bis zwölf wesentlich schlüssiger analysieren. Was die Frage nach der Transzendenz betrifft, so versucht Heidegger eine Antwort über den wissenschaftlichen Entwurf, die Thematisierung der Natur zu bekommen, der nur möglich wird, wenn das Dasein das thematisierte Seiende transzendiert und so eine Objektivierung ermöglicht („Sein und Zeit“, Seite 363). Dadurch dass das Sein des Daseins in der Zeitlichkeit (bei mir Prozesshaftigkeit) gründe, „muss diese das In-der-Welt-sein und somit die Transzendenz des Daseins ermöglichen“ („Sein und Zeit“, Seite 364). Die Transzendenz im Zwischenmenschlichen wird dadurch aber nicht konkreter beschrieben. Indem ich in Kapitel 10 über die Prozesshaftigkeit und die damit analysierten Grundbefindlichkeiten, aus denen jeder Modus der Befindlichkeit des Daseins erwächst, die Verbindung zwischen allen daseinsmäßig Seienden, also allen Menschen, aufzeige, ergibt sich daraus eine Antwort auf die Frage nach der konkreten Transzendenz im Zwischenmenschlichen. Dies gelingt über die prozesshafte Analyse von Unwillkürlichkeit und Willkürlichkeit, sowie mithilfe der Einbeziehung von Gemeinschaft. Als notwendige und hinreichende Bedingung für Transzendenz im allgemeinen erweisen sich danach zum einen die Zugewandtheit des Daseins zu allen anderen Menschen, die ihm begegnen, und zum anderen, dass es sich nicht von ihm selbst abkehrt. Zugewandtheit bedeutet Offenheit für Nähe, wobei das Dasein gegebenenfalls auch auf Distanz zu Anderen gehen kann.

Im zwölften Kapitel führe ich den Begriff des Rhythmus ein und analysiere mit seiner Hilfe prozesshaft das Trancephänomen der Suggestibilität und das Trance-Geschehen überhaupt. Das Thema der Rhythmik wird dann im Zusammenhang mit dem Thema Liebe in Kapitel 14 noch einmal aufgegriffen. In der theoretischen Physik, genauer in der zwischen 1925 und 1935 entwickelten Quantenmechanik, gibt es folgende Parallele zu Heideggers Zeitlichkeit und der von mir hinzugenommenen Rhythmik: um eine Superposition mehrerer Möglichkeiten in der Physik theoretisch zu erfassen, wird die Zeit mithilfe der komplexen Zahlen räumlich aufgespannt, was den drei Ekstasen der Zeitlichkeit entspricht, und als Zustandsgleichung eines solchen physikalischen Systems benutzt man eine Wellenfunktion, was der Rhythmik gleichkommt. Schon die beiden griechischen Philosophen Leukipp und Demokrit, die Gründer der Schule der Atomisten, sahen im Rhythmus als der hervordrängenden Regung, dem gegliederten Andrang, das, wodurch Seiendes u.a. unterscheidbar ist.

In Kapitel 13 referiere ich dann das 13. Kapitel von Dieter Thomä in Rentsch (2007), ein Rückblick auf Heideggers „Sein und Zeit“, wobei ich meine abgewandelte Version derselben kritischen Betrachtung unterziehe und die Analyse der Ekstase der Räumlichkeit so verbessere, dass auch die letzten Reste an Subjektivismus entfernt werden.

Im 14. Kapitel setze ich mich noch weiter mit dem Thema Liebe auseinander, indem ich den Rhythmus und dessen Doppelnatur mit hinzuziehe: bei Heidegger und bei Aristoteles wird Rhythmus als Fügung betrachtet, die Beruhigung vermittelt, während die griechischen Atomisten wie Leukipp und Demokrit darunter etwas Dynamisches verstehen. Indem ich den Rhythmus des hermeneutischen Zirkels analysiere, sodass dessen Gefügtheit und dynamisches Entwicklungspotenzial zu Tage treten, versuche ich aufzuzeigen, wie der Rhythmus als Prozess im Prozess Gegensätze vereinen, Harmonie schaffen, Transzendenz ermöglichen und so die Entwicklung der Sorge hin zu Liebe und Erfüllung voranbringen kann. Wie der Rhythmus, so hat auch die Liebe eine Doppelnatur: Entschlossenheit und Hingabe, Leitung und Begleitung, Mut und Gelassenheit.

Im 15. Kapitel gehe ich auf die Theorie von Paul Matussek (1993 und 1997) ein, der glaubt, bei Heidegger eine larvierte Psychose erkennen zu können. Zum einen stelle ich seine Theorie in den Begrifflichkeiten der vorangegangenen Kapitel dar und analysiere sie entsprechend, zum anderen zeige ich auf, dass sowohl von Heideggers Lebensweg als auch von seiner Philosophie in „Sein und Zeit“ keineswegs schlüssig eine solche Diagnose abgeleitet werden kann. Anschließend versuche ich aufzuzeigen, dass Heideggers Krise nach dem zweiten Weltkrieg wahrscheinlich durch Liebe aufgefangen wurde. Mit der Ausarbeitung der Konzepte des öffentlichen und privaten Selbst von Matussek und deren Umformulierung in Heideggers Terminologie mit meinen Ergänzungen lässt sich noch einmal ein neues Licht werfen auf Heideggers Begriffe Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit und den darin enthaltenen Subjektivismus, der durch Oszillieren zwischen beidem überwunden werden kann.

In den ersten 13 Kapiteln habe ich eigene Gedanken, ausgenommen dort, wo dies unmissverständlich klar ist, durch kursive Schreibweise gekennzeichnet.

Die Frage nach dem Sinn von Sein (§§ 1 bis 8) Bearbeiten

In der Einleitung von „Sein und Zeit“ legt Heidegger die Wichtigkeit und Bedeutung der Seinsfrage dar, unter anderem deswegen, weil der Begriff „Sein“ das Allgemeinste sei, wir ein gewisses Verständnis davon hätten und diesen Begriff aber für so selbstverständlich hielten, dass wir ihn ständig ausblenden und vergessen würden. Genau das fordere aber gerade dazu auf, die Frage nach dem Sinn des Seins zu stellen. Der Paradigmenwechsel in vielen Wissenschaften zeige die Notwendigkeit, das Seiende dieser Wissenschaften, also ihren Gegenstandsbereich, auf die Grundverfassung seines Seins auszulegen, womit sich also die Seinsfrage stellt. Entsprechendes gilt meines Erachtens auch für den Begriff „Wahrheit“, den wir meistens mit Wirklichkeit verwechseln und den Heidegger später (Paragraph 44 c)) als Erschlossenheit des Seins begreift. Wie ich weiter unten ausführen werde, ist Wahrheit das, was dem Dasein in der Beziehung zum Sein gegeben wird, was es sich nur durch echtes und unmittelbares Verständnis, das heißt nur in der Liebe aneignen kann, und was ihm dann Erfüllung gibt.

In meinen psychotherapeutischen Behandlungen habe ich es immer wieder erlebt, dass Menschen nach dem Sinn von dem fragen, was sie erlebt haben oder ihnen zugestoßen ist. Es scheint ein großes Bedürfnis zu geben, in allem einen Sinn zu entdecken bzw. zu erkennen, unter anderem damit wir dem Bedürfnis zu kontrollieren nachgehen können, und weil wir Freude am Gestalten haben. Wenn jemandem dies nicht möglich ist, dann erfindet er lieber einen Sinn, bevor ihm etwas sinnlos erscheint. Eine reifere Form des Umgehens mit diesem Problem als das Erfinden eines Sinnes ist die Annahme, dass es einen Sinn gebe, dieser aber nicht oder noch nicht erkennbar sei. Dann besteht zumindest die Hoffnung, irgendwann einmal kontrollieren und gestalten zu können. Aus meiner psychotherapeutischen Praxis kann ich daher ersehen, dass es typisch für uns Menschen ist, dass wir, ganz allgemein gesprochen, nach dem Sinn des Seins fragen, zumindest auf der konkreten Ebene nach dem Sinn des Seienden. Auch innerhalb der verschiedenen psychotherapeutischen Theorien gilt es als zentraler Indikator und Faktor psychischer Gesundheit, wenn das eigene Verhalten und Erleben als sinnhaft empfunden werden kann. Ein Sinnsystem gilt als eine der tragenden Säulen seelischer Ausgeglichenheit und Gesundheit.

Der Sinn von etwas ist nach Heidegger der Bezug, von dem aus etwas verständlich wird. Um es vorwegzunehmen, der Sinn von Sein, aus dem das Sein verständlich wird, ist die Zeitlichkeit. Das ist die These von Heidegger in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“. Dem möchte ich die These entgegenstellen: der Sinn von Sein, aus dem das Sein verständlich wird, ist die Prozesshaftigkeit. Im Prozesshaften ist außer der Zeitlichkeit auch die Räumlichkeit enthalten. Heidegger versucht zwar im Paragraph 70 von „Sein und Zeit“, die Räumlichkeit auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, hat dies aber in seinem Vortrag „Zeit und Sein“ als „unhaltbar“ zurückgenommen (vgl. Rentsch, 2007, Kapitel 10, Seite 223).

Sobald sich etwas Außergewöhnliches ereignet, wollen wir die Wahrheit wissen, wie es dazu gekommen ist. Diese Neugier hat ihren praktischen Nutzen darin, dass wir dann, wenn wir die Wahrheit wissen, dieses Außergewöhnliche unter Umständen herbeiführen oder vermeiden können, je nach dem, ob es für uns positiv oder negativ ist. Auch in der Philosophie bei den Eleaten, einer altgriechischen Philosophenschule, die nach dem Bleibenden im Wandel forschte, war das Wahre (neben dem Guten und dem Schönen) das Forschungsfeld, in welchem man Naturwissenschaften betrieb. Das Wahre waren die bleibenden Naturgesetze, die man benutzen konnte, um sich der Natur zu bemächtigen. Insofern ist das Forschen nach der Wahrheit immer auch der Versuch, etwas zu bewirken oder etwas zu beherrschen. Wissen ist Macht. Wir suchen aber meist nach dem Wirklichen (und nicht nach dem Wahren), nach dem, was die gegenwärtige Wirkung bedingend hervorgerufen hat, meistens in der Vergangenheit, um unsere Zukunft besser beeinflussen und bestimmen zu können.

Dies allein reicht aber nicht aus, denn die Zukunft ist nicht allein aus dem als wirklich Erkannten der Vergangenheit zu erschließen. Erst wenn wir nicht nur die Bedingungen, die zu etwas geführt haben, die aber auch zu etwas anderem hätten führen können, sondern den Gesamtzusammenhang einschließlich aller zukünftigen Möglichkeiten, der zugleich auch den Sinn des Geschehenen offenbart, entdeckt und erkannt haben, sind wir für die Zukunft ausreichend gewappnet, wobei die Zukunft mit dem Sinn nicht festgelegt ist, der Sinn gibt nur Richtungen an, die wir einschlagen können.

Im Alltag beschäftigen wir uns also meistens gar nicht mit der Wahrheit der Geschehnisse, sondern nur mit der Wirklichkeit, mit dem, was irgendeine erschließbare Veränderung hervorruft bzw. hervorgerufen hat, je nach dem, ob es da ist (bzw. war) oder nicht. Sein gründet auf dem Sinn des Seins des Seienden so, wie Wahrheit auf der Beziehung von uns Menschen zum Sein des Wirklichen beruht. Sein ist nichts Seiendes, und Wahrheit ist nichts Wirkliches. Der Unterschied zwischen Wahrheit und Wirklichem ist also von derselben Art wie zwischen Sein und Seiendem. Insofern ist die Frage nach der Wahrheit ebenso wie die Frage nach dem Sein eine Fundamentalfrage. Bei der Wahrheit fragen wir nach der Beziehung von uns Menschen zum Sein überhaupt, auf der unsere Wahrheit beruht. Die allgemeine Frage, was Sein (bzw. Wahrheit) heißt, wird auch bei Heidegger nicht gestellt. Heidegger meint dazu, diese Frage sei zu groß, aber gleichgültig, was die Antwort auf diese Frage ist, jede Antwort gründet in dem Sinn von Sein oder dem Sinn unserer wahren Beziehung zum Sein.

Vor dem Wahrheitsproblem liegt allerdings noch das Realitätsproblem, nämlich ob es überhaupt Wirkliches gibt. Wenn es aber nichts Wirkliches gibt, dann gibt es nur Seiendes - wenn überhaupt -, das keine Wirkung hat, das heißt das nicht entdeckbar ist. Was ist dann aber überhaupt, und wie ist seine Seinsart? Heidegger meint dazu, das In-der-Welt-sein ereigne sich, und damit gebe es kein Realitätsproblem (Paragraph 44 b). Das bedeutet, es gibt eine Beziehung zwischen den Menschen und dem Sein, das heißt wir sind, weil wir in der Welt sind, die uns erschlossen ist bzw. die sich uns nach und nach erschließt.

Was es mit dem Sein auf sich hat, möchte ich einmal folgendermaßen darlegen: Mit dem Sein eines Seienden drückt ein Sprecher, der dieses Hilfsverb verwendet, etwas über dieses Seiende aus. Dies ist nur möglich, wenn er einen Bezug bzw. eine Beziehung zum Sein dieses Seienden hat. Da der Sprecher auch ein Seiendes ist, kann auch sein eigenes Sein gemeint sein. Außerdem befindet er sich zusammen mit diesem Seienden immer in einem gesamten Kontext von Seiendem, nämlich der Welt. Mit seinem Sein hat ein Seiendes eine Bedeutung für den Sprecher, und er kann seine Beziehung zum Sein dieses in der Welt Seienden auf eine bestimmte Weise formen oder gestalten, wodurch der Sprecher es aus dem gesamten Kontext herausragen lässt und in den Vordergrund rückt. Das Sein überhaupt, nämlich dass und wie es jeweils möglich ist, dass wir überhaupt unsere Beziehung zum Sein von in der Welt Seiendem formen und gestalten und so aus seinem gesamten Kontext herausragen lassen können, können wir nur in einem bestimmten Rahmen verstehen, nämlich im Sinn des Seins. Anders ist uns das Sein überhaupt nicht zugänglich. Alles, was über diesen Rahmen hinausgeht (das Transzendente), ist Spekulation, genauso wie Ansichten darüber, woher uns Sein überhaupt und unser eigenes Sein im Speziellen jeweils gegeben wurde. Wir können nur sagen, es gibt Sein (apriorisch Vorgegebenes, also Transzendentales), wobei das „es“, welches Sein gibt, im Dunkel bleibt. Wir können höchstens klären, was inwiefern die Grundlage von all unserem Handeln (zielgerichtetes bzw. sinnvolles Tun) ist, nämlich der Sinn, also die möglichen Zielrichtungen von Sein.

Hier geht Heidegger deutlich über Kant hinaus, bei dem die „Grundlage [alles Seienden nur] vom Seienden her gedacht“ (Steffen, 2005, Seite 240) und nicht nach dem Sein des Seienden gefragt wird. Wir alle haben von vorneherein ein gewisses „Seinsverständnis“ („Sein und Zeit“, Seite 12), ein Vorverständnis des Sinns des Seins. Es macht für uns zum Beispiel einen selbstverständlichen Sinn, und wir können gar nicht anders, als dass wir unsere Aufmerksamkeit so lenken, dass dadurch etwas Bestimmtes für uns sich im Vordergrund befindet und der Rest im Hintergrund. Mit diesem Seinsverständnis konstituiert sich auch eine Beziehung zwischen uns und dem Sein überhaupt. Das Sein hat also jeweils etwas mit uns zu tun, aber unsere Beziehung zum Sein nichts mit dem Seienden an sich, welches auch ohne diese Beziehung und uns vorhanden ist. Mit dem Sinn des Seins betrachten wir also den Rahmen, in dem wir die uns gegebene Fähigkeit, unsere Beziehung zum Sein von in der Welt Seiendem, uns selbst eingeschlossen, zu formen und zu gestalten, und unsere daraus resultierende Handlungsfähigkeit, verstehen können. Bei Heidegger ist dies die Zeitlichkeit, ich dagegen halte die umfassendere Prozesshaftigkeit, die neben der Zeitlichkeit gleichursprünglich, also sich gegenseitig bedingend, die Räumlichkeit enthält, für den entsprechenden Rahmen, der, weil er größer ist und insbesondere die Verständigung zwischen allen Menschen als Gemeinschaft mit einschließt, den Sinn des Seins und seine Zielrichtungen noch verständlicher macht. Dabei versuche ich aufzuzeigen, dass wir mit wachsendem echtem und unmittelbarem befindlichem Verstehen unseres Worumwillens diese Fähigkeit, Beziehung zu formen und zu gestalten, und die daraus resultierende Handlungsfähigkeit immer liebevoller ausüben und so in unserer Beziehung zum Sein immer mehr zu Liebe und Erfüllung gelangen. Das ist die eigentliche Zielrichtung des Seins. Kritisch sind dabei Enttäuschungen, die das Dasein veranlassen können, sich von ihm selbst bzw. dem Sein überhaupt und damit von der Beziehung zwischen ihm selbst und dem Sein abzukehren. Das sind die uneigentlichen Zielrichtungen des Seins.

Bei der Erläuterung der formalen Struktur der Seinsfrage besteht das Problem, dass das Sein als solches nicht definierbar ist, da es das Allgemeinste ist, sodass es gegenüber nichts anderem abgrenzbar ist. Daher macht Heidegger die Unterscheidung zwischen dem Gefragten, dem Sein, worauf es aber keine definitive Antwort geben kann, und dem Erfragten, dem Sinn des Seins, auf das überhaupt nur eine Antwort möglich ist. Weiterhin kommt er zu dem Schluss, dass das Ausarbeiten der Seinsfrage heißt, ein bestimmtes Seiendes, nämlich das fragende Seiende, nach seinem Sein zu befragen und in seinem Sein durchsichtig zu machen. Dieses Seiende, das Befragte, das wir jeweils selbst sind und das unter anderem den Seinsmodus des Fragens hat, fasst er terminologisch als Dasein. (Heidegger erklärt die Wahl dieses Begriffs auf Seite 132 von „Sein und Zeit“) Diese Verhaltensweise des Fragens und auch die Verhaltensweisen des Daseins, bei denen es ihm um sein Sein geht, so stellt Heidegger fest, sind Seinsweisen, bei denen ontische Bedeutungen unerheblich sind: dieselbe Handlung kann unterschiedlichen Zwecken dienen und damit auf unterschiedlichen Seinsweisen beruhen, und ein und dieselbe Seinsweise kann unterschiedlichen Verhaltensweisen zu Grunde liegen. Alle Handlungen des Daseins sind nach Heidegger von derselben Seinsweise, nämlich von der, dass es dem Dasein um sein Sein geht. Diese Seinsweise nennt er das Zu-Sein. Es ist eine rückbezügliche, sich selbst immer mit einbeziehende Seinsweise. Das Dasein hat über dieses sein Sein zu entscheiden und muss die Last dieser Entscheidung auf sich nehmen. Das Dasein betrachtet sich nicht primär von einem theoretischen Standpunkt aus, sondern es handelt praktisch und muss sich entscheiden. Auch in dem Grenzfall, dass das Dasein von seinem Zu-Sein nichts wissen will und sich so nicht entscheiden will, trifft es auch eine Wahl im praktischen Vollzug seines Seins.

Nach Heidegger hat das Dasein als das Seiende, dessen Sein durchsichtig gemacht werden soll, um eine Antwort auf die Seinsfrage zu bekommen, einen mehrfachen Vorrang vor allem anderen Seienden:

• Dieses Seiende ist durch das Sein bestimmt, zu dem sich das Dasein auf verschiedene Weisen verhalten kann und sich immer irgendwie verhält. Dieses Sein des Daseins ist seine Existenz. (Ontischer Vorrang, Besonderheit dieses konkreten Seienden)

• „Dasein ist auf dem Grunde seiner Existenzbestimmtheit an ihm selbst „ontologisch“.“ („Sein und Zeit“, Seite 13). Das bedeutet, es versteht sich selbst bzw. sein Sein. (Ontologischer Vorrang, Besonderheit des Seinsverständnisses des Daseins)

• Das Dasein versteht das Sein von allem anderen Seienden. (Ontisch-ontologischer Vorrang)

Damit hat sich das Dasein als das ontologisch primär zu Befragende erwiesen. Für den philosophisch nicht so Bewanderten, wie ich es selbst vor der intensiven Beschäftigung mit Heideggers „Sein und Zeit“ war, sei der Begriff Ontologie erklärt: In einer allgemeinen Verwendung dieses Begriffes geht es um die Grundstrukturen der Realität. Es wird eine Systematik grundlegender Typen von Entitäten – Gegenstände, Eigenschaften, Prozesse – und deren strukturelle Beziehungen untereinander umrissen – das ist die ontologische Ebene – und ihr Verhältnis zur Realität, der ontischen Ebene, unter die Lupe genommen. Auf der ontologischen Ebene versucht man das Geschehen auf der ontischen Ebene zu verstehen, das heißt ihm eine derartige Bedeutung und einen derartigen Sinn zu geben, dass man sich auf der ontischen Ebene besser zurechtfindet. Dies entspricht auch unserer Art der Wahrnehmung, denn wir selektieren aus der Fülle der Informationen, die uns unsere Sinne liefern, nur eine begrenzte Anzahl von Hinweisreizen, was den Entitäten entspricht, und legen darüber eine uns bekannte Struktur, die uns in diesem Moment passend erscheint. Insofern hat Heidegger recht, wenn er sagt, dass das Dasein, also wir, ontologisch ist.

Heidegger verwendet nun die Begriffe „ontologisch“ und „ontisch“ in der Weise, dass das Ontologische das Ontische in seinem Wesen, in seiner Seinsweise, bestimmt und so zu dem macht, was es „ist“. Dabei ist die Unterscheidung zwischen dem Ontologischen, dem Wesen, dem allgemeinen Was, dem Sein einerseits und dem Ontischen, dem Wer bzw. dem konkreten Was, dem konkret Seienden, Heidegger ganz wichtig, und er bezeichnet diese Unterscheidung als die ontologische Differenz, den Unterschied zwischen Sein und Seiendem. Das Sein kennzeichnet zum einen das Offensichtliche, das Seiende, und zum anderen das Nicht-Offensichtliche, welches sich noch einmal unterteilen lässt in Entdeckbares, also Erschlossenes, und Nicht-Erschlossenes, also nicht Entdeckbares. Das Erschlossene sind die bekannten Möglichkeiten, wie etwas sein kann, wobei konkret nachgeprüft werden muss und damit entdeckt und verstanden werden kann, was davon jeweils tatsächlich ist. Nicht-Erschlossenes kann irgendwann einmal erschlossen werden, manches davon aber auch prinzipiell nicht. Letzteres wird von Kant beispielsweise als transzendent bezeichnet. So wie ich Heidegger allerdings verstanden habe, ist nach seiner Definition alles, was irgendwann von irgendjemandem entdeckt werden kann, schon a priori erschlossen. Anstatt einer oben aufgeführten naiven Ontologie des Daseins zu folgen, mahnt Heidegger, diese ontologische Differenz zu bedenken und sich darauf zu besinnen, was das Seiende überhaupt erst zugänglich und zu dem macht, was es ist, nämlich auf das Sein des Seienden. Im Zwischenmenschlichen bedeutet das zum Beispiel, dass ich einen anderen erst dann besser verstehen kann, wenn ich nicht nur auf die äußerlich sichtbaren Ergebnisse seines Handelns achte, sondern auch berücksichtige, was ihn bewegt und was er erwartet. Auch mich selbst kann ich so besser verstehen und meine Stimmungen besser regulieren. Das Ontologische bzw. die ontologische Interpretation ist also keine „theoretisch-ontische Verallgemeinerung [des Ontischen bzw. der ontischen Auslegung, sondern] eine apriorisch-ontologische. Sie meint nicht ständig auftretende ontische Eigenschaften, sondern eine je schon zugrunde liegende Seinsverfassung“ („Sein und Zeit“, Seite 199), das heißt das Dasein braucht und benutzt das Sein, um mit diesem konkret Seienden umgehen zu können (Umgang heißt auf Griechisch Praxis). Weil es ihm um sein eigenes Sein geht, hat das Dasein, das Wer, eine direkte Beziehung zu seinem Sein, seinem Wesen, und somit ist das Dasein schon immer ontologisch. Diese Beziehung möchte ich als sein Leben bezeichnen, welches ich menschlich nenne, wenn die Beziehung sich auf das Sein überhaupt ausdehnt, was aufgrund der dem Menschen angeborenen Neugier (cura ingenii humani) der Fall ist, wenn auch teilweise in privativer Form, wenn das Dasein sich von ihm selbst abgekehrt hat. Das so definierte Leben des Daseins ist ein apriorisch-ontologisches Charakteristikum des Daseins (also ein Existenzial, wie es weiter unten definiert ist). Mit der Erschlossenheit der ontologischen Differenz ist dem Dasein das menschliche Leben erschlossen, was sich in einem autobiografischen Gedächtnis zeigt. Diese Erschlossenheit ist bei Kindern ab vier Jahren schon erkennbar, wenn sie ein „autobiografisches Selbst“ entwickelt haben (siehe Fonagy et al., 2008, Seite 252 ff.).

Die Frage danach, wie das Dasein zugänglich gemacht werden soll, beantwortet Heidegger so: „Das Dasein ist zwar ontisch […] das nächste – wir [die Fragenden] sind es sogar je selbst. Trotzdem oder gerade deshalb ist es ontologisch das Fernste. […] Das Dasein hat […] die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der „Welt“.“ („Sein und Zeit“, Seite 15) Dies passt auch zu den Ansichten von Fonagy et al. (2008) zum Beispiel auf Seite 236, „dass das Lernen auf der Grundlage exterozeptiver Stimuli im Säuglingsalter tatsächlich Vorrang haben könnte [und] dass sich die Sensibilität für innere […] Hinweisreize als Funktion der Kontingenzentdeckung und der Prozesse des „sozialen Biofeedbacks“ entwickelt“.

Das Dasein ist In-der-Welt-sein, das heißt es ist niemals ein isoliertes Subjekt ganz für sich allein. Heidegger wendet sich hier also ganz entschieden gegen das cartesianische Weltbild und vollzieht damit in der Philosophie eine ähnliche Wende, wie sie auch in verschiedenen anderen Wissenschaften stattgefundenen hat. In der Psychoanalyse ging Freud von einem primären Narzissmus aus, in der Biologie war die Amöbe das „Primum vivens“, welches ganz für sich allein lebte, unabhängig von allem anderen, Wirtschaftstheoretiker hielten lange Zeit die so genannte Robinson-Situation für den Anfang wirtschaftlicher Entwicklung, und in der Kulturgeschichte sollen anfänglich logisch-einfache Verhältnisse à la Rousseau geherrscht haben (vgl. Balint, 1988, Seite 101). Alle diese Ansichten, die durch das lange vorherrschende Weltbild von Descartes geprägt waren, stellten sich jeweils als Trugschluss heraus. Insbesondere in der Psychoanalyse wurden von Michael Balint (Balint, 1988, Seite 101) schon 1937 objektgerichtete Tendenzen beim Neugeborenen als Zeichen einer primären Objektbeziehung gedeutet. Man weiß inzwischen auch, dass das Neugeborene die Mutter am Geschmack erkennt, den das Neugeborene als Fetus schon im Fruchtwasser geschmeckt hat. Es ist also schon von Anfang an auf die Welt bezogen und erkennt darin seine Mutter sinnlich wieder.

In-der-Welt-sein, Sorge und Wirksamkeit (§§ 9 bis 13) Bearbeiten

Das Sein, zu dem sich das Dasein verhält, ist jeweils das eigene Sein, die eigene Existenz. Heidegger nennt dies den Charakter der „Jemeinigkeit“, in einer späteren Anmerkung den der „Übereignetheit“. „Dasein ist daher nie ontologisch zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem“ („Sein und Zeit“, Seite 42). Hiermit betont Heidegger also unsere Individualität, unsere Unteilbarkeit und damit unsere Unverfügbarkeit, wir sind eben kein „typischer Fall von …“, sondern haben mit der Übereignetheit eine Würde, wir sind ein „Wer (Existenz)“ und kein „Was (Vorhandenheit im weitesten Sinne)“ („Sein und Zeit“, Seite 45). Damit wird auch das Wissen des Daseins um sein Sein als grundlegend betrachtet, und aus der daraus folgenden Möglichkeit der Selbstwahl ergibt sich die Möglichkeit von eigentlichem und uneigentlichem Seinsmodus, je nachdem, ob das Dasein sich selbst bzw. seine Selbstwahl annimmt oder nicht. Auf diese Weise trifft Heidegger auch eine radikale Unterscheidung zwischen der ontologischen Verfassung von daseinsmäßig und derjenigen von nichtdaseinsmäßig Seiendem. Entsprechend gibt es bei ihm die beiden Grundmöglichkeiten von Seinscharakteren: Existenzialien (mit vom Seienden selbst begrenzt wählbaren Modi der eigenen Charaktere) bei daseinsmäßig Seiendem und Kategorien (mit vom Seienden selbst nicht wählbaren Modi der eigenen Charaktere) bei nichtdaseinsmäßig Seiendem. Die Identität, das Wesen des Daseins konstituiert sich nach Heidegger dadurch, dass es sich in seinem Zu-Sein wiederfindet („Sein und Zeit“, Seite 42), das im Handeln und im Erkennen, in der Durchsichtigkeit des Erschlossenen wie in der Undurchsichtigkeit der Stimmungen verwirklicht wird.

Weil das Dasein nichts Vorhandenes ist, gibt es keine selbstverständliche Art und Weise, wie es thematisch vorzugeben ist. Da es sich in seinem Sein irgendwie versteht, folgt daraus „für die ontologische Interpretation dieses Seienden die Anweisung, die Problematik seines Seins aus der Existenzialität seiner Existenz zu entwickeln. […] Das Dasein soll im Ausgang der Analyse […] in seinem indifferenten Zunächst und Zumeist aufgedeckt werden“ („Sein und Zeit“, Seite 43). Diese durchschnittliche Alltäglichkeit, das „ontisch Nächste und Bekannte ist das ontologisch Fernste, Unerkannte und in seiner ontologischen Bedeutung ständig Übersehene“ („Sein und Zeit“, Seite 43). „Was ontisch in der Weise der Durchschnittlichkeit ist, kann ontologisch sehr wohl in prägnante Strukturen gefasst werden, die sich strukturell von ontologischen Bestimmungen etwa eines eigentlichen Seins des Daseins nicht unterscheiden“ („Sein und Zeit“, Seite 44). Die so aus der Existenzialität gewonnenen Seinscharaktere des Daseins nennt Heidegger daher Existenzialien im Unterschied zu Kategorien (von griechisch „Kategoreisthai“, öffentlich anklagen, einem vor allen etwas auf den Kopf zusagen, s. ebenda, Seite 44). Bei seiner Existenzanalyse geht Heidegger also nicht von irgendeinem Idealbild des Daseins aus, sondern beginnt dort, wo das Dasein zumeist und zunächst anzutreffen ist.

Das erste und wichtigste Existenzial des Daseins ist die Erschlossenheit. Sie ergibt sich aus dem In-der-Welt-sein, aus der ursprünglichen Einheit von Dasein und Welt, „Da“ ist in der Welt. Ein nur denkendes Subjekt wie bei Descartes kann nicht hinter das Leben kommen. Nur die Praxis, der Umgang, das In-der-Welt-sein kann das Sein des Daseins erschließen. Der primäre Befund des In-der-Welt-seins muss im Ganzen gesehen werden, was jedoch nicht eine Mehrfältigkeit konstitutiver Strukturmomente dieser Verfassung ausschließt: die Welt in ihrer Weltlichkeit, das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbst-Sein und das In-Sein als solches.

Im Folgenden möchte ich die Seiten 54 ff. in „Sein und Zeit“ etwas ausführlicher referieren, um weitere Strukturmomente des ontologischen Strukturbegriffs der Sorge aufzuzeigen, den Heidegger auf diesen Seiten entwickelt. Damit kommen wir zu einer umfassenderen existenzialen Fundamentalanalyse des Daseins.

In-Sein meint kein Vorhandensein „in“ einem Vorhandenen, auch kein Mitvorhandensein im Sinne eines bestimmten Ortsverhältnisses, also keine nicht modifizierbaren ontologischen Charaktere, die Heidegger kategoriale nennt. Es meint eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein Existenzial. „In-Sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat.“ (Seite 54 ebenda – „ebenda“ soll ab jetzt immer „Sein und Zeit“ bedeuten) In-Sein meint bei Heidegger insbesondere (so zumindest meine Interpretation), dass das Dasein sich in der Welt zunächst und zumeist als Mittelpunkt der Welt (als Hier) versteht, von dem aus es Entscheidungen bzw. Wahlen trifft. Diese Kontinuität scheint das Dasein zu brauchen, um seine Identität zu entwickeln und zu erhalten. Hieraus ist auch die besondere Topologie verständlich, also die besondere Art der „Räumlichkeit“, die Heidegger in Paragraph 12 und 26 (Seite 119 ebenda) darlegt. Das Dasein kann sein räumliches Bezugssystem wählen. Der Mittelpunkt oder Ursprung, das Hier der Räumlichkeit des Daseins ist meistens sein Ich. Die Räumlichkeit wird vom Dasein dadurch entdeckt, dass es zuerst bei einem begegnenden Seienden ist (beim Dort) und von dort aus zu seinem Hier bzw. Ich kommt. Modifikationen des In-Seins sind zum Beispiel Identifikationen, wobei sich das Dasein in ein anderes Seiendes hinein versetzt. Dies ist noch etwas anderes als das im Folgenden erklärte „Sein-bei“. Das „Sein-bei“ der Welt, in dem noch näher auszulegenden Sinne des Aufgehens in der Welt, ist ein im In-Sein fundiertes Existenzial. Auch hierbei geht es nicht um eine Kategorie. „Zwei Seiende, die innerhalb der Welt vorhanden und überdies an ihnen selbst weltlos sind, können sich nie „berühren“, keines kann „bei“ dem anderen „sein“. Der Zusatz: „die überdies weltlos sind“, darf nicht fehlen, weil auch Seiendes, das nicht weltlos ist, zum Beispiel das Dasein selbst [...] in gewissen Grenzen als nur Vorhandenes aufgefasst werden kann. Hierzu ist ein völliges Absehen von, bzw. Nichtsehen der existenzialen Verfassung des In-Seins notwendig. Mit dieser möglichen Auffassung des Daseins [...] darf aber nicht eine dem Dasein eigene Weise von „Vorhandenheit“ zusammengeworfen werden. [...] Dasein versteht [in diesem Fall] sein eigenstes Sein im Sinne eines gewissen „tatsächlichen Vorhandenseins“ (siehe Paragraph 29). Und doch ist die „Tatsächlichkeit“ der Tatsache des eigenen Daseins ontologisch grundverschieden vom tatsächlichen Vorkommen einer Gesteinsart. Die Tatsächlichkeit des Faktums Dasein, als welches jeweils jedes Dasein ist, nennen wir seine Faktizität. Faktizität ist also ein ontologisch-existenzialer Begriff. Für Zuhandenes wird der Begriff Tatsächlichkeit verwendet. Die verwickelte Struktur dieser Seinsbestimmtheit ist selbst als Problem nur erst fassbar im Lichte der schon herausgearbeiteten existenzialen Grundverfassungen des Daseins. Der Begriff der Faktizität beschließt in sich: das In-der-Welt-sein eines „innerweltlich“ Seienden, so zwar, dass sich dieses Seiende verstehen kann als in seinem „Geschick“ verhaftet mit dem Sein des Seienden, das ihm innerhalb seiner eigenen Welt begegnet.“ (Seite 56 f. ebenda) Selbst wenn das Dasein also der Auffassung ist, es sei nur vorhanden, so hat es allein schon in dieser eine Auffassung der Welt und ist darin verhaftet mit dem ihm begegnenden Seienden in der Welt.

Trotz des In-Seins des Daseins, welches nicht als „Inwendigkeit“ von Vorhandenem, also als Kategorie sondern als Existenzial zu betrachten ist, wird diesem nicht jede Art von „Räumlichkeit“ abgesprochen. Das Dasein hat selbst ein eigenes Im-Raum-sein, das aber seinerseits nur möglich ist auf dem Grunde des In-der-Welt-seins überhaupt. Es kann daher ontologisch auch nicht durch eine ontische Charakteristik verdeutlicht werden. Erst das Verständnis des In-der-Welt-seins als Wesensstruktur des Daseins ermöglicht die Einsicht in die existenziale Räumlichkeit des Daseins. Dies bewahrt vor einem Nichtsehen dieser Struktur, was nicht ontologisch, wohl aber metaphysisch motiviert sein kann in der naiven Meinung, der Mensch sei zunächst ein geistiges Ding, das dann nachträglich in einen Raum, zum Beispiel einen Körper, hinein versetzt wird.

Das folgende ist eine Abwandlung des letzten Abschnitts auf Seite 56 bis auf die nächste Seite:

Das In-der-Welt-sein des Daseins hat sich mit seiner Faktizität jeweils schon in bestimmte Weisen des In-Seins zerstreut oder gar zersplittert. Folgende Aufzählung sei dazu beispielhaft: zu tun haben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen von etwas, verwenden von etwas, aufgeben und in Verlust geraten lassen von etwas, unternehmen, durchsetzen, erkunden, befragen, betrachten, besprechen, bestimmen … (Ich verwende hier bewusst dieselben Ausdrücke wie Heidegger.) Diese Weisen des In-Seins haben die noch eingehend zu charakterisierende Seinsart des Sich-Annäherns an etwas oder des In-Angriff-Nehmens und Ergreifens. (Dies ist etwas anders als bei Heidegger, der als Seinsart das Besorgen heranzieht.) Die lateinische Bezeichnung dafür ist Aggredi, von dem das Wort Aggression abgeleitet ist. Interessant ist hierbei der passive Charakter der lateinischen Verbform, was in der Übersetzung dieses Wortes durch „sich annähern an“ zum Ausdruck kommt. Durch die im Reflexivpronomen ausgedrückte Rückbezüglichkeit (Zu-Sein) wird ebenfalls wie beim Besorgen darauf hingewiesen, dass es dem Dasein um sein Sein geht, dass es sich selbst nähert, also sich selbst bei allem immer mit einbezieht. Weisen des Sich-Annäherns sind auch die defizienten Modi des Vermeidens, des Sich-Abwendens, und ähnliches. Der Titel „Sich-Annähern“ impliziert ein Ziel, etwas, das man erreichen möchte, nicht nur räumlich, zum Beispiel auch einen Zustand, man möchte etwas schaffen, etwas bewirken, erfolgreich sein, bis hin zu solchen Zielen, dass man sich bemächtigen möchte, Geld, Macht und Einfluss haben will. Beim „Sich-Annähern“ muss es sich nicht unbedingt um eine aggressive Weise handeln: ein Sich-Trauen, Sich-etwas-Zutrauen kann auch eine Rolle dabei spielen. Die Art und Weise, wie man sich nähert, zum Beispiel ob wütend, traurig oder ängstlich kann daher sehr bedeutsam sein. Gegenüber diesen vorwissenschaftlichen, ontischen Bedeutungen soll der Ausdruck des Sich-Annäherns in der vorliegenden Untersuchung umgewandelt werden in einen ontologischen Terminus (Existenzial, also mit wählbaren Seinsweisen), als Bezeichnung des Seins eines möglichen In-der-Welt-seins. Es geht also darum, vom Verhalten auf die entsprechende Seinsweise zu kommen. Hinter demselben Verhalten können vollkommen unterschiedliche Seinsweisen stehen: jemand, der eine Mahlzeit kocht, kann dies in der Seinsweise eines professionellen Kochs tun und so eine handwerklich perfekte Leistung erbringen, oder jemand kann dies in der Seinsweise eines liebenden Menschen tun, der einem anderen, für den er kocht, seine Liebe zeigt. Dieselbe praktische Verhaltensweise hat einmal die Seinsweise des Handwerkers und einmal die Seinsweise eines liebenden Menschen. Wenn man diesen Titel „Sich-Annähern“ ontologisiert, also betrachtet, was ursprünglich dahinter steht, so kommt man auf die Seinsweise der „Ergriffenheit“. Dieser Titel ist nicht deshalb gewählt, weil etwa das Dasein zunächst und in großem Ausmaß handelnd auf seine Umwelt ausgerichtet ist, sondern weil das Sein des Daseins selbst apriori voller Erwartung ist, also ergriffen, und dies sichtbar gemacht werden soll. Ohne etwas zu erwarten, würde das Dasein gar nichts in Angriff nehmen oder ergreifen, und wenn es abwartet, bis es von etwas ergriffen ist und es etwas zu erwarten gibt, dann hatte es vorher schon die Erwartung, dass es nur abwarten muss, bis etwas Ergreifendes geschieht. Im „ergriffenen Ergreifen“ als ontologischem Begriff ist also immer schon ein Ergriffen-Sein, ein Begehren und Verlangen enthalten. Aus den dem „ergriffenen Ergreifen“ zugrunde liegenden Strukturen der Ergriffenheit und der Erwartung folgt aber nicht immer ein Ansporn, ein (ontisches) „ergriffenes Ergreifen“. Wenn das Dasein ontisch von etwas zu sehr oder zu viel ergriffen ist, kann das auch lähmen und zu einer Privation des Ergreifens führen. Die Ausdrücke Ergriffenheit und Erwartung sind wiederum als apriorisch-ontologische Strukturbegriffe zu fassen, das heißt sie bezeichnen kein spezifisches konkretes Seiendes, von dem das Dasein ergriffen ist oder das erwartet wird. Als ontische Begriffe sollen sie mit „Ergriffenheit“ und „Erwartung“ gekennzeichnet werden. Weil zu Dasein wesenhaft das In-der-Welt-sein gehört, ist sein Sein zur Welt wesenhaft Ergriffenheit und Erwartung. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Heidegger in Vorlesungen vor 1927, dem Erscheinungsjahr von „Sein und Zeit“, bei der Übersetzung von Aristoteles das griechische Wort „orexis“, welches allgemein mit „Verlangen, Appetit“ übersetzt wird, als „Sorge“ interpretiert hat (siehe Franco Volpi in Rentsch, 2007, Seite 40). Insofern sind die Ausdrücke „ergriffenes Ergreifen“, „Ergriffenheit“ und „Erwartung“ etwa in der Mitte zwischen dem griechischen Begriff „orexis“ von Aristoteles und den Begriffen „Besorgen“ und „Sorge“, wie sie von Heidegger verwendet werden. In der Nikomachischen Ethik von Aristoteles heißt es: „[…] und das Prinzip, in dem sich beides, Denken und Begehren, verbunden findet, ist der Mensch.“ (VI, 2, 1139b, 5) „Orexis dianoetike“ mit Ergriffenheit und Erwartung oder mit Sorge zu übersetzen, hat beides etwas für sich. Übrigens hat das lateinische Wort für Sorge, Cura, die Bedeutung: „Das mit Unruhe verbundene Nachdenken über die Abwendung eines Übels oder wegen der Erlangung eines künftigen Gutes und die damit verbundene angenehme oder unangenehme Empfindung.“ Ferner hat es die Bedeutung von Neugierde und Forschungstrieb (cura ingenii humani, die dem Menschen angeborene Neugierde). Insofern ist ergriffenes Ergreifen als ontologischer Begriff, in dem Erforschen enthalten ist, dem Besorgen, bei dem auch das Ausprobieren eine Rolle spielen kann, sehr ähnlich. Ergriffenes Ergreifen klingt vielleicht etwas leidenschaftlicher und nicht so nüchtern wie Besorgen. Sorge hat einerseits einen Anteil von Befindlichkeit (wie Heidegger dies in Paragraph 29 ebenda definiert), der meines Erachtens im Begriff der Ergriffenheit zum Ausdruck kommt, und andererseits einen Anteil von Verständnis bzw. Verstehen dieser Befindlichkeit (wie Heidegger dies in Paragraph 31 ebenda ausführt), der meines Erachtens im Begriff der Erwartung seine Entsprechung hat. Das Existenzial Sorge besteht somit aus den beiden Strukturmomenten Ergriffenheit und Erwartung. Diese beiden Strukturmomente lassen sich noch weiter unterteilen: Ergriffenheit ist Befindlichkeit (siehe unter Punkt 5) und Sein-bei, und Erwartung ist Verstehen und Rede (siehe unter Punkt 5). Für Cura gibt es zwei etymologische Herleitungen: cor urit, das heißt, das Herz brennt, oder co-ωρα, das heißt, dass alles zur rechten Stunde (ωρα) zusammen (co) ist(, damit das Herz nicht mehr brennt). Auch hieraus kann man ersehen, dass in dem Begriff der Sorge abgeleitet von Cura eine Befindlichkeit und ein Verständnis dieser Befindlichkeit enthalten sind.

In dem Begriff der Sorge und den Begriffen der Ergriffenheit und der Erwartung sind aber auch noch die Gefahr der Täuschung und damit der Enttäuschung enthalten, anders ausgedrückt heißt das, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass die Erwartungen des Daseins immer erfüllt werden, so dass Enttäuschungen vorprogrammiert sind. So betrachtet enthalten die beiden Strukturmomente Ergriffenheit und Erwartung schon von vorneherein die Täuschung. Das Sein des Daseins zur Welt ist daher wesenhaft Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung, wobei die Täuschung in der Ergriffenheit und der Erwartung gründet. Die Enttäuschung hat zwei Seiten: einerseits wird das Dasein von einer Täuschung befreit, so dass es das ihm in der Welt Begegnende besser in seiner Bedeutsamkeit erkennen kann, andererseits hat das Dasein aufgrund der zuvor bestehenden Täuschung mehr oder weniger viel investiert, wofür es nicht das Erwartete bekommen hat. In diesem Sinne hat das Dasein für die Erkenntnis, die es durch die Enttäuschung gewonnen hat, einen Preis bzw. Lehrgeld bezahlt. Je nachdem, wie das Verhältnis zwischen erlebtem Erkenntnisgewinn und Lehrgeld ist, bemisst sich die Intensität der Befindlichkeit bei der Enttäuschung, und je stärker diese bei der Enttäuschung ist, desto eher kehrt sich das Dasein davon ab, sich weiter damit zu beschäftigen. Insbesondere wird es dann die Rede (siehe unter Punkt 5) von und über die Enttäuschung abbrechen oder in Gerede umwandeln, so dass diese Erfahrung isoliert, das heißt dissoziiert bleibt oder verdreht und jeweils nicht in das Bedeutungsganze integriert wird, sodass die Täuschung trotz entsprechender Erfahrung aufrecht erhalten wird.

Wenn ich ergriffen bin, dann erwarte ich etwas und hoffe. (1) Was ich hoffe, motiviert mich daher, etwas zu tun. Welche Möglichkeiten habe ich, das Erhoffte zu bekommen, (2) was muss ich tun? Nach einer Enttäuschung frage ich mich dann: (3) Was hätte ich wissen müssen? Wenn ich mir dann entschlossen einen Überblick über mein Leben, also über meine Beziehung zu meinem Sein, verschaffe im Vorlaufen zum Tod und Mich-Zurückbringen zum Anfang (siehe Kapitel 7 ab Seite 87), dann wandelt sich (3) um in: Was kann ich wissen, (2) in: Was soll ich tun und (1) in: Was darf ich hoffen, um nicht immer wieder enttäuscht zu werden. In Bezug auf die Täuschung stellt sich somit die Frage: „Was kann ich wissen?“, bezüglich der Ergriffenheit frage ich mich: „Was soll ich tun?“ und bei der Erwartung: „Was darf ich hoffen?“ Das sind genau die drei Fragen, von denen Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ schreibt, dass sich darin alles Interesse seiner Vernunft vereinige (zitiert nach Steffen, 2005, Seite 225 f.). Mit der detaillierteren Bezeichnung der Sorge als Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung lässt sich somit eine Verbindung zwischen Heidegger und Kant herstellen, und wenn Kant in seiner Logikvorlesung diese drei Fragen in die Grundfrage der Anthropologie: „Was ist der Mensch?“ münden lässt (siehe Steffen, 2005, Seite 226), so entspricht das dem oben festgestellten Satz: Das Sein des Daseins zur Welt ist wesenhaft Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung.

Auf einen wichtigen Punkt, wie ich finde, sind wir noch nicht eingegangen, nämlich ob es in der Grundverfassung des Daseins, dem es um seine Existenz geht, also ob es in dem Um-zu um die Abwendung von etwas Negativem, einer Not, also um eine Not-Wendigkeit, geht oder um das Trachten nach etwas Positivem. Geht es dem Dasein um das Dass oder um das Wie seiner Existenz? Der Begriff Sorge legt in seiner Konnotation mehr das Erstere nahe, die Begriffe Ergriffenheit und Erwartung eher Letzteres. Heidegger geht auf diesen Punkt explizit nicht ein, sein Existenzialismus wird aber aufgrund seiner Begriffswahl der Sorge eher so ausgelegt, dass das Dasein eine Not abzuwenden sucht, der es im Tod dann doch nicht entkommen kann. Die Begriffe Ergriffenheit und Erwartung dagegen bringen der Existenz eine Wertschätzung entgegen und fordern dazu auf, das Positive der Existenz so lange auszunutzen, wie sie besteht. Ich sehe hier keine Gegensätze, sondern ich denke, dass beides durchaus nebeneinander eine Rolle spielt. Deswegen werde ich sowohl die Begriffe Sorge als auch Ergriffenheit und Erwartung benutzen. Das Wie und das Dass bzw. die Wie- und die Dass-Struktur werden später für die Räumlichkeit des Daseins eine wichtige Rolle spielen.

Der Begriff der Räumlichkeit scheint mir bei Heidegger nicht ursprünglich genug gefasst zu sein: mit dem in der Welt begegnenden Seienden hat es zwar seine Bewandtnis, das Dasein erkennt die Bedeutsamkeit des Zeug-Ganzen, und die Welt lässt begegnen, aber Heidegger sagt nichts darüber, wie genau die Welt begegnen lässt. Es hat den Anschein, als ob das Dasein hier etwas übernimmt und gar nicht seine eigenen Erfahrungen mit der Welt macht. Die ursprünglichste Erfahrung, die das Dasein in der Welt macht, liegt in deren Wirkung, die es am eigenen Leib spürt. Daher möchte ich im Folgenden die Begriffe „wirklich“ als Kategorial für nichtdaseinsmäßig Seiendes und „wirksam“ als Existenzial für daseinsmäßig Seiendes einführen, weil ich der Meinung bin, dass ihre Verwendung manche Stellen in Heideggers „Sein und Zeit“ verständlicher macht, insbesondere später seine Wahrheitsdiskussion in Paragraph 44. Außerdem findet man so einen weiteren wichtigen existenzialen Strukturbegriff, der benötigt wird, um die vierte Ekstase der Prozesshaftigkeit des Daseins als die Räumlichkeit aufzuweisen (siehe Kapitel 9). Seiendes, das nicht erschließbar ist, spielt, wie ich meine, zunächst keine Rolle für das Dasein. Alles andere Seiende wirkt und hat damit eine Wirkung auf das Dasein, durch die es entdeckt werden kann, das heißt mit seiner Wirkung auf das Dasein ist es für das Dasein schon erschlossen. Alles erschlossene nichtdaseinsmäßig Seiende ist wirklich. Das Dasein selbst ist nicht wirklich, es hat aber die Möglichkeit, zu wirken, das heißt ihm mögliche Wirkungen zu entfalten. Dafür sollen die Begriffe wirksam und Wirksamkeit verwendet werden. Wirksamkeit als Möglichkeit der Ent-Faltung oder Faltung von Wirkungen bedeutet zweierlei: zum einen dauerhafte Zu- oder Abnahme von Wirkungsmöglichkeiten, wenn das Dasein zum Beispiel eine Fähigkeit trainiert oder aufgehört hat zu trainieren, oder wenn das Dasein durch Einflüsse von anderem Seienden gefördert oder eingeschränkt worden ist, oder wenn eigene Anlagen sich entwickelt haben oder im Alter abgebaut werden; zum anderen den Grad des Sich-Einlassens des Daseins auf die jeweilige Situation, das erschlossene „Da“ des Daseins. Bei der Wirksamkeit des Daseins geht es nicht nur um das Dass der jeweils entfalteten Wirkung, sondern insbesondere auch um das Wie und davon das Wie-Sehr, also die Nachhaltigkeit der Wirkung. Seiendes, das wirkt und damit erschlossen ist, ist also entweder wirksam oder wirklich, je nachdem ob es daseinsmäßig ist oder nicht.

Der Begriff „wirklich" von nichtdaseinsmäßig Seiendem ist immer auf das Dasein bezogen und existiert nicht abstrakt für sich allein. Der Begriff wirksam, der bei Heidegger auch nicht explizit auftaucht, soll als apriorisch-ontologischer Strukturbegriff verwendet werden, dem ontisch das Wirken-können des Daseins auf es selbst und auf die Welt entsprechen. In den Auswirkungen der jeweils spezifischen Entfaltung seiner Wirksamkeit ist das Dasein als das Seiende erschlossen, das in seinem Sein dahingehend wirksam ist, also wirken kann, wie es in der Welt existierend ist. Dass das Dasein ebenso alltäglich (vor allem im sozialen Bereich, in der heutigen Zeit aber auch zunehmend entdeckt in unseren „Umweltsünden“) dergleichen Auswirkungen, das heißt ihrem Erschließen, nicht nachgeht und sich nicht vor das Erschlossene bringen lässt, ist kein Beweis gegen den phänomenalen Tatbestand der wirksamkeitsmäßigen Erschlossenheit des Seins des Da in seinem Dass, sondern ein Beleg dafür. Das Dasein weicht im sozialen, ökologischen und auch im leiblichen Bereich (was zum Beispiel die eigene Gesundheit betrifft) zumeist ontisch-existenziell dem in seinen Auswirkungen erschlossenen Sein aus. Im handwerklichen Bereich, den Heidegger als den alltäglichen untersucht, interessiert sich das Dasein sehr wohl für die Ergebnisse seiner entfalteten Wirksamkeit. Wenn es einen Tisch bauen will, und entsprechend sich wirksam entfaltet, prüft es hinterher sehr wohl, ob und was für ein Tisch entstanden ist. Sobald es aber zu komplex und zu schwierig ist, herauszufinden, was die Auswirkungen der spezifischen Entfaltung seines In-der-Welt-Wirkens sind, und das ist in den genannten Bereichen des Sozialen, Ökologischen und Leiblichen der Fall, dann kann es sogar sein, dass das Dasein sich vehement dagegen wehrt, die Auswirkungen seines Wirkens anzuerkennen, weil es ihm zu schwierig erscheint, diese zu erkennen. Wegen der Komplexität besteht auch die Gefahr der Manipulation, was es verständlich macht, wenn das Dasein sich gegen Auseinandersetzungen mit Anderen wehrt. Das besagt ontologisch-existenzial, dass in dem, worin das Dasein sich in derartigem Wirken nicht kehrt, nämlich in dem, welche Auswirkungen es bei anderen daseinsmäßig Seienden und bei ihm selbst oder bei „Mutter Natur“ hat, das Dasein in seiner Abwehr zu erkennen enthüllt ist. Im Ausweichen oder Wehren selbst ist das Dasein ein erschlossenes Sein. Das entspricht übrigens auch der psychoanalytischen Haltung, in der Abwehr und im Widerstand wichtige Momente zu sehen, die therapeutisch nutzbar gemacht werden können.

Weiterhin kommt dem Seienden mit dem Begriff wirklich bzw. wirksam ein räumliches Attribut zu: zu jedem nichtdaseinsmäßig Seienden und einem oder mehreren anderen nichtdaseinsmäßig Seienden und zu jeder seiner spezifischen Wirkungen (eigentlich Wechselwirkungen) gibt es ein Wechselwirkungsfeld, welches durch die Distanz definiert ist, innerhalb derer es zu einer für das Dasein entdeckbaren Änderung des anderen Seienden und des Daseins selbst kommt, auf das es jeweils wirkt bzw. mit dem es jeweils wechselwirkt. Wenn wir nun die Wirklichkeit eines wirklich (entdeckbaren) Seienden untersuchen, dann untersuchen wir eigentlich alle Wechselwirkungsfelder, die dieses mit dem Gesamt aller anderen Seienden hinsichtlich aller möglichen spezifischen Wechselwirkungen hat. Hierbei ist zu betonen, dass es bei den anderen Seienden sich durchaus auch um für das Dasein nicht erschließbare Seiende handeln kann: Wirken als Auf-das-Dasein-Wirken ist nicht unbedingt eine transitive Relation, es kann also durchaus sein, dass etwas auf das Dasein nicht wirkendes, also nicht erschlossenes und entdeckbares Seiendes eine Wirkung auf etwas Seiendes hat, welches auf das Dasein wirkt, also erschlossen und entdeckbar ist. Erschlossen und damit auf das Dasein wirkend mag zum Beispiel das Gesamt einer Gruppe von wechselwirkenden Seienden sein, während jedes einzelne Seiende dieser Gruppe nicht erschlossen und auf das Dasein wirkend ist. Wenn wir mit dem Wirkungsfeld eines wirklich Seienden die komplexe Gesamtheit aller Wirkungsfelder dieses Seienden mit dem Gesamt aller anderen Seienden hinsichtlich aller möglichen spezifischen Wechselwirkungen bezeichnen, so meint Wirklichkeit eines wirklichen Seienden die Wirklichkeit des Wirkungsfeldes dieses wirklich Seienden. Somit ist mit wirklich Seiendem eigentlich immer sein Wirkungsfeld gemeint. Bisher war unsere Denkungsweise vom Seienden bestimmt. Jetzt müssen wir umdenken und auch in der Begrifflichkeit des Wirkungsfeldes denken. (Eine interessante Parallele hierzu finden wir im Denkansatz von Albert Einstein, der dadurch zur allgemeinen Relativitätstheorie kam: Statt davon auszugehen, dass physikalische Gegenstände physikalische Felder erzeugen, ging er davon aus, dass physikalische Felder Gegenstände erzeugen.)

Wie ist das nun mit der Wirksamkeit des daseinsmäßig Seienden, auf welche Weise interagiert es mit den Wirkungsfeldern der Welt und wie mit der Wirksamkeit von anderem daseinsmäßig Seiendem? Diese Interaktion ist auf jeden Fall keine direkte. Hier kommt uns der existenziale Begriff der Ergriffenheit zu Hilfe: die jeweilige „Ergriffenheit“ (ontisch) des Daseins erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Dasein eine Wirksamkeit entfaltet, die auf die Erfüllung der entsprechenden „Erwartung“ (hier ebenfalls ontisch verstanden) hinzielt. Das entfaltete Wirkungsfeld des Daseins wechselwirkt dann mit den Wirkungsfeldern der Welt und den entfalteten Wirkungsfeldern von anderen daseinsmäßig Seienden. Entsprechend hängt die „Räumlichkeit“ des Daseins und seine „Nähe“ zu etwas ganz und gar von der Art der Entfaltung der Wirksamkeit des Daseins ab, was wiederum beeinflusst ist von seiner jeweiligen „Ergriffenheit“ und „Erwartung“. Wenn zum Beispiel das Dasein hungrig ist, es also vom Essen „ergriffen“ ist, und auf der anderen Straßenseite sich ein Bäckerladen mit geöffneter Tür befindet, dann ist das duftende Brot im Laden dem Dasein ganz nah. Ist es dagegen auf der Flucht vor einer drohenden Gefahr, ist es also von seinem Entkommen ergriffen, dann könnten extrem duftende Speisen um es herum sein, sie wären in unendlicher Ferne für das Dasein. Damit wird Seiendes erst durch Ergriffenheit und Erwartung wirklich bzw. wirksam für das Dasein. Wenn Wirkliches oder Wirksames vom Dasein erschlossen ist, kann es als wahr entdeckt bzw. wahr-genommen werden. Das ist der Zusammenhang von Wirklichkeit und Wirksamkeit einerseits und Wahrheit andererseits, das Dasein entdeckt die Wahrheit des Wirklichen und Wirksamen. Die Wahrheit des Daseins beruht auf seiner Beziehung zum Sein des Wirklichen und Wirksamen in seiner Erschlossenheit, also mit dem Sein von allem entdeckbaren Seienden, nämlich auf der Art und Weise seines Entdeckens des Wirklichen und Wirksamen in seiner Erschlossenheit. Entsprechend entdeckt das Dasein die Wahrheit seiner eigenen Wirksamkeit, das heißt insgesamt ist Wahrheit die entdeckte Erschlossenheit des Seins überhaupt, genauer, die Wahrheit des Daseins beruht auf seinem echten und totalen Entdecken der Erschlossenheit des Seins überhaupt. Dem Dasein begegnendes Seiendes und auch das Dasein selbst kann ihm aber auch teilweise oder ganz verdeckt sein, sodass die scheinbar als wahr genommene Wirklichkeit eine Täuschung ist. Nur wenn das Sein überhaupt dem Dasein ganz und echt entdeckt ist in seiner Erschlossenheit, ist die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt die Wahrheit und beruht nicht auf einer Täuschung.

Wenn ich Heidegger richtig verstanden habe, so geht er davon aus, dass dem Dasein in seinem In-der-Welt-Sein einerseits schon alles erschlossen, andererseits aber anfänglich alles verdeckt ist, und es nur auf ontologische Weise, also über Sinnhaftigkeit, die jeweils der Rahmen seiner Sorge ist und in deren Rahmen erlangtes befindliches Verstehen, nach und nach das Sein überhaupt entdecken kann. Da das Dasein nicht immer den richtigen Rahmen findet, also den wahren Sinn des Seins des jeweils begegnenden Seienden, unterliegt es entsprechenden Täuschungen und wird früher oder später enttäuscht. Der richtige Rahmen ist dabei der eigentliche Rahmen der eigentlichen Sorge, wenn das Dasein eigentlich ist. Was „eigentlich“ genau bedeutet, kann erst im Laufe der fundamental-ontologischen Analyse geklärt werden. Auch die Begriffe „echt“ und „total“ sind problematisch und können noch nicht abschließend geklärt werden. Nur so viel: Wenn das Dasein in Bezug auf ein Seiendes keine Enttäuschungen mehr erlebt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es dieses Seiende echt und total entdeckt und verstanden hat. Durch die in Kapitel 8 eingeführte Entschlossenheit findet ein Prozess statt, der dazu führt, dass das Dasein sich selbst immer echter und totaler entdeckt und eigentlicher versteht und damit gleichzeitig auch alles ihm begegnende Seiende. Eigentlichkeit, Echtheit und Totalität können also nur näherungsweise erreicht werden.

Es gibt wirklich Seiendes, also nichtdaseinsmäßiges und vom Dasein entdeckbares Seiendes, welches keinerlei direkte unmittelbare Wirkung auf sich selbst hat, zum Beispiel ein Stein. Anderes Seiendes, zum Beispiel Pflanzen oder Tiere, haben auch eine unmittelbare Wirkung auf sich selbst (zum Beispiel beim Wachstum). Es ist daher eine notwendige Bedingung für lebendiges Seiendes, dass es auch eine unmittelbare Wirkung auf sich selbst hat. Dadurch verändert es sich stetig und bleibt nicht relativ konstant wie etwa der Stein. Mit der unmittelbaren Wirkung auf es selbst hat ein Seiendes eine momentane Beziehung zu seinem eigenen gegenwärtigen Sein, um das es ihm dann gerade geht. Analog zur Definition des menschlichen Lebens als Beziehung zum Sein überhaupt kann man dies als das Charakteristikum von lebendig Seiendem nehmen: Lebendiges hat eine momentane Beziehung zu seinem eigenen gegenwärtigen Sein, um das es ihm dann gerade geht. Auch hier stellt sich die (ontologische) Sinnfrage, nämlich welchen Sinn das Sein von Lebendigem hat, was hier ontologisch betrachtet dahinter steht. Heidegger meint allerdings, dass es vom lebendig Seienden ein viel zu schwieriger Zugang zur Seinsfrage ist. Wenn man aber einen Zugang zur Seinsfrage bekommen hat, dann findet sich unter Umständen auch ein Zugang zu der Frage nach dem Sinn des Seins von Lebendigem. Jedes (bei daseinsmäßig Seiendem entfaltete) Wirkungsfeld ist eingebettet in und abhängig von dem Gesamt aller Wirkungsfelder von allem nicht daseinsmäßig Seiendem und allen momentan entfalteten Wirkungsfeldern von allem daseinsmäßig Seienden. Mehrere nicht entdeckbare Seiende können als Einheit in ihrer Gesamtwirkung entdeckbar und damit erschlossen sein. Prinzipiell kann die Gesamtwirkung mehr sein als die Summe der Einzelwirkungen (Synergieeffekt). Auch aus diesem Blickwinkel ergibt sich, dass die Welt mehr ist als alles in ihr Seiende. Neben dem räumlichen kommt dem wirklich Seienden bzw. seinem Wirkungsfeld auch noch ein zeitliches Attribut zu: die Wirkung bzw. das Wirkungsfeld kann sich mit der Zeit ändern und damit auch das Seiende selbst. Wegen der relativ großen Geschwindigkeit gilt dies insbesondere für alles lebendig Seiende. Die ontische Ebene der Wahrheit, also das konkret entdeckte Sein des Wirkungsfeldes, die Wirklichkeit, ist damit genauso abhängig von Raum und Zeit wie das konkrete Sein des Seienden.

Es sei an dieser Stelle noch einmal wiederholt, dass es sich bei der Nähe des Daseins zu anderem Seienden nicht um die räumliche Nähe von Vorhandenem handelt, sondern um die Nähe des dem Dasein eigenen selbst gewählten Im-Raum-seins, das seinerseits nur möglich ist auf dem Grund des In-der-Welt-seins. Die Ergriffenheit (ontologisch) ist die befindliche Nähe, wo das Dasein sich findet, als ontologischer Begriff, aber die ontische stimmungsmäßige Nähe kann auch das „Ergreifen“ (ontisch) durch die eigene „Ergriffenheit“ bei größerer Nähe oder Ferne jeweils positiv wie negativ beeinflussen (Fernes kann attraktiver weil wertvoller oder unattraktiver weil unerreichbar erscheinen, Nahes kann attraktiver oder unattraktiver sein, weil vertrauter). Nähe sollte daher nur ontisch verwendet werden, ontologisch dagegen nur die Ergriffenheit. Durch größere Nähe und/oder Ergriffenheit des Daseins zu oder von einem anderen Seienden überlagern sich bei entsprechenden Entfaltungen die entsprechenden Wirkungsfelder mehr, und es entstehen oder vergrößern sich allein dadurch schon bestimmte Wirkungen, während andere Wirkungen abnehmen oder gar verschwinden. Aufgrund von Synergieeffekten (siehe oben) kann auch ein neues Wirkungsfeld und damit auch ein neues Seiendes entstehen (z.B. ein Möbelstück). Gleichzeitig kann natürlich auch etwas anderes Seiendes verschwinden (z. B. ein Baum). Das Herstellen von Nähe durch Ergriffenheit kann also sowohl kreativ-schöpferisch als auch destruktiv-vernichtend sein.

Ergriffenheit kann auch Ergriffenheit des Daseins von ihm selbst sein. Genau genommen ist die Ergriffenheit des Daseins immer auch auf sich selbst gerichtet: Das Wovon der eigentlichen Ergriffenheit des Daseins ist das In-der-Welt-sein, das Dasein ist dann ergriffen vom In-der-Welt-sein. Dadurch will das Dasein letztlich sich selbst erhalten, sich selbst erlangen, das heißt die Ergriffenheit seines Ergreifens ist es selbst in der Erwartung eines eigenen Seinkönnens. Wenn das Dasein sich so auf rechte Weise selbst erhält, sich selbst erlangt, ist es eigentlich. Notwendige Bedingung dafür ist, dass das Dasein auch eine unmittelbare Wirkung auf sich selbst entfalten kann (lebendig ist). Durch stärkere Ergriffenheit seiner selbst kann sich das Dasein somit selbst mehr Entfaltungsmöglichkeiten zu wirken schaffen. Daher bietet sich an dieser Stelle eine weitere Beschreibung der Begriffe Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit an: je mehr das Dasein sich selbst in seinen Seinsmöglichkeiten ergreift und zusammenhängend begreift (das kann Nur-Lebendiges nicht, sondern nur Daseinsmäßiges), desto mehr Entfaltungsmöglichkeiten hat es zu wirken, desto mehr Wahlfreiheiten hat es also, desto mehr entdeckt das Dasein eigens sein In-der-Welt-sein, desto mehr entdeckt es ihm selbst sein eigentliches Sein, desto mehr ist es sich zu eigen und damit desto eher eigentlich. Somit wird Eigentlichkeit zum räumlichen Begriff (aber als Existenzial und nicht als Kategorie), das Dasein ergreift und begreift die Situation, sein erschlossenes „Da“, und ist dadurch in der Lage, eigentlich zu sein. Je ergriffener und erwartungsvoller das Dasein sein „Da“ ergreift und begreift, desto entschlossener ergreift es sein eigenstes Seinkönnen. Wie hier schon erkennbar ist und später noch genauer ausgeführt wird, hat Eigentlichkeit sehr viel mit Entschlossenheit zu tun. Mit Hilfe der Ergriffenheit kann man auch eine Definition des Selbst konstruieren: wenn das Dasein eigentlich ist, dann ist es es selbst und damit sein Selbst. Es ist dann von seinem Selbst bestimmt, also selbstbestimmt. Statt eigentlich könnte man auch unmittelbar sagen. Unmittelbar heißt: nicht vermittelt durch anderes innerweltlich begegnendes Seiendes, sondern nur durch das eigenste In-der-Welt-sein.

Es ist eine Besonderheit des Daseins, dass es ein gewisses Verständnis seines Seins zwar hat, aber sein Sein auch meistens „ ... immer schon ebenso gründlich missdeutet oder ontologisch ungenügend auslegt.“ (Seite 58 ebenda) Dies gründet in der „ ... Seinsverfassung des Daseins selbst, gemäß derer es sich selbst – und das heißt auch sein In-der-Welt-sein – ontologisch zunächst von dem Seienden und dessen Sein her versteht, das es selbst nicht ist, das ihm aber innerhalb seiner Welt begegnet.“ (Seite 58 ebenda) Wie bei der Räumlichkeit, wenn das Dasein erst beim Dort und dann beim Hier ist und dadurch Räumlichkeit entdeckt, versteht das Dasein erst das Sein eines begegnenden Seienden (zum Beispiel, dass es ein Hammer ist) und dann das Sein seiner selbst (zum Beispiel, dass es derjenige sein kann, der diesen Hammer benutzt).

„Das Erkennen von Welt, bzw. das Ansprechen und Besprechen von „Welt“ fungiert deshalb als der primäre Modus des In-der-Welt-seins, ohne dass dieses als solches begriffen wird. Weil nun aber diese Seinsstruktur ontologisch unzugänglich bleibt, aber doch ontisch erfahren ist als „Beziehung“ zwischen Seiendem (Welt) und Seiendem (Seele) [...], wird versucht,“ (Seite 59 ebenda) deren Beziehung als Beziehung von Vorhandenem zu begreifen, sodass das In-der-Welt-sein aufgrund der ontologisch unangemessenen Auslegung unsichtbar wird bzw. irrtümlich als Eigenschaft betrachtet wird, die das Dasein zuweilen hat, zuweilen auch nicht. Dann wird auch nicht gesehen, dass zum Dasein vorgängig und unabdingbar auch seine Wirksamkeit und seine Wahlmöglichkeiten der Ausgestaltung seiner Wirksamkeit gehören, die es nicht ablegen kann.

„Weil das Welterkennen zumeist und ausschließlich das Phänomen des In-Seins exemplarisch vertritt [...], weil durch diesen Vorrang des Erkennens das Verständnis seiner eigensten Seinsart missleitet wird, soll das In-der-Welt-sein im Hinblick auf das Welterkennen noch schärfer herausgestellt und es selbst als existenziale „Modalität“ des In-Seins sichtbar gemacht werden.“ (Seite 59 ebenda) Kommen wir nun zum Welterkennen (Seite 61 ebenda): Erkennen ist eine Seinsart des Daseins als In-der-Welt-sein, es hat seine ontische Fundierung in dieser Seinsverfassung. Das Erkennen selbst gründet vorgängig in einem Schon-sein-bei-der-Welt, als welches das Sein von Dasein wesentlich konstituiert. Dieses Schon-sein-bei ist zunächst kein starres Begaffen eines puren Vorhandenen. Das In-der-Welt-sein ist als Ergreifen von der ergriffenen Welt ergriffen, es ist ein Ergriffen-Sein. Damit Erkennen als betrachtendes Bestimmen des Vorhandenen möglich ist, muss sich das Dasein von allem Herstellen, Hantieren usw. enthalten, sodass sich das Ergriffen-Sein in den jetzt noch einzig verbleibenden Modus des In-Seins, in das Nur-noch-verweilen-bei legt. Auf dem Grunde dieser Seinsart zur Welt und als Modus dieser Seinsart ist ein ausdrückliches Hinsehen auf das so Begegnende möglich. Dieses Hinsehen entnimmt dem begegnenden Seienden im Vorhinein einen Gesichtspunkt, man könnte auch sagen, es rückt diesen Gesichtspunkt als Gestalt in den Vordergrund und alles andere in den Hintergrund. Solches Hinsehen kommt selbst in den Modus eines eigenständigen Sichaufhaltens bei einem innerweltlich Seienden. Darin vollzieht sich das Vernehmen des Vorhandenen. Das Vernehmen hat die Vollzugsart des Ansprechens von etwas als etwas. Durch dieses Ansprechen im weitesten Sinne wird das Vernehmen zum Bestimmen. Das Vernommene und Bestimmte kann in Sätzen ausgesprochen und als solches Ausgesagtes behalten und verwahrt werden. Dieses vernehmende Behalten einer Aussage über etwas Seiendes ist selbst eine Weise des In-der-Welt-seins und darf nicht als ein Vorgang interpretiert werden, durch den sich ein Subjekt Vorstellungen von etwas beschafft, die als so angeeignete „drinnen“ aufbewahrt bleiben, bezüglich derer dann gelegentlich die Frage entstehen kann, wie sie mit der Wirklichkeit „übereinstimmen“.

Beim Erkennen als Weise des In-der-Welt-seins geht es nicht nur um eine bestimmte Wechselwirkung, die das Dasein zwischen ihm selbst und anderem Seiendem entfalten kann, sondern um seine gesamte Wechselwirksamkeit, das heißt um eine Strukturierung der Entfaltungsmöglichkeiten der Wechselwirkungen, die das Dasein an der Gesamtheit des ihm in der Welt begegnenden Seienden vornimmt. Dabei entspricht die Struktur seiner Weltlichkeit, die Bedeutsamkeit, dieser Strukturierung der Entfaltungsmöglichkeiten seiner Wechselwirksamkeit, und das Dasein tendiert zu einer optimierenden Strukturierung, optimal bezüglich seiner Ergriffenheit. Das Erkennen kann sich auch auf Strukturen an sich (sog. Gestalten nach Christian von Ehrenfels, Weinhandl, 1960) beziehen, wobei die die Struktur konstituierenden einzelnen Seienden austauschbar sind und nur die Struktur zählt, z.B. bei einer Melodie als Struktur, bei der die einzelnen Töne austauschbar sind, solange nur die Tonintervalle und die relativen Tempi der Töne zueinander gleich sind. Das Erkennen mit der ihm eigenen bezüglich seiner Ergriffenheit und seiner Erwartung optimierenden Strukturierung ist ein Modus des Daseins.

Differenzierende Bezeichnungen und sinnvolle Strukturierungen, die das Dasein aufgrund seiner Ergriffenheit bildet, um im praktischen Umgang mit der Welt bestimmte Weisen seines Seinkönnens zu erreichen, bilden die Grundlage für sein Verstehen, welches zunächst und zumeist ein rein berechnendes ist, das sich später aber weiter entwickeln kann zu einem besinnlichen und damit eigentlichen Verstehen. Der Begriff des Verstehens wird weiter unten erläutert in Kapitel 5.

In diesem Gestalten von Vordergrund und Hintergrund und Erfassen einer Gestalt, also eines Gesichtspunktes geht das Dasein nicht aus seiner Innensphäre hinaus, sondern es ist in seiner primären Seinsart schon immer wirksam draußen bei einem begegnenden Seienden der jeweils schon entdeckten Welt. Und bei diesem Draußen-sein beim Seienden ist das Dasein im recht verstandenen Sinne drinnen, das heißt es ist sich selbst ergreifend, es selbst ist es als In-der-Welt-sein, das erkennt. Im Erkennen gewinnt das Dasein einen neuen Seinsstand zu der im Dasein jeweils schon entdeckten Welt. Erkennen ist ein im In-der-Welt-sein fundierter Modus des Daseins. Daher verlangt das In-der-Welt-sein als Grundverfassung eine vorgängige Interpretation.

Zwei wichtige Gedanken ergeben sich aus dem Dargestellten zu Wirklichkeit und Wirksamkeit: Die Nicht-Transitivität erschließbarer Wirkungen kann eine Spannung im Dasein erzeugen, in eine Seinsweise zu verfallen, auch das Seiende erforschen zu wollen, dessen Wirkung nur indirekt erschlossen ist. Das Dasein entwirft dazu bestimmte Modelle, die Vorstellungen von bisher unerschlossen Seiendem und/oder unerschlossenen Zusammenhängen enthalten (z.B. ein Atommodell mit der Vorstellung von Quarks und einer relativen Zeit), zur Erklärung von Wirkungen, die mit bisherigen Modellen nicht erklärbar waren (z.B. den Mesonenzerfall in bisher unerwartet langer Zeit), und erhält nachprüfbar richtige Voraussagen, die mit den vorigen Modellen nicht gemacht werden konnten. Diese Modelle und Vorstellungen sind Konstrukte, keine Phänomene mit einer direkten Wirkung auf das Dasein, nur die Voraussagen betreffen solche Phänomene. Bei dieser Seinsweise, Seiendes zu erforschen, geht das Dasein implizit oder explizit davon aus, dass das zu erforschende Seiende verfügbar und damit nichtdaseinsmäßig ist. Zum anderen bedeutet der wichtige Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wirksamkeit, dass das Dasein als In-der-Welt-sein gewisse begrenzte Möglichkeiten hat, bestimmte Wirkungen (genauer Wechselwirkungen) zu entfalten. Dadurch ist aber seine jeweilige Seinsweise nicht determiniert. Die Welt bestimmt nicht das Dasein, sondern sie gibt nur Möglichkeiten und deren Grenzen vor, insbesondere ist das Dasein nicht verfügbar für die Welt. Ich denke, hieraus folgt u.a., was Heidegger meint, wenn er vor einer Herrschaft der Naturwissenschaft warnt. Meiner Meinung nach heißt das, die Naturwissenschaften können das Mensch-Sein nicht bestimmen im Sinne von definieren und erfassen, und wir sollen uns von ihnen auch nicht bestimmen im Sinne von beherrschen lassen, sondern das, was durch sie ermöglicht wird, sinnvoll nutzen und die von ihnen aufgezeigten Grenzen entsprechend beachten. Auch Fonagy et al. (2008) schreiben entsprechend in der Einleitung auf Seite 14: „Wir sind der Ansicht, dass die Natur (die Gene) nicht als „Determinist“, sondern als „Potentialist“ operiert.“

Weltlichkeit und ihre Kongruenz mit den Erfahrungen (§§ 14 bis 18) Bearbeiten

Weder durch Schilderung von Seiendem, stellt Heidegger fest, noch durch ontologische Interpretation des Seins des Seienden (zum Beispiel Werte) kann das Phänomen „Welt“ getroffen werden. Heidegger meint, es gebe nicht je nach Dasein verschiedene Welten, sondern eine Welt (die Welt an sich, frei nach Kant), die aber für jedes Dasein anders entdeckt sein kann. Insofern hat das Dasein eine eigene Beziehung zum In-der-Welt-sein bzw. zum Sein überhaupt. Welt bezeichnet bei Heidegger somit das Tatsächliche, soweit es nichtdaseinsmäßig Seiendes, oder das Faktische, soweit es daseinsmäßig Seiendes betrifft, während Weltlichkeit als ontologisch-existenzialer Begriff das In-der-Welt-sein betrifft und sowohl den Entwurf des Daseins von der Welt als auch den Prozess des Entwerfens dieses Entwurfes in der Auseinandersetzung mit der Tatsächlichkeit oder Faktizität der Welt meint.

Die Weltlichkeit der Welt kann somit für jedes Dasein unterschiedlich sein. Es geht dabei nicht nur um die Wirkung und die Wirksamkeit, die die Welt auf das Dasein hat, in der das Dasein ist (das wäre eine traditionelle ontologische Interpretation des Seins von Seiendem), sondern auch um die Strukturierung, die das Dasein an seiner Weltlichkeit aktiv vornimmt, wenn es sich Seiendes entdeckend verhält. Um etwas zu entdecken, muss das Dasein das zu Entdeckende in den Blickpunkt rücken, das heißt also seinen Entwurf des Seienden strukturieren, das ihm begegnet, zumindest in Vordergrund und Hintergrund. Entdecken ist immer selektiv, das Dasein „holt“ etwas von dem begegnenden Seienden in den Vordergrund bzw. konzentriert sich darauf. Wir haben es also nicht nur mit Wirkungsfeldern zu tun, sondern auch mit Informationsstrukturen, die das Dasein beim Entdecken mit nachfolgendem Bestimmen kreiert. Hinter all diesen schöpferischen Akten steht ontologisch die Seinsweise der Ergriffenheit und der Erwartung (Sorge bei Heidegger). Das Dasein optimiert die Strukturierung, die es an seinem Entwurf des in der Welt begegnenden Seienden vornimmt, immerwährend hinsichtlich seiner momentanen Ergriffenheit und Erwartung. Dabei kommt es zunächst und zumeist zu Täuschungen, zum Beispiel wenn Wirkungen übersehen werden.

Die dem Dasein begegnenden Seienden in der Welt und die Welt als Ganzes sind bzw. werden in dem Sinne weltlich, als dass sie wirklich oder wirksam sind, das heißt ein Wirkungsfeld (wie unter 2. definiert) haben oder entfalten können, welches vom Dasein entdeckt werden, auf welches es sich hin entwerfen und diesen Entwurf in seiner Weltlichkeit (daher „weltlich“) integrieren kann. Das Dasein ist also in der Wirklichkeit und Wirksamkeit der Welt, und diese Wirklichkeit und Wirksamkeit ist die Welt in einem ontischen Sinne als Umwelt, worin ein faktisches Dasein als dieses „lebt“ und auch ein entsprechendes Wirkungsfeld entfalten kann, ontologisch betrachtet eine Beziehung zum Sein überhaupt hat, die ich menschliches Leben nenne. Bezüglich seines eigenen Wirkungsfeldes hat das Dasein verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten je nach Entwurf und den damit verbundenen verschiedenen Möglichkeiten, beim Entdecken und Entwerfen selektiv und strukturierend zu sein. Dabei richtet es sich stets ontologisch an der Seinsweise der Sorge bzw. der Ergriffenheit und der Erwartung aus.

Wegen seines selektierenden und strukturierenden Entdeckens überspringt das Dasein in der Seinsart des Welterkennens das Phänomen der Weltlichkeit, sein Entwerfen ist noch ziemlich funktional. Dies gründet ontologisch in der Gesamtstruktur der Sorge bzw. der Ergriffenheit, der Erwartung und der Täuschung des Daseins, was es zumindest anfänglich nicht erkennt. Dieses Überspringen liegt an der vorgängig zu lösenden Aufgabe des Überlebens als primärer Ergriffenheit. Dabei ist das Dasein erst einmal mit einer riesigen Fülle von noch nicht entdecktem Seienden konfrontiert, das es erst einmal zu entdecken und zu erkennen gilt. In funktionaler und pragmatischer Weise (pragmata heißt Dinge), also im Umgang (Praxis) mit dem Seienden, das dem Dasein in der Welt begegnet, entwickelt das Dasein Gewohnheiten. Das sind Entwürfe, die dem Dasein die Bewältigung der vielen Informationen in der Welt erleichtern und die es ihm ermöglichen, das jeweils Begehrte seiner Sorge bzw. seiner Ergriffenheit besser zu erreichen. (Das Dasein ist in erster Linie praktisch und pragmatisch, erst in zweiter Linie theoretisch und rein hinsehend. Diese Nachrangigkeit der Theorie ist grundlegend für die existenziale Analyse Heideggers.) Ontologisch lassen sich Gewohnheiten als spezifische Erwartungshaltungen interpretieren. In seinen Gewohnheiten und „Erwartungshaltungen“ (ontisch) verhaftet bemerkt das Dasein oft gar nicht das Seiende um sich herum (das kann auch zu einer Täuschung führen), es sei denn, dieses Seiende ist nicht so wie erwartet, also nicht seinen „Erwartungen“ (ontisch) entsprechend. Meist setzt erst dann das Entdecken ein.

Wie meldet sich denn die Weltmäßigkeit der Umwelt, die Beziehung zwischen Weltlichkeit und Welt, am innerweltlich Seienden? Innerhalb des ergreifenden Umgangs mit innerweltlich Seiendem lassen sich Seinsmöglichkeiten des Daseins aufzeigen, die einen Weg öffnen, diesem Phänomen der Weltmäßigkeit der Umwelt nachzugehen und es auf seine Strukturen zu befragen. An dieser Stelle (Seite 73 ff. ebenda) sind die Ausführungen Heideggers teilweise widersprüchlich. Welt erscheint teilweise existenziell, teilweise aber auch als zum Dasein gehörig und damit existenzial. In den folgenden Ausführungen stelle ich Welt immer als existenziell, wirklich oder wirksam und tatsächlich oder faktisch dar, je nachdem ob es nichtdaseinsmäßig oder daseinsmäßig ist. Existenzial dagegen ist nur die Weltlichkeit als zum Dasein gehöriger Entwurf bzw. sein Entwerfen von der Welt, worin auch seine Weltanschauung enthalten ist.

Wenn das Dasein beim Entdecken selektierend und strukturierend dem wirklich Seienden (Heidegger betrachtet hier nur nichtdaseinsmäßig Seiendes) begegnet und in seinem Besorgen bzw. Ergreifen annimmt, dass dieses Seiende ihm, dem Dasein, zuhanden ist, dann aber feststellt, dass dem nicht so ist, dann nimmt das Dasein etwas von der tatsächlichen Wirklichkeit, der Tatsächlichkeit der Welt, wahr, und gerade hierbei zeigt sich auch die Weltmäßigkeit des Zuhandenen: der Verweis von der Strukturierung der Entwürfe und den Entwürfen von allem begegnenden Seienden auf die tatsächliche Wirklichkeit und die tatsächlich „sinnvollen“ Strukturierungen dieses Seienden ist das, was Heidegger eine Verweisung nennt. Wenn diese Verweisung gestört ist, indem sich ein scheinbar Zuhandenes in einem bestimmten Zusammenhang als nicht zuhanden herausstellt, wird nicht nur diese Verweisung ausdrücklich, sondern der gesamte Zusammenhang der Strukturierung, die das Dasein vorgenommen hat, der Entwürfe von allem begegnenden Seienden mit deren tatsächlichen Wirkungsfeldern. Mit diesem Ganzen aber meldet sich die Welt in ihrer Tatsächlichkeit. Solange die Verweisungen nicht gestört sind, solange der Umgang mit dem Seienden, der durch die Strukturierung der Weltlichkeit, nämlich die Bedeutsamkeit, bestimmt ist, nicht auf Widersprüche stößt mit dem tatsächlichen Wirkungsfeld des Seienden, solange sich also die Welt nicht meldet, so lange kann das Zuhandene in seiner Unauffälligkeit verbleiben. Darin konstituiert sich die phänomenale Struktur des An-sich-seins (die Zuhandenheit) dieses Seienden. Dieses An-sich-sein des innerweltlichen Seienden wird nur durch das Weltphänomen ontologisch fassbar, da die Zuhandenheit in der Regel ontisch unauffällig bleibt.

Verweisung ist also das Verweisen von Weltlichkeit auf Welt. Weltlichkeit ist ein Existenzial des Daseins, es ist sein von seiner Sorge bzw. seiner Ergriffenheit her beeinflusster strukturierter Gesamt-Entwurf der Welt und das entsprechende Entwerfen von der Welt, wobei die Welt das Tatsächliche und das Faktische ist, das gesamte Wirkungsfeld einschließlich der möglichen Entfaltungen von Wirkungsfeldern von daseinsmäßig Seienden, bezüglich dessen das Dasein jeweils bestimmte mögliche Strukturierungen (Entwürfe) vornehmen kann.

Teilweise benutzt das Dasein Seiendes als Zeichen (eine Art der Verweisung), teils entwirft und schafft das Dasein Zeichen, mit denen es sich selbst und/oder andere auf etwas verweist. Ersteres ist zum Beispiel der Südwind, den der Bauer in Südbaden benutzt als Hinweiszeichen für Regen, Letzteres sind Verkehrsschilder, die auf Regeln oder Örtlichkeiten hinweisen, die also den Charakter von Mitteilungen von anderen daseinsmäßig Seienden haben.

Alle Verhaltensweisen, insbesondere das Entdecken, gehen von der Sorge bzw. Ergriffenheit und Erwartung aus. Hier gibt es eine Hierarchie, die bei jedem Dasein etwas anders sein kann. Meist richtet sich das Dasein zuerst auf das Innerweltlich Seiende aus, womit es sein Überleben sichert, und erst später wird die Seinsweise des Daseins theoretisch-wissenschaftlich, ästhetisch-kontemplativ oder sozial-ethisch-moralisch (frei nach der Ballade „Wovon lebt der Mensch?“ von Brecht: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ aus der Dreigroschenoper). Daraus ergibt sich das Primat der Zuhandenheit.

Bei einer Störung der Verweisung stößt das Dasein auf eine Diskrepanz zwischen dem Tatsächlichen (Welt) und seinem eigenen Entwurf, der Weltlichkeit, und dabei hat das Dasein die Seinsmöglichkeit, dass ihm in gewisser Weise die Weltlichkeit des Seienden aufleuchtet, das heißt dem Dasein leuchtet es ein, dass es beim Entdecken nur entwirft und sich so dem Tatsächlichen nur annähert, das heißt es können immer wieder Störungen, das heißt Täuschungen auftreten, weil das Dasein das Tatsächliche durch sein Entwerfen nie ganz erfassen kann. Bei einer Störung der Verweisung kann es dem Dasein ebenfalls aufleuchten, dass dem ihm innerweltlich begegnenden Seienden nur die Seinsart der Vorhandenheit zukommt. Normalerweise ist dies dem Dasein nicht zugänglich, dem Dasein ist der Unterschied zwischen Welt und Weltlichkeit, also zwischen dem Tatsächlichen und seinem eigenen Entwurf, zunächst nicht klar. Überspitzt möchte ich das so ausdrücken: Das Dasein glaubt an die selbst erschaffenen Götzen. Erst mit dem Erkennen der eigenen Weltlichkeit überwindet das Dasein diesen Götzendienst. Fonagy et al. (2008, Seite 262 ff.) bezeichnet dies als den Modus der „psychischen Äquivalenz“, bei dem Vorstellungen für die Realität gehalten werden, wobei das Dasein in diesem Modus noch keine eigene Weltlichkeit als zusammenhängende Bedeutsamkeit insgesamt entworfen hat. Dies ändert sich bei kleinen Kindern erst ab einem Alter von etwa vier Jahren. Dass das Dasein Vorstellungen, Auffassungen, Verweisungen und Entwürfe hat, nach denen es handelt, erkennt es zuerst bei seinem Gegenüber, in der Regel bei seiner Mutter, und dann bei sich selbst. Dies beginnt mit etwa zwei Jahren, wenn das Dasein ein momentanes Selbst entwickelt hat, was daran erkennbar ist, dass es sich selbst im Spiegel erkennt. Das stellt den Beginn der sozialen Geburt dar, die mit etwa vier Jahren abgeschlossen ist, wenn das Dasein seine eigene Weltlichkeit entwickelt und erkannt hat.

Eigentlich müsste Heidegger zwischen zwei Arten der Vorhandenheit unterscheiden: die eigentliche Vorhandenheit des Tatsächlichen, die für das Dasein aber nie ganz erfassbar ist, und die Vorhandenheit, die sich in dem Moment ergibt, wenn das Dasein eine Störung der Verweisung bemerkt und die Zuhandenheit, sein eigenes Konstrukt bzw. sein eigener Entwurf, sich aufgelöst hat. Dann bleibt meist nur noch eine Ahnung der eigentlichen Vorhandenheit übrig. Nur die Vorhandenheit, die als Nicht-Zuhandenheit entdeckt ist, trägt zur Klärung der Weltlichkeit bei und ist daher ontologisch interessant. Diese Art der Vorhandenheit ist eine theoretische und damit sekundär bzw. abgeleitet von der Zuhandenheit als deren Privation.

Die prinzipielle Nicht-Überbrückbarkeit der Kluft zwischen Tatsächlichem bzw. Faktischem (Welt) und Entwurf (Weltlichkeit, Weltanschauung) ist das Weltproblem.

Je störungsfreier der Zusammenhang zwischen dem Entwurf des innerweltlich Seienden, die das Dasein ontologisch betrachtet aufgrund seiner Sorge bzw. seiner Ergriffenheit und seiner Erwartung vornimmt, und der Tatsächlichkeit dieses Seienden ist, desto besser konstituiert sich die phänomenale Struktur des An-sich-seins (die Zuhandenheit) dieses Seienden. Damit dies erreicht wird, ist es wichtig, dass die Welt Zuhandenes begegnen lässt. Wie kann dies geschehen?

Bislang hat Heidegger seine Analyse vom Dasein aus begonnen, wie es im Modus des In-der-Welt-seins eine möglichst störungsfreie Verweisung in seiner Weltlichkeit auf die Welt herstellt. Nun geht er von der Welt aus, in der sich dem Dasein Zuhandenes zeigt bzw. in der sich dem Dasein Möglichkeiten eröffnen, Zuhandenem zu begegnen. Dabei gibt die Welt (im Sozialen anfänglich vor allem die Mutter) dem Dasein die Möglichkeit, die Bewandtnis zu entdecken, die ein innerweltlich Seiendes für ein bestimmtes „Ergreifen“ (ontisch) des Daseins hat. Mit seiner Bewandtnis wird innerweltlich Seiendes als zuhanden entdeckt. Eine Bewandtnis ist also gewissermaßen das Gegenstück zu einer Verweisung. Mit der Bewandtnis von innerweltlich Seiendem erhält der Gesamtbezug der Verweisungen, also der Entwurf des Daseins von der Welt, eine Struktur, nämlich seine Bedeutsamkeit. Man könnte auch sagen, die Verweisungen werden mithilfe der Bewandtnis entworfen und strukturiert. Aufgrund der Bewandtnis von etwas als etwas entwirft und ändert das Dasein entsprechend die Struktur seiner Weltlichkeit in Form der Bedeutsamkeit des Gesamtzusammenhangs. Die Anschauung des begegnenden Seienden wird darin integriert. Bedeutsamkeit heißt insbesondere, dass das Dasein damit einen Zugriff auf die Zukunft versucht. Bedeutsamkeit beinhaltet immer auch eine Prognose. Auch der Um-zu-Zusammenhang bei der Bedeutsamkeit (etwas Zuhandenes ist im Gesamtzusammenhang bedeutsam, um etwas zu erreichen) weist in die Zukunft. Das Zeugganze erhält seine Bedeutsamkeit auch immer nur hinsichtlich dessen, was das Dasein zum „Ergreifen“ wählt. Die Eingrenzung der Bedeutsamkeit auf Ziele hin, also die „Erwartung“, ermöglicht es dem Dasein relativ flexibel auf unvorhergesehene Änderungen in der Welt zu reagieren. Deswegen ist das Dasein auch so anpassungsfähig, anpassungsfähiger als alle Tiere und alle Roboter (künstliche Intelligenzen, KI). Ein Roboter müsste nämlich nicht nur die Wirkungsfelder messend erkennen, sondern in kreativer Weise Entwürfe und deren sinnvoll zielführende Strukturierungen erzeugen.

Mit dem Sich-Zeigen der Welt gegenüber dem Dasein hat es noch eine andere Art Bewandtnis als die, etwas als zuhanden begegnen zu lassen: Aufgrund seiner Sorge bzw. Ergriffenheit und Erwartung lässt sich das Dasein auch täuschen, bis es enttäuscht wird, bis diese Täuschung erkannt und aufgehoben ist. Im Modus des Getäuscht-Seins hat das Dasein noch nicht alle für seine Erwartung bedeutsamen Wirklichkeitsfelder bzw. deren Bewandtnis erkannt, oder bei daseinsmäßig Seienden noch nicht dessen für seine Erwartung bedeutsamen Wirksamkeiten (möglich wählbare Entfaltungen möglicher Wirklichkeitsfelder) und das faktische Wählen bestimmter Entfaltungen bzw. deren Bewandtnis. Das innerweltlich Begegnende kann sich nicht nur zeigen oder verdecken, es kann auch einen Schein erwecken, indem es einen bestimmten Schein zeigt und alles andere verdeckt. Dies zeigt sich dem Dasein erst im pragmatischen Umgang, bei dem es dann zwangsläufig enttäuscht wird und seinen Gesamtentwurf von der Welt entsprechend ändert. Somit sind in der Weltlichkeit alle praktischen Erfahrungen des Daseins in der Welt festgehalten, festgehalten in seinem Gesamtentwurf der Welt. Wenn das Dasein seine praktischen Erfahrungen in der Welt nicht mehr adäquat festhält, was daran erkennbar ist, dass es sich immer wieder auf ähnliche Weise täuscht oder täuschen lässt und so erneut entsprechend enttäuscht wird, dann ist die Weltlichkeit des Daseins mit seinen praktischen Erfahrungen in der Welt nicht mehr deckungsgleich oder kongruent. Dadurch ist es auch nicht in der Lage, alle seine Möglichkeiten zu erkennen und daher auszuschöpfen, es ist dadurch in seiner Selbstbestimmung eingeschränkt und daher in Gefahr, immer uneigentlicher zu werden. Bei Kongruenz entwickelt sich das Dasein mit jeder Erfahrung immer weiter, es entdeckt seine Situation, sein Da, immer mehr und wird dadurch immer eigentlicher. Bei Inkongruenz aber ist diese Entwicklung gestört und das Dasein ist uneigentlich. Kongruenz ist somit ein wichtiger ontologisch-existenzialer Begriff, den ich aus der Theorie der Gesprächspsychotherapie entnommen habe (z.B. Rogers, 1993). Kongruenz ist die Bedingung für Eigentlichkeit, und wenn es dem Dasein um sein eigentliches Sein geht, dann bemüht es sich um Kongruenz zwischen seiner Weltlichkeit und seinen Erfahrungen.

Kritik am Cartesianismus und phänomenale Hebung des In-der-Welt-seins (§§ 19 bis 24) Bearbeiten

Bei Heideggers Kritik am Cartesianismus wird die Beziehung zwischen Welt und Weltlichkeit, zwischen dem Tatsächlichen bzw. Faktischen und dem Entwurf bzw. dem Entwerfen des Daseins noch weiter erläutert und geklärt. In der Ontologie von Descartes bis hin zu modernen Ansätzen der KI-Forschung fungieren Objekte, deren Merkmale mit Regeln und Programmen definiert werden, welche deren Beziehungen untereinander repräsentieren, als die grundlegenden Bestandteile des Universums. Wenn es gelänge, alle Weisen des Seins auf der Grundlage von gesetzes- oder regelähnlichen Kombinationen vorhandener Elemente zu erklären, dann wäre diese Art der Ontologie erfolgreich. Dies scheitert aber meines Erachtens zum Beispiel schon in der Physik am so genannten Chaos-Pendel: dieses Pendel besteht aus drei Stäben mit zwei Gelenken und einer Aufhängung, an denen sich die Stäbe jeweils um 360° drehen können. Wenn man das Pendel exakt in die Stellung bringt, in der alle Stäbe senkrecht nach oben stehen, und dann loslässt, dann gibt es kein Gesetz und keine Regel, die voraussagen kann, wie der genaue Bewegungsablauf des Pendels bis zu seinem Stillstand ist. Schon direkt am Anfang und immer wieder zwischendurch gibt es Stellungen des Pendels, in denen der von der Aufhängung am weitesten entfernte Stab in einer Stellung senkrecht nach oben steht, und die Wahrscheinlichkeit 50 zu 50 steht, dass er zur einen oder zur anderen Seite kippt. Man kann hier zwar noch einwenden, dass die Bewegung des Pendels im Nachhinein schon erklärt, nur nicht im Voraus berechnet werden kann, aber für den Fall von drei Billardkugeln in der Ebene oder gar vier Kugeln im Raum, die zum exakt gleichen Zeitpunkt aneinander stoßen, gibt es keine theoretische Berechnungsweise, wie der Stoß ausgeht, und damit auch keine Erklärung. Wenn man z.B. das wissenschaftliche Kriterium der Reliabilität hier anzuwenden versucht, also denselben Versuch öfter wiederholt, so wird man immer wieder andere Ergebnisse haben, die nicht im Voraus sondern nur im Nachhinein erklärt werden können. Somit scheitert die traditionelle Ontologie schon an diesem einfachen Beispiel aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit. Diese abstrakte Beweisführung lässt sich auch durch eine etwas anschaulichere ergänzen: das Wissen der Menschheit ist bis heute ständig gewachsen, und die Wachstumsgeschwindigkeit hat nicht etwa abgenommen, so dass man von einer Sättigung und einem künftigen Stillstand ausgehen kann, sondern im Gegenteil, sie hat in den letzten Jahren drastisch zugenommen. Von daher ist es praktisch unmöglich, eine künstliche Intelligenz, also einen Roboter zu konstruieren, der dabei mithalten kann. Ganz allgemein kann man festhalten, dass die traditionelle Ontologie deswegen und daran scheitert, weil niemand die Zukunft voraussagen und auch nicht immer exakt erklären kann. Wissenschaft kann nur begrenzte Wenn-Dann-Aussagen machen, aber keine genauen Ob-Aussagen. Die traditionelle Ontologie geht stillschweigend davon aus, dass die Zukunft festgelegt sei, und wir nur noch nicht herausgefunden haben wie. Alles Vorhandene und alle Prädikate, Regeln und sonstige Zusammenhänge können nur das Bisherige, die Vergangenheit repräsentieren. Eine Ontologie, die auf der Vergangenheit fußt und damit die Zukunft voraussagen will, muss logischerweise scheitern.

Außerdem kann man logisch nachweisen, wie dies Roger Penrose (2002,1995) ausführt, dass künstliche Intelligenzen, also Roboter und Computer, nicht wirklich verstehen können. Mit Verstehen ist hier noch nicht einmal das befindliche Verstehen von Heidegger gemeint (siehe Kapitel 5), sondern das davon abgeleitete Erkennen im rein intellektuellen Sinne. Nach endlich vielen Verständnisfragen hat der Computer keine Antwort mehr, egal wie „intelligent“ oder umfangreich er programmiert worden ist. Penrose ist allerdings der Meinung, es gebe eine physikalische Erklärung für das Phänomen des Verstehens, und glaubt, diese Erklärung mit einer noch zu findenden verbesserten Quantentheorie geben zu können. Die Quantentheorie ist ja letztlich dadurch entstanden, dass das Problem der Dualität des Lichtes geklärt werden sollte. Licht hat zwei Möglichkeiten der Wirkungsweise: die eine ist seine Wirkung als Welle oder Schwingung, die andere seine Wirkung durch seine Energie. In der Quantentheorie wird nun der Zustand eines Systems durch eine sogenannte Superposition verschiedener Möglichkeiten seines Zustands beschrieben. Solange diese Zustandsmöglichkeiten entsprechend gewichtet sozusagen übereinander gelagert bleiben, ist die Welt der Physik noch in Ordnung. Erst wenn dieses System mit einem anderen in Wechselwirkung tritt und eine genügend große Verringerung seines Energiezustands eintritt (siehe Penrose, 1995) oder, wie ich meine, wenn die Entropie sich dadurch zu sehr vergrößert und somit die Ordnung im System abgenommen hat, wird es problematisch, da die bisherige Quantentheorie nur Wahrscheinlichkeitsaussagen treffen kann, welche dann möglichen Zustände das betreffende System einnimmt. So betrachtet kann die Physik mithilfe der Quantentheorie die Dualität des Lichtes eine Weile aushalten, bis es durch ein gewisses Quantum an Energieverringerung, die mit einer Entropiezunahme einher geht, dann doch wieder mit diesem Problem konfrontiert ist. Insofern führt die Physik über das Phänomen des Lichtes an das Problem des Sich-Verstehens auf Möglichkeiten heran, welches nach Heidegger nur vom Dasein durch befindliches Verstehen gelöst werden kann (siehe Kapitel 5). Ein Physiker würde vielleicht die Entschlossenheit des Daseins aus Kapitel 8 als Verringerung der Entropie, also als Zunahme der Ordnung interpretieren. Aus diesen Überlegungen wird klar, dass Heidegger Penrose entschieden widersprochen hätte, was die Rolle der Physik bei der Erklärung des Phänomens des Verstehens betrifft. Weiter unten in Kapitel 14 werde ich noch einmal genauer auf die Rolle des Rhythmus eingehen, der insofern ein ähnliches Problem wie das Licht aufwirft, als dass der Rhythmus auch eine Doppelnatur besitzt, die der des Lichts in gewisser Hinsicht gleicht. Rhythmus hat einerseits etwas Dynamisches wie die Energie des Lichts, aber auch etwas Statisches (Zusammenfügendes) wie der Wellencharakter des Lichts. Dass der Wellencharakter des Lichts etwas Zusammenfügendes hat, erkennt man an dem Phänomen des Laser-Lichts, bei dem durch Verringern der Entropie unter einen kritischen Punkt, indem Energie in das System gepumpt wird, die verschiedenen Photonen sich zusammenfügen in der kohärenten Sinuswelle des Laser-Lichts. Dynamik oder Energie wird sozusagen zusammengefügt zu der ruhenden Gestalt einer kohärenten Sinuswelle. Das Wellenmodell des Lichts erklärt das Phänomen der Interferenz, was Überlagerung bedeutet und etwas Statisches ist.

Die bisherigen Aussagen bedeuten natürlich nicht, dass Wissenschaft überhaupt nichts voraussagen kann. Unter bestimmten Umständen und zu einem gewissen Grad ist das durchaus möglich. Die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Prognosen hat in der letzten Zeit auch deutlich zugenommen, zum Beispiel bei der Wettervorhersage, aber es gibt eine Grenze, über die die Wissenschaft niemals hinauskommen wird. Je komplexer der erforschte Ausschnitt der Welt ist, desto enger liegen die Grenzen der Wissenschaft. Wissenschaft hat ihren Stellenwert in der Aufarbeitung der Vergangenheit. Dabei klammert sie ganz bewusst jegliche Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit aus und versucht gemäß ihrem Minimalitätsprinzip mit so wenig wie möglich Annahmen das vergangene Geschehen zu erklären. Sobald diese Annahmen für die Zukunft nicht ausreichen, und das geschieht früher oder später immer, weil die Zukunft nicht nur aus der Vergangenheit entsteht, sondern immer wieder neu erschaffen wird, und zwar auch von uns selbst, stößt Wissenschaft an ihre Grenzen bei der Erklärung der Seinsweisen des Seienden. „Auch von uns selbst“ weist auf etwas ganz Entscheidendes hin, nämlich auf unsere Unverfügbarkeit (sie oben), weil wir als daseinsmäßig Seiende wählen können. Die Besonderheit dieser Unverfügbarkeit ist die, dass sie sich auch nicht eingrenzen lässt durch irgendwelche Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen. Es wird also immer unvorhersehbare Situationen geben, in denen es notwendig ist, alle vorhandenen Informationen auf eine für die Problemlösung sinnvolle Weise neu zu strukturieren bzw. zu gestalten, wodurch schon wieder etwas Neues geschaffen werden kann. Daran scheitert jede künstliche Intelligenz, denn sie kann nicht wirklich kreativ sein und etwas Neues gestalten. Hierbei gehe ich mit Heidegger von der Annahme aus, dass es dem Dasein um sein Sein geht, und dass es Wahlmöglichkeiten hat zu sein, also ein gewisses Maß an Freiheit, oder anders formuliert, dass es seine Beziehung zum Sein, was ich sein Leben genannt habe, mitgestalten kann. Die Diskussion über die Rolle der Naturwissenschaften werde ich weiter unten im 12. Kapitel weiterführen und vertiefen.

Auch Heideggers existenziale Ontologie kann dieses Problem (das Weltproblem, siehe Kapitel 3) nicht lösen, aber es wird hier nicht verschleiert. Das Dasein stößt in seiner Weltlichkeit, das heißt mit seinem Entwurf von der Welt, immer wieder auf Störungen mit dem Tatsächlichen, die Verweisungen des Daseins ergeben immer wieder, dass es mit dem innerweltlich Seienden eine andere Bewandtnis hat, als das Dasein es in seiner Weltlichkeit erwartet. Die neue Bewandtnis dieses Seienden trifft nicht mehr die „Erwartung“ (ontisch) des Daseins. Diese wird somit frustriert, und es ist eine interessante, wenn nicht sogar die zentrale Aufgabe der existenzialen Analyse, zu beleuchten, wie das Dasein mit Frustrationen seiner „Erwartungen“ umgeht, bzw. auf der ontologischen Ebene wie die Sorge bzw. die Ergriffenheit sich bei der Enttäuschung der Erwartung ändert bzw. dann, wenn das Besorgen nicht erfolgreich war. Dies soll weiter unten analysiert werden (Kapitel 5). Zunächst und zumeist ist das Dasein getäuscht, existiert also in der Seinsweise des Getäuscht-Seins. Ab und zu entdeckt es eine Täuschung und ist dadurch enttäuscht.

Des Weiteren fragt Heidegger nach der Grundlage von allem Seienden: Ist das innerweltlich zuhanden Seiende, das „Zeug“, ontologisch grundlegend oder aber, wie die traditionelle Ontologie behauptet, das vorhandene Material, dessen kausale Kräfte das Funktionieren des „Zeugs“ erst ermöglichen?

Einerseits gibt es Zuhandenes nur auf der Grundlage von Vorhandenem, andererseits kann eine Ontologie, die sich nur auf Vorhandenes stützt, nicht die Weltlichkeit, also den Entwurf und das Entwerfen des Daseins, verstehen und erklären. Eine Ontologie, die Seiendes in seiner Seinsweise verständlich machen will, kann als Grundlage nur das Besorgen bzw. das Begreifen nehmen, also die Momente, in denen das Dasein nach Zuhandenem greift, es ergreift, und dabei unter Umständen erkennt, dass es nicht so zuhanden ist, wie es das erwartet hat. Somit müssen die Bereiche des Entwurfes des Daseins von der Welt Grundlage einer wirklich erklärenden Ontologie sein, die sich bewährt haben, aber nur so lange, wie sie die Erwartung des Daseins erfüllen und sie nicht enttäuschen. Daher muss auch der Prozess des Entwerfens Grundlage dieser Ontologie sein. Da Weltlichkeit nicht nur den Entwurf des Daseins, sondern auch den Prozess des Entwerfens selbst beinhaltet, ist Weltlichkeit die Grundlage einer wirklich erklärenden Ontologie. Ein wichtiger Teil beim Prozess des Entwerfens ist die Änderung der Sorge bzw. der Ergriffenheit bei der Enttäuschung der Erwartung bzw. einer Frustration beim Besorgen, und ob hierbei eine Inkongruenz auftritt zwischen Weltlichkeit und praktischer Erfahrung.

Die wissenschaftliche Erkenntnistheorie ist nun in der Gefahr, den Erkenntnisprozess in der Weise zu vereinfachen, dass sie sagt, wenn ein Experiment nicht das von der entworfenen und entwerfenden Theorie erwartete Ergebnis zeigt, muss die Theorie so verändert werden, dass die aus der veränderten Theorie abgeleitete Erwartung bei diesem Experiment dann erfüllt ist. Dies ist deswegen zu einfach, weil das Dasein, in diesem Falle der Wissenschaftler, nicht immer mit der „Enttäuschung“ des unerwarteten Ergebnisses des Experimentes in dieser Weise umgeht. Auch beim Wissenschaftler kann Inkongruenz auftreten und von ihm beibehalten werden. Wissenschaft und Wissenschaftler bilden eben eine untrennbare Einheit wie das Dasein in seinem In-der-Welt-Sein. Dies ist aber auch nur ein Beispiel für etwas viel Grundlegenderes, nämlich für die Frage, von welcher Art seine Sorge ist bzw. von was der Wissenschaftler und die Gemeinschaft der Wissenschaftler in einem Wissensgebiet ergriffen sind, was sie erwarten und was ihre Interessen sind, sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer jeweiligen Wissenschaft. Das alles beeinflusst den Erkenntnisprozess.

Die vier konstitutiven Momente des In-der-Welt-seins Bearbeiten

Die folgenden beiden Unterkapitel sind Erweiterungen von Heideggers Sein und Zeit, in denen ich seine Analyseschritte vom In-der-Welt-sein auf andere Lebensbereiche, vor allem auf Gemeinschaften bzw. auf das In-Gemeinschaften-sein übertrage. Daher werde ich diese Gedankengänge nicht extra durch Kursivschrift kennzeichnen.

In-der-Welt-sein ist immer auch ein In-Gemeinschaften-sein, und innerhalb einer Gemeinschaft gibt es zwei Aufgabenbereiche, nämlich zum einen, die Gemeinschaft und sich selbst vor Gefahren aus der Welt von außerhalb der Gemeinschaft zu schützen und Ressourcen für die Gemeinschaft und einen selbst von dort zu besorgen. Diesen Bereich behandelt Heidegger, und ich will ihn den Bereich des Handwerklichen bzw. der Arbeit nennen, den Bereich, in dem das Dasein sich innerhalb einer Gemeinschaft anstrengt, um erfolgreich und wirkungsvoll für die Gemeinschaft und sich selbst zu sein. Zum anderen geht es innerhalb einer Gemeinschaft auch darum, dass jeder sich möglichst wohl fühlt und innerhalb der Gemeinschaft ein guter Zusammenhalt, eine möglichst große Harmonie herrscht. Diesen Bereich will ich das Soziale oder den sozial-emotionalen Bereich nennen. Aus diesen beiden grundlegenden Bereichen des Alltäglichen heraus entwickeln sich folgende Spezialisierungen: aus den Problemen im Arbeitsbereich ergeben sich die Naturwissenschaften und aus dem sozial-emotionalen Bereich die Geistes- und Sozialwissenschaften und das Künstlerische. Die Entstehung der Wissenschaften ist in Kapitel 10 beschrieben, und die Philosophie ist klassischerweise die Grundlage bzw. eine Art Überbau des gesamten wissenschaftlichen Bereiches, weswegen ich diesen Bereich insgesamt das Philosophisch-Künstlerische nennen möchte. Ontologisch betrachtet geht es sowohl im Philosophischen als auch im Künstlerischen um Sinn-Systeme und deren Mitteilung und Austausch, wobei die entsprechenden Anstrengungen mehr von einzelnen oder kleineren Gruppen gemacht werden, deren Ergebnisse dann mit der Gemeinschaft insgesamt geteilt und jeweils praktisch umgesetzt und auf ihren Nutzen überprüft werden, also ob sie zur Lösung der Aufgaben in den beiden grundlegenden Bereichen des Sozialen oder Handwerklichen entsprechend beitragen. Im Künstlerischen geht es darum, dass das Dasein Anderen sein Verständnis der Weltlichkeit bzw. seiner Beziehung zum Sein in einer originellen Begrifflichkeit vermittelt. Die Anderen haben dann die Wahl, sich das davon befindlich Verstandene und Begriffene ausdrücklich anzueignen und in ihrer eigenen Weltlichkeit bzw. in ihre eigene Beziehung zum Sein überhaupt zu integrieren oder nicht. Eine weitere Spezialisierung ergibt sich, wenn es um das Wohlbefinden des Einzelnen geht: ich möchte diesen Bereich das Leibliche und nicht das Körperliche nennen, weil es in diesem Bereich nicht nur um die körperliche Gesundheit geht, sondern um Gesundheit im weitesten Sinne des Wortes, eben um das Wohlbefinden insgesamt. Der Begriff des leiblichen Wohls stellt zwar unsere Körperlichkeit in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit, aber wenn wir uns beispielsweise in einer schlechten Stimmung befinden, sind leibliche Genüsse für uns meist wertlos, sodass auch unser leibliches Wohlbefinden beeinträchtigt ist. Das Leibliche, das Handwerkliche, das Soziale und das Philosophisch-Künstlerische sind wohl die vier wichtigsten Bereiche, in denen man Weltlichkeit und Welt, also das In-der-Welt-sein analysieren kann. Was bedeuten Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit jeweils in diesen vier Bereichen?

Im Handwerklichen bzw. im Arbeitsbereich ist das Ergreifen des Begehrten der Erfolg, und bevor dieser erreicht ist, besteht die Spannung (Hoffnung auf Erfolg oder Furcht vor Misserfolg), ob das jeweilige Ziel erreicht wird oder nicht. Das Dasein ist primär auf die Zukunft hin orientiert. Primär bedeutet, dass die anderen prozesshaften Aspekte natürlich auch eine Rolle spielen, aber nicht die primäre. Sein Ergreifen ist ein Besorgen, seine Ergriffenheit und Erwartung die Sorge um das Erfolgreich-Sein (ontologisch). Das Ziel der Eigentlichkeit des Daseins wird in diesem Bereich in der Selbstverwirklichung erreicht, in der erfolgreichen Entfaltung des Potentials seiner Wirksamkeit. In diesem Fall ist das eigentlich existierende Selbst erfolgreich wirksam. Das Dasein versteht sich dann selbst echt und eigentlich, was ich weiter unten als Selbstliebe bezeichnen werde.

Sowohl im Arbeitsbereich als auch im sozialen Bereich ist das Dasein immer als Mitglied von Gemeinschaften zu betrachten, „... dass mit dem in Arbeit befindlichen Zeug die anderen ‚mitbegegnen‘, für die das ‚Werk‘ bestimmt ist“ (Seite 117 ebenda). Der Unterschied besteht darin, dass es im Arbeitsbereich um die Aufgaben geht, die das Verhältnis zur „Welt“ betreffen, also zum Gesamt von allem Seienden außerhalb der jeweiligen Gemeinschaft, während es im sozialen Bereich um das Verhältnis aller Mitglieder der Gemeinschaft untereinander geht. Dies führt unter anderem zu einer völlig unterschiedlichen Verteilung der Verantwortung, wenn eine möglichst effektive Problemlösung in diesen Bereichen erlangt werden soll: Wenn man sich vorstellt, die Mitglieder einer Gemeinschaft sind in einem Kreis aufgestellt und blicken alle nach außen, dann kann niemand den gesamten Außenbereich überschauen, sodass es am effektivsten ist, wenn jeweils eine Person hauptverantwortlich für einen Sektor dieses Außenbereiches ist. Daher ist die Betrachtung des einzelnen Daseins, das ein relativ unpersönliches Verhältnis im von Heidegger beschriebenen Mitdaseins zu Anderen hat, da es um die jeweilige Aufgabe in erster Linie geht, um das „Werk“ zum Beispiel, in der Alltäglichkeit des Arbeitsbereichs angemessen. Wenn man sich nun vorstellt, dass die im Kreis aufgestellten Mitglieder einer Gemeinschaft nach innen schauen, dann kann jeder alles überblicken, sodass es hier am effektivsten ist, wenn sich jeder für alles mitverantwortlich fühlt. Man stelle sich nur vor, dass auf der Straße zwei Menschen sich gegenseitig umzubringen versuchen, und alle Anwohner der Straße hinter ihrem Fenstervorhang nur zuschauen, und keiner sich verantwortlich fühlt. Daher ist im Sozialen das persönliche Miteinander, das sich gegenseitig möglichst offen Zeigen und das sich in den Anderen möglichst vorurteilslos Hineinversetzen, die Empathie, die weiter unten noch erläutert wird, das dem „Werk“ im Arbeitsbereich entsprechende, worum es in diesem Bereich geht.

Wie sieht es nun im Sozialen aus, was ist hier das Ergreifen des Begehrten, auf welchen Aspekt der Prozesshaftigkeit hin ist hier das Dasein orientiert, und was bedeutet Eigentlichkeit in diesem Bereich? Das Ergreifen des Begehrten ist hier das Erreichen und die Aufrechterhaltung der Harmonie, des harmonischen Austauschs zwischen dem Dasein und anderen daseinsmäßig Seienden (dies wird weiter unten genauer ausgeführt). Wenn dieses Ziel nicht erreicht wird, so stellen sich folgende drei Fragen: 1) Kann das Dasein etwas tun, um den harmonischen Austausch herbeizuführen, indem es sich um ein besseres Verständnis der Anderen bemüht, oder 2) muss das Dasein sich mehr zeigen und die Anderen mit seinen Belangen konfrontieren, damit diese es besser verstehen oder wenigstens sich um ein besseres Verständnis des Daseins bemühen, oder 3) ist es von der Situation her besser für das Dasein, den Kontakt mit den Anderen auf ein Minimum dessen zu reduzieren, was dem Dasein weder Schaden zufügt noch Nachteile bereitet? Das Ganze ist also eine Frage der Verantwortung, ob das Dasein selbst, die anderen oder die Situation für die Störung des harmonischen Austauschs verantwortlich sind und sich ändern, also lernen oder geändert werden (die Situation) müssten, um die Harmonie (wieder) herzustellen. Die Frage der Herstellung oder Aufrechterhaltung der Harmonie und der Verantwortung für die Harmonie bedeutet, dass das Dasein sich primär auf die Gewesenheit hin orientiert, weil es die Bedingtheit der sozialen Zusammenhänge (Stichwort: „Ich, du, unsere Situation“) verstehen muss, um Harmonie zu erreichen. Bedingtheit weist auf Gewesenes hin: wie kam es zum Bruch der Harmonie, welche Bedingungen in der Vergangenheit haben dazu geführt, dass die Harmonie nicht hergestellt werden konnte, welche Voraussetzungen sind für die Herstellung der Harmonie nicht gegeben gewesen? Natürlich spielen auch die anderen Aspekte der Prozesshaftigkeit eine wichtige Rolle, aber eben nicht die primäre. Die Ergriffenheit des Daseins ist hier als ontologischer Strukturbegriff die Harmoniesehnsucht. Auch der Rückzug ist hierbei nur ein Modus der Harmoniesehnsucht. Die Seinsweise des Daseins (Existenzial) ist das harmoniesuchende Sich-Auseinandersetzen. Das Ziel der Eigentlichkeit ist hier Humanität (Menschlichkeit: dem Dasein geht es nicht nur um sein eigenes Sein, sondern um das Sein aller Anderen in der Gemeinschaft) und wird in der Liebe erreicht. Dies alles soll erst noch weiter unten als Ergebnis der existenzialen Analyse des Sozialen ausgeführt werden.

Beim Leiblichen ist das Begehrte das Heil-Sein oder Ganz-Sein, und die primäre prozesshafte Ausrichtung ist die (daseinsmäßige) Räumlichkeit. Das Ergreifen ist hier also das Eins-Werden, und die Ergriffenheit des Daseins wird zur Einheitssehnsucht. Das Ziel der Eigentlichkeit wird hier durch Selbsthingabe („Platz in seinem Herzen einräumen und dadurch mit jemandem verschmelzen“) erreicht, was ebenfalls ein Aspekt der Liebe ist, wie ich in Kapitel 9 erläutern werde. Diese und die folgenden Behauptungen über das Philosophisch-Künstlerische sind erst einmal Vermutungen von mir und müssen erst noch in einer entsprechenden existenzialen Analyse begründet werden, die aber hier nicht erfolgt.

Beim Philosophisch-Künstlerischen ist das Ergreifen des Begehrten die Erkenntnis als Begrifflichkeit. Erkenntnis soll begreifbar gemacht werden. Die spezifische prozesshafte Ausrichtung ist primär die Gegenwart. Das Ergreifen ist der Weg zum Erleuchtet-Werden, und die Erwartung des Daseins erlischt in der Erleuchtung, in der das Ziel der Eigentlichkeit erreicht ist. Erleuchtung als echtes und unmittelbares Verstehen des Seins überhaupt ist aber auch nichts anderes als Liebe (siehe unten).

An dieser Stelle erhebt sich nun die Frage, wie es kommt, dass Heidegger auf das Handwerkliche nur eingeht, und insbesondere das Soziale im obigen Sinne vernachlässigt. Die Erklärung dafür könnte in Folgendem liegen, wodurch die existenziale Analyse des Daseins noch weiter vertieft wird:

In jeder Gemeinschaft von daseinsmäßig Seienden (also Menschen) gibt es, wie oben schon erwähnt, zwei Klassen von Aufgaben, die zu erfüllen sind für den Erhalt der Gemeinschaft. Die erste Klasse betrifft alle Außenkontakte der Gemeinschaft, wobei die Gemeinschaft einerseits gegen äußere Angriffe und Gefahren geschützt und andererseits versorgt werden muss mit äußeren Ressourcen (zum Beispiel Nahrung und Wärme-Energie). Die zweite Klasse betrifft den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft, wobei das Begehrte eine harmonische Atmosphäre ist, in der sich alle möglichst wohl fühlen. Worauf Heidegger eingeht, ist die erste Klasse von Aufgaben, denn im handwerklichen Bereich werden insbesondere Schutzmauern und Waffen zur Verteidigung hergestellt, und auch Nützliches für die Nahrungs- und Energiegewinnung allgemein. Die traditionelle Verteilung der Aufgaben in einer Gemeinschaft sieht nun so aus, dass die Männer sich den Aufgaben der ersten Klasse widmen, während die Frauen sich der Aufgaben der zweiten Klasse annehmen. Insofern hat Heidegger in typischer Weise als Mann gehandelt, als er wie selbstverständlich den handwerklichen Bereich genommen und analysiert hat.

Ein weiterer Grund dafür, dass Heidegger sich vornehmlich auf den Arbeitsbereich konzentriert hat, liegt darin, dass er „Kant als einen echten Vorgänger des eigenen Ansatzes darstellen“ (siehe Steffen, 2005, Seite 70) wollte. Dies tat Heidegger vor allem in seiner Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, in der Kant vor allem eine erkenntnistheoretische Grundlage der Naturwissenschaften legen wollte. Heidegger wollte Kants Ansatz, so wie er ihn interpretierte, unter anderem dadurch vertiefen, dass er den Alltag des Daseins mit einbezog, und die alltägliche Basis der Naturwissenschaften ist der alltägliche Umgang mit den Dingen, also der Arbeitsbereich.

In der Arbeitswelt, die Heidegger vornehmlich betrachtet, geht es dem Dasein darum, dafür zu sorgen, dass die Gemeinschaft, in der es Mitglied ist, vor äußeren Gefahren geschützt ist, und dass von außen genug Ressourcen herbei gebracht werden von dem, was die Gemeinschaft braucht, damit sich alle Mitglieder möglichst wohl fühlen. So erklärt sich schließlich Heideggers Wortwahl: „Besorgen“ von äußeren Ressourcen und von Schutz gegenüber äußeren Gefahren und die entsprechende Sorge darum sind das Wichtigste in diesem Bereich. Dieses Besorgen und diese Sorge gründen ontologisch jeweils im entsprechenden Ergreifen bzw. in der Ergriffenheit und der Erwartung.

Reicht es denn nicht aus, wie Heidegger vorgeht, nur den Bereich der Arbeit bzw. des Handwerklichen zu untersuchen? Hängen die vier Bereiche letztlich nicht irgendwie zusammen, so dass die Analyse eines Bereichs vollkommen ausreicht? Nun, die vier Bereiche hängen tatsächlich zusammen, wie ich weiter unten darlegen werde. Sie liefern aber trotzdem verschiedene Aspekte des Seins des Daseins, so dass eine umfassendere existenziale Analyse erreicht werden kann, wenn man alle vier Bereiche analysiert, um damit vielleicht der Frage nach dem Sinn des Seins näher zu kommen, als dies Heidegger gelungen ist. Das In-der-Welt-sein ist als etwas Ursprüngliches, als einheitliches Phänomen (Seite 53 ebenda) nicht ableitbar, aber das schließt eine Mannigfaltigkeit konstitutiver Momente nicht aus wie zum Beispiel die vier Bereiche des Leiblichen, des Handwerklichen (Arbeit), des Sozialen und des Philosophisch-Künstlerischen. Existenzial sind sie gleichursprünglich, das heißt sie entspringen den gleichen Bedingungen des Seins des Daseins. Auf Seite 131 in Sein und Zeit mahnt Heidegger, dieses Phänomen der Gleichursprünglichkeit in der Ontologie (also bei der existenzialen Analyse, Heideggers Fundamentalontologie) nicht zu missachten, sondern es methodisch zu nutzen, um das Ursprüngliche, in diesem Fall das In-der-Welt-sein, phänomenal zu heben.

Den Zusammenhang der vier Bereiche bzw. ihre Gleichursprünglichkeit kann man zum Beispiel dadurch deutlich machen, dass man zeigt, dass Probleme in einem Bereich früher oder später zu Problemen in den restlichen drei Bereichen führen. Probleme in jedem der vier Bereiche führen früher oder später zu Selbstwertproblemen und treffen so den Kernbereich des Daseins, weil es diesem ja um sein Sein geht und damit auch um seinen Wert. Deswegen wirkt sich ein Selbstwertproblem mit der Zeit auch negativ auf alle anderen Bereiche aus und schafft dort Probleme. Damit ist der Zusammenhang der vier Bereiche ontologisch klar, und ich möchte an dieser Stelle auf weitergehende Analysen verzichten, wie auf der ontischen Ebene aus Problemen in einem Bereich Probleme in allen anderen Bereichen entstehen können. Die vier konstitutiven Momente des In-der-Welt-seins lassen sich auch so unterteilen: man kann das In-der-Welt-sein unter dem Aspekt des einzelnen oder einer Gemeinschaft betrachten, das heißt ein konstitutives Moment des In-der-Welt-seins kann gemeinschaftlich oder individuell sein. Die Leiblichkeit und das Philosophisch-Künstlerische haben mehr individuelle Anteile, während der Arbeitsbereich und das Soziale mehr gemeinschaftliche Momente des In-der-Welt-seins aufweisen. Eine zweite Unterteilung kann danach getroffen werden, welche konstitutiven Momente traditionellerweise eher von Frauen oder eher von Männern als ihre Hauptaufgabe gesehen werden, das heißt welche Momente man eher als männlich oder als weiblich betrachten kann, auch in dem Sinne von männlichem und weiblichem Prinzip, wobei männlich hier so viel wie schöpferisch-tatkräftig bedeutet und weiblich so viel wie aufnehmend-verstehend. Es sei hier betont, dass Männer und Frauen sowohl männliche als auch weibliche Anteile in diesem Sinne haben, und dass es Männer gibt mit mehr weiblichen Anteilen als männlichen und Frauen mit mehr männlichen Anteilen als weiblichen. Insofern sind der Arbeitsbereich und das Philosophisch-Künstlerische männlich und das Soziale und die Leiblichkeit weiblich. Schöpferisch-tatkräftig impliziert eher eine Ausrichtung in die Zukunft oder die Gegenwart und aufnehmend-verstehend eher in die Gewesenheit oder die Räumlichkeit. Insofern betont das männliche Prinzip mehr die zukünftigen und gegenwärtigen Möglichkeiten, während das weibliche Prinzip mehr nach möglichen Bedingungen im Gewesenen oder nach möglichen Momenten im Räumlichen sucht, die den gegenwärtigen Zustand verständlich machen und Ausblicke in die Zukunft geben. Beim männlichen Prinzip ist die Verantwortlichkeit auf das Erreichen eines Ziel mit gegenwärtigen Mitteln gerichtet, also punktuell, während beim weiblichen Prinzip die Verantwortlichkeit breit gestreut auf die Erforschung aller möglichen Bedingungen und räumlichen Gegebenheiten des gegenwärtigen Zustandes verteilt ist, mehrere Bedingungen und Gegebenheiten werden als möglicherweise verantwortlich für diesen Zustand in Betracht gezogen. Um dieser großen Breite gerecht zu werden, ist es von Vorteil, wenn sich möglichst viele an deren Erforschung beteiligen. Jeder kann dabei zu allem etwas beitragen, denn prinzipiell sind jedem die Gewesenheit und die Räumlichkeit mehr oder weniger zugänglich (wie im sozialen Bereich). Die Zukunft und die Gegenwart dagegen ist nur punktuell erforschbar, so dass es sinnvoll ist, sich zumindest vorläufig erst einmal mit nur einem bestimmten Ziel und begrenzten Mitteln konkret zu beschäftigen, und dabei sollte nach Möglichkeit eine Person nur die Führung übernehmen (wie im Arbeitsbereich). Sobald der Entwurf dann ausgearbeitet ist, sollten wieder alle Beteiligten in einer Gemeinschaft mit herangezogen werden, um nach Möglichkeit die ganze Breite der möglichen Konsequenzen, die sich aus früheren Erfahrungen erschließen lassen, und räumlichen Veränderungen, welche die Umsetzung des Entwurfs haben kann, zu diskutieren und sich darüber zu verständigen, ob und wie das Ganze durchzuführen sei. Die möglichen Konsequenzen sind nämlich etwas, das mit der Gewesenheit und der Räumlichkeit zu tun hat, obwohl diese Konsequenzen augenscheinlich in der Zukunft liegen, denn die möglichen Konsequenzen erschließen sich nur aufgrund vergangener Erfahrungen, die in ähnlichen Situationen (räumlich) gemacht worden sind. Sobald es also um die Zukunft oder die Gegenwart geht, ist es sinnvoll, wenn ein einzelner die Führung übernimmt, während alles, was die Gewesenheit oder die Räumlichkeit betrifft, sinnvollerweise gemeinschaftlich besprochen werden sollte. Im Handwerklichen und im Philosophisch-Künstlerischen ist daher primär der Einzelne gefordert, und die Gemeinschaft wird erst zum Schluss mit einbezogen, während im Sozialen und im Leiblichen die einzelnen sich primär in der Gemeinschaft verständigen und Erfahrungen austauschen sollten, und erst später bestimmte beschlossene Projekte von einzelnen übernommen werden können. Von solchen Regeln kann es natürlich immer auch Ausnahmen geben, zumal nicht immer trennscharf zwischen den vier Bereichen unterschieden werden kann.

Die bisherigen Analyseschritte angewandt auf das Soziale Bearbeiten

Ich will nun versuchen, nach Heideggers Methode den sozialen Bereich zu analysieren. Das In-der-Welt-sein ist hier das In-der-Gemeinschaft-sein. Analog zu Welt und Weltlichkeit sind hierbei Gemeinschaft und Gemeinschaftlichkeit zu definieren und zu analysieren. Mit Anderen seien immer andere daseinsmäßig Seiende gemeint. Das Dasein und die Anderen sind jeweils in Gemeinschaften, deren Mitglieder sie sind. Die kleinste Gemeinschaft ist das Paar, die größte ist die Gesamtheit aller daseinsmäßig Seienden, also die ganze Menschheit. Das Dasein und auch die Anderen sind in der Regel in mehreren Gemeinschaften. Teilweise haben sie diese Gemeinschaften sich ausgewählt oder auch selbst gegründet, teilweise sind sie auch mehr oder weniger gezwungenermaßen in bestimmten Gemeinschaften. Das Dasein befindet sich von Anfang an immer in Gemeinschaften, genauso wie es immer in der Welt ist. Anfänglich ist das Dasein nur bezogen auf Gemeinschaften, in denen die Mitglieder einander „persönlich“ und häufiger begegnen, zum Beispiel Familien- und Freundeskreise, Partnerschaft oder Ehe. Gemeinschaft sei hier in einem ontischen Sinne verstanden als das, „worin“ ihre faktischen Mitglieder „leben“, sodass Gemeinschaft hier eine existenzielle Bedeutung hat. Das Phänomen Gemeinschaft kann weder durch eine Beschreibung der Mitglieder noch durch ontologische Interpretation des Seins ihrer Mitglieder getroffen werden. Für jedes Mitglied kann die Gemeinschaft anders entdeckt sein. Gemeinschaft bezeichnet somit das Faktische, während Gemeinschaftlichkeit als ontologisch-existenzialer Begriff das In-der-Gemeinschaft-sein betrifft und sowohl den Entwurf des Daseins von der Gemeinschaft als auch den Prozess des Entwerfens dieses Entwurfes in der Auseinandersetzung mit der Faktizität der Gemeinschaft (da dem Dasein in der Gemeinschaft nicht zuhanden Seiendes, sondern daseinsmäßig Seiendes begegnet, darf es hier nicht Tatsächlichkeit heißen, sondern Faktizität) und mit den Entwürfen und dem Entwerfen der Anderen meint. Hier wird es also etwas komplexer als im Handwerklichen mit Welt und Weltlichkeit. Das Dasein kann sich in seiner Gemeinschaftlichkeit mit den Anderen austauschen, was für Entwürfe sie von der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern oder Gruppen haben und wie sie diese Entwürfe jeweils entwerfen bzw. entworfen haben. Die Gemeinschaftlichkeit des Daseins gründet also einerseits in den für das Dasein erschließbaren entfalteten Wirksamkeiten der Mitglieder der Gemeinschaft untereinander, andererseits aber auch im Austausch der Entwürfe und des Entwerfens unter den Mitgliedern der Gemeinschaft. Durch den Austausch bekommt das Dasein unter anderem Mitteilungen darüber, wie es in seiner entfalteten Wirksamkeit auf Andere wirkt und das Entwerfen und somit die Entwürfe der Anderen beeinflusst. Diese Mitteilungen sollen Feedback oder Rückmeldungen genannt werden. Bei alledem, also beim Entdecken bestimmter entfalteter Wirksamkeiten der Anderen und bei dem Austausch der Entwürfe und des Entwerfens, ist das Dasein selektierend, das heißt, es rückt je nach Ergriffenheit das zu Entdeckende in den Blickpunkt, es strukturiert in kreativer Weise die unterschiedlichen Informationen immerwährend hinsichtlich seiner momentanen Ergriffenheit und Erwartung. Manche Informationen bleiben so im Hintergrund, weil sie für das Dasein hinsichtlich seiner momentanen Ergriffenheit und Erwartung uninteressant sind. Auf diese Weise kommt es natürlich zunächst und zumeist zu Täuschungen, die jeweils zu Enttäuschungen führen, wenn sie entdeckt werden.

Von was aber ist das Dasein in einer Gemeinschaft ergriffen? Das Schlimmste, was dem Dasein in der Gemeinschaft passieren kann, ist, dass es aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, da eine Gemeinschaft ein Garant für die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse des Daseins ist, wobei diese mehr oder weniger existenziell wichtig sind. Je wichtiger, desto schlimmer ist ein Ausschluss aus der betreffenden Gemeinschaft. Von daher ist es das primäre Begehren des Daseins, einen gesicherten Platz innerhalb der Gemeinschaft zu erreichen und zu behalten. Das geschieht am besten dadurch, dass das Dasein dazu beiträgt, dass die Ziele der Gemeinschaft erreicht werden. Es geht dem Dasein also nicht nur um sein eigenes Sein, sondern auch um das Sein seiner Gemeinschaft und mehr oder weniger um das von Anderen in der Gemeinschaft. Neben spezifischen Zielen sind die allgemeinen Ziele von jeder Gemeinschaft diejenigen Ziele, die zur Lösung der oben erwähnten beiden Klassen von Aufgaben beitragen, das heißt alles was dazu verhilft, dass die Gemeinschaft nach außen hin geschützt ist, dass ausreichend Ressourcen von außen herbeigeschafft werden, und dass die innere Atmosphäre möglichst harmonisch ist. Wenn die Gemeinschaft nach außen hin nicht richtig geschützt ist, oder wenn nicht genug Ressourcen von außen herbeigeschafft worden sind, dann gibt es schnell Streit und Disharmonie innerhalb der Gemeinschaft (zum Beispiel Streit um die Verteilung von Nahrungsmitteln oder Streit wegen mangelnder Plätze in einem Schutzraum). Daraus ergibt sich insgesamt, dass das primäre Begehren einer Gemeinschaft das Herstellen und die Aufrechterhaltung der Harmonie in ihrem Inneren ist, so dass das Dasein einen umso gesicherteren Platz innerhalb der Gemeinschaft erreicht und behält, je mehr es zum Herstellen und zur Aufrechterhaltung der Harmonie beiträgt.

Dieser Analyse ist entgegenzuhalten, dass es in vielen Gemeinschaften den einzelnen Mitgliedern nicht immer vornehmlich um Harmonie geht. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall, dass es Streit um Ressourcen (Verteilung des Geldes zum Beispiel) oder heftige Machtkämpfe gibt, die systematisch die Harmonie zerstören. In all diesen Fällen geht es aber nach jedem Streit und Machtkampf den jeweiligen Gewinnern um eine Konsolidierung innerhalb der Gemeinschaft, denn sonst hätten sie nichts von ihrem Sieg. Sie erzwingen deshalb eine Harmonie, die man als uneigentliche bezeichnen kann und die eher den Titel Friedhofsruhe verdient. Wenn man dies als Modus der Harmonie betrachtet, dann geht es auch bei Machtkämpfen letztlich doch um Harmonie. Im Idealfall durchlaufen Gemeinschaften eine Entwicklung, bei der durch den Austausch der Mitglieder über ihre Entwürfe von der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern und durch die entfalteten Wirksamkeiten der Mitglieder nach und nach immer mehr entdeckt wird, wie wichtig die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft ist und wie sie hergestellt und erhalten werden kann. Wenn diese Entdeckungen nicht gemacht werden oder wieder verloren gehen, dann droht dieser Gemeinschaft durch immer wieder aufflammende Unruhen die Auflösung oder das „Geschluckt-Werden“ von einer anderen Gemeinschaft, die in der Regel mehr innere Harmonie erreicht hat. Eine ganz zentrale Rolle innerhalb einer Gemeinschaft erhält der Austausch der Mitglieder über ihre Entwürfe von der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern und den Prozess des Entwerfens, denn ohne diese wichtigen Informationen kann sich die Gemeinschaft hinsichtlich ihrer Ziele und ihres Bestehens nicht harmonisch organisieren, so dass es früher oder später immer wieder zu Unruhen kommen wird. Diesen Austausch willen ich Sich-Auseinandersetzen nennen, was auch beinhaltet, dass Mitglieder, die sich auseinandersetzen, aktiv auf einander zugehen, sich also annähern (aggredi). Um das Ziel der Harmonie zu erreichen, müssen sich die Mitglieder jeweils auseinandersetzen. Das Ergreifen des Daseins ist also in diesem Bereich die apriorische Seinsweise (Existenzial) des harmoniesuchenden Sich-Auseinandersetzens, der Verständigung, das Sein des Daseins zur Gemeinschaft ist wesenhaft vorgängiges Harmoniestreben, wovon das Dasein ergriffen ist und was es erwartet.

Mit der bisherigen Analyse haben wir uns nur relativ oberflächlich mit dem Phänomen des Daseins als In-einer-Gemeinschaft-sein beschäftigt. Wir haben lediglich die äußere Struktur des Miteinander-Seins verschiedener daseinsmäßig Seiender in einer Gemeinschaft beleuchtet, und zwar mehr vom Phänomen der Gemeinschaft und der Gemeinschaftlichkeit her. Nun aber soll die Analyse tiefer gehen, das heißt wir wollen uns mit der Frage beschäftigen, wer dieses Dasein und wer die Anderen in der jeweiligen Gemeinschaft sind, wie ihre Seinsweisen ontologisch interpretiert werden können und in welcher Weise das Dasein und die Anderen aufeinander bezogen sind, das heißt wie ihre jeweiligen „persönlichen“ Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft als Seinsweisen des Daseins existenzial analysiert werden können.

In Gemeinschaften mit vielen Mitgliedern stoßen wir auf dasselbe Phänomen des „Man“ wie Heidegger in seiner existenzialen Analyse der Arbeitswelt. In der „Anonymität der Masse“ sind die meisten Mitglieder in der Seinsverfassung des Man, und in dieser alltäglichen Seinsart verfehlen und verdecken sie sich zunächst. Hier findet auch kein Sich-Auseinandersetzen statt, also kein Austausch der Entwürfe und des Entwerfens unter den Mitgliedern, mit dem sie jeweils auf sich selbst, ihre Gemeinschaft und ihr Verhältnis zu Anderen, zu Untergemeinschaften und zur Gemeinschaft insgesamt verweisen. Das eigentliche Selbstsein des Daseins ist eine existenzielle Modifikationen des Man. Es ist ein wesenhaftes Existenzial (Seinsmöglichkeit). „Die Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst ist [...] ontologisch durch eine Kluft getrennt von der Identität des in der Erlebnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich.“ (Seite 130 ebenda)

Wie ist das speziell in Gemeinschaften mit wenig Mitgliedern, ist hier die Seinsart des Man ähnlich häufig verbreitet oder seltener, oder treffen wir hier unter Umständen noch auf ein neues Phänomen, eine andere Modifikation des Existenzials des Man? In kleineren Gemeinschaften, also Gemeinschaften mit wenig Mitgliedern, fällt die Seinsart des Man als „unpersönlich“ auf und stößt meistens auf negatives Feedback der anderen Mitglieder, weil diese dann nicht wissen, woran sie mit dem Dasein sind, wenn sie den Eindruck haben, dem Dasein nicht „persönlich“ begegnen zu können, da es den Anderen offensichtlich in seiner eigentlichen Seinsweise verschlossen ist. Dem Dasein geht es um sein Sein, es hat stets ein bestimmtes Ziel, das es dafür ergreifen will (oder wovor es in der Privation des Ergreifens zurückscheut). Dies beeinflusst seine Gemeinschaftlichkeit, also den Austausch seiner Entwürfe und seines Entwerfens von der Gemeinschaft mit den anderen Mitgliedern, es beeinflusst seine Art des Sich-Auseinandersetzens mit den anderen, insbesondere das, was das Dasein von seinen Entwürfen oder stattdessen mitteilt. Als Spezialfall gibt es hier die soziale Erwünschtheit, das heißt das Dasein wählt eine solche Seinsmöglichkeit, bei der es von den meisten anderen Mitgliedern der Gemeinschaft ein positives Feedback bekommt. Wenn diese Wahl selbstbestimmt ist, dann ist das Dasein eigentlich. Es gibt zum Beispiel Gemeinschaften, in denen es erwünscht ist, dass sich jedes Mitglied so zeigt, wie es eigentlich ist. Dabei kann es zu der eigenartigen Situation kommen, dass das Dasein sich gezwungen fühlt, so zu sein, wie es eigentlich ist, dies aber eigentlich gar nicht will, und somit allein dadurch schon nicht eigentlich ist, weil es diesen seinen Willen den anderen Mitgliedern nicht mitteilt. Andererseits ist es aber gerade dadurch wieder eigentlich. Dies ist beispielsweise die Situation, wenn einer zum anderen sagt: „Sei spontan!“ Das Dasein gerät in eine Zwickmühle, und so bekommt das Dasein bei einem derart gestörten Sich-Auseinandersetzen mit anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft nicht nur ein fehlerhaftes Feedback und kann so wichtige Informationen über sich selbst nicht erfahren, sondern es kann dabei auch in eine derart große Verwirrung gelangen, dass es seine Erfahrungen nicht mehr einordnen kann und so eine entsprechende Inkongruenz zwischen diesen Erfahrungen und seiner Weltlichkeit entsteht. Das macht es für das Dasein noch schwieriger, die oben erwähnte Kluft zu seinem eigentlichen Selbst zu überwinden. Die Kluft kann sich derart vergrößern, dass es zu schwerwiegenden psychischen Störungen kommen kann. Umgekehrt kann ein freies und ungestörtes Sich-Auseinandersetzen mit anderen die Überwindung dieser Kluft deutlich erleichtern. Wenn zum Beispiel das spezifische Hauptziel, das von einer Gemeinschaft ergriffen wird, also das Begehren aller Mitglieder dieser Gemeinschaft, darin besteht, dass jeder zu seinem eigentlichen Selbst findet und selbstbestimmt handelt, wie dies zum Beispiel bei einer Selbsterfahrungsgruppe der Fall ist, so hilft dabei der Prozess des freien und ungestörten Sich-Auseinandersetzens, der in diesem Fall darin besteht, dass jedes einzelne Mitglied eigene „persönliche Geheimnisse“ (das, was es von sich selbst befindlich versteht, die anderen von ihm aber nicht) nach und nach freiwillig mitteilt, je nachdem wieviel Vertrauen es zu den Anderen hat, und dass jedes Mitglied von den anderen Mitteilungen, Feedback über „blinde Flecken“ (das, was die anderen an ihm entdecken, es aber von sich selbst nicht befindlich versteht) erhält. Neben dem Austausch dieser Informationen kommt es noch zu zwei weiteren befindlichen Verstehensprozessen: wenn das Dasein blinde Flecken von sich befindlich versteht, dann kann sich ihm etwas Neues an persönlichen Geheimnissen erschließen, und wenn andere etwas von seinen persönlichen Geheimnissen erfahren, dann können sie unter Umständen neue blinde Flecken von ihm befindlich verstehen. Auf diese Weise verringert sich die Menge dessen, was weder das Dasein von sich selbst noch die Anderen von ihm befindlich verstehen, immer mehr.

Im Arbeitsbereich ist Uneigentlichkeit des Daseins und Verfallenheit des Daseins an die Herrschaft des Man praktisch dasselbe, im Sozialen dagegen gibt es noch andere Formen der Uneigentlichkeit, nämlich das „Springen“ in das und in dem Rollendreieck von Opfer-Täter-Helfer, was ich später (Ende Kapitel 5 und Anfang Kapitel 6) ausführen werde.

Was aber ist es, was das Dasein, das wir jeweils selbst sind, dazu bringt, zu seinem eigentlichen Selbst gelangen zu wollen und schließlich zu gelangen? Diese Frage wird von Heidegger erst später im zweiten Kapitel des zweiten Abschnitts mithilfe des Phänomens des Gewissensrufes beantwortet, dem ich als weiteres Moment die freudige Neugierde bzw. die Vorfreude auf Erfüllung als positives Strukturelement der Sorge hinzufügen werde.  

Befindlichkeit, Verstehen, Rede und Verfallenheit bzw. Täuschung (§§ 25 bis 38) Bearbeiten

In Paragraph 25 und 26 stellt Heidegger noch einmal fest, dass das Dasein nichts Vorhandenes ist, so dass die existenziale Frage nach dem Wer, also dem „Subjektcharakter“, nicht mit einem Ich als Subjekt beantwortet werden kann, sondern nur aus gewissen Weisen zu sein. In der formalen Anzeige der Grundbestimmtheiten des Daseins ist das Dasein Seiendes, das je ich selbst bin und dessen Sein je meines ist. Ontisch-ontologisch ist die „Substanz“ (das Bleibende im Wandel) des Daseins seine Existenz in der Welt. Das Dasein ist immer ein In-der-Welt-sein, und es ist immer ein Mitsein mit den Anderen, denen Heidegger auch die Bezeichnung Mitdasein gibt, sodass es dem Dasein, dem es um sein Sein geht, immer auch um sein Mitsein mit Anderen geht. Ergänzend zu Heidegger stelle ich fest, dass das Sein des Daseins immer auch ein In-der-Gemeinschaft-sein ist, so dass es dem Dasein immer auch um sein In-der-Gemeinschaft-sein geht. Bei der Frage nach dem Wer des Daseins geht es um die Frage nach den Seinsweisen des Daseins, bei denen es ihm um sein Sein, also um seine Existenz, geht, nach den Seinsweisen, bei denen das Dasein Sorge hat um seine Existenz in der Welt, nach den Seinsweisen, bei denen das Dasein von seinem In-der-Welt-sein so ergriffen und erwartungsvoll ist, dass es sich zunächst und zumeist täuscht. Beim Mitsein tritt nach Heidegger an die Stelle der Sorge die Fürsorge, und entsprechend tritt bei dem In-der-Gemeinschaft-sein die harmoniesuchende Auseinandersetzung. Die Fürsorge, nicht im Defizienten sondern im Aktiven, hat nach Heidegger die beiden Modi der einspringend-beherrschenden und der vorausspringend-befreienden Fürsorge. Durch meine Präzisierung der Sorge als Ergriffenheit und Erwartung sind in diesen beiden Begriffen sowohl die Fürsorge als auch die harmoniesuchende Auseinandersetzung enthalten, denn je nach Ergriffenheit von und Erwartung an ein anderes Mitdasein wird das Dasein für es sorgen oder nicht. Auch die harmoniesuchende Auseinandersetzung ist stets geleitet von einer Ergriffenheit von und Erwartung an bestimmte Mitglieder und die jeweilige Gemeinschaft, deren Mitglied das Dasein ist. Die existenziale Frage nach dem Wer des Daseins ist also nur über die Sorge bzw. über die Ergriffenheit und die Erwartung beantwortbar. In der Ergriffenheit ist die Befindlichkeit des Daseins enthalten und in der Erwartung sein befindliches Verstehen. Daher werden diese existenzialen Konstitutionen von Heidegger ab Paragraph 29 behandelt.

Zuvor jedoch geht Heidegger in Paragraph 27 erst einmal auf das alltägliche Selbstsein und das Man ein. Im alltäglichen Miteinandersein beobachtet Heidegger folgende Seinsweisen des Daseins, die er dann zusammenfasst zum Existenzial des Man, als ursprünglichem Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins. Diese Seinsweisen sind Abständigkeit (jeder will etwas Einzigartiges sein und Abstand zu den anderen haben), Botmäßigkeit (jeder gehört zu den Anderen und verfestigt deren Macht), Durchschnittlichkeit, Einebnung, Öffentlichkeit, Seinsentlastung (Abnahme der Verantwortung) und Entgegenkommen. Dahinter steckt die Erwartung des Daseins, dass es einzigartig und mit Abstand etwas Besonderes ist, dass es nützlich, hilfreich und „gut“ (botmäßig) für Andere ist, dass es sich für all das nicht besonders anstrengen muss, ruhig durchschnittlich sein darf, dass die Anforderungen von außen nicht außergewöhnlich, sondern auf einer Ebene mit ihm sind, dass alles offensichtlich, öffentlich und klar ist, dass die Anderen alles von ihm entschuldigen und ihm nichts übel nehmen, und dass alle ihm gegebenenfalls helfen und entgegenkommen. Das sind normalerweise Erwartungen eines Kindes, die früher oder später enttäuscht werden, weil sie auf der Täuschung beruhen, für immer ein Kind bleiben zu können. Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, eigentlich ein Kind-Selbst, welches Heidegger vom eigentlichen, eigens ergriffenen Selbst deutlich unterscheidet. Das Dasein ist zunächst und zumeist in das Man zerstreut, das ist seine Täuschung, und muss sich selbst erst über entsprechende Enttäuschungen finden. Erst wenn das Dasein die Welt eigens entdeckt, entdeckt es immer mehr von sich selbst und von seinem eigentlichen Sein. Diese Entdeckungen können für das Dasein sowohl enttäuschend als auch erfreulich sein, sodass die entsprechenden Enttäuschungen kaum noch oder gar keine negativen Empfindungen auslösen. Damit ist die Frage nach dem Wer bzw. den Seinsweisen der Alltäglichkeit des Miteinanderseins beantwortet. Ganz wesentlich stellt Heidegger noch fest: „Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikationen des Man als eines wesenhaften Existenzials.“ (Seite 130, ebenda) Die existenziellen Modifikationen sind also Weiterentwicklungen vom Kind zum Erwachsenen. Von der ontischen Identität als Ich, welches sich in der Erlebnismannigfaltigkeit durchhält, ist das eigentlich existierende Selbst, also die eigentlichen Seinsweisen des Daseins, „ontologisch durch eine Kluft getrennt“ (ebenda).

Ich werde ab hier immer parallel den handwerklichen und den sozialen Bereich abhandeln, und dabei meine Modifikationen ausführen, die von Heideggers Analyse abweichen. Das war bisher die Verwendung von Ergreifen und Ergriffenheit und Erwartung anstelle von Besorgen und Sorge, wobei ich in diesem Falle nur differenzierter ausgedrückt dasselbe wie Heidegger meine. Seine Wortwahl kommt, wie oben bereits erläutert, aus seiner Konzentration auf den Arbeitsbereich des In-der-Welt-seins.

Auf Seite 132 unten erklärt Heidegger, wie er auf den Begriff Dasein gekommen ist. „Da“ meint die wesenhafte Erschlossenheit eines Seienden, welches als Sein Räumlichkeit erschlossen hat. Das „Hier“ eines „Ich-Hier“ versteht sich immer aus einem zuhandenen „Dort“ im Sinne des Nähe bzw. Entfernung entdeckenden, sich ausrichtenden (relativ zu sich selbst als Links-Rechts-Oben-Unten-Vorne-Hinten-Bestimmung) ergreifenden Seins zu diesem. Im sozialen Bereich versteht sich dieses „Hier“ immer aus einem daseinsmäßigen „Da“ eines „Du-Da“ im Sinne des Nähe (eigentlich Ergriffenheit, ontologisch) entdeckenden, sich ausrichtenden harmoniesuchenden Seins zu diesem. Hierbei entdeckt sich das Dasein bei besonders starker Ergriffenheit erst als „Du-Da“, was man als Identifikation bezeichnet, und dann erst, dass es selbst gar nicht „Du-Da“ ist (Disidentifikation), und kommt so erst zum „Ich-Hier“. Normalerweise ist dann der (existenzial-räumliche) Mittelpunkt des Daseins das „Ich-Hier“. Wenn dies durchgängig stabil geschieht mit der Mutter als erstes „Du-Da“, dann hat die sogenannte soziale Geburt erst begonnen (weiteres siehe unten). Davor ist das Dasein noch in die Gemeinschaftlichkeit (entspricht der Weltlichkeit) seiner Mutter zerstreut und muss sich selbst erst finden. Man könnte sagen, mit der sozialen Geburt beginnt das Dasein, stabile soziale Erschlossenheit zu sein. Erst jetzt sind stabile „persönliche“ Beziehungen in einer Gemeinschaft immer mehr möglich. Die im Sozialen gemeinte existenziale Räumlichkeit des Daseins, die dem Dasein seinen „Ort“, besser seine Position, bestimmt, gründet selbst auf dem In-der-Gemeinschaft-sein.

Da zu sein, zeigt Heidegger im weiteren Verlauf, konstituiert sich auf den beiden gleichursprünglichen Weisen des Da-seins als Befindlichkeit und als Verstehen, und Befindlichkeit und Verstehen sind gleichursprünglich bestimmt durch die Rede. Durch sie artikulieren, also gliedern sich Befindlichkeit und Verstehen, das heißt beides wird auf den Begriff gebracht und so begreiflich gemacht. Dem ontologisch gemeinten Begriff der Befindlichkeit entspricht ontisch die Stimmung bzw. das Gestimmtsein. Das Dasein ist jeweils schon immer gestimmt. Die Stimmung kann gehoben oder bedrückt sein, wodurch in beiden Fällen das Sein des Da als Last offenbar geworden ist. Einmal ist die Last aufgehoben, das andere Mal drückt sie nieder, die Last ist aber immer vorhanden. Auch die Indifferenz, die „fahle Ungestimmtheit“, wie Heidegger sie nennt (Seite 134 ebenda) macht den Lastcharakter in besonderer Weise offenbar, weil das Dasein in ihr ihm selbst überdrüssig wird. Letztlich gilt für alle Stimmungen, dass sie den Lastcharakter des Daseins offenbaren, denn durch Stimmungen wird das Dasein von etwas betroffen und erfährt sich als passiv. Erschlossenheit bedeutet nicht Erkenntnis, das heißt das Dasein weiß nicht, warum es diesen Lastcharakter hat. Die Stimmung macht offenbar, „wie einem ist und wird“, und darin bringt das Gestimmtsein das Sein in sein „Da“. Stimmungsmäßig ist es dem Dasein somit erschlossen, dass es existierend zu sein hat. Die Faktizität (ontologisch-existenzial) dieser Überantwortung deutet Heidegger mit dem Ausdruck der Geworfenheit an. Es zeigt sich hier aber nur, dass das Dasein ist, das Woher und Wohin bleibt im Dunkel. Zusammen mit dem Lastcharakter des Daseins ergibt sich hier eine dumpfe Depressivität. Wie bisher zu sehen war, hat das Dasein einige Wahlmöglichkeiten, aber in diesem Punkt, dass es zu sein hat, wird es gezwungen und hat nur die Wahl, nicht zu sein. Ich finde Heidegger hier etwas zu krass, wenn er behauptet, dass dem Dasein mit seiner Befindlichkeit nur der Lastcharakter der Geworfenheit erschlossen ist. Die weiter unten aufgezeigte Befindlichkeit der Freude erschließt dem Dasein seine Möglichkeiten des In-der-Welt-Seins und damit den Herausforderungscharakter der Geworfenheit. Es sei noch einmal daran erinnert, dass Erschlossenheit weder Entdecktheit noch eigentliches Verständnis bedeutet.

Direkt nach der Geburt bekommt das Dasein wechselnde Stimmungen, die es ausdrückt und damit etwas nach außen gibt. Es ist ein Geben und Nehmen, und ontologisch betrachtet heißt dies: Es gibt Beziehung von Anfang an. Der Ausdruck des Daseins ist in diesem Fall einfach nur eine Antwort auf die jeweilige Stimmung, die es gerade bekommen hat, und es muss sich um nichts kümmern. Dadurch, dass daran von der Mutter eine Konsequenz geknüpft wird, nämlich ihre Reaktion, entdeckt das Dasein durch wiederholte Experimente mittels Versuch und Irrtum, dass es mit seinem Ausdruck etwas bewirken kann. Mit der Zeit erschließt sich ihm dann, dass es seiner Stimmung Ausdruck verleihen muss, weil sonst nichts geschieht und ein unangenehmer Zustand anhält. Es muss also etwas tun oder aushalten. Mit dem „Muss“ erschließt sich dem Dasein seine Geworfenheit, der Ballastcharakter und die Überantwortung des In-der-Welt-seins, und aus der durch Gewohnheit entstandenen Täuschung, dass es für immer einfach nur sein kann, wird die Enttäuschung, dass es sein und sich auch selbst kümmern muss. Diese Enttäuschung ist zwar erschlossen und zeigt sich dem Dasein in einer dumpfen depressiven Gestimmtheit, die Täuschung, die der Enttäuschung zu Grunde liegt, bleibt vorerst unentdeckt, wird aber bis zur oben erwähnten sozialen Geburt spätestens entdeckt.

Die Faktizität der Überantwortung und die Enttäuschung sind ein in die Existenz aufgenommener, aber zunächst abgedrängter Seinscharakter (Existenzial) des Daseins. Wenn andererseits die Mutter auf das Dasein reagiert, kann das Dasein dann auch Freude empfinden, so dass ihm seine Möglichkeiten und auch deren Überantwortung erschlossen sind. Die nächste Täuschung, der das Dasein unterliegt, ist, dass es annimmt, dass auf seinen Ausdruck seiner Gestimmtheit immer eine Reaktion (seiner Mutter) erfolgt. Sobald das Dasein auch in dieser Hinsicht nachhaltig enttäuscht worden ist und seine Täuschung als Täuschung begriffen hat, hört es auf, seiner Gestimmtheit immer einen Ausdruck zu geben. Wenn es sich dann generell von diesem Augenblick an nicht mehr äußert und sich so von dem Austausch mit seinem Sein und damit von ihm selbst abkehrt, dann ist das Dasein im Modus der Verfallenheit, wie Heidegger es nennt. Es akzeptiert nicht die Enttäuschung, denn wenn es diese akzeptieren würde, dann hätte es verstanden, in welchen Situationen keine Reaktion auf den Ausdruck seiner Befindlichkeit erfolgt ist, und würde sich nur in diesen oder ähnlichen Situationen nicht mehr äußern, also nicht generell. Wenn es generell seiner Gestimmtheit keinen Ausdruck mehr gibt, dann hält es an der Täuschung fest, da es die Enttäuschung nicht akzeptiert. Verfallenheit ist also gleichbedeutend mit Festhalten an Täuschungen. Es kommt also ganz auf die frühe Beziehung des Daseins an, ob es oft genug Freude erlebt, sodass es die Enttäuschungen akzeptieren kann, denn seine Freude ist verknüpft mit der kontingenten Reaktion seiner Mutter, wenn sie dabei ihr Kind, das Dasein, möglichst echt und unmittelbar versteht, also liebt, wie weiter unten erklärt. Dann nämlich kann das Dasein allmählich immer mehr befindlich verstehen, was es selbst tun kann, um immer wieder eine derartige Reaktion der Mutter zu bekommen. Wenn es sich dadurch immer wieder erfolgreich erlebt, entdeckt es sich selbst immer mehr als Akteur, sodass sein Verständnis immer eigentlicher wird und es auf diese Weise immer mehr den Herausforderungscharakter der Geworfenheit entdeckt, sodass es Enttäuschungen immer besser annehmen kann. Dadurch wird insgesamt deutlich, dass die Befindlichkeit der Freude dem Dasein seine Geworfenheit als Möglichkeit erschließt, zu sich selbst zu finden, d.h. sich selbst immer echter und eigentlicher zu verstehen, also sich selbst immer mehr zu lieben wie weiter unten in diesem Kapitel ausgeführt wird.

Zu Anfang ist das Dasein also in Bezug auf seine Beziehung zum Sein voll und ganz im Austausch mit dem Sein, aber nach den oben skizzierten Enttäuschungen hat es sich dann abgesondert und vom Austausch mit dem Sein abgekehrt, wenn es von seiner Mutter zu wenig an möglichst echtem und unmittelbarem Verständnis erfährt. Die Enttäuschung, dass es sein muss, ist durch die Enttäuschung, dass es ab und zu auch ohne Reaktion eines Anderen sein muss, noch potenziert worden, und in der generellen Absonderung weicht es diesen Enttäuschungen dadurch aus, dass es jetzt allein sein will und niemand mehr auf es reagieren kann. Es kann nicht mehr zu solchen Enttäuschungen kommen, und somit sind diese Enttäuschungen im Modus der Verfallenheit bewältigt. Damit ist klar, dass dies eine uneigentliche Bewältigung ist, das Dasein hat sich von ihm selbst abgekehrt, es lehnt sich selbst zumindest teilweise ab (depressiv), was jedoch auch umschlagen kann in die Ablehnung Anderer mit großem Misstrauen ihnen gegenüber (paranoid). Wenn jedoch dieser Art der Bewältigung ein echtes und unmittelbares Verständnis der momentanen Situation zugrunde liegt, und wenn das Dasein daher diese Absonderung nicht zu einer generellen Verhaltensstrategie macht, dann ist diese Art der Bewältigung eine eigentliche und angemessene Lösung einer problematischen Situation und damit eine echte und eigentliche Bewältigung. Die Eigentlichkeit ist dadurch erschließbar, dass das Dasein ihm selbst zugewandt bleibt und nicht mehr in derselben Weise enttäuscht wird. Letzteres ist zwar auch bei der uneigentlichen Bewältigung der Fall, aber dabei hat sich das Dasein von ihm selbst abgewandt. Interessanterweise kehrt sich die Reihenfolge des ontologischen Verstehens in der Uneigentlichkeit der Absonderung um: das Dasein versteht sich zunächst von sich selbst her und seinem Enttäuscht-Sein, wobei es sich selbst zunächst ablehnt in seiner Depressivität (zum Beispiel: „Ich bin nichts wert.“), und dann erst in der darauf unter Umständen folgenden Paranoia von den anderen Seienden her in ihrer dem Dasein feindlich erscheinenden Seinsweise (zum Beispiel: „Ich bin etwas besonderes, sodass/weil die anderen neidisch sind und mir am liebsten etwas antun wollen.“). In der Folge können Depressivität und Paranoia sich abwechselnd einander ersetzen.

In der Befindlichkeit hat das Dasein sich immer schon gefunden, aber nicht als wahrnehmendes Sich-vorfinden, sondern als gestimmtes Sich-befinden. Dieses Finden entspringt nicht so sehr einem direkten Suchen, sondern einem Sich-Abkehren (Heidegger verwendet hier den Begriff des Fliehens, was ich als zu einschränkend auf eine Befindlichkeit, nämlich die Angst, finde, denn die anderen Befindlichkeiten sind für das Erschließen ebenso wichtig, wie ich an entsprechender Stelle zeigen werde). Das Dasein blickt nicht auf die Geworfenheit, sondern wendet sich aufgrund und in seiner Stimmung (nicht nur der gedrückten, sondern vor allem auch der gehobenen Stimmung) von dem offenbaren Lastcharakter des Daseins ab. Gleichzeitig wird die mit der Geworfenheit und dem Lastcharakter gleichursprüngliche Enttäuschung abgedrängt und an der Täuschung festgehalten, dass es nicht durch seine Geworfenheit seiner Existenz in der Welt ausgesetzt sei. Auch hier muss ich Heidegger wieder ergänzen, dass die Befindlichkeit nicht nur den Lastcharakter, sondern im Modus der Vor-Freude auch den Herausforderungscharakter der Geworfenheit erschließt. Die von ihm erwähnte gehobene Stimmung drängt den Lastcharakter nur dann ab und betont ihnen dadurch, wenn das Dasein nicht genug Liebe erfahren hat. Dann beruht die gehobene Stimmung nämlich nur auf einer Ablenkung durch etwas Begegnendes aus der Welt, woran das Dasein Spaß hat. Mit Spaß ist wie unten definiert der uneigentliche Modus der Befindlichkeit der Freude gemeint.

Heidegger gewinnt nun drei ontologische Wesenscharaktere der Befindlichkeit:

• „Die Befindlichkeit erschließt das Dasein in seiner Geworfenheit zunächst und zumeist in der Weise der ausweichenden Abkehr.“ (Seite 136 ebenda) Dies gilt vor allem dann, wenn das Dasein nicht genug Liebe erfährt.

• „Sie ist eine existenziale Grundart der gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz (Sein des Daseins), weil diese selbst wesenhaft In-der-Welt-sein ist.“ (Seite 137 ebenda)

Von der Befindlichkeit her bekommen die Störungen der Verweisungen von der Weltlichkeit auf die Welt den Charakter des Betroffenenwerdens, und die Täuschungen, die das Dasein beim Entdecken der Undienlichkeit, Widerständigkeit und Bedrohlichkeit des Zuhandenen begreift, werden zu Ent-Täuschungen. (Dies ist meine Umformulierung des mittleren Abschnitts auf Seite 137 ebenda.) Enttäuschung ist Befindlichkeit nach begriffener Täuschung (siehe unten).

Vor jedem Erkennen kommt ontologisch grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt durch die „bloße Stimmung“ bzw. noch davor die primär erschließende Befindlichkeit, die die Entdeckung erst möglich macht. Die Befindlichkeit erschließt das Dasein nicht nur in seiner Geworfenheit, sondern auch in seiner Angewiesenheit auf die mit seinem Sein jeweils schon erschlossene Welt. Die Befindlichkeit ist selbst die existenziale Seinsart des Daseins, in der es sich ständig an die Tatsächlichkeit und Faktizität der Welt ausliefert, sich von ihr angehen und ergreifen lässt, sich enttäuschen lässt, so dass das Dasein sich dann selbst zumeist und zunächst in gewisser Weise ausweicht, vor allem wenn es nicht genug geliebt wurde.

Diesen Punkt, dass vor jedem Erkennen die primäre Entdeckung der Welt durch die primär erschließende Befindlichkeit kommt, möchte ich genauer betrachten: Auf Seite 192 vertreten Fonagy et al. (2008) die These, „dass dem Säugling zunächst einmal ein Gewahrsein seiner inneren affektiven und propriozeptiven Zustände, die mit seinem Verhalten assoziiert sind, fehlt“. Das heißt das Dasein als Baby erkennt anfangs noch nicht seine Stimmung, sondern es drückt diese nur durch sein spezifisches Verhalten je nach Stimmung aus in der dadurch entstehenden Interaktion mit seiner Mutter, es erkennt also ontologisch betrachtet seine Befindlichkeit nur prozedural bzw. funktional, es erschließt die Welt nur durch die kontingenten Reaktionen seiner Mutter auf sein Verhalten, die es nach und nach durch Erfahrung als solche entdeckt. Das In-der-Welt-sein ist ja von Anfang an ein Austausch, der durch Eindrücke und Ausdrucksweisen sichtbar wird. In der Mutter-Kind-Beziehung erlernt das Dasein als Säugling ein genauer gegliedertes (und damit reflektierbares) Verstehen der eigenen Befindlichkeit durch die kontingente Affektspiegelung der eigenen Stimmungen durch die Mutter, was natürlich voraussetzt, dass die Mutter ihr Kind einigermaßen echt und unmittelbar versteht, also einigermaßen liebt, wie weiter unten noch genauer beschrieben wird. Der Unterschied zwischen der Spiegelung einer Stimmung des Babys und dem Ausdruck derselben Stimmung bei der Mutter selbst besteht vor allem in einer deutlich erhöhten Stimmlage und einem übertrieben akzentuierten Ausdruck beim Spiegeln, sowohl stimmlich als auch mimisch, durchaus vergleichbar mit der Ausdrucksweise eines Clowns, der vielleicht deswegen bei Kindern so beliebt ist. Den veränderten Ausdruck der Befindlichkeit des Babys durch die Mutter beim Spiegeln bezeichnen Fonagy et al. (2008, zum Beispiel Seite 199 f.) als markiert. Die Mutter ahmt das Kind nach und zeigt ihm dann im Spiel, was sie an seiner Stelle an Verstehen, Rede und Auslegen veranstalten würde. So lernt das Kind die Art und Weise der Mutter kennen, wie diese mit Befindlichkeiten umgeht. Die Mutter vermittelt ihrem Kind außerdem durch diese Art der Kommunikation, dass es „Da“ ist, und sie konstituiert das Dasein ihres Kindes durch das Verstehen seiner Befindlichkeit, bestimmt dies in der Interaktion mit ihrem Kind (ontologisch interpretiert ist dies die Rede) und macht ihm so die Bedeutung seiner Befindlichkeit begreiflich. Ihre Auslegung durch die markierte Ausdrucksweise vermittelt ihrem Kind, dass diese Auslegung nicht die ihrer eigenen Befindlichkeit ist, sondern dass es damit die besondere Bewandtnis hat, dass es mit dem Dasein ihres Kindes in der Beziehung zu ihr, in der Gemeinschaft mit ihr, zu tun hat, es ist nämlich das, was sie im Dasein des Kindes findet, seine von ihr so verstandene Befindlichkeit. Dem Dasein als Kind eröffnet sich so eine spielerische, eine fantastische Welt, in der es zusammen mit seiner Mutter mit seinen „inneren affektiven und propriozeptiven Zustände, die mit seinem Verhalten assoziiert sind“, also mit seinen Stimmungen, die es in seinem Verhalten ausdrücklich auslegt, und die von der Mutter entsprechend markiert ausgelegt werden, spielen kann. Dieses Spielen ist ein So-tun-als-ob: die Mutter tut so, als ob sie das Kind und entsprechend gestimmt sei und drückt dann aus, dass die ernst genommene Befindlichkeit des Kindes einer bestimmten Bedeutung entspricht, was dem Kind Sicherheit gibt und es so beruhigt.

Einerseits spielt die Mutter, versteht die Befindlichkeit des Kindes und spiegelt sie ihm wieder, andererseits aber behält sie eine Sichtweise auf die faktische und tatsächliche Welt bei. Deswegen ist das Kind sicher und kann gefahrlos die Welt und die Weltlichkeit seiner Mutter erkunden. Die durch beide geschaffene Als-ob-Seinsweise des Daseins lässt es bei gleichzeitiger Sprachentwicklung auf der ontischen Ebene in der Rede (ontologische Grundlage der Sprache) begreifen, dass der Schein nicht unbedingt dem Sein entspricht. Diese Seinsweise möchte ich den fantastischen oder den Als-ob-Modus des Seins nennen. Fonagy et al. (2008) beschreiben diesen Als-ob-Modus ab Seite 266 und wundern sich darüber, dass dieser Modus „mitunter überraschende Kompetenzen zutage“ (Seite 267 oben) fördert. Für mich erscheint dies sehr plausibel, denn in diesem fantastischen Modus des Seins kann das Dasein über Kompetenzen verfügen, die ihm seine Mutter vermittelt hat und die gar nicht seine eigenen sind. Fonagy et al. (2008) ziehen auch nicht den für mich nahe liegenden Schluss, dass dieser Modus aus dieser besonderen Kommunikation zwischen Mutter und Kind entstanden ist (wie ich oben beschrieben habe), in der die Mutter die Befindlichkeit ihres Kindes durch eine markierte Ausdrucksweise wiederspiegelt. Neben dem fantastischen Modus gibt es natürlich auch noch den realistischen Modus des Seins, den ich in Anlehnung an Fonagy et al. (2008, Seite 263) den Äquivalenz-Modus des Seins nennen möchte, in welchem das Dasein Sein und Seiendes einander äquivalent annimmt, so dass es hier oft nicht verstandene Täuschungen gibt, das Dasein versteht sich noch nicht allein darauf, Seiendes und Seinsweisen zu unterscheiden (das gelingt ihm nur mit der Mutter, die das Kind im gemeinsamen Spiel an ihre Sicht der Welt, also an ihre Weltlichkeit heranführt). In diesem Modus hat alles Seiende, was erscheint, ein unmittelbares Sein, und wenn kein Sein mehr entdeckbar ist, dann ist dieses Seiende nicht mehr (aus den Augen, aus dem Sinn). Es dürfte wohl plausibel sein, dass dieser Äquivalenz-Modus mit dem faktischen Miteinandersein von Mutter und Kind zu tun hat, bei dem die Mutter sie selbst ist und ihre ausgedrückte Befindlichkeit reale Konsequenzen hat (daher realistischer Modus), also Seinsweise bzw. Ausdruck bei ihr gleich Seiendes ist. Das Auseinander-Halten beider Modi ist daher wichtig, weil das Kind sonst die Spiegelung der eigenen Befindlichkeit durch seine Mutter für deren eigene Befindlichkeit halten würde. In diesem Fall würde seine jeweilige Stimmung u.U. so sehr verstärkt werden, dass sie das Kind überfordert, das heißt, es könnte seine Stimmungen nicht mehr regulieren. Bis zum Alter von etwa vier Jahren dürfen diese beiden Modi nicht vermischt werden, weil das Dasein sich sonst zu sehr ängstigt und seine Stimmungen nicht regulieren könnte. Ich erkläre mir das außerdem noch folgendermaßen: der fantastische Modus spiegelt die Beziehung zur Mutter wieder und vermittelt dem Dasein, dass seine Mutter immer eine Seiende ist, auch wenn sie für das Dasein in ihrer Seinsweise gerade nicht entdeckt werden kann, wenn es also so scheint, als ob sie nicht da wäre.

Wenn dieser Modus mit dem Äquivalenz-Modus des Seins vermischt werden würde, dann müsste das Dasein annehmen, dass seine Mutter nicht mehr ist, wenn sie nicht entdeckbar ist. Dies würde das Dasein natürlich sehr ängstigen. Diese Angst wird übrigens in dem „Kuckuck-Da“-Spiel zwischen Mutter und Kind bearbeitet, wenn die Mutter sich versteckt und „Kuckuck“ ruft und dann sich zeigt und „Da“ sagt. Bei dieser Konstellation der beiden streng getrennten und auch widersprüchlichen Modi des Seins gibt es nur im fantastischen Modus ein durchgängiges Selbst, welches die Mutter durch ihr Spiegeln vermittelt, während es im realistischen nur ein gegenwärtiges geben kann (siehe Fonagy et al. 2008, Seite 253, Experiment von Povinelli und Simon, 1998). Mit der Zeit entdeckt das Dasein in der Gemeinschaft mit seiner Mutter die Wechselhaftigkeit und Veränderbarkeit der Befindlichkeit zuerst bei der Mutter und dann auch bei sich selbst, sodass ihm das Sein eines Seienden beispielsweise jetzt so erscheint, früher ihm anders erschien, und es um die Möglichkeit weiß, dass es ihm später noch einmal anders erscheinen kann, und ihm so der Unterschied zwischen Sein und Seiendem, die ontologische Differenz, immer deutlicher wird. Dadurch entdeckt es auch prozesshafte Unterschiede in seiner eigenen Befindlichkeit, und das Dasein wird an ihm selbst autobiografisch bzw. prozesshaft. Damit gelingt es dem Dasein etwa ab vier Jahren, die im realistischen Modus erworbenen Erfahrungen in die fantastische Seinsweise zu integrieren, und es kann dann auch ohne seine Mutter sich immer mehr durch seine eigene Befindlichkeit verstehen, seine Stimmungen regulieren und seine Erfahrungen in seiner eigenen Weltlichkeit integrieren. Damit ist dann die soziale Geburt abgeschlossen, die im Alter von etwa zwei Jahren beginnt, wenn ein Kind zum Beispiel schon unterscheiden kann zwischen eigenen Wunschzuständen und denen anderer Menschen (siehe Fonagy et al. 2008, Seite 244 f.). Die Entwicklung des Daseins, wie es sich selbst als wirksames Seiendes erfährt, durchläuft also folgende Phasen: zuerst entdeckt es durch die Erfahrung, dass seine Mutter reagiert, dass es durch seine Ausdrucksweise wirksam ist. Dann entdeckt es durch die Art und Weise, wie seine Mutter reagiert, die Bedeutung von dem, wie es wirksam ist, und damit seine Befindlichkeit. Dabei sind die Bedeutungen noch ziemlich zusammenhanglos, eine momentane Befindlichkeit ist äquivalent mit einer bestimmten Bedeutung (Äquivalenz-Modus). Erst durch die sich entwickelnde Rede mit der Mutter, der ontisch die Sprachentwicklung entspricht, werden alle Bedeutungen nach und nach in einen Gesamtzusammenhang gestellt, wobei das Dasein zuerst in einem Als-ob-Modus spielerisch den Gesamtzusammenhang erforscht, den ihm seine Mutter durch ihre Weltlichkeit vermittelt, und dann entdeckt, dass die bei ihm im Äquivalenz-Modus selbst entdeckten Bedeutungen auch in einen Zusammenhang gestellt werden können. Dadurch entwirft das Dasein dann seine eigenen Weltlichkeit. An dieser Stelle erscheint es mir wichtig anzumerken, dass das Dasein den fantastischen Modus seiner Weltlichkeit nicht aufgibt sondern nur modifiziert, allerdings stets dessen gewiss, dass die sich daraus ergebende Sicht der Welt nur eine vorläufige ist – es ist ja ursprünglich die Weltlichkeit seiner Mutter, die es immer beibehält, wenn auch in einer Form, die es mit jeder integrierten neuen Erfahrung modifiziert –, die ihm aber gegebenenfalls als Trost und Beruhigung dient („Es ist nicht so schlimm, wie es scheint“), wenn es entsprechenden Trost von seiner Mutter bekommen hat. Wenn das Dasein diesen Modus nicht mehr entsprechend seiner Erfahrungen modifiziert, dann läuft es Gefahr, in die Täuschung zu verfallen, dass dieser fantastische Modus endgültig sei, so dass es sich dann in der Seinsweise der Verfallenheit befindet. Trost und Beruhigung können dann auch schnell in Angst und Unsicherheit umschlagen, wenn es immer wieder Enttäuschungen erfährt („Ich kann mich auf nichts mehr verlassen.“), und enthüllen so die Verfallenheit. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Daseins spielt die Entdeckung der ontologischen Differenz, denn mit dem Unterschied zwischen Sein und Seiendem erkennt das Dasein die Prozesshaftigkeit von allem anderen Seienden und letztlich auch von ihm selbst. Wie ich später aufzeigen werde, ist die Prozesshaftigkeit aber der Sinn des Seins. Mit dem Abschluss der sozialen Geburt ist dem Dasein der Sinn des Seins schon erschlossen.

Wenn man sich den fantastischen Modus des Seins genauer betrachtet, dann erkennt man darin große Parallelen zur Verfallenheit: das Man ist ein Derivat der Mutter, und im alltägliche Miteinandersein ebenso wie in der fantastischen Seinsweise des Daseins will das Dasein etwas Einzigartiges sein (für seine Mutter ist es das), es will zu den Anderen bzw. zur Mutter gehören und verfestigt so deren Macht, in der Beruhigung („Ist doch nicht so schlimm, wie es scheint“) wird alles durchschnittlich, die Befindlichkeit wird veröffentlicht (durch die Mutter) und nivelliert und das Sein entlastet, dem Dasein Verantwortung abgenommen. Weiterhin kommt die Mutter ihrem Kind bei Schwierigkeiten entgegen und hilft ihm entsprechend. Das waren aber die von Heidegger in Paragraph 27 (ebenda) aufgeführten Charakteristika der Verfallenheit. Auf diese Weise wird deutlich, wie wichtig und ursprünglich die Seinsweise der Verfallenheit ist, und dass sie ursprünglich keine Abkehr vom Dasein selbst ist oder ein Festhalten an einer Täuschung, sondern eine durch die Mutter spielerisch eingeleitete Hinwendung zu seinem Selbst, wodurch das Dasein mit etwa vier Jahren ein erstes prozesshaftes Selbstverständnis entwickeln kann, wenn es die ontologische Differenz entdeckt und die fantastische mit der realistischen Seinsweise integriert hat. Insofern ist die später noch zu beschreibende Eigentlichkeit nur eine Modifikation der fantastischen Seinsweise, wenn das Dasein nämlich ständig seine Erfahrungen in seiner Weltlichkeit integriert und somit keine Inkongruenz zwischen seinen Erfahrungen und seiner Weltlichkeit entstehen lässt. Wenn das Dasein mit jeder neuen Erfahrung, insbesondere mit jeder Enttäuschung, seine Weltlichkeit so modifiziert, dass diese Erfahrung integriert wird in seine Weltlichkeit, dann entwickelt es sich in Richtung Eigentlichkeit, andernfalls wird es immer uneigentlicher, immer mehr von sich abgekehrt und ist in der Seinsweise der Verfallenheit, die nach und nach immer fantastischer wird, sich also immer mehr sogar zurück entwickeln kann bis zur ursprünglichen Weltlichkeit seiner Mutter, bis es sich wieder ihm selbst und seinem In-der-Welt-sein zuwendet, u.U. mit Hilfe eines Anderen, der es in ähnlicher Weise seiner Entwicklung entsprechend spiegelt wie früher seine Mutter, das Dasein sozusagen wieder „zurück in die Welt liebt“, sodass es wie damals seine Erfahrungen (die es im realistischen Modus des Seins erworben hat) zu integrieren lernt.

Die apriorischen Strukturen, die das Dasein befähigen, auf das Beziehungsangebot der Mutter einzugehen, eine gemeinsame fantastische Welt zu etablieren, in der es gemeinsam mit seiner Mutter spielen, also so tun als ob kann, sind zum einen die Befindlichkeit, mit der verschiedene vorläufige Ausdrucksweisen verknüpft sind, und das befindliche Verstehen, dass und wie die kontingente Reaktion seiner Mutter mit ihm zu tun hat, wobei das Dasein im Austausch mit der Mutter die Kontingenz ihrer Reaktionen auf das Dasein entdecken kann, sodass es allmählich versteht, dass und wie seine eigene durch die Mutter vermittelte Befindlichkeit den Teil der Welt erschließt, den es mit seiner Mutter teilt. Aufgrund seiner Befindlichkeit sucht das Dasein nach kontingenten Reaktionen, es ist sich der Gemeinschaft mit seiner Mutter gewiss und sucht sie in der kontingenten Reaktion, das heißt der Ausdruck seiner Befindlichkeit ist auch ein Herbeirufen oder Rufen nach der Mutter. Erst mit Beginn der sozialen Geburt mit etwa zwei Jahren entdeckt das Dasein die Unterschiede zwischen eigener Befindlichkeit und der der Mutter, so dass es den Äquivalenz-Modus (eigene Bedeutungen) und den Als-ob-Modus (Erforschung der Weltlichkeit seiner Mutter) getrennt voneinander entwickelt. Erst am Ende der sozialen Geburt mit etwa vier Jahren kann es ein eigenes Verstehen und Gliedern so etablieren, dass es eine eigene Weltlichkeit und Gemeinschaftlichkeit hat. Aufgrund der Kontingenz im Verhalten der Mutter und durch die Abkopplung der gespiegelten und markierten Befindlichkeit von der Mutter, bezieht das Dasein die Reaktion der Mutter allmählich auf sich als wirksamer Urheber, es versteht etwas von seinem Seinkönnen. Das, was dieses Verstehen erst ermöglicht, umfasst dann das, was Fonagy et al. (2008) auf Seite 170 als Kontingenzentdeckungsmodul bezeichnet haben, und was ich unten beim Thema Rhythmus als apriorische Fähigkeit des Daseins bezeichne, zum jeweiligen Geschehen in der Welt passende Rhythmen für die eigenen Handlungen zu entwerfen, wobei „entwerfen“ als „sich verstehen auf“ nach Heidegger Teil des Verstehens ist. Weiterhin apriorisch ist dann (1) das So-tun-als-ob, wobei dieses „Als“ hermeneutisch ist wie bei der Rede, und (2) das Spielen (auch mit Rhythmen) mit und Erforschen der Weltlichkeit seiner Mutter, mit dem das Dasein schon in der Kommunikation mit der Mutter das durch die Mutter vermittelte Verständnis jeweils gemeinsam mit der Mutter gliedern, also die Rede davon entwickeln konnte, sodass das Dasein mit der Zeit über das durch die Mutter vermittelte In-der-Welt-sein bzw. In-der-Gemeinschaft-sein reflektieren, also nachsinnen und -denken kann.

Nach der Entdeckung der Prozesshaftigkeit (Zeitlichkeit bei Heidegger) seiner Befindlichkeit, wodurch ihm die Integration der im individuellen realistischen Äquivalenz-Modus des Seins gemachten Erfahrungen in den fantastischen Als-ob-Modus ohne große Ängste möglich ist, kann das eigene Verstehen immer mehr autobiografische Züge annehmen und damit prozesshaft werden. Bei der Integration des (realistischen) Äquivalenz-Modus wird das spielerisch gegliederte befindliche Verständnis des bedingten Seinkönnens konkret ausgelegt und eine Äquivalenz zwischen Seinkönnen und faktischem Sein hergestellt. In dieser Auslegung kann dann festgestellt werden, ob das Verständnis des Daseins auf einer Täuschung beruht oder nicht. Die entsprechende Erfahrung kann dann in seiner Weltlichkeit integriert werden, was die Bedeutsamkeit ändern kann. Ob es allerdings tatsächlich nachsinnt oder -denkt und auslegt, hängt davon ab, ob es seine Selbstwahl (immer wieder) annimmt oder nicht, also ob es ein Dasein als Kind-Selbst mit der mütterlichen Weltlichkeit führen oder immer eigentlicher mit eigener Weltlichkeit werden will. Befindlichkeit, Verstehen und Rede mit entsprechendem Ausdruck als Auslegung stellen übrigens einen hermeneutischen Zirkelprozess (siehe unten) dar. Selbst wenn die These von Fonagy et al. (2008) nicht stimmt und das Dasein schon als Baby seiner Stimmungen gewahr ist, so kann es diese durch den oben beschriebenen durch die Mutter vermittelten hermeneutischen Zirkelprozess in der Mutter-Kind-Beziehung (Erfahrung als Vor-Habe, Bedeutung als Vor-Sicht, Rede als Vor-Griff und die Integration von Als-ob- und Äquivalenz-Modus als ausdrückliche Auslegung) immer besser verstehen, sodass dies immer echter und unmittelbarer wird. So haben wir die apriorisch-ontologischen Strukturen gefunden, wodurch das Dasein mit seiner Mutter eine gemeinsame fantastische Welt etablieren kann, nämlich die Befindlichkeit, das befindliche Verstehen und die Rede.

Dass die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse, die erst in jüngster Zeit, also 80 Jahre nach Heideggers „Sein und Zeit“, herausgefunden und experimentell bestätigt wurden, schon weitgehend in „Sein und Zeit“ beschrieben sind, lässt Heidegger als genialen Entwicklungspsychologen erscheinen und erklärt damit auch einiges der Faszination, die „Sein und Zeit“ bis heute noch auslöst.

Wie wichtig es für das Dasein ist, dass seine Mutter ihm in ihrem Miteinandersein seine Befindlichkeit spiegelt und so mit ihm zusammen die fantastische Seinsweise, die ursprüngliche „Verfallenheit“ des Daseins entwickelt, zeigt sich in den schlimmen Folgen, die Störungen bei dieser Entwicklung haben können (siehe Fonagy et al., 2008, Dritter Teil: Klinische Perspektiven), und darin, wie diese therapeutisch durch eine nachträgliche Etablierung oder Korrektur der fantastischen Seinsweise abgemildert werden können, manchmal sogar so weit, dass sie keinen Krankheitswert mehr haben. Wenn auf den Ausdruck seiner Befindlichkeit, der gleichzeitig auch ein Rufen nach der Mutter ist, z.B. keine Reaktion kommt, oder die Mutter statt mit einer Spiegelung mit eigener Furcht oder Zorn reagiert, weil sie sich permanent überfordert fühlt, oder ihr Kind nur mit Spaßigem ablenkt, statt es zu verstehen, dann wird das Dasein große Schwierigkeiten haben, sich selbst zu finden und eigentlich zu sein. Seine Befindlichkeit und sein Sich-Finden in der Welt sind verknüpft mit den Befindlichkeiten Ekel, Trauer, oberflächlicher Spaß (weil es keine angemessene Reaktion von der Mutter bekommt), Furcht und Zorn (von der Mutter übernommen oder von ihr verstärkt). In seiner Sorge ist es ergriffen von diesen Befindlichkeiten, die so eigentlich gar nicht die ursprünglich eigenen sind, es wird von ihnen überschwemmt, sodass es ihnen verfällt und seine eigentliche Befindlichkeit nicht verstehen kann. Es erwartet von Anderen dieselben negativen Modi der Befindlichkeit wie von seiner Mutter und kann diese unter Umständen sehr gut bei ihnen entdecken bzw. wahrnehmen, wenn sie bei Anderen gerade auftreten. Dem Dasein selbst ist seine eigene Befindlichkeit meist verschlossen, da es entweder nichts oder die von seiner Mutter übernommenen uneigentlichen Modi der Befindlichkeit von Ekel, Trauer, Spaß, Furcht und Zorn spürt, die seine eigentliche Befindlichkeit verdecken. Es ist eben von ihm selbst bzw. von seinem In-der Welt-sein getrennt. In der Psychotherapie versucht man daher als Therapeut nachzuholen, was in der Mutter-Kind-Beziehung versäumt wurde, indem der Therapeut eine Bindungsbeziehung herstellt, in der er die Befindlichkeit des Daseins möglichst echt und unmittelbar versteht und entsprechend ausdrücklich auslegt, damit das Dasein aufgefordert ist, sich wieder ihm selbst zuzuwenden. Beim Verständnis des Therapeuten geht es nicht um sichtbare Ergebnisse des Verhaltens des Daseins, sondern zuerst darum zu verstehen, wovon das Dasein ergriffen ist und was es erwartet, und dann um die Ergebnisse im Verhältnis dazu.

Wie Heidegger schon aufgezeigt hat, ist die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins existenzial-ontologisch nur durch die Einheit von Existenzialität und Faktizität, also von der Sorge bzw. von Ergriffenheit und Erwartung her, wie im nächsten Kapitel beschrieben ist. Hier zeigt sich übrigens die Relevanz für therapeutisches Handeln, die in Heideggers Philosophie verborgen ist: als Therapeut ist es wichtig, zuerst den Patienten auf der ontologischen Ebene zu verstehen in seiner Sorge bzw. in seiner Ergriffenheit und Erwartung, um dadurch die ontische Ebene besser begreifen und das Begriffene dem Patienten begreiflich machen zu können, sodass er sich selbst immer echter und eigentlicher verstehen kann. Wie weiter unten in diesem Kapitel ausgeführt bedeutet die therapeutische Vorgehensweise, dass der Therapeut das Dasein dabei so weit wie möglich zu lieben versucht, das ist die Begegnung in der Bindungsbeziehung und das möglichst echte und unmittelbare Verstehen, sodass das Dasein sozusagen „in die Welt hineingeliebt“ wird und sich so immer mehr auch selbst liebt, sofern es sich auf diese therapeutische Beziehung einlässt und insbesondere seine Selbstwahl annimmt.

Wie diese Ausführungen schon vorgreifend zeigen, wird das Sich-Ausliefern des Daseins in der Befindlichkeit an die Faktizität der Welt aufgefangen durch das möglichst echte und unmittelbare Verstehen bzw. immer mehr Lieben, anfänglich durch das der Mutter, später nach der sozialen Geburt von dem des Daseins selbst. Doch um das Thema des Verstehens und Liebens geht es erst weiter unten.

Auf den sozialen Bereich insgesamt übertragen heißt das, dass jede Gemeinschaft genauso wie die Mutter-Kind-Dyade primär durch die Befindlichkeit erschlossen wird. Auch hier gibt es die Geworfenheit und die Angewiesenheit, und in der Befindlichkeit liefert sich das Dasein ständig an die Faktizität der Gemeinschaft aus, lässt sich von ihr angehen, ergreifen und enttäuschen, so dass das Dasein sich selbst meistens oder zunächst ausweicht, indem es zum Beispiel in die Seinsart der sozialen Erwünschtheit geht. Die „Geburt“ in eine Gemeinschaft als vollwertiges Mitglied ist erst dann gegeben, wenn das Dasein ein anderes Mitglied dieser Gemeinschaft und damit im Nachgang sich selbst als für sich selbst in der Gemeinschaft Seiendes entdecken kann, wobei sich das In-der-Gemeinschaft-sein jeweils ändern kann und ändert. Das Dasein entdeckt somit die ontologische Differenz und damit die Unterschiede zwischen seiner anfänglichen Fantasie von der Gemeinschaft und der entdeckten Faktizität. Infolgedessen entdeckt es dann auch Unterschiede in der Gemeinschaftlichkeit von Anderen und seiner selbst. Sobald dies zum ersten Mal in seiner ersten Gemeinschaft (Mutter-Kind-Dyade) geschieht, spricht man von der sozialen Geburt (siehe oben). Die soziale Geburt ist also die erste wichtige Ent-Täuschung in diesem Bereich, die das Dasein als solche entdeckt, obwohl sie ihm schon früher erschlossen ist durch seine Befindlichkeit. Die in der Enttäuschung begriffene Täuschung besteht darin, dass das Dasein sein eigenes Sein und sich als Seiendes für dasselbe hält. Die ontologische Differenz bei ihm selbst entdeckt das Dasein zuletzt. Erst dann ist es in der Lage zu verstehen, dass es auch einmal ohne Reaktion eines Anderen sein muss, weil es auch immer wieder in der Seinsweise sein kann, dass ein Anderer auf es reagiert. Wenn die Entwicklung an dieser Stelle gestört wird, hat das Dasein große Schwierigkeiten mit den Befindlichkeiten der Furcht und des Zorns, da es immer wieder in extreme uneigentliche Zustände von furchtsamer Depressivität oder zorniger Paranoia gestürzt wird (siehe oben). Es wird von diesen uneigentlichen Befindlichkeiten immer wieder überschwemmt, und sein Verhalten wird weitgehend davon beherrscht. Seine Gemeinschaftlichkeit besteht aus Extremen, seine Entwürfe und sein Entwerfen von jeder Gemeinschaft ist eine „Schwarz-Weiß-Malerei“. Aus dieser schweren psychischen Störungen (in der Psychopathologie als Borderline-Störung bezeichnet) wird ersichtlich, dass nicht nur die Befindlichkeit der Angst bzw. der Furcht wie bei Heidegger, sondern auch die Befindlichkeit der Wut bzw. des Zorns eine besondere Rolle bei der Fundamentalontologie des Daseins spielt. Dies ist das Ergebnis der phänomenalen Hebung der einheitlichen ursprünglichen Struktur des Seins des Daseins durch die Miteinbeziehung des sozialen Bereiches neben dem gleichursprünglichen Arbeitsbereich, der von Heidegger als der einzige Bereich des In-der-Welt-seins betrachtet wird.

Die Befindlichkeit spielt bei Heidegger eine zweifach wichtige Rolle. Zum einen charakterisiert sie ontologisch das Dasein, zum anderen ist sie aufgrund ihres Erschließens für die existenziale Analytik von grundsätzlicher methodischer Bedeutung. Die phänomenologische Interpretation geht mit dem Erschließen durch die Befindlichkeit nur mit, um den phänomenalen Gehalt des Erschlossenen existenzial in den Begriff zu heben. Heidegger (ebenda, Seite 140 ff.) demonstriert nun das Phänomen der Befindlichkeit an dem bestimmten Modus der Furcht noch konkreter. Ich will dies im Folgenden nicht nur am Modus der Furcht, sondern auch am Modus des Zorns, der Trauer, des Ekels und des Spaßes nachvollziehen.

Bei diesen fünf Phänomenen stellen sich jeweils folgende drei Fragen: 1. Was kann bewirken, dass Furcht, Zorn, Trauer, Ekel oder Spaß jeweils ausgelöst wird (das Wovor bzw. das Worüber)? 2. Was ist das Fürchten, Zürnen, Trauern, Ekeln, Spaß-Haben jeweils selbst? 3. Worum geht es der Furcht, dem Zorn, der Trauer, dem Ekel, dem Spaß?

Zu 1.: Bei Furcht hat das Wovor den Charakter der Bedrohlichkeit, bei Zorn das Worüber den Charakter der Vereitelung, bei Trauer das Worüber den Charakter der Getrenntheit, bei Ekel das Wovor den Charakter des Widerwärtigen und bei Spaß das Worüber den Charakter des Unterhaltsamen bzw. Amüsanten. Auf Seite 140 f. beschreibt Heidegger dann den Charakter der Bedrohlichkeit. Im Unterschied dazu ist der Charakter der Vereitelung bezogen auf etwas Abträgliches, welches schon herangenaht war und nicht erst sich im Herannahen befindet (wie bei der Bedrohlichkeit). Dieses Abträgliche kann schon längst wieder verschwunden sein. Der Charakter der Getrenntheit hat die Bewandtnisart des Fehlens von etwas „Erwartetem“, wovon das Dasein ergriffen ist. Hierbei geht es um keinen Prozess des Herannahens oder Entfernens oder einen früheren Zustand von Nähe oder Ferne, sondern um den Zustand von momentaner Abwesenheit. Der Charakter des Widerwärtigen hat die Bewandtnisart des Abstößigen, dessen räumlich-daseinsmäßige Nähe das Dasein unter allen Umständen meidet (wenn es trotzdem tatsächlich oder faktisch damit zu tun haben muss, versucht es doch, wenigstens daseinsmäßig auf Abstand zu bleiben). Der Charakter des Unterhaltsamen und Amüsanten hat die Bewandtnisart des Von-sich-Ablenkens und Sich-Zuwendens. Furcht bezieht sich also auf die Zukunft, dass etwas Bedrohliches herannahen wird, Zorn auf die Gewesenheit (wie Heidegger die Vergangenheit nennt), dass etwas Abträgliches schon herangenaht war, Trauer auf die Gegenwart, auf den Zustand des Fehlens bzw. der Abwesenheit, der Nicht-Anwesenheit von etwas, von dem das Dasein ergriffen ist, Ekel auf die daseinsmäßige Räumlichkeit, dass das Dasein sich von etwas Widerwärtigem daseinsmäßig ausdrücklich zu distanzieren sucht, und Spaß auf das Von-sich-Ablenken und Sich-Zuwenden des Daseins zu etwas Amüsantem.

Zu 2.: Das Fürchten selbst, das Zürnen selbst, das Trauern selbst, das Ekeln selbst und das Spaß-Haben selbst sind jeweils das sich-angehen-lassende Freigeben (erkennbar werden lassen) des so charakterisierten Bedrohlichen bzw. Vereitelnden bzw. Abwesenden bzw. Widerwärtigen bzw. Amüsanten. Der jeweilige Modus der Befindlichkeit ist nicht die Folge einer Feststellung, sondern in seiner Befindlichkeit entdeckt das Dasein das Übel (ob zukünftig, gewesen, gegenwärtig oder daseinsmäßig räumlich) oder das Ablenkende und Amüsante jeweils dadurch, dass der entsprechende Modus der Befindlichkeit ausgelöst wird.

Zu 3.: Das Worum- bzw. Um-Was-Willen die Furcht fürchtet, der Zorn zürnt, die Trauer trauert, der Ekel sich ekelt und der Spaß seinen Spaß hat, ist das Dasein selbst. Nur Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, kann sich fürchten, zürnen, trauern, sich ekeln oder Spaß haben. Das Fürchten, das Zürnen, das Trauern, das Ekeln und das Spaß-Haben erschließen jeweils dieses Seiende in seiner Gefährdung, in seinem Ausgeliefert-gewesen-sein an Abträgliches, in seiner Getrenntheit von ergriffen Erwartetem, in seiner Distanzierung von Widerwärtigem und in dem Sich-Zuwenden zu Unterhaltsamem und Amüsantem. Der jeweilige Modus der Befindlichkeit enthüllt immer, wenn auch in wechselnder Ausdrücklichkeit, das Dasein im Sein seines Da.

Je nach Ausmaß der Gefährdung, der Schädigung, der Ergriffenheit dessen, von dem das Dasein getrennt ist, der Widerwärtigkeit dessen, wovon sich das Dasein abgestoßen fühlt, oder der Unterhaltsamkeit dessen, dem sich das Dasein zuwendet, befindet sich das Dasein im Zustand einer größeren oder kleineren Erregtheit. Ab einer bestimmten Größe der Erregtheit, die je nach Modus der Befindlichkeit unterschiedlich sein kann, erschließt der jeweilige Modus der Befindlichkeit das Dasein vorwiegend in privativer Weise: er verwirrt und macht „kopflos“. Das auf diese Weise zu stark erregte In-Sein wird verschlossen, indem der betreffende Modus der Befindlichkeit das Negative oder das Ablenkende des In-Seins nicht sehen lässt, so dass das Dasein, wenn die Erregtheit gewichen ist, sich erst wieder zurechtfinden muss.

Im Sozialen kann das Worum bzw. das Woran des jeweiligen Modus der Befindlichkeit (Furcht, Zorn, Trauer, Ekel, Spaß) auch andere betreffen, wenn das Dasein sich mit einem anderen Mitglied seiner Gemeinschaft identifiziert, sich in den anderen hineinversetzt, das heißt seinen existenzial-räumlichen Mittelpunkt vom „Ich-Hier“ in das „Du-Da“ des anderen verlegt. Das ist das Besondere der Räumlichkeit des Daseins, dass es den räumlichen Mittelpunkt wählen kann ebenso wie seine relative Ausgerichtetheit (links und rechts, oben und unten, vorne und hinten). Daher ist die Räumlichkeit des Daseins ein Existenzial und keine Kategorie. Dieses Mitgefühl als Modus der Befindlichkeit ist deutlich zu unterscheiden von der Mitbefindlichkeit bei Heidegger. (Die Mitbefindlichkeit ebenso wie das Mitdasein und die Fürsorge kommen natürlich im sozialen Bereich ebenfalls vor, sind aber bei Heidegger stets auf die Arbeitswelt bezogen, also auf den Aufgabenbereich von Gemeinschaften, der den Umgang mit der Außenwelt, der Welt außerhalb der Gemeinschaft, betrifft.) Bei der Mitbefindlichkeit geht es dem Dasein im jeweiligen Modus der Befindlichkeit um den Anderen anstelle um das Dasein selbst, ohne sich mit diesem zu identifizieren, wobei jedoch der Andere sich zum Beispiel gar nicht fürchten muss, was die Furcht des Daseins sogar noch steigern kann, wenn der Andere die Gefahr nicht erkennt. Bei der Mitbefindlichkeit kann das Dasein sich um den Anderen fürchten und gleichzeitig über sein Mitgefühl verstehen, warum der andere dies nicht tut, weil das Dasein selbst sich zum Beispiel in der Situation des Anderen auch nicht fürchten würde. Bei der Mitbefindlichkeit unterscheidet das Dasein zwischen der eigenen und der Befindlichkeit des Anderen, beim Mitgefühl jedoch zunächst nicht. Bei der Mitbefindlichkeit kann es Unterschiede geben zu der faktischen Befindlichkeit des Anderen. Diese liegen an Unterschieden der Gemeinschaftlichkeit (entspricht der Weltlichkeit im Arbeitsbereich) des Daseins und des Anderen, also an unterschiedlichen Entwürfen, die das Dasein und der andere jeweils von der Gemeinschaft und von deren Mitgliedern haben. Das Dasein ist dann zum Beispiel der Auffassung, dass der andere in einem bestimmten Modus der Befindlichkeit sein muss, während der andere davon nichts weiß. Es gibt dann vier Fälle: Entweder der andere hat seine Stimmung durch eine Gegenstimmung ersetzt und bleibt bei der Gegenstimmung, oder er kehrt zu der ursprünglichen Stimmung zurück, oder er hatte nie diese Stimmung und bleibt bei seiner bisherigen Stimmung, oder er ersetzt seine bisherige Stimmung durch die vom Dasein vorgeschlagene. Hier spielen komplexe Prozesse der Fremd- und Selbstbeeinflussung eine Rolle, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter verfolgt werden sollen. Auch beim Mitgefühl kann es Unterschiede zu der faktischen Befindlichkeit des Anderen geben, diese liegen dann aber an einem unechten befindlichen Verstehen des Daseins von der Befindlichkeit des Anderen.

Kommen wir nun zu Heideggers Begriff des Verstehens: Gleichursprünglich mit der Befindlichkeit konstituiert die existenziale Struktur des Verstehens das Sein des „Da“. Verstehen ist immer ein gestimmtes. Hiermit ist ein Grundmodus des Seins des Daseins gemeint und keine mögliche Erkenntnisart wie zum Beispiel das Erklären. Das existierende In-der-Welt-sein ist als solches darin erschlossen, dass es ihm um es selbst geht. Diese Erschlossenheit ist das Verstehen. Im Verstehen dieses Worumwillen ist die darin gründende Bedeutsamkeit (Struktur des Gesamtentwurfes des Daseins von der Welt bzw. seines In-der-Welt-seins) gleichursprünglich mit erschlossen, das heißt das volle In-der-Welt-sein. Die Frustration der Sorge bzw. der Erwartung des Daseins, die ihm seine Geworfenheit und seinen Lastcharakter, aber auch den Herausforderungscharakter seiner Geworfenheit offenbart, wobei die Erwartung dem Dasein meistens erst in der Frustration begegnet, ist der Kern dessen, worum es dem Verstehen geht, denn in der Sorge bzw. der Erwartung erst zeigt sich dem Dasein, dass es ihm um es selbst geht. Sorge als Ergriffenheit ist eine Befindlichkeit und Sein-bei, Sorge als Erwarten ist Verstehen, Rede und Auslegung als das ausdrückliche Auf-den-Begriff-bringen der Ergriffenheit und des Verstehens. Der Ausdruck bei der Auslegung macht einen Eindruck bei etwas Seiendem, das dem Dasein in der Welt begegnet, so dass dies auf das Dasein zurückwirkt. Durch die Auslegung kommt es also zu einem Austausch mit der Welt, sodass das Dasein feststellen kann, ob seine Erwartung erfüllt wird, oder ob es sich getäuscht hat. Die Bedeutung der jeweiligen Erfahrung kann es dann in seiner Weltlichkeit integrieren. In der Sorge bzw. der Ergriffenheit wird durch das Sein-bei in der Welt die Befindlichkeit des Seins sichtbar, das heißt, die Befindlichkeit zeigt sich faktisch zuerst in der plötzlichen Überraschung, dem bleibenden Interesse oder im Desinteresse als privativer Form, also in irgendeiner Art von mehr oder weniger großer, teils auch schwankender Erregtheit, um sich dann bei erfüllter oder durch Ablenkung verschobener „Erwartung“ in einen positiven Modus von Spaß (jeweils uneigentlich) oder Freude (jeweils eigentlich) oder bei Enttäuschung in einen aversiven Modus von Furcht, Zorn, Trauer oder Ekel (uneigentlich) oder Angst, Wut, Leid oder Abscheu (eigentlich) abzuwandeln, wobei die Modi auch mehr oder weniger rasch wechseln und/oder sich vermischen können.

Verstehen im ontischen Sinne bedeutet auch „etwas können“ („sich verstehen auf“, Seite 143 ebenda). Das im Verstehen als Existenzial Gekonnte ist das Sein als Existieren, darin liegt also existenzial die Seinsart des Daseins als Sein-können. Das wesenhafte Möglichsein des Daseins betrifft die charakterisierten Weisen des Ergreifens, Besorgens, Sich-Auseinandersetzens, Fürsorge für andere und in all dem und immer schon das Seinkönnen zu ihm selbst. So ist ihm im Verstehen das Worumwillen erschlossen. Möglichkeit als Existenzial bedeutet genauer Wahlmöglichkeit. Es ist keine modale Kategorie der Vorhandenheit, dass mit dem Dasein das oder jenes passieren kann, sondern es ist die ursprünglich letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins. Verstehen als Erschließen des Seinkönnens bietet den phänomenalen Boden, die Möglichkeit als Existenzial überhaupt zu sehen. Mit Möglichkeit ist auch nicht „Gleichgültigkeit der Willkür“ gemeint. Das Dasein ist jeweils schon in bestimmte Möglichkeiten hineingeraten, es ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, es ist durch und durch geworfene Möglichkeit. Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen. Als Möglichsein ist das eigenste Seinkönnen dem Dasein selbst in verschiedenen möglichen Weisen und Graden entdeckt oder verdeckt. Als existenziales Verstehen „weiß“ das Dasein, woran es mit ihm selbst ist, nämlich seinem Seinkönnen. In der Geworfenheit ist das Dasein verkannt, in seinem Seinkönnen ist es der Möglichkeit überantwortet, sich in seinen Möglichkeiten zu finden. Das Verstehen erschließt das Dasein als geworfene Möglichkeit. Um das existenziale Verstehen von seinem Derivat des rein verstandesmäßigen Verstehens abzugrenzen, nennt Heidegger es auch befindliches Verstehen.

Im Kern der Frustration der Erwartung liegt auch die Bedingtheit dieser Frustration, und darum geht es dem Verstehen ebenfalls, so dass zusätzlich zu Heidegger noch anzuführen ist, dass „verstehen“ im ontischen Sinne auch bedeuten kann, dass das Dasein die mögliche Bedingtheit von dem versteht, wie es gerade aus welcher Stimmung heraus welchen Handlungsimpuls hat und wie es gerade in diese Stimmung gekommen ist. Fonagy et al. (2008) führen ab Seite 170 aus, dass es wahrscheinlich schon beim Säugling ein so genanntes Kontingenzentdeckungsmodul gibt (siehe oben), mit Hilfe dessen dieser die Kontingenz seines Verhaltens und damit seine Wirksamkeit, analysiert und maximiert. Wenn der Säugling durch ein bestimmtes Verhalten eine bestimmte Reaktion seiner Mutter erfährt, so wird in diesem Modul zweierlei analysiert: zum einen welches äußere Verhalten, welcher Ausdruck von ihm hat zu welcher Reaktion der Mutter geführt, und zum andern welche Befindlichkeit von ihm selbst ist mit seinem Ausdruck und der damit verbundenen Reaktion seiner Mutter verknüpft. Der Säugling lernt so, immer besser seine Stimmungen zu unterscheiden und seine Befindlichkeit zu erkennen, und wie er dann seine Mutter zu bestimmten Reaktionen bringen kann, die seine Stimmung verbessern. Er versteht so seine Befindlichkeit immer besser und kann dann immer mehr eigene Möglichkeiten entwerfen, seine Mutter so zu beeinflussen, dass sein Wohlbefinden besser wird. Das Sich-verstehen-auf und das Entwerfen sind erst möglich, wenn das Dasein gelernt hat, seine Befindlichkeit und deren Bedingtheit zu erkennen. Andererseits kann es sich selbst nur über das Entwerfen erkennen, denn nur die von ihm selbst bewirkte Reaktion der Mutter zeigt dem Säugling, dass er selbst diese hervorgerufen hat, sodass er dann erst auch seine Befindlichkeit sich selbst zuschreiben kann. Insofern lernt der Säugling seine Befindlichkeit und sein Seinkönnen in ein und demselben Prozess kennen. Beide Arten des Verstehens, das Verstehen der Möglichkeit des Seinkönnens und das Verstehen der Bedingtheit des Daseins, bedingen sich gegenseitig und entwickeln sich gemeinsam. Das Dasein versteht insbesondere die Konsequenzen früherer Entscheidungen zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Seinkönnens für den Modus seiner momentanen Befindlichkeit. Hiermit ist nicht ein Ursache-Wirkungsprinzip gemeint, sondern das befindliche Verstehen von möglichen Bedingungen einer gegenwärtigen Befindlichkeit und von bestimmten Möglichkeiten des Seinkönnens, mit denen das Dasein diese Befindlichkeit regulieren kann. Auch einem Ereignis nachfolgende noch zukünftig mögliche Konsequenzen können Bedingungen sein, die die jetzige Gestimmtheit und die Möglichkeiten von deren Regulierung beeinflussen, das heißt auch mögliche zukünftige Ereignisse können die Befindlichkeit und die Möglichkeit ihrer Regulierung bedingen, sofern das Dasein sie in seiner jetzigen Weltlichkeit erkennen kann oder zu erkennen glaubt. Das im Verstehen als Existenzial Bedingte ist das Sein als Existieren, darin liegt also existenzial die Seinsart des Daseins als Bedingt-Sein. Das wesenhafte Bedingt-Sein des Daseins betrifft die charakterisierten Weisen des Ergreifens, Besorgens, Sich-Auseinandersetzens, Fürsorge für andere und in all dem und immer schon auch das Bedingt-Sein für es selbst, also seine Geworfenheit und seine eigene früher jeweils entfaltete Wirksamkeit. So ist ihm im Verstehen seines Bedingt-Seins die Bedeutsamkeit ebenso erschlossen wie im Verstehen seines Seinkönnens. Bedingtheit als Existenzial bedeutet also genauer Bedingtheit durch seine Geworfenheit und alle früher getroffenen Wahlen und durch die nach der momentanen Weltlichkeit noch möglichen Konsequenzen und die jeweiligen Grenzen der damaligen Wahlmöglichkeiten sowie die damals dem Dasein in seiner Weltlichkeit als möglich erscheinenden Konsequenzen.

An dieser Stelle wird klar, dass die Weltlichkeit selbst, also das Entwerfen und der Entwurf einer Sicht- und Umgangsweise auf die bzw. mit der Welt und auf alles in ihr begegnende Seiende bzw. mit allem begegnenden Seienden, einen Einfluss auf das Sein des Daseins hat. Dies versteht das Dasein aber erst, wenn es bei Anderen diesen Einfluss wahrnimmt, in der Regel zuerst bei seiner Mutter in der gemeinsamen Interaktion, und dann begreift, dass es selbst von derselben Art ist, dass es also auch in seinem Sein davon beeinflusst ist, wie seine Weltlichkeit beschaffen ist. Damit wird folgendes klar: Mit seiner Weltlichkeit beeinflusst das Dasein seine Seinsweise, wie auch seine Seinsweise seine Weltlichkeit beeinflusst. Sein und Dasein stehen über die Weltlichkeit des Daseins in einer wechselseitigen Beziehung und in einem Austausch. Dies wird eigentlich erst so richtig deutlich, wenn man den Bereich des Sozialen im In-der-Welt-sein betrachtet, und auch nur hier kann das Dasein selbst diesen Umstand begreifen, zuerst nämlich in der Mutter-Kind-Beziehung. Heidegger hat diesen Punkt auch nicht klar herausgestellt, er wäre aber womöglich darauf gekommen, wenn er nicht nur das Verstehen des Seinkönnens, sondern auch das des Bedingt-Seins betrachtet hätte. Im Sozialen wird das Ganze nun dadurch immer komplexer, dass das Dasein vom Anderen versteht und entsprechend entwirft, dass dieser sich einen Entwurf über das eigene Entwerfen macht, und das kann wie eine unendliche Schleife so weitergehen nach dem Motto „Ich denke, du denkst, ich denke usw.“. Das ist einer der Gründe, warum soziale Beziehungen so schwierig sind, da ineinander geschachtelte Entwürfe am Ende kaum noch überprüfbar sind. Ich erinnere nur an die Geschichte mit dem Hammer: Ein Mann geht hinüber zu seinem Nachbarn, um sich von ihm einen Hammer auszuleihen. Unterwegs kommt ihm der Gedanke, wenn der Nachbar ihm nun den Hammer nicht geben würde. Er wird immer wütender, er habe seinem Nachbarn doch letzte Woche den Rasenmäher geliehen, es wäre ja eine bodenlose Unverschämtheit, wenn dieser ihm nun keinen Hammer leihen würden. Inzwischen öffnet gerade der Nachbar die Tür, und der Mann sagt zu ihm: „Deinen Hammer kannst du dir sonst wohin stecken!“ und geht wütend nach Hause.

Die momentane Befindlichkeit ist durch die früheren Möglichkeiten mitbedingt. Die wahre Ursache versteht das Dasein nur, wenn es alle Bedingungen der momentanen Befindlichkeit versteht, das heißt letztlich die Bedingungen des Seins im Da, also das ganze Woher seines Seins, eine utopische Vorstellung. Bedingtheit ist keine modale Kategorie der Vorhandenheit, dass mit dem Dasein das oder jenes passiert ist, sondern es ist die ursprünglich erste positive ontologische Bestimmtheit des Daseins. Verstehen als Erschließen des Bedingt-seins bietet den phänomenalen Boden, die Bedingtheit und die Geworfenheit als Existenzial überhaupt zu sehen. Mit Bedingtheit ist auch nicht „Vorbestimmtheit“ gemeint. Das Dasein ist jeweils schon in bestimmte Bedingtheiten hineingeraten, es ist ihm selbst überantwortetes Bedingt-Sein, es ist durch und durch entwerfende Bedingtheit. Die Bedingtheit des Daseins ist die Grundlage des Freiseins für das eigenste Seinkönnen. Diese Grundlage als Grundlage ist dem Dasein selbst in verschiedenen möglichen Weisen und Graden entdeckt oder verdeckt. Als existenziales Verstehen seiner Bedingtheit „weiß“ das Dasein ebenfalls, woran es mit ihm selbst ist, es „weiß“ um seine Ausgangslage zum Seinkönnen. Im Verständnis der Geworfenheit und der Bedingtheit erschließen sich dem Dasein auch seine Möglichkeiten nach dem Motto, wo viel Schatten ist, ist starkes Licht (Umkehrung des Goethe-Zitats aus Götz von Berlichingen: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“). Im Verständnis von Geworfenheit und Bedingtheit nimmt sich das Dasein selbst in seiner Bedingtheit an und akzeptiert sie als Grundlage, um dann die Möglichkeiten seines weiteren Seinkönnens auszuschöpfen. Das Verstehen erschließt das Dasein als bedingtes Seinkönnen. Mit dem befindlichen Verstehen seiner Bedingtheit kann das Dasein in bestimmten Grenzen gewisse Bedingungen vermeiden oder herbeiführen, um bestimmte Seinsweisen möglicherweise zu erreichen oder zu vermeiden (indirekte Steuerung im Unterschied zum direkten Planen und Ausführen). Mit dem befindlichen Verstehen seiner Bedingtheit vermag das Dasein seine momentane Seinsweise und letztlich auch seine Geworfenheit in ihrem Sinn zu verstehen und zu akzeptieren, um damit seine Seinsweise bzw. seine Befindlichkeit entsprechend zu verändern oder gelassen damit umzugehen. Verstehen, akzeptieren und verändern oder lassen bauen so aufeinander auf. Damit ermöglicht das befindliche Verstehen dem Dasein den Umgang (die Praxis) mit der Enttäuschung seiner Erwartung und der entsprechenden Veränderung seiner Ergriffenheit. Das Dasein kann entweder im Verstehen sein In-der-Welt-sein mit seiner Geworfenheit und Bedingtheit akzeptieren und die Möglichkeiten seines In-der-Welt-seins entwerfen oder aber sich abkehren von seinem Seinkönnen und es vergessen, so dass eine Inkongruenz (siehe Ende von Kapitel 3) zwischen Weltlichkeit und Erfahrung entsteht (es unterliegt dann der Täuschung, dass es seine Weltlichkeit nicht an neue Erfahrungen, an die Entdeckung einer neuen Bewandtnis von etwas Seiendem anzupassen braucht) und so das Dasein immer weniger selbstbestimmt, also immer uneigentlicher wird. Dass diese Art des Verstehens (des Bedingt-Seins) auf dasselbe hinausläuft wie die Befindlichkeit, werde ich in Kapitel 10 zeigen und erklären.

Das Verstehen des Bedingt-seins und des Seinkönnens entwirft das Sein des Daseins auf sein Worumwillen und als In-der-Welt-sein gleichursprünglich auf die Welt, so dass das Gesamt des Entworfenen, seine Weltlichkeit, gleichzeitig die Struktur der Bedeutsamkeit für sein Seinkönnen erhält. Diese Bedeutsamkeit kann jederzeit geändert werden, wenn das Dasein eine neue Bewandtnis von etwas Seiendem entdeckt, das ihm begegnet. „Nur das Prinzip der Arbeitsweise des Verstehens und der äußere Rahmen der Art und Weise des Verknüpftseins von Mensch und Welt sind bei allen Menschen als Grundbedingung allen menschlichen Existierens von vorneherein festgelegt. So stehen, um es einmal Kantisch auszudrücken, die Form und die Regeln des Menschseins als Apriori desselben von vorneherein fest, der Inhalt hängt jedoch von ‚empirischen‘ Ursachen ab.“ (Steffen, 2005, Seite 131). Die so bezeichnete Form und die entsprechenden Regeln des Menschseins gründen im Sein des Daseins, also in der Sorge bzw. in der Ergriffenheit und der Erwartung, die als Existenzialien ebenfalls apriorisch sind und von vorneherein feststehen. Nur das, wovon das Dasein ontisch jeweils „ergriffen“ ist und was es „erwartet“, hängt von faktischen bzw. tatsächlichen (bei Kant empirischen) Gegebenheiten ab. Das Verstehen des Bedingt-seins und des Seinkönnens bedeutet nicht, dass das Dasein „einem ausgedachten Plan“ (Seite 145 ebenda) gemäß handelt – das wäre ja eine Gleichgültigkeit der Willkür –, sondern das Dasein ist „in die Seinsart des Entwerfens [schon apriori] geworfen“ (Seite 145 ebenda) und bleibt dort so lange, wie es ist, es „[ist] seine Möglichkeiten als Möglichkeiten“ (Seite 145 ebenda), der „Entwurf ist die existenziale Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens“ (Seite 145 ebenda), und die Handlungsfreiheit des Daseins ergibt sich aus dem Freisein für seine Möglichkeiten als Möglichkeiten. Ein thematisches Erfassen würde die Möglichkeiten herabziehen „zu einem gegebenen […] Bestand“ (Seite 145 ebenda), also zu etwas Vorhandenem bzw. Zuhandenem. Das Freisein für seine Möglichkeiten als Möglichkeiten bedeutet letzten Endes, dass das Dasein frei ist für seine Selbstwahl. Die Präreflexivität des befindlichen Verstehens ist die Freiheit des Daseins, zu denken oder nicht zu denken. Diese Freiheit ist noch viel grundlegender als die eigentliche (durch Bedingtheiten zudem noch eingeschränkte) Handlungsfreiheit, die sich daraus erst ergibt.

Das Phänomen der Inkongruenz zwischen Weltlichkeit einerseits und der Erfahrung bzw. der tatsächlichen und faktischen Welt andererseits bedarf einer genaueren Betrachtung: Aufgrund der daraus folgenden Täuschungen, denen das Dasein dann unterliegt, wird es immer wieder enttäuscht, seine Erwartungen werden von der Welt nicht erfüllt, sodass es sich früher oder später von dieser Welt abkehren und seiner eigenen Weltlichkeit zuwenden wird, die sich immer mehr in eine fantastische Welt (siehe oben) verwandeln wird. Das Verstehen des Daseins wird dann zwar wieder eigentlicher, aber immer unechter. Das Dasein isoliert sich und schottet sich von der Welt ab, wird also schizoid, oder es kämpft gegen die Welt, das heißt, es wird narzisstisch. Früher oder später bricht diese Seinsweise dann zusammen, spätestens im Alter, wenn das Dasein immer mehr auf Andere angewiesen ist, und das Dasein wird wieder uneigentlicher. Wenn das Dasein sich aber trotz allem nicht von der Welt abkehrt, dann fühlt es sich bald immer mehr als Spielball, also nicht mehr selbstbestimmt, das heißt, es liefert sich an die Welt aus und wird immer uneigentlicher. Es präsentiert sich seiner Umwelt unter Umständen noch als stark und hilfsbereit mit großen Verzichtsleistungen, bricht dann aber früher oder später zusammen, wobei es dann auch noch unechter wird. Bei Inkongruenz gibt es für das Dasein also nur die beiden Alternativen, entweder immer unechter oder immer uneigentlicher in seinem Verstehen zu werden, früher oder später dann beides. Den einzigen Ausweg aus diesem Dilemma, den das Dasein wählen kann, ist, sein In-der-Welt-sein mit seiner Geworfenheit und Bedingtheit zu verstehen und sich neu zu entwerfen auf andere Möglichkeiten seines Seinkönnens, sodass es in seinem Verstehen immer eigentlicher und echter wird.

Was mir bei Heidegger auffällt, ist, dass er den Begriff der Echtheit zwar erwähnt und aufzeigt, dass er in der Eigentlichkeit nicht enthalten ist, aber damit lässt er es bewenden. Mit der Eigentlichkeit betont er die Bedeutung des Selbstverständnisses und der Eigen-Ständigkeit, dass das Dasein sich aus sich selbst heraus verstehen kann, lässt aber dabei die Bedeutung von Schein und Täuschung, also Fragen der Echtheit weitgehend unberücksichtigt. Bei der Verfallenheit und der Herrschaft des Man geht es vor allem um die damit zusammenhängende Uneigentlichkeit und nicht um das Festhalten an Täuschungen. Von daher ist es kein Wunder, dass er sich vom scheinbaren Fortschritt des Nationalsozialismus täuschen ließ, er bewunderte das große Maß an Eigentlichkeit von Hitler und sah nicht auf den Schein von dessen unechter und narzisstischer Wahnwelt. Bei Fragen der Echtheit müsste Heidegger aus dem ihm häufig vorgeworfenen Solipsismus heraus und sich mehr mit der Welt und hier vor allem mehr mit den Anderen (daseinsmäßigen Seienden) auseinandersetzen und verständigen, denn die meiste Täuschung geht von diesen Anderen aus, und das Dasein kann die Täuschung nicht durch Abkehr von, sondern nur durch Auseinandersetzung mit und Verständnis von Anderen umsichtig begreifen und so die nötige Vor-Sicht entwickeln. Wenn ich das Dasein mit einem Baum vergleiche, dann ist die Eigentlichkeit seine Krone und die Echtheit seine Wurzeln. Indem Heidegger nur auf die Krone schaute, erging es ihm wie dem griechischen Philosophen Thales, von dem erzählt wird, er sei von einer Marktfrau ausgelacht worden, weil er nach oben auf die Bäume um den Markt herum schauend über eine Wurzel gestolpert und in einen Brunnen gefallen sei. Auf Hitler und den Nationalsozialismus hereinzufallen, ist leider weniger lustig gewesen und hatte für Heidegger wesentlich schlimmere Konsequenzen als der Fall von Thales.

Da Heidegger allerdings nur von der Arbeitswelt ausgeht, in der eine aktive Täuschung praktisch keine Rolle spielt, kann die Vernachlässigung der Echtheit „zunächst und zumeist“ hingenommen werden. Die Echtheit des Verstehens ist aber im Sozialen, die Politik eingeschlossen, ein ernstzunehmendes Problem. Die anzustrebende Harmonie innerhalb einer Gemeinschaft kann nur durch möglichst echtes Verstehen, das sich dann in der Verständigung ausdrückt, hergestellt werden. Unechtes Verstehen bzw. Verständnislosigkeit zum Beispiel in der Erziehung kann bei Kindern erhebliche psychische Störungen auslösen. Bei Balint (Die Urformen der Liebe) heißt es zum Beispiel auf Seite 199: „Der Mensch wird krank, weil die Umgebung ihn von seiner Kindheit an mehr oder minder verständnislos behandelt hat. Ihm wurden Befriedigungen versagt, welche ihm notwendig waren, hingegen solche aufgedrungen, welche ihm überflüssig, nebensächlich, sogar schädlich waren.“ Für das Dasein ist die Bedeutsamkeit, also die Struktur seiner Weltlichkeit, dann widersprüchlich, das heißt, das Dasein als Kind kann kein echtes Verständnis seiner Eltern entwerfen. Täuschungen und Enttäuschungen sind somit vorprogrammiert, das Dasein kann seine Erfahrungen nicht mehr in der Struktur seiner Weltlichkeit integrieren, und es entsteht Inkongruenz zwischen seiner Weltlichkeit und der Welt. Balint drückt dies auf Seite 199 so aus: „... [seine Seele] hatte verschiedene Strukturen zu bilden, vor allem jene, welche wir das Über-Ich nennen, um ihn vor Konflikten mit seiner Realität automatisch zu schützen.“ Diese Inkongruenz ist für das Dasein in der Regel unüberwindbar, so dass die weiter oben beschriebenen negativen Folgen für das Dasein eintreten. Das hier betrachtete Verständnis und Verstehen bezieht sich vor allem auf die zweite Art des Verstehens, denn wenn es darum geht, die Bedürfnisse eines Anderen (daseinsmäßigen Seienden) herauszufinden, ist es wichtig, zu verstehen, was den Anderen in seine Situation gebracht hat, also sein Bedingt-Sein. Nur dadurch kann das Verstehen ausreichend echt sein. Die von mir herausgestellte zweite Art des Verstehens hat also viel mit dem Begriff der Echtheit des Verstehens zu tun. Wenn das Dasein, dem es ja um das Sein überhaupt geht, sonst könnte es die Frage nach dem Sein gar nicht stellen, immer eigentlicher, also unmittelbarer, und immer echter versteht, dann liebt es auch immer mehr. (Wie und weshalb Liebe entsprechend charakterisiert ist, wird weiter unten erläutert.)

Wie kommt es, dass Heidegger diese zweite Art des Verstehens, das Verstehen des Bedingt-Seins, nicht berücksichtigt? Wenn wir an dieser Stelle noch einmal uns vor Augen halten, dass es innerhalb einer Gemeinschaft zwei Arten von Aufgaben gibt, nämlich einerseits die Gemeinschaft vor äußeren Gefahren zu schützen und Ressourcen von außen für die Gemeinschaft herbeizuschaffen und andererseits innerhalb der Gemeinschaft für ein harmonisches Miteinander zu sorgen, so dass sich nach Möglichkeit jedes Mitglied der Gemeinschaft wohl fühlt, so ist das Verstehen als „etwas können“ für die erste Art von Aufgaben am wichtigsten, während das Verstehen des Bedingt-Seins die bessere Grundlage für ein harmonisches Miteinander ist. Die Aufgaben der ersten Art verlangen zielgerichtete Problemlösestrategien, man muss etwas können, für die Aufgaben der zweiten Art ist es wichtiger, Gefahren rechtzeitig zu erkennen, die die innere Harmonie einer Gemeinschaft stören können, und zu wissen, welche Bedingungen die innere Harmonie wiederherstellen können, es ist also wichtiger die Bedingungen für die innere Harmonie zu verstehen. Da Heidegger in seiner Analyse nur den handwerklichen Bereich betrachtet, ist klar, dass er die zweite Art des Verstehens hierbei nicht braucht. Allerdings ist es in der frühen Mutter-Kind-Beziehung bei der Affektspiegelung (siehe oben und bei Fonagy et al., 2008, Seite 170 ff.) wichtig, dass die Mutter die Stimmungen ihres Kindes möglichst echt spiegelt. Das setzt voraus, dass sie sich in ihr Kind empathisch (siehe unten) hineinversetzen und die Bedingtheit seiner Befindlichkeit möglichst echt verstehen kann, sonst entsteht beim Kind Inkongruenz zwischen seinem befindlichen Verständnis und seinen Erfahrungen in der Welt.

Was ist denn nun eine Enttäuschung? Bleiben wir erst einmal auf der ontischen Ebene: Das Dasein erwartet etwas in seiner „Ergriffenheit“ von etwas, täuscht sich aber darin, dass es das „Erwartete“ erlangen wird. In dem Augenblick, in dem sich herausstellt, dass das Dasein sich getäuscht hat, ist die Täuschung aufgehoben, das Dasein ist ent-täuscht. Die Gestimmtheit seiner „Ergriffenheit“ ändert sich wie folgt: einerseits entsteht der Modus des Zorns, da es etwas Abträglichem, nämlich der Täuschung ausgesetzt war, und andererseits der Modus von Trauer, da es ja von dem „Erwarteten“ und Begehrten getrennt ist. Wenn die Situation entsprechend angespannt ist, so kann die Befindlichkeit auch den Modus der Furcht annehmen, das Dasein fühlt sich zunehmend verunsichert, da die angespannte Situation u.U. immer bedrohlicher wird. Außerdem findet das Dasein es abscheulich mit der Zeit, wenn dies immer öfter passiert, und es wird versuchen, derartige Situationen zu vermeiden. Mit der Enttäuschung kann das Dasein aber auch etwas anderes entdecken, worüber es sich freut. Wenn zum Beispiel ein Handwerker bei einer filigranen Arbeit feststellt, dass der Hammer, den er gerade benutzen will, zu schwer ist, ist er einerseits zornig, dass er nicht schon früher gemerkt hat, dass der Hammer zu schwer ist, und findet es schade, dass er nicht den leichteren Hammer zur Hand hat. Wenn er dazu noch unter Zeitdruck steht, bekommt er Furcht, seine Arbeit nicht zu schaffen. Wenn dies dann noch öfter passiert, findet er es abscheulich, immer wieder in solche Situationen zu geraten, und er wird sich z.B. eine neue Arbeitsstelle suchen, wenn sein Chef ihm keinen entsprechenden Hammer zur Verfügung stellt. Über die Entdeckung seiner Freiheit, seinem Chef, den er vielleicht sowieso nicht leiden kann, den Rücken zukehren zu können, kann er sich dann freuen. Im befindlichen Verstehen erkennt das Dasein die Bedingung der Täuschung, also des Abträglichen und der Getrenntheit, und entwirft je nach dem neue Möglichkeiten, um seine Erwartung zu erfüllen oder etwas anderes zu entdecken, von dem es sich ergriffen fühlen kann. Wie geht das Dasein aber damit um, wenn es keine entsprechenden Möglichkeiten findet oder aufgrund der Größe der Enttäuschung blockiert ist, nach anderen Möglichkeiten zu suchen? Auf diese Frage werden wir weiter unten eingehen, wenn es um die Themen Eigentlichkeit, Uneigentlichkeit und Verfallenheit geht.

Während bei Heideggers Analyse der Befindlichkeit der Aspekt der Geworfenheit, der Ohnmacht, der Passivität und des Lastcharakters in den Blickpunkt geriet (die Herausforderungen hat er nicht gesehen), lenkt er die Aufmerksamkeit bei der Analyse des befindlichen Verstehens auf die Aspekte des Entwurfscharakters, der Macht, der Aktivität und der Befreiung von der Last des Daseins. Die Verschränkung dieser Gegensätze in der Gleichursprünglichkeit von Befindlichkeit und Verstehen muss man auf der ontologischen Ebene ansiedeln: der Entwurf bzw. das Entwerfen des Daseins meint Existenziale, also ontologische Begriffe, das heißt das Dasein verrichtet ontisch gesehen einen vorgegebenen Vollzug, wohingegen es ontologisch betrachtet in seiner Seinsweise trotzdem selbstbestimmt sein kann. In der östlichen Philosophie wird dies an dem Beispiel des erleuchteten Menschen illustriert: „Was tut der Bauer vor der Erleuchtung? Er steht frühmorgens auf, frühstückt, fährt aufs Feld und arbeitet, kommt abends zurück, isst sein Abendessen, hat Sex mit seiner Frau und geht dann schlafen. Was tut der Bauer nach der Erleuchtung? Er steht frühmorgens auf, frühstückt, fährt aufs Feld und arbeitet, kommt abends zurück, isst sein Abendessen, hat Sex mit seiner Frau und geht dann schlafen.“ Die Konstitution als vorgegebenen Vollzug bezeichnet Heidegger als Geschick.

Konsequenterweise müsste Heidegger eigentlich bei der Selbstbestimmtheit der Seinsweise des Seins auch nach dem Wie des Seins des Daseins und nicht nur nach dem Wozu oder Woraufhin fragen. Seine Überbetonung der Zukunft gibt dem Geschick scheinbar zu viel Macht, sodass das Dasein im Wozu oder Woraufhin wegen seines Geschicks seine Selbstbestimmtheit verlieren kann. Würde Heidegger nach dem Wie fragen, käme er weg von der Zukunft in das Da der Räumlichkeit und damit weg von der (Zukunfts-)Angst zum Ausdruck der Befindlichkeit, die letztlich von der Geworfenheit kommt, ein Getrennt-Sein von dem unerschließbaren Ursprung, aus dem das Dasein geworfen wurde, und daher die ursprünglichste Form des Leids. Damit soll jedoch nicht ausgedrückt werden, dass in der Geworfenheit nur Leid ist. Aufgrund des dabei Getrennt-Werdens ist aber auch Leid vorhanden. Wie heißt es doch bei Meister Eckhart: „Leid ist das schnellste Pferd zur Vollkommenheit.“ Ein islamischer Mystiker, Moulana Galal ad-Din Rumi, schrieb in seinem Hauptwerk, dem Matnawi, im III. Buch, Vers 3212, Seite 198: „Suche nicht nach Wasser, sondern werde durstig, damit das Wasser von unten und oben hervorsprudeln kann.“ Das heißt, suche nicht in der Zukunft deine Angst zu beruhigen, sondern spüre im ursprünglichsten Leid, wovon du getrennt bist. (Alternative Interpretationen in Kapitel 9 für Meister Eckhart und in Kapitel 10 für Rumi.) Andererseits, wie Heidegger später im Paragraphen 65 ausführt, gibt er nur der eigentlichen Zukunft den Vorrang, da erst das Verstehen der eigentlichen Zielrichtungen des Daseins dem Da und dem Sein des Daseins einen Sinn gibt, das heißt dieses ursprünglichste Leid verständlich macht. So betrachtet gibt die eigentliche Zukunft das eigentliche Verständnis der Gewesenheit (des ursprünglichsten Leids) der Gegenwart (des Getrennt-Seins) und der Räumlichkeit (im Da). Wenn das Leid der Geworfenheit nicht verstanden wird, wenn der Durst nicht als Durst erkannt wird, dann gibt es auch kein Pferd, dann weiß das Dasein auch nicht, wonach es suchen soll. Die eigentliche Zukunft weckt auf diese Weise erst die eigentliche Existenz. Die uneigentliche Zukunft, das sinnlose Suchen nach Wasser belässt das Dasein im Zustand der Täuschung. Die eigentliche Zukunft zeigt dem Dasein sein Hier und Jetzt im Zusammenhang mit seiner ganzen und eigentlichen Existenz. Die eigentliche Zukunft nimmt dem Geschick die Macht über das Dasein, weil das Dasein durch sie versteht, worum es wirklich geht, weil es den wahren Sinn seines Daseins und In-der-Welt-seins erkennt. Die Diskussion um den Vorrang der eigentlichen Zukunft ist hiermit allerdings noch nicht abgeschlossen. Ich werde sie in Kapitel 9 fortsetzen.

Als überantwortetes Möglichsein, wie Heidegger schreibt, kommt auch die Verantwortung mit ins Spiel. Für die eigentliche Geworfenheit, die sich übrigens ständig aktualisieren kann, da das Dasein immer wieder in Situationen geworfen werden kann, die für es überraschend sind und seiner Geworfenheit eine neue Bedeutung geben können, ist das Dasein einerseits nicht verantwortlich, andererseits aber ist es ihm überantwortet, die Verantwortung ist ihm übertragen worden und es ist verantwortlich für jede Wahl, die es von da an trifft, auch für die Wahl, ob es die Überantwortung annimmt oder nicht. Hierin zeigt sich wieder die Beziehung des Daseins zu seinem Sein, also sein Leben. Das befindliche Verstehen seiner Bedingtheit erschließt dem Dasein seine Verantwortung, es befähigt das Dasein, seine „Vergehen“ der Vergangenheit zu erkennen, die Wahlentscheidungen, in denen sich das Dasein „vergangen“ hat, in denen es in die Irre „gegangen“ ist. (Hat Heidegger diesen Aspekt bewusst „umgangen“, als er statt „Vergangenheit“ den Begriff „Gewesenheit“ wählte? Vergangenheit ist eine Mischung aus Gewesenheit und Räumlichkeit, und die Räumlichkeit hat Heidegger übergangen in der meines Erachtens irrigen Annahme, dass sie in der Zeitlichkeit enthalten sei.) Mit dem Verstehen des Bedingt-seins versteht das Dasein auch seine eigene Wirksamkeit und seine Verantwortung dafür und für den Umgang mit seiner Ergriffenheit, sowie welchen „Erwartungen“ es nachgeht als Seinkönnen und welchen nicht. Im echten und unmittelbaren Verstehen akzeptiert das Dasein seine Verantwortung.

Bei der Charakterisierung des sozialen Bereichs haben wir verschiedene Gemeinschaften unterschiedlicher Größe betrachtet. Wenn das Dasein und ein anderes daseinsmäßiges Seiendes Mitglieder einer Gemeinschaft sind, dann haben sie eine Beziehung miteinander, die durch die beiden Seienden und die Gemeinschaft, deren Mitglieder sie sind, bestimmt ist. Wie hier unter Punkt 4.2 ausgedrückt geht es dem Dasein nicht nur um sein eigenes Sein, sondern auch um das Sein jeder Gemeinschaft, deren Mitglied es ist, und damit ebenfalls um das Sein ihrer Mitglieder.

Ein bestimmtes Seinkönnen des Daseins kann einmal gewählt sein, und ein andermal nicht. Wenn es gewählt ist, ist es in der Welt. Wenn nicht, wo ist es dann? Es ist dann auch in der Welt, aber nur als Wahlmöglichkeit. Als Wahlmöglichkeit ist es immer in der Welt, ob als gewählte oder nicht gewählte Möglichkeit. Es ist also ein wählbares Sein und ein wählbares In-der-Welt-sein. Es ist also immer ein Seiendes, ob es gewählt ist oder nicht. Wenn das Dasein dieses Seinkönnen gewählt hat, dann ist das Dasein in der Seinsweise dieses Seinkönnens, und dieses Seinkönnen ist als Seinsweise in der Welt. Diesem Seinkönnen geht es um sein eigenes Sein, dass und wie es in der Welt sein kann als Seinsweise bzw. ob es vom Dasein gewählt ist und bleibt oder nicht, da es ja für diese Zeitperiode als Seinsweise das Dasein ist, dem es um sein eigenes Sein und damit auch um seine jeweilige Seinsweise geht. Außerdem geht es diesem Seinkönnen um das Dasein insgesamt, von dem es ein Seinkönnen ist. Das Seinkönnen ist sozusagen ein gewählter Vertreter des Daseins für eine bestimmte Zeit. Dieses Zeitfenster ist nicht beliebig wählbar, sondern das Dasein kann nur in bestimmten Grenzen oder unter bestimmten Umständen seine Wahl ändern. Dies ist so ähnlich wie in einer demokratischen Gemeinschaft, in der es auch gewählte Vertreter gibt, die für eine bestimmte Zeitperiode die Gemeinschaft in einer bestimmten Hinsicht vertreten. Das Dasein ist „seine Möglichkeiten als Möglichkeiten“ (Seite 145 ebenda).

So betrachtet können wir die Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins von seiner Struktur her wie eine Gemeinschaft auffassen, deren „Mitglieder“ die existenzialen Wahlmöglichkeiten des Seinkönnens des Daseins sind, von denen das Dasein immer ein „Mitglied“ als Vertreter seiner selbst gewählt hat. Diese „Gemeinschaft“ ist der Selbstentwurf des Daseins, er verhält sich zum Dasein wie die Weltlichkeit zur Welt. Seine Struktur ist die Selbstbedeutsamkeit, so wie die Bedeutsamkeit die Struktur der Weltlichkeit ist. Wie in einer Gemeinschaft geht es diesen „Mitgliedern“ des Selbstentwurfs jeweils um sie selbst und um das Dasein und damit auch um den Selbstentwurf des Daseins und um die einzelnen Entwürfe, also auch um die anderen „Mitglieder“ des Selbstentwurfs, da dieser für das Dasein wichtig ist, um in der jeweiligen Situation optimal handeln zu können. Die Wahl seines Vertreters ist gleichursprünglich von der Befindlichkeit und vom befindlichen Verstehen des Daseins bestimmt. Je nach Befindlichkeit und befindlichem Verstehen in einer Situation hat ein bestimmtes Seinkönnen den Vorrang vor allen anderen Wahlmöglichkeiten des Seinkönnens. Es besteht also eine wechselnde Hierarchie und Konkurrenz zwischen diesen „Mitgliedern“ des Daseins, was die wechselnde Hierarchie und Konkurrenz zwischen den verschiedenen Modi der Befindlichkeit bzw. des befindlichen Verstehens wiederspiegelt. Es handelt sich also nicht um irgendwelche inneren Wirklichkeiten oder Entitäten des Daseins, das wäre höchstens ein Entwurf des befindlichen Verstehens vom Dasein, sondern es ist die Struktur der verschiedenen Modi der Befindlichkeit oder auch die Struktur der verschiedenen Modi des befindlichen Verstehens. Hierin liegt die fundamentale Bedeutung der Befindlichkeit und ihrer verschiedenen Modi, die sich wie die Mitglieder einer Gemeinschaft verhalten. Je nach dem Modus von Ergriffenheit und Erwartung, also je nach dem Modus der Sorge wählt das Dasein ein bestimmtes Seinkönnen, also ein „Mitglied“ dieser Struktur seiner Seinsmöglichkeiten. Wenn es in dieser Struktur Konflikte gibt, die je nach Situation „heiß“ werden können, so fällt dem Dasein je nach Situation eine entsprechende Wahl umso schwerer, je größer diese Konflikte in dieser Situation sind. Es liegt also im Interesse des Daseins, eine größtmögliche Harmonie innerhalb seiner Selbstbedeutsamkeit, also der Struktur seiner Seinsmöglichkeiten, auch unabhängig von der jeweiligen Situation herzustellen und zu erhalten. Daneben ist es natürlich für das Dasein genauso wichtig, sich vor Gefahren aus der Welt zu schützen und Ressourcen sich von dort her zu besorgen. Da das Dasein sich mit seinem Selbstentwurf identifiziert, „ist“ es in diesem Sinne sein Selbstentwurf („seine Möglichkeiten als Möglichkeiten“, Seite 145 ebenda), und das Dasein hat sich selbst seine Selbstbedeutsamkeit als Struktur gegeben. Auch hier besteht also eine Analogie zwischen Dasein und Gemeinschaft, denn auch eine Gemeinschaft hat wie oben aufgezeigt diese beiden Arten von Aufgaben zu bewältigen: einerseits sich zu schützen und Ressourcen für die Gemeinschaft herbeizuholen, und andererseits im Inneren der Gemeinschaft für Harmonie und größtmögliches Wohlbefinden zu sorgen. Weiter unten soll dieses Thema vertieft werden, dass Gemeinschaft eine dem Dasein analoge Struktur und Eigenart hat. Diese Struktur einer Gemeinschaft ist das Gesamtverhältnis seiner Mitglieder untereinander, und die entsprechende Struktur des Daseins ist seine Selbstbedeutsamkeit, also das Gesamtverhältnis seiner Modi des befindlichen Verstehens. Je nach Situation kann sich die jeweilige Struktur ändern. Je starrer die Struktur, das heißt je weniger die Struktur von der jeweiligen Situation beeinflussbar ist, desto uneigentlicher ist das Verständnis des Daseins, und je flexibler die Struktur sich an die jeweilige Situation anpasst, desto eigentlicher ist dieses Verständnis. Selbstentwurf und Selbstbedeutsamkeit sind ontologisch-existenziale Begriffe, während der faktische Selbstentwurf und die faktische Selbstbedeutsamkeit des Daseins sich durch praktische Erfahrungen ändern können. Das Wer des Daseins ist also die „Gemeinschaft“ des Selbstentwurfs, „Ich“ sagt diejenige Seinsweise, mit der sich das Dasein identifiziert, und das muss nicht das jeweils gewählte Seinkönnen als Seinsweise in der Welt sein, das damit die jeweilige Seinsweise bezeichnet, in der es ist, war oder sein wird. Wer aber ist nun derjenige in der „Gemeinschaft“, der das jeweilige Seinkönnen als Seinsweise wählt? Das kann wie in Gemeinschaften ganz verschieden sein, je nach Verfassung, also diktatorisch oder demokratisch usw., es kann Parteien geben: mütterliche, väterliche, kindliche Seinsweisen, angepasste, rebellische und eigentliche Seinsweisen.

Damit das Dasein ein kohärentes befindliches Verstehen, das heißt ein Gesamtverständnis, eine Selbstbedeutsamkeit von ihm selbst bekommen kann, ist es notwendig, dass innerhalb der Struktur der verschiedenen Modi der Befindlichkeit und des befindlichen Verstehens – eine mit der Struktur der Seinsmöglichkeiten des Daseins (als In-der-Welt-Sein) parallelen und gleichursprünglichen Struktur (das ist ebenfalls die Struktur der Bedeutsamkeit als Selbstbedeutsamkeit) – ein gewisser Einklang, eine gewisse Harmonie besteht. Diese Harmonie im Selbstentwurf des Daseins hat ihre ermöglichende Grundlage darin, dass es allen Seinsmöglichkeiten des Daseins um das Sein des Daseins selbst geht. Dazu ist die Rede als vorgreifende Bestimmung von Befindlichkeit und Verstehen, wie Heidegger sie definiert, wichtig und notwendig, denn durch die Rede können die verschiedenen Modi der Befindlichkeit und des befindlichen Verstehens aufeinander vorgreifend abgestimmt werden. Dies unterstreicht noch einmal die Bedeutung der Rede, die Befindlichkeit und Verstehen vorgreifend bestimmt und deren verschiedene Modi im vorläufigen Begreifen gliedert. Entsprechend wichtig ist innerhalb einer Gemeinschaft die Verständigung bzw. die so verstandene Unterredung. Wie schon aufgezeigt, ist die Rede das Spielen im Als-ob-Modus, so dass sich die Selbstbedeutsamkeit und deren Harmonie erstmals im gemeinsamen Spiel mit dem Als-ob entwickelt, also in der gemeinsamen Rede zwischen Mutter und Kind. Das Dasein spielt in der Rede mit den möglichen Zusammenhängen zwischen Bedingtheiten und Möglichkeiten, also mit der entwerfenden Bedingtheit und dem bedingtem Entwerfen.

Den Zirkel des Verstehens, der dem hermeneutischen Zirkel entspricht, kann man nun so beschreiben: die Befindlichkeit entspricht der Vor-Habe, das Verstehen der Vor-Sicht und die Rede dem Vor-Griff, der vorgreifenden Bestimmung und Abstimmung aufeinander, also der gemeinsamen Gliederung von Vor-Habe und Vor-Sicht bzw. der Gliederung der Vor-Habe unter Berücksichtigung der Vor-Sicht und der Gliederung der Vor-Sicht unter Berücksichtigung der Vor-Habe. Durch die Auslegung (ausdrückliche Ausbildung des Verstehens, ausdrückliche Aneignung des Verstandenen, siehe weiter unten) des in der Rede vorgreifend Gegliederten ändern sich je nach dem die Befindlichkeit und damit auch das Verstehen und die Rede. Die Auslegung bestimmt den Ausdruck und damit die Seinsweise, die das Dasein in der Situation vertritt. Durch die weitere Auslegung des in der geänderten Rede vorgreifend Gegliederten ändern sich die Befindlichkeit und damit das Verstehen und die Rede erneut, und die Spirale des Verstehens kann so immer weiter voranschreiten, bis die Änderungen dem Dasein zu unbedeutend erscheinen (dann konvergiert die Spirale bzw. der Prozess des Verstehens). Letzteres ist zwar ein logisch sinnvolles Abbruchkriterium eines vernünftigen Algorithmus, dies wird aber vom Dasein oft nicht eingehalten, zum Beispiel beim Grübeln, wenn das Dasein kein Ende findet im Zirkel des Verstehens, obwohl es keine Änderungen mehr in Rede, Befindlichkeit und Verstehen gibt oder nur ein Hin und Her. Auch wenn das Erregungsniveau der Befindlichkeit zu stark ist oder im Verlauf der Spirale zu stark wird, wird die Sicht verstellt, so dass die Spirale des Verstehens zusammenbricht oder chaotisch wird. Der Prozess des Verstehens divergiert in beiden Fällen und die zugehörige Erfahrung wird nicht richtig integriert in das Bedeutungsganze, wie dies sonst geschieht. Bei zu starker Erregung wird sie sogar dissoziiert, also isoliert. Die entsprechende Seinsmöglichkeit hat dann keine Verbindung zu den anderen „Mitgliedern“ des Selbstentwurfs, kann aber für das Dasein überraschend wie bei einem Militärputsch die Herrschaft über das Dasein übernehmen, so wie dies zum Beispiel bei einem Flashback der Fall ist. Dieser Prozess der Dissoziation findet zum Beispiel bei traumatischen Erlebnissen statt.

Heidegger fragt an verschiedenen Stellen, wieso das Dasein bestimmte Gegebenheiten immer wieder verschleiert oder übersieht. Warum wird das abstrakte Denken über die Befindlichkeit gestellt? Warum wird davon ausgegangen, dass etwas zuerst abstrakt vorhanden ist? Warum übersieht man die Gleichursprünglichkeit von Dasein und In-der-Welt-sein? Meine Antwort darauf ist, dass das Dasein sich in seiner Geworfenheit seiner Befindlichkeit ausgeliefert fühlt und daher versucht, diese zu beherrschen. Aufgrund des mit der Geworfenheit verbundenen Leids bedeutet dies die Abkehr vom eigenen Leid, also ein grundlegendes Sich-Abkehren des Daseins von ihm selbst, aber auch vom Leid Anderer (meistens um nicht an das eigene Leid erinnert zu werden) von dem bereits Kafka sagte: „Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht deiner Natur, aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest.“ (Kafka, Die Zürauer Aphorismen, 2006, Aphorismus 103) Das Dasein akzeptiert zunächst und immer wieder weder seine Geworfenheit noch seine Befindlichkeit. Seit Descartes versuchte man in der abendländischen Philosophie dieses Problem dadurch zu lösen, dass man die Befindlichkeit überging und das abstrakte Denken an die erste Stelle setzte. Genau das ist aber schon der Sündenfall bei Adam und Eva gewesen, vom Baum der Erkenntnis zu essen und somit das abstrakte Erkennen über die Befindlichkeit zu setzen. Auf einmal war die Befindlichkeit böse, schlecht und schwach, und das abstrakte Denken wurde als gut und stark hingestellt. Erkennen ist ein Modus des Verstehens, aber im Gegensatz zum Erkennen gehört Verstehen mit Befindlichkeit zusammen, und wenn das Dasein diese beiden trennt, verliert es sich. Das Dasein kann die Befindlichkeit nur dadurch beherrschen, dass es sie befindlich (vom jeweiligen Befinden her findend) versteht, das heißt ihr Woher versteht, akzeptiert und entsprechend den Möglichkeiten seines In-der-Welt-seins sein Seinkönnen entwirft. Beim befindlichen Verstehen des Daseins gehören das Verstehen und Akzeptieren seiner Bedingtheit und das Entwerfen unabdingbar zusammen, das eine ist ohne das andere nicht möglich. Das Bild des Baumes, der mit der Wurzel als seiner Bedingtheit Ressourcen aus der Erde holt und der in seiner Krone als seiner sich entwerfenden Öffnung nach oben das Licht und dessen motivierende Kraft durch die Befindlichkeit der Freude vom Himmel holt, scheint mir eine passende Veranschaulichung der Zusammengehörigkeit der beiden Arten des Verstehens zu sein. Durch eine Trennung der beiden Arten macht sich das Dasein zu einer Sache, zu etwas Vorhandenem, und schneidet sich so von seiner Freude am Sein ab, was nach Nietzsche die Erbsünde ist (Also sprach Zarathustra, Zweiter Teil: Von den Mitleidigen).

Verstehen hat die existenziale Struktur des Entwerfens, aber auch des Verstehens und des Akzeptierens der Bedingtheit (nicht bei Heidegger), es akzeptiert und entwirft das Sein des Daseins auf sein Worumwillen und seine Selbstbedeutsamkeit genauso ursprünglich wie die Welt auf ihre Bedeutsamkeit für das Dasein. So wird auch die Welt nur entdeckbar aufgrund der Erschlossenheit ihrer Möglichkeiten, genauer Wahlmöglichkeiten, die es dem Dasein in begrenztem Rahmen bietet. Das Verstehen kann sich zum Beispiel primär verlegen auf die Erschlossenheit der Welt, das heißt das Dasein versteht sich dann zunächst und zumeist aus seiner Welt, oder aber es verlegt sich primär auf die Erschlossenheit des Worumwillens bzw. der Selbstbedeutsamkeit des Daseins. Das Verstehen kann also eigentlich sein, das heißt aus dem eigenen Selbst als solchem, oder uneigentlich, das heißt aus der begegnenden Welt entspringen. Beides kann echt oder unecht sein, also geeignet, das Erschlossene zu entdecken, oder nicht. Das Verstehen ist von Begrenzungen akzeptierender Wahl-Möglichkeit durchsetzt. Das Sichverlegen des Verstehens, eigentlich oder uneigentlich zu sein, ist eine existenziale Modifikation des Entwurfes als Ganzem. (Seite 146 ebenda, mit Ergänzungen von mir bezüglich des Verstehens und Akzeptierens der Bedingtheit) Befindlichkeit und befindliches Verstehen charakterisieren als Existenzialien die ursprüngliche Erschlossenheit des In-der-Welt-seins.

Anstelle von eigentlichem Verstehen finde ich den Begriff unmittelbares Verstehen verständlicher. Damit ist gemeint, dass das Verstehen des Daseins nicht vermittelt ist durch die begegnende Welt, sondern nur durch sein Sein und sein Da, das heißt durch seine Situation (dem erschlossenen Da). Beides zusammengenommen, das Sein und das Da, seine Selbstentwürfe (das Dasein ist seine Selbstentwürfe) und seine durch die Situation bestimmte Selbstbedeutsamkeit, ergibt die Erschlossenheit des Worumwillens des Daseins und damit auch die Bedeutsamkeit der Welt für das Dasein. Das eigentliche Verstehen des Daseins ist also das unmittelbare Verstehen seines Worumwillens.

Das echte und unmittelbare befindliche Verstehen des Daseins in seinem Worumwillen und, dass es dem Dasein um sein eigenes Sein geht, sehe ich als das Charakteristische der Selbstliebe. Das echte und unmittelbare befindliche Verstehen eines anderen daseinsmäßig Seienden in dessen Worumwillen und, wenn es dem Dasein um das Sein des Anderen geht, ist dann ein Lieben des Anderen. Unmittelbares Verstehen eines Anderen in dessen Worumwillen bedeutet hier ein Verstehen, das nicht vermittelt ist durch die übrige begegnende Welt, sondern nur durch das Dasein, das Sein des Anderen und die gemeinsame Situation, also das erschlossene Ich-Hier, das erschlossene Du-Da und das erschlossene Dazwischen, das heißt die erschlossene Ergriffenheit, die existenzial verstandene Nähe. Wenn das Dasein einen Anderen liebt, dann liebt es ihn so, wie es sich selbst lieben würde, Selbstliebe und Liebe eines Anderen sind von derselben Art und Weise. Es sind ausgezeichnete Befindlichkeiten und Verstehensweisen des Daseins. Das echte und unmittelbare befindliche Verstehen eines anderen daseinsmäßig Seienden in dessen Worumwillen ist erst möglich nach dem Verschieben des „räumlichen“ Mittelpunkts vom „Ich-Hier“ zum „Du-Da“, also wenn das „Ich“ sich in die Lage des „Du“ hinein versetzt hat. Dazu muss das Dasein aber zuerst seinen räumlichen Mittelpunkt im „Ich-Hier“ gefunden haben, also insbesondere die soziale Geburt vollzogen haben, und es muss natürlich das „Du-Da“ entdeckt haben, den räumlichen Mittelpunkt des Anderen und die Entfernung, die Ergriffenheit, das Dazwischen. Durch die Mittelpunktverschiebung ist dieses Verstehen ontologisch betrachtet wie das eigene Verstehen, weil das Dasein sich in den Anderen hineinversetzt und ihn so versteht, als wäre das Dasein der Andere (Identifizierung, was eine verstandene Ergriffenheit voraussetzt). Damit entspringt das Verstehen unmittelbar aus dem eigenen Selbst, das sich im Moment des Verstehens nur in den Anderen hineinversetzt hat. Das Verstehen ist aufgrund der echt und unmittelbar verstandenen Ergriffenheit selbstbestimmt. Den Modus des existenzialen Verstehens eines Anderen bezeichne ich als Empathie. Sie kann echt oder unecht, unmittelbar oder durch die begegnende Welt vermittelt sein. Echte und unmittelbare Empathie setzt echt und unmittelbar verstandene Ergriffenheit vom Anderen voraus. Wenn man Heideggers Ausspruch von 1946 im Brief über den Humanismus heranzieht, das Dasein zeichne sich durch die „Sorge für das Sein“ schlechthin aus, was insbesondere bedeutet, dass es dem Dasein um das Sein schlechthin geht, dann ist echte und unmittelbare Empathie (als Modus des existenzialen Verstehens) und Liebe ein und dasselbe. Dass es dem Dasein um das Sein schlechthin geht, lässt sich auch so herleiten: Da es dem Dasein auch um sein In-der-Welt-sein geht, geht es ihm somit um das Sein von allem Seienden, das ihm in der Welt begegnet, also um das Sein schlechthin. Mit dem Lieben eines Anderen hat sich die Ergriffenheit des Daseins vom Anderen in Liebe umgewandelt. Die Erwartung als Verstehen dieser Ergriffenheit als Teil der Liebe ist gleichzeitig auch das echte und unmittelbare Verstehen des Anderen, so dass das Dasein keine Erwartungen haben kann, die vom Anderen nicht erfüllt sind. Die Erwartung hat sich also in Erfüllung verwandelt. Da Erwartungen jeglicher Art immer auch Erwartungen an sich selbst sind, sind sie in der Selbstliebe alle erfüllt. Die in der Liebe enthaltene Erwartung ist Erfüllung.

Das biblische Gebot aus dem Neuen Testament „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ ist dann die Aufforderung, zu jedem Menschen, dem ich begegne, zu dem ich also eine Nähe (ontologisch Ergriffenheit) herstelle, den räumlichen Mittelpunkt vom „Ich-Hier“ zum „Du-Da“ zu verschieben, um ihn dann so echt und unmittelbar zu verstehen in seinem Worumwillen, also so unmittelbar und echt empathisch zu sein, wie ich mich selbst echt und unmittelbar verstehe in meinem Worumwillen. Das ist zwar noch nicht unbedingt Liebe bzw. Selbstliebe im strengen, oben definierten Sinn, aber es ist der Weg dorthin, wenn ich dieses Gleichgewicht beachte. Wie oben ausgeführt, ist ontisch Sich-Nähern ontologisch als Seinsweise ein Ergreifen und eine Ergriffenheit des Daseins. Sobald das Dasein die Möglichkeit entwickelt hat, sich in seinem Worumwillen echt und unmittelbar zu verstehen, und diese Möglichkeit ergreift, dann kann man aufzeigen, was ich allerdings erst unten in Kapitel 10 tun werde, dass es auch jeden Anderen in seinem Worumwillen echt und unmittelbar versteht, in den es sich hineinversetzen kann, so dass es in der Selbstliebe und in der Liebe zu seinem Nächsten ist, sofern dem Dasein seine Ergriffenheit von seinem Nächsten erschlossen ist, denn dann versteht es diese Ergriffenheit echt und unmittelbar (es versteht ja sich selbst so in seinem Worumwillen und damit auch seine Ergriffenheit), und es kann sich in ihn hineinversetzen. Letzteres ist immer dann der Fall, wenn das Dasein diesem Nächsten begegnet. Wenn das Dasein also sich selbst liebt, dann liebt es jeden Anderen, der ihm begegnet. Wenn andererseits das Dasein einen Anderen liebt, dann versteht es diesen in seinem Worumwillen echt und unmittelbar und damit auch sich selbst in seinem Worumwillen, wie ich ebenfalls erst unten in Kapitel 10 aufweisen werde. Sich selbst oder einen begegnenden Anderen zu lieben ist also immer ein und dasselbe. Im echten und unmittelbaren Verstehen des Daseins in seinem Worumwillen wird also die Liebe erreicht. Der Zustand der Liebe ist das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses des Daseins, sich oder auch einen Anderen in seinem Worumwillen echt und unmittelbar verstehen zu lernen, der so lange vorangeht, wie beim Dasein sowohl keine Abkehr von ihm selbst als auch Kongruenz zwischen Weltlichkeit bzw. Gemeinschaftlichkeit und praktischen Erfahrungen besteht. Ob und wann dieser Prozess abgeschlossen ist, bleibt offen. Im Tod ist er beendet, aber nicht unbedingt abgeschlossen. Dieser Prozess ist genau dann abgeschlossen, wenn sich die Ergriffenheit in Liebe und damit die Erwartung in Erfüllung umgewandelt haben (eigentlich ist Erfüllung in die Liebe schon enthalten). Insofern sind Liebe und Erfüllung Utopien, auf die das Dasein aber in seiner Ergriffenheit und Erwartung ausgerichtet ist, wie ich später noch genauer aufzeigen werde.

Die Entwicklung zur Liebe hat aber noch eine andere Seite, nämlich die, dass der Andere es dem Dasein ermöglicht, das heißt ihm einräumt, seinen Mittelpunkt vom „Ich-Hier“ zum „Du-Da“ zu verschieben, dass der Andere sich dabei so weit öffnet und zu erkennen gibt, dem Dasein also so offen und vertrauensvoll begegnet, dass das Dasein den Anderen echt und unmittelbar verstehen lernen und von ihm entsprechend echt und unmittelbar ergriffen sein kann. So unterstützt der Andere das Dasein in seinem Entwicklungsprozess, das Sein überhaupt echt und unmittelbar verstehen, also lieben zu lernen. Wenn das Dasein schon dieses Ziel erreicht hat, dann liebt es, und der Andere ist immer entdeckt, sobald das Dasein ihm begegnet, so sehr er sich auch verschließen mag. Lieben lernen ist also immer ein Austausch, die eigentlichste Form des harmoniesuchenden Sich-Auseinandersetzens bzw. der ausdrücklichen Verständigung, der Mitteilung (die Begriffe Verständigung und Mitteilung werden weiter unten erläutert). Entsprechend kann das Dasein auch lieben lernen mithilfe des Ausdrucks der eigentlichen Rede als harmoniesuchender Auseinandersetzung mit der Struktur seiner eigenen verschiedenen Seinsmöglichkeiten bzw. mit der Struktur der verschiedenen Modi seiner eigenen Befindlichkeit und seines eigenen Verstehens.

Kommen wir noch einmal auf die Frage zurück, wer bzw. was das Dasein eigentlich ist. Die bisherigen Feststellungen von Heidegger sind:

• Es ist das Seiende, dem es um sein Sein geht und das daher auch die Frage nach dem Sinn des Seins stellt. (Paragraph 2 ebenda)

• Das Sein des Daseins ist jeweils meines, es ist mir übereignet und überantwortet (Geworfenheit). (Paragraph 9 und 29 ebenda)

• Es ist jeweils sein „Da“, das heißt seine wesenhafte Erschlossenheit durch das In-der-Welt-sein. So erschließt es sich seine „Räumlichkeit“ in der Welt als „Ich-Hier“, „Du-Da“ (Seite 132 ebenda) und „Er-Sie-Es-Dort“ (meine Ergänzung).

• Es versteht sich ontologisch zunächst von dem Seienden und dem Sein her, das es selbst nicht ist, das ihm aber „innerhalb“ seiner Welt begegnet. (Seite 58 ebenda)

Der letzte Punkt muss im sozialen Bereich so lauten: Das Dasein versteht sich ontologisch zunächst von dem Anderen und dessen Sein her, das es selbst nicht ist, von dem es aber „innerhalb“ seiner Gemeinschaft ergriffen ist.

Betrachtet man nun die Gemeinschaft, so stellt man fest, dass diese auch ein Seiendes ist, dem es um sein Sein geht, und die Gemeinschaft kann somit auch die Frage nach dem Sinn des Seins stellen, zum Beispiel die Gemeinschaft der Philosophen. Das Sein der Gemeinschaft ist jeweils unseres, es ist uns übereignet und überantwortet (auch eine Art der Geworfenheit). Die Gemeinschaft ist jeweils ihr „Da“, das heißt ihre wesenhafte Erschlossenheit durch das In-der-Welt-sein. So erschließt sich ihre „Räumlichkeit“ in der Welt als „Wir-Hier“, „Ihr-Da“ oder auch „Du-Da“ und „Sie-dort“ oder auch „Er-Sie-Es-Dort“. Die Gemeinschaft versteht sich ontologisch zunächst von dem Seienden und dem Sein her, das sie selbst nicht ist, das ihr aber „innerhalb“ ihrer Welt begegnet. Die Dorfgemeinschaft eines einsamen Dorfes zum Beispiel versteht sich als Gemeinschaft erst von einer anderen ihr begegnenden Dorfgemeinschaft her. Gemeinschaft und Dasein sind also recht ähnlich strukturiert, nach den bisherigen Strukturmerkmalen sogar gleich.

Das Dasein hat mehrere existenziale Strukturen: die existenziale Struktur

der Ergriffenheit und der Erwartung (bei Heidegger „Sorge“, also die reflexive, grundlegende Struktur des Daseins, die seine jeweilige Seinsweise bestimmt, zum Beispiel ständig bereit, sich einzulassen, oder die Privation davon, mit räumlichem und zeitlichem Aspekt),

• der Befindlichkeit (die affektive Struktur des Daseins mit dem primären Aspekt der Gewesenheit),

• des befindlichen Verstehens (die projektive Struktur des Daseins mit dem primären Aspekt der Zukunft),

• die Rede (das momentane vorgreifende Abstimmen und gliedernde Zusammenhalten affektiver und projektiver Strukturen des Daseins mit dem primären Aspekt der Gegenwart),

der Wirksamkeit und des faktischen Sich-Einlassens (nicht bei Heidegger, die effektive Struktur des Daseins, wodurch sich Ergriffenheit und Erwartung wandeln können und somit die Seinsweise verändert werden kann, mit dem primär räumlichen Aspekt).

Diese fünf existenzialen Strukturen lassen sich auch auf Gemeinschaft übertragen, wenn man mit einbezieht, dass Gemeinschaften nach außen meist geschlossen auftreten und ihre Anführer oder Repräsentanten haben, deren jeweilige existenziale Strukturen die der Gemeinschaft repräsentieren. Dabei wird innerhalb der Gemeinschaft durch das harmoniesuchende Sich-Austauschen bzw. durch die Verständigung meist auch ein mehr oder weniger breiter Konsens unter ihren Mitgliedern erreicht. Schwankungen und Widersprüchlichkeiten kann es übrigens auch beim Dasein geben.

Mit alldem ist aber immer noch nicht geklärt, wer das Dasein eigentlich ist. Wir wissen, dass das Dasein die Seinsweisen „ist“, bei denen es sich sorgt bzw. ergriffen ist und etwas erwartet. Dabei kann sich dieses „ist“, also sein Sein bzw. seine jeweilige Seinsweise, ständig ändern. Wer das Dasein eigentlich ist, wissen wir, die wir das Dasein jeweils selbst sind, erst, wenn wir uns in unserem Worumwillen echt und unmittelbar verstehen, das heißt, wenn wir uns lieben. Wir wissen eigentlich nur, wer das Dasein eigentlich nicht ist. Dies ist auch die Art, wie das Dasein sein eigentliches Sein im Da erschließt: es identifiziert sich mit allem Möglichen, um dann zu entdecken, dass es das nicht ist. Es identifiziert sich z.B. mit seinen existenzialen Strukturen und einzelnen Seinsweisen: aber es ist eigentlich nicht seine Wirksamkeit, nicht sein Verlangen, seine Ergriffenheit oder seine Erwartung, weder seine Befindlichkeit noch sein befindliches Verstehen noch seine Rede. Es ist weder sein Name noch seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Es ist auch nicht seine Bedürfnisse oder seine Leiblichkeit. Dies alles vermittelt dem Dasein nur, was es eigentlich nicht ist, auf diese Weise macht das Dasein nur mittelbare Erfahrungen von seinem Sein, was und wer dieses Sein eigentlich nicht ist. Wenn es sich aber durch diese Erfahrungen von dem, was und wer es eigentlich nicht ist, immer wieder auf sein unmittelbares Sein zurückwerfen lässt, dann besteht die Möglichkeit bei genügend großer Beharrlichkeit schließlich doch eine unmittelbare Erfahrung von seinem Sein zu machen, wer und was dieses eigentlich ist. Echtes und unmittelbares Verstehen des eigenen Seins, also Selbstliebe, wird mit einer einmaligen derartigen unmittelbaren Erfahrung seines Seins aber noch nicht unbedingt erreicht. Eine solche Erfahrung ist meist nur ein Blitzlicht im Vergleich zum Dauerlicht der Liebe. Erst wenn eine derartige Erfahrung verknüpft ist mit einem echten Verstehen seines unmittelbaren Da, also seiner augenblicklichen Ergriffenheit von seinem In-der-Welt-sein, und dauerhaft anhält, dann ist die Liebe erreicht. Mir ist zwar klar, dass dies eine Utopie ist, sie ist aber apriorisch in jedem von uns angelegt, es ist in diesem Sinne eine objektive Utopie, da sie allgemeingültig ist. Damit gibt sie eine und zwar die eigentliche Zielrichtung bzw. einen und zwar den eigentlichen Sinn des Seins vor.

Anhand der existenzialen Strukturen der Befindlichkeit und des befindlichen Verstehens soll das harmoniesuchende Sich-Auseinandersetzen, das Sich-Verständigen, im sozialen Bereich genauer analysiert werden. Es handelt sich ja dabei um den Austausch der verschiedenen Mitglieder einer Gemeinschaft über deren Entwürfe und ihr Entwerfen von ihrem In-der-Gemeinschaft-sein. Dieses Entwerfen und diese Entwürfe gründen jeweils im befindlichen Verstehen der jeweiligen Mitglieder. Um sich darüber austauschen zu können, muss dieses unthematische und implizite Verstehen zu einem thematischen und expliziten Verstehen werden, welches Heidegger als Auslegung bezeichnet. Dazu muss das Dasein aber drei Dinge angenommen haben: seine Selbstwahl, sein In-der-Welt-sein, was genau genommen dasselbe wie die Selbstwahl ist, und sein In-dieser-Gemeinschaft-sein (in irgendeiner Gemeinschaft zu sein, hat es mit seinem In-der-Welt-sein schon angenommen). Dies scheint mir auch ein grundlegender Unterschied zwischen Heidegger und Kant zu sein, dass Kant annimmt, dass der Mensch erkennen will, womit er implizit annimmt, dass der Mensch seine Selbstwahl schon angenommen hat. Die Frage der menschlichen Freiheit, obwohl von Heidegger explizit so nicht erwähnt, die aber in der Selbstwahl gründet, ist Grundvoraussetzung für die Frage nach dem Sinn des Seins, denn ohne diese Freiheit könnte das Dasein diese Frage nicht im Geringsten beantworten. Ohne Freiheit kein Sinn, und ohne Sinn keine Freiheit, und beides setzt befindliches Verstehen gleichermaßen voraus.

Der Begriff Auslegung wird bei Heidegger in seinem Bedeutungsspektrum derart ausgeweitet, dass er nicht nur Interpretation oder Exegese meint, sondern die „Ausbildung des Verstehens“ (Seite 148 ebenda). „In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu“ (Seite 148 ebenda). Alles, was ausdrücklich verstanden wird, also alles Ausgelegte hat die „Struktur des Etwas als Etwas“ (Seite 149 ebenda). Heidegger scheint mir hier die Begriffe Rede und Auslegung nicht klar genug zu trennen. Rede als Artikulation (von lateinisch „articulare“, gliedern) ist vorgreifendes Gliedern und dadurch Zusammenhalten von Befindlichkeit und Verstehen, also von Bedingtheit und Möglichkeit, und Auslegung ist ausdrückliches Sich-Aneignen des so Gegliederten. Der Unterschied liegt meines Erachtens darin, dass die Rede eine hermeneutische Als-Struktur hat und in einem spielerischen Als-ob-Modus entwickelt wird, also etwas als etwas deutet (Bedingtheit als Möglichkeit und Möglichkeit als Bedingtheit) und mit dieser neuen Bedeutsamkeit eine Als-ob-Weltlichkeit konstruiert. Auf der ontischen Ebene bringt es dadurch das Begriffene in eine vorläufige Form wie ein Schriftsteller Worte oder ein Komponist Noten zu Papier, während die Auslegung es konkret in einem Äquivalenzmodus ausarbeitet und dabei eine Dass- und Wie-Struktur besitzt, nämlich dass und wie das Dasein etwas Begriffenes ausdrückt und damit sich aneignet, also das zu Papier Gebrachte vorträgt. Erst durch die Auslegung, bei der sich das Dasein auf die Welt mehr oder weniger einlässt, so dass es erfährt, ob es sich bei seiner Auslegung getäuscht hat (siehe oben), wird die Als-ob-Weltlichkeit zur Weltlichkeit. Das gliedernde Zusammenhalten von Bedingtheit und Möglichkeit, also die Rede, hat weder die Bedingtheit noch die Möglichkeit thematisch erfasst und sich angeeignet, das Dasein hat immer noch nicht seine diesbezügliche Selbstwahl angenommen. Das vollzieht es erst in der Auslegung, wenn es das in der Rede Gegliederte, aber nur unthematisiert Erfasste, ausdrücklich thematisiert, und überprüfen kann, ob es sich getäuscht hat oder nicht (siehe oben), und es so in seiner Weltlichkeit integriert. Damit ist die Auslegung das, was es dem Dasein erstmals mit etwa vier Jahren ermöglicht, den Als-ob-Modus mit dem Äquivalenz-Modus zu integrieren und damit seine eigene Weltlichkeit zu entwickeln, was dann die soziale Geburt abschließt. Hätte die Auslegung eine apophantische, also aufzeigende, Als-Struktur, was ja noch die Alternative zur hermeneutischen Struktur der Rede wäre, dann könnte man die Auslegung nicht mehr gegenüber der Aussage abgrenzen, die ja in der Sprache gründet und sich daher auf der ontischen Ebene befindet. Verwirrend ist zum Beispiel auch die Formulierung „was notwendig zu dem gehört, was verstehende Auslegung artikuliert“ (Seite 151 ebenda), weil hier ebenfalls Artikulation und Ausdruck vermischt werden, also die Rede und die Auslegung. Artikulation als ausdrückliche Sprache (von der zweiten Bedeutung von „articulare“, deutlich sprechen) passt weder zu Rede noch zu Auslegung, da Sprache ontisch ist, aber Rede und Auslegung ontologisch. Erst in der Auslegung wird das in der Rede Gegliederte ausgedrückt.

Wenn das Dasein einem Seienden begegnet und von ihm ontisch in eine Stimmung der „Ergriffenheit“ versetzt wird, die es befindlich versteht, dann ergreift es aufgrund seiner vorgreifenden Gliederung seines Bedingt-Seins und seines Seinkönnens eine bestimmte Möglichkeit dieses Seinkönnens und macht dabei mit dem betreffenden Seienden eine Erfahrung, die seine „Erwartung“ erfüllt oder enttäuscht, so dass es etwas von diesem Seienden entdeckt und sich so davon einen ausdrücklichen Begriff macht, es sei denn, das Dasein kehrt sich von dieser Erfahrung und damit von ihm selbst ab. Der ausdrückliche Begriff, den das Dasein sich von diesem Seienden macht, muss also so aussehen, dass er zu der betreffenden Erfahrung, die das Dasein mit dem Seienden gemacht hat, passt und sie passend ausdrückt, damit das Dasein sich die so begriffene Erfahrung auch aneignen, also in der Bedeutsamkeit seiner Weltlichkeit integrieren kann.

Wie findet nun der Austausch zwischen den verschiedenen Mitgliedern einer Gemeinschaft statt? Nach Heidegger hat das Dasein bei jeder Wahrnehmung schon eine Deutungsleistung vollbracht, allein die schlichte Wahrnehmung hat schon die Struktur des Etwas als Etwas. In der Psychologie der Wahrnehmung wird dies als Vollzugszwang bezeichnet, wir nehmen zum Beispiel Buchstaben nicht als Linienmuster sondern gleich als Buchstaben wahr. Eine andere Erklärung dieses Phänomens kommt aus der Lerntheorie und wird dort als bedingter Reflex bezeichnet (der Pawlow´sche Hund). Das heißt, die Verständigung, dem Begriff des harmoniesuchenden Sich-Auseinandersetzens gleich gesetzt, findet schon vorprädikativ statt, da die Wahrnehmung an dem Wahrgenommenen selbst schon verstehend-begreifend ist. Heidegger sieht das Ganze eben von der praktischen Seite, dass das Dasein im Umgang (also Praxis) mit der Welt, das heißt als In-der-Welt-sein, sich schon bestimmte Sichtweisen angeeignet hat, man könnte auch sagen, dass es gelernt hat, das ihm in der Welt Begegnende schon als Etwas zu sehen, also zu deuten (hermeneutische Als-Struktur). Vorprädikativ bedeutet bei Heidegger vor der Aussage (apophantische Als-Struktur). Es bedeutet nicht vorsprachlich, da er Sprache so weit fasst, dass sie auch die hermeneutische Struktur des Etwas als Etwas beinhaltet. Rede ist die vorgreifende Gliederung der Verständlichkeit, die auch schon vor der ausdrücklichen zueignenden Auslegung also eine Struktur besitzt. Die Rede ist auf der ontologischen Ebene genau das sprachliche Element, das vor der Aussage liegt.

Die Orientierung am Aussagesatz und dessen Logik stellt für Heidegger einen Sündenfall im sprachphilosophischen Denken des Abendlandes dar. Mit der Fundierung der Sprache im Existenzial der Rede hofft Heidegger auf eine „Befreiung der Grammatik von der Logik“ (Seite 165 ebenda). Die Sprache ist hier als ontischer Begriff gebraucht, während Rede bei Heidegger die ontologische bzw. existenziale Grundlage der Sprache ist. Die Rede stellt gegliederte Zusammenhänge durch Deutung bzw. Interpretation von etwas als etwas zwischen allem Verstandenen her, was von Heidegger auch das Bedeutungsganze genannt wird. Dass die Rede Verbindungen herstellt zwischen dem Verstandenen, bedeutet, dass das Dasein erst durch die Rede die Struktur seiner Weltlichkeit entwerfen kann, nämlich die Bedeutsamkeit. Erst dadurch kann es sich in seinen Möglichkeiten des Seins entwerfen. Dadurch wird meines Erachtens erst verständlich, wieso Befindlichkeit und Verstehen in der Rede gleichursprünglich bestimmt sind: in der Befindlichkeit findet sich das Dasein, indem es die Befindlichkeit versteht, so dass es sich auf der Basis des Gesamt des bislang Verstandenen entwerfen kann. Entsprechend kann eine Gemeinschaft erst durch die Rede zwischen den Mitgliedern die Möglichkeiten des Seins der Gemeinschaft entwerfen. In diesem Sinne ist also die Verständigung, die als Sich-Auseinander-setzen ja das in den Vor-Griff bringt, worum es in der Gemeinschaft gerade geht, die wechselseitige Rede – alles auf der ontologischen Ebene. Das Dasein mit seiner Befindlichkeitsstruktur bzw. der Struktur seiner möglichen Seinsweisen „verständigt“ sich so, das heißt seine „Mitglieder“, seine möglichen Seinsweisen, verständigen sich in der Rede, was ontisch vor dem Selbstgespräch oder dem Denken liegen kann und dann z.B. einem gegliedert wahrgenommenen propriozeptiven Zustand des Daseins entspricht. Die Rede ist also auch die ontologische bzw. existenziale Grundlage des (ontischen) Denkens. Die Verständigung ist ja auch schon vorher gegliedert. Ontisch ist Verständigung das, was wir als Kommunikation bezeichnen, und vorprädikative Kommunikation bezeichnet die nonverbale, also nichtsprachliche Kommunikation, die noch nicht verbal ausgedrückt wurde. Nonverbale Kommunikation kann auch nichtprädikativ sein, das heißt, dass sie verbal, also sprachlich, gar nicht ausgedrückt wird, werden kann oder werden muss wie zum Beispiel in Mimik, Gestik und Körperhaltung, Tonfall oder Hören oder Schweigen. Was Heidegger in Bezug auf Befindlichkeit, Verstehen und Rede feststellt, heißt übertragen auf den sozialen Bereich, wenn wir mit Unterredung, das ist ja die wechselseitige Rede zwischen („Unter“ hat hier dieselbe Bedeutung wie das lateinische „Inter“) dem Dasein und Anderen, die Verständigung bezeichnen, dass Befindlichkeit und Verstehen gleichursprünglich in der Unterredung bzw. Verständigung innerhalb der Gemeinschaft vorgreifend bestimmt, gegliedert und untereinander abgestimmt sind, wobei auch in der Privation der Verständigung, das heißt wenn das Dasein sich nicht mit den Anderen verständigt, seine Befindlichkeit und sein Verstehen innerhalb der Gemeinschaft entdeckt und vorgreifend bestimmt sind. In der Unterredung werden nur Verbindungen hergestellt zwischen dem Verstandenen. Wenn das Dasein sich den Anderen in seiner Befindlichkeit und seinem befindlichen Verstehen ausdrücklich mitteilt, dann wird auch eine betonte Verbindung zwischen den Mitgliedern hergestellt. Mitteilen heißt, den Anderen teilhaben lassen, ihn einen Teil dessen, was die Befindlichkeit und das befindliche Verstehen des Daseins beinhaltet, haben zu lassen, dass der Andere es sich durch den Ausdruck des Daseins aneignen kann, es ihm teilweise ausdrücklich verständlich zu machen, sodass er es verstehen kann. Die Mitteilung entspricht also der Auslegung und es gibt somit verschiedene Grade der Mitteilung, je nachdem wie groß dieser Teil ist, den das Dasein dem Anderen verständlich macht und den der Andere verstehen kann. Außerdem ist das Wie der Mitteilung wichtig, der Ausdruck, der einen bestimmten Eindruck beim Anderen macht, also wie er sich das Verstandene aneignet.

Man kann sich das Verhältnis von Rede und Auslegung bzw. von Unterredung oder Verständigung und Mitteilung auch so vorstellen: Wenn in einer Gemeinschaft ein Projekt geplant wird, z.B. eine gemeinsame Reise, dann kann man Karten verteilen, auf die jeder jeweils etwas aufschreiben soll, was ihm zu diesem Projekt einfällt. Dann werden die Karten auf einer Pin-Wand befestigt und „spielerisch“ geordnet, sodass sich dabei verschiedene Kategorien bilden, z.B. Reiseziele, nötige Vorbereitungen, was mitgenommen werden sollte usw., man gliedert also auf diese Weise die Inhalte der Karten, ein „Etwas“, als Reiseziel usw., also als ein anderes „Etwas“. Das entspricht der Rede bzw. der Verständigung als Gliederung der Einfälle auf den Karten. Die jeweilige teilweise vorläufige Entscheidung auf die Reiseziele und in welcher Reihenfolge usw., wobei je nach dem noch weitere hermeneutische Zirkelrunden durchlaufen werden können oder müssen, ist dann die ausdrückliche Auslegung, die dann am Ende festgelegt und allen verbindlich mitgeteilt wird. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass die Bedeutungskategorien für die Karten nicht von vorneherein festgelegt sind, sondern sich erst beim Sammeln und Ordnen ergeben. Die Grundstruktur der Rede (die Bedeutungskategorien) bzw. die Grammatik der Sprache ist also nicht von vorneherein durch irgendeine Regel oder Logik festgelegt, sondern das ergibt sich erst aus dem Vor-Verständnis des Projekts, das jeder in der Gemeinschaft mitbringt. Die apriorische Grundstruktur der Rede ergibt sich aus der Ergriffenheit und der Erwartung, also der so verstandenen Sorge der Gemeinschaft. Als Existenzial gründet sie daher nicht in der Ontologie des Vorhandenen, sondern im Existenzial der Sorge des Daseins bzw. der Gemeinschaft. Damit ist die Grundstruktur Rede und auf der ontischen Ebene die Grammatik der Sprache von der Logik der Vorhandenheit befreit, wie dies Heidegger als Aufgabe „eines positiven Verständnisses der apriorischen Grundstruktur von Rede überhaupt“ (ebenda, Seite 165) gesehen hat.

Die Bedeutung der Verständigung und der Mitteilung für die psychische Gesundheit des Daseins besteht darin, dass beides die Fähigkeit erhöht, Risikokonstellationen zu bewältigen, die sonst zu psychischen Erkrankungen führen (vergleiche Kormann, 2009).

Im letzten Teil des Paragraphen 32 (Seite 151 ff. ebenda) kommt Heidegger auf den Begriff Sinn als Existenzial des Daseins. Das, in dem verstehendes Erschließen artikulierbar ist, nennt er Sinn. Der Sinn ist das, aus dem heraus etwas als etwas verständlich wird. Damit gibt der Sinn mögliche Richtungen an, die das Dasein dem „etwas“ dadurch geben kann, dass es dieses als „etwas“ bezeichnet. Daher kann man den Sinn auch als den Rahmen bezeichnen, in dem etwas als etwas verständlich werden kann, also mögliche Richtungen sichtbar werden können. Der Sinn ist keine Eigenschaft dessen, was verständlich wurde, sondern ein Existenzial des Daseins, sodass nur das Dasein Sinn (also mögliche Richtungen oder einen Rahmen) haben bzw. geben kann oder nicht, das heißt sinnvoll oder sinnlos sein bzw. machen kann. Für eine effektive Zusammenarbeit in einer Gemeinschaft ist es daher wichtig, eines Sinnes zu sein (an einem Strang, in eine Richtung zu ziehen), was dadurch erreicht werden kann, dass man sich entsprechend verständigt. Sinn ist das durch die Vor-Struktur für die Auslegung strukturierte Gesamt an Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins, wobei diese Möglichkeiten des Seinkönnens das Woraufhin des Entwurfes sind. Der Sinn ist also der Rahmen des Werfens des Entwurfes. Damit kommt Heidegger auf das Problem der Zirkelhaftigkeit des Verstehens zu sprechen. Der vor-verstandene Sinn, woraufhin alles hinauslaufen soll, wird ausgelegt und damit besser verstanden. Dieser verstandene Sinn wird erneut ausgelegt und wieder besser verstanden usw... Indem Heidegger drei verschiedene Momente dieser Vor-Struktur der Auslegung unterscheidet, nämlich Vor-Habe (aufgrund von Bewandtnis), Vor-Sicht (aufgrund von Bedeutsamkeit) und Vor-Griff (vorläufiges Begreifen aufgrund von Bewandtnis und Bedeutsamkeit, der Vor-Griff gliedert Bewandtnis und Bedeutsamkeit und stimmt sie aufeinander ab, welche gleichursprünglich sind), macht er darauf aufmerksam, dass die Voraussetzungen, die das Dasein im Umgang mit der Welt beansprucht und beanspruchen muss, nicht nur theoretischer Natur sind (etwa Überzeugungen), sondern vor allem praktischer Art (erlernte und eingeübte Umgangsweisen). „Seiendes, dem es als In-der-Welt-sein um sein Sein selbst geht, hat eine ontologische Zirkelstruktur.“ (Seite 153 ebenda). Wie oben ausgeführt ist die Vor-Habe des Daseins seine Befindlichkeit in der betreffenden Situation (mit der Befindlichkeit hat die Situation, das erschlossene Da, ihre Bewandtnis), die Vor-Sicht des Daseins ist das entsprechende befindliche Verstehen (das ergibt die Bedeutsamkeit der Situation), und der Vor-Griff ist das vorläufige Begreifen durch ein Sich-Halten des Daseins in Befindlichkeit und Verstehen in der Artikulation, also in der vorgreifenden Bestimmung und Gliederung des Ganzen, der Bewandtnis und der gesamten Bedeutsamkeit, also durch die Rede. Der Vor-Griff kommt dann durch die Auslegung, in der sich das Dasein Befindlichkeit und Verstehen und damit auch den Vor-Griff aneignet, ausdrücklich in die verstehende Sicht. In der Auslegung lässt sich das Dasein mehr oder weniger auf die Welt ein.

Heidegger definiert also Sinn von etwas als dessen Vor-Habe, Vor-Sicht und Vor-Griff. Implizit darin enthalten ist ein vorausgehendes Vor-Verständnis, aus dem sich dann erst die Vor-Habe, die Vor-Sicht und der Vor-Griff ergeben. Der Sinn, der ja auch mögliche Richtungen angibt, ist wie eine Pfeilschar, die einen Ausgangspunkt braucht, von dem aus dann die Richtungsvektoren gehen. Es ist wie in der Mathematik in der affinen Geometrie, bei der es auch einerseits einen Punktraum und andererseits einen dazugehörigen Vektorraum gibt. Das Vor-Verständnis des Daseins von etwas ergibt sich aus dem jeweiligen Modus der Ergriffenheit und Erwartung von jenem etwas (also aus dem momentanen Modus der Sorge). Ergriffenheit und Erwartung bzw. die Sorge nehmen dann am Ende des hermeneutischen Zirkels durch die Auslegung, also durch das ausdrückliche Sich-Aneignen des neu Verstandenen, einen neuen Modus an. Diese beiden Modi am Anfang und am Ende des hermeneutischen Zirkels sind wie zwei Punkte im affinen Raum, die einen Vektor und damit eine Richtung festlegen, und sie beinhalten insbesondere eine Bereitschaft sich einzulassen, enthalten also einen wichtigen räumlichen Aspekt. Mehrfache Durchgänge des hermeneutischen Zirkels ergeben mehrfache Auslegungen und damit mehrere Vektoren bzw. Richtungen. An dieser Stelle bahnt sich daher für mich die fehlerhafte Weglassung der Räumlichkeit für den Sinn des Daseins bei Heidegger an, denn wenn er beim Sinn den Ausgangspunkt, nämlich das Vor-Verständnis des Daseins, vergisst, dann hat er für den Sinn des Daseins nur die Zeitlichkeit ohne die Räumlichkeit. Im Grunde genommen kann man diese Tendenz auch schon daran erkennen, dass er Verstehen vor allem als Seinkönnen und nicht auch als Akzeptieren der Bedingtheit aus dem Vergangenen statt des Gewesenen betrachtet. Vergangenes ist ja räumlich Gewesenes.

Der Zirkel des Verstehens ist also nicht nur unvermeidbar, sondern in ihm verbirgt sich „eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens“ (Seite 153 ebenda). Mit der Verdeutlichung der Vor-Struktur bezweckt Heidegger weiterhin, hinter das durch Tradition und Überlieferung bestimmte Koordinatensystem einer Vorhandenheitsontologie zurückzugelangen. Der Zirkel des Verstehens verlangt, sich gegebenenfalls von Traditionen und Überlieferungen, das heißt von aller Wertrationalität, zu lösen, wenn die Praxis ergibt, dass der überlieferte Wert, die Überzeugung, das Gebot oder Ähnliches eine Täuschung ist. Wenn der Zirkel des Verstehens nicht genau durchgeführt wird, kommt es zur Inkongruenz zwischen Weltlichkeit und Erfahrungen. Es geht Heidegger darum, alle Phänomene aus der Perspektive des gelebten Lebens beschreiben zu können, und für eine phänomenologisch sensible Beschreibung des Daseins und des In-der-Welt-seins gelten andere methodische Vorgaben als für die Naturwissenschaften, die per definitionem von Vorhandenheit ausgehen.

In den Paragraphen 35-38 untersucht Heidegger, wie sich die Merkmale der Befindlichkeit, des Verstehens und der Rede im Alltäglichen manifestieren. Im Gerede, in der Neugier und in der Zweideutigkeit erläutert Heidegger die verschiedenen Formen des Verfallens bzw. der Verfallenheit des Daseins. Es sind jeweils die uneigentlichen Formen der Rede (Gerede), des Verstehens (Neugier) und der Befindlichkeit (Zweideutigkeit). Es sind die existenzialen Strukturen des Man-Seins. An dieser Stelle möchte ich einmal diskutieren, was es mit dem Man-Sein und der Uneigentlichkeit auf sich hat. Diese Diskussion wird in Kapitel 9 nochmals aufgegriffen. Das Dasein geht ja zunächst und zumeist im Man auf, und die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt wird von ihm, dem Man, gemeistert, wodurch das Man das Dasein beherrscht. Als geworfenes In-der-Welt-sein ist das Dasein zunächst in die Gemeinschaft seiner Familie geworfen bzw. in die Gemeinschaft der Mutter-Kind-Dyade. Bis zu seiner oben beschriebenen sozialen Geburt befindet es sich in einer Art symbiotischen Beziehung, das heißt seine Befindlichkeit ist die durch die Mutter gespiegelte Befindlichkeit, sein Verstehen ist das durch die Mutter vermittelte Verstehen und seine Rede ist die durch die Mutter vermittelte Rede, also seine Gemeinschaftlichkeit und Weltlichkeit ist die der Mutter im fantastischen, mit der Mutter gemeinsamen Als-ob-Modus mit der spielerischen Rede als Verständigung. Im davon strikt getrennten Äquivalenz-Modus hat das Dasein keine Weltlichkeit, da das Dasein alles für sich allein konkret auslegt, sodass es nicht verstandene Täuschungen gibt. Die Mutter ist das Medium, die Mittlerin zwischen dem Dasein und der Welt. Wie oben beschrieben eignet sich das Dasein allmählich die Fähigkeiten des eigenen befindlichen Verstehens und dessen Gliederung in der Rede an, bis es dann am Ende der sozialen Geburt den Als-ob- mit dem Äquivalenz-Modus integriert hat und ihm die ontologische Differenz damit erschlossen ist.

In jeder Gemeinschaft, in der das Dasein jeweils Mitglied wird, vollzieht sich ein ähnlicher Prozess: das Dasein übernimmt zunächst in einem gewissen Umfang die vorherrschenden existenzialen Strukturen der jeweiligen Gemeinschaft, das heißt die jeweils sozial erwünschten existenzialen Strukturen, und differenziert dann allmählich zwischen diesen übernommenen Strukturen und denen, die es dann für es selbst bestimmt. Das Man ist so betrachtet ein Derivat der Mutter in der Mutter-Säugling-Dyade, und das Dasein muss quasi aus dem Man immer wieder neu geboren werden, wenn es aufgrund irgendwelcher Probleme bzw. Enttäuschungen in eine Symbiose mit dem Man zurückgefallen ist, damit es sich wieder in Richtung Eigentlichkeit entwickelt. Dies geschieht jeweils im Zusammenhang mit dem praktischen Vollzug (konkreter Auslegung) seines jeweils begriffenen In-der-Gemeinschaft-seins, wobei es dem Dasein jeweils um sein Sein und das Sein der Gemeinschaft geht. Diese Entwicklung, die zu einem immer größeren Ausmaß von Selbstbestimmtheit führt, wird gestört oder gar zurückgeworfen, wenn das Dasein aufgrund unechten Verstehens, welches unter Umständen durch Verständnislosigkeit der Anderen entstanden ist, durch Enttäuschung seiner Erwartung eine Änderung seiner Befindlichkeit erlebt und die Frustration seiner Ergriffenheit nicht durch einen neuen Entwurf seines Daseins, also durch eine neue Möglichkeit seines Seinkönnens, bewältigen kann. Es kommt dann zur „Bewegtheit des Verfallens mit den wesenhaften Charakteren der Versuchung, [falschen] Beruhigung, der Entfremdung und des Verfängnisses“ (Seite 180 ebenda). Auch hier wird die Bedeutung der Echtheit des Verstehens klar und deutlich, da das Dasein in der Verfallenheit sich von Enttäuschungen und damit von ihm selbst abkehrt und an den entsprechenden Täuschungen festhält.

Echtheit und Eigentlichkeit des Verstehens bedingen sich wechselseitig, zumindest wenn man den Gesamt-Prozess des Daseins betrachtet. Unechtheit führt zu Inkongruenz und damit wie oben beschrieben früher oder später zu Uneigentlichkeit. Uneigentlichkeit würde nur dann zu keinerlei Enttäuschungen führen, wenn das Dasein von Anderen (daseinsmäßigen Seienden) immer echt verstanden werden würde, was nicht geschehen kann, weil niemand oder zumindest nicht alle vollkommen sind. Durch immer wiederkehrende Täuschungen, die das Dasein nicht verstehen kann, da es sich uneigentlich an den Anderen orientiert, sodass es die Erfahrungen nicht in seiner Weltlichkeit integrieren kann, entsteht daher früher oder später Inkongruenz und damit wie oben beschrieben Unechtheit. Über kurz oder lang können also Echtheit und Eigentlichkeit des Verstehens nur gemeinsam erreicht werden. So betrachtet reicht es tatsächlich aus, wenn Heidegger sich nur auf die Eigentlichkeit konzentriert. Wenn das Dasein die Eigentlichkeit des Verstehens beibehalten will, muss es automatisch dessen Echtheit im Laufe seines Entwicklungsprozesses immer wieder herstellen, auch wenn dies mitunter, wie das persönliche Beispiel Heideggers im Dritten Reich zeigt, ein leidvoller Prozess sein kann, sodass die Gefahr besteht, dass das Dasein ihm ausweicht und in der Abkehr von ihm selbst so verfällt.

Man könnte das Ganze, wenn also das Dasein eine Enttäuschung nicht durch neue Möglichkeiten seines Seinkönnens bewältigen kann, auch anhand eines Konfliktmodells genauer analysieren: die fehlende Bewältigungsmöglichkeit der Frustration bzw. der Enttäuschung seiner Erwartung bedeutet für das Dasein einen unlösbaren Konflikt. Es kehrt sich davon und somit von sich selbst ab und löst seine angespannte Befindlichkeit durch in der Psychoanalyse so genannte Abwehrstrategien auf, indem es sich zum Beispiel mit der von einem zum anderen springenden unsteten Neugier ablenkt, der Versuchung von stofflichen oder nichtstofflichen Süchten erliegt, sich entfremdet und/oder verfängt. Das Dasein ist also von dem Zustand der Ruhe als Ziel seiner Abwehrstrategie ergriffen. Ferner strebt es derart optimale Beziehungen zu Anderen an, dass dieser unlösbare Konflikt so wenig wie möglich angeregt oder „berührt“ wird. Die entsprechenden Strategien werden in der Psychoanalyse Bewältigungsstrategien genannt, und das Dasein erhofft und erwartet damit die Kontrolle darüber, dass die Enttäuschungssituation nicht mehr auftritt. In der Verfallenheit wird also die Sorge zur Ergriffenheit und Erwartung von Ruhe und Kontrolle. Um diese Abkehr von sich selbst zu vollziehen, „springt“ das Dasein zum Beispiel in das so genannte Rollendreieck Opfer-Täter-Helfer. In der Opferrolle zum Beispiel benutzt das Dasein Andere, die darauf eingehen, als Mittler (wie anfänglich die Mutter) bzw. Helfer, um sich vor einer direkten Konfrontation mit sich selbst, insbesondere mit seiner angespannten Befindlichkeit, und mit der übrigen Welt zu schützen, da solche Konfrontationen es gleichzeitig auch mit dem unlösbaren Konflikt, also mit seiner für unerfüllbar gehaltenen Erwartung in Berührung bringen würden. Gleichzeitig provoziert das Dasein Andere, wütend auf es zu werden und in die Täterrolle zugehen. Je mehr der Helfer „hilft“, desto mehr wird der Täter zum Täter und umgekehrt, und desto „hilfloser“ wird das Opfer. Dabei kann es auch jederzeit zu einem Rollenwechsel kommen („im Dreieck springen“). Jeder, der sich in einer dieser drei Rollen des Opfers, des Täters oder des Helfers befindet, ist in dieser Rolle uneigentlich, da er der Dynamik dieses Rollendreiecks unterliegt und nicht selbstbestimmt ist, und die entsprechende Verhaltensstrategie ist dann eine Abwehr- und/oder Bewältigungsstrategie. Das Vermitteln eines solchen Helfers zum Beispiel ist eine Art Fürsorge, die Heidegger „einspringend-beherrschende“ (Seite 122 ebenda) nennt, weil sie beherrscht und abhängig macht, indem er dem Dasein die Verantwortung wegnimmt. Nur wenn der Andere als Mittler eine „vorspringend-befreiende“ Fürsorge betreibt und so früher oder später aus der Mittlerrolle heraustritt, kann der Andere für das Dasein heilsam sein, wobei Heidegger Heilung als das „Nutzloseste“ bezeichnet, was getan werden kann, nämlich jemanden zu helfen, zu sich selbst zu finden (Zollikoner Seminare). Genaueres zum Rollendreieck Opfer-Täter-Helfer folgt am Anfang des nächsten Kapitels.

Alle diese Strategien zur Abwehr und Bewältigung gründen letztendlich in den entsprechenden existenzialen Strukturen des Uneigentlich-Seins, obwohl sie nicht immer als unterschiedliche Grade der Anpassung an die soziale Erwünschtheit oder an das Man bezeichnet werden können, insbesondere nicht die Täter-Rolle, die in unserer Kultur eher negativ beurteilt wird. (Aber unter bestimmten Umständen kann Man auch einmal zum Täter werden und etwa Krieg führen.) Sie können als klischeehafte Rollen bezeichnet werden, in denen das Dasein sich immer mehr von seinem selbstbestimmten Seinkönnen entfernt, bzw. in denen es immer mehr in die Uneigentlichkeit und damit zunächst und zumeist an die Herrschaft des Man verfällt. Aus der Angewiesenheit auf Andere wird eine Abhängigkeit von Anderen. Die Bewegtheit des Uneigentlich-Werdens ist ein Anzeichen für gewesene derartige Frustrationen der Erwartung des Daseins, die es nicht bewältigen konnte und bis jetzt auch noch nicht bewältigt hat. Da es im allgemeinen die Regel ist, dass das Dasein Enttäuschungen erlebt, die es erst nach einer gewissen Zeit bewältigen kann und bewältigt, wechseln sich die Bewegtheit des Verfallens bzw. Uneigentlichkeit einerseits, und eine Bewegung in Richtung Selbstbestimmtheit bzw. Eigentlichkeit des Daseins in einer gewissen Periodizität ab. Eine wichtige Rolle bei diesem Prozess spielen das Besorgen bzw. das Ergreifen bzw. die Ergriffenheit und die Erwartung, also die Sorge, welche somit das zentrale Existenzial des Daseins darstellt. Im Idealfall durchlaufen die Ergriffenheit und die Erwartung bzw. die Sorge eine Entwicklung, die damit beginnt, dass das Dasein ausreichend versorgt sein will (Thema der Versorgung), die dann übergeht in ein Machtstreben, das heißt das Dasein will möglichst weitgehend mitbestimmen (Machtthematik), und die dann darin mündet, dass das Dasein sich in kreativer Weise nützlich machen möchte (Thema der Verantwortlichkeit). Dabei ist diese Entwicklung des Daseins in ihrem Ablauf nicht streng schematisch, sondern sie kann hin- und herspringen oder auch in mehreren Zyklen ablaufen. Im letzten Entwicklungsstadium, wenn es um das Thema der Verantwortlichkeit geht und die Ergriffenheit und Erwartung sich in gleicher Weise auf das eigene Dasein und Andere beziehen, also letztlich auf das Sein überhaupt, besteht die beste Möglichkeit, dass das Dasein in die Liebe und damit zu einem echten und unmittelbaren Verständnis des eigenen und des Seins eines begegnenden Anderen findet. Dann gibt es keine Erwartung, sondern nur noch Erfüllung, das heißt der Sinn von Ergriffenheit und Erwartung ist auf Liebe und Erfüllung ausgerichtet.

Sorge als Sein des Daseins (§§ 39 bis 44) Bearbeiten

Heidegger stellt am Anfang des Paragraphen 39 die Frage, wie existenzial-ontologisch die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins zu bestimmen sei. Gesucht ist die ontologische Einheit von Existenzialität und Faktizität, also von Geworfenheit und Entwerfen bzw. Entwurf. Durch seine Befindlichkeit wird das Dasein vor es selbst gebracht und in seiner Geworfenheit erschlossen, gleichursprünglich aber ist das Dasein jeweils seine Möglichkeiten selbst, indem es sich in und aus ihnen versteht, das heißt deren Bedingungen erkennt und akzeptiert und sich in den Grenzen seiner Möglichkeiten entwirft. Das Dasein ist demnach sein Selbstentwurf mit der Selbstbedeutsamkeit als Struktur. Weiterhin gleichursprünglich ist die Rede des Daseins als bedeutungsmäßige Gliederung der befindlichen Verständlichkeit des In-der-Welt-seins. So wie ich Heidegger verstehe, ist Rede im Sozialen so viel wie der von mir oben definierte Begriff der Verständigung oder der Unterredung, also der vorgreifende, gliedernde Austausch der Entwürfe und des Entwerfens mit Anderen. Auch die Rede oder Unterredung mit sich selbst (das Denken) ist in der Verständigung enthalten, womit das Dasein die verschiedenen Entwürfe, die es jeweils schon gemacht hat, mit neuen Entwürfen aufgrund neuer Begegnungen aufeinander vorgreifend abstimmen und gliedern kann. Das Dasein bringt die verschiedenen Weisen seiner Befindlichkeit und seines Seinkönnens vor sich in der Rede mit sich selbst. Dies ist dann sozusagen die Verständigung und Unterredung des Daseins mit sich selbst. Weiterhin kann das Dasein eigentlich oder uneigentlich sein, im letzteren Fall in der Seinsart der Verfallenheit, in der das Dasein zunächst und zumeist ist. Da Uneigentlichkeit und Inkongruenz zwischen Weltlichkeit und Erfahrungen praktisch dasselbe sind, bedeutet die Seinsart der Verfallenheit, dass das Dasein zumindest an einer Täuschung festhält, nämlich an der Täuschung, dass es neue Erfahrungen nicht in seiner Weltlichkeit zu integrieren braucht, um besser mit der Welt und dem in ihr begegnenden Seienden umgehen zu können.

Bei dem Begriff Verfallenheit mischen sich meines Erachtens bei Heidegger zwei verschiedene Phänomene. Zum einen meint er damit eine Abhängigkeit des Daseins von Seiendem, zum anderen die Herrschaft des Man. Abhängigkeit ist ein Modus der Angewiesenheit, bei dem das Dasein sein Seinkönnen derart einschränkt, dass es nur eine Wahlmöglichkeit zu haben meint. Bei der Herrschaft des Man verfällt die Befindlichkeit zur Zweideutigkeit (Paragraph 37 ebenda), das befindliche Verstehen zu Neugier (Paragraph 36 ebenda) und die Verständigung zum Gerede (Paragraph 35 ebenda). Wie oben dargestellt gibt es im sozialen Bereich, speziell in kleineren Gemeinschaften, noch ein weiteres Phänomen, bei dem sich das Dasein von seinem eigentlichen Seinkönnen immer mehr entfernt und in diesem Sinne ebenfalls verfällt: Das „Springen“ in das und im Rollendreieck Opfer-Täter-Helfer. Allen drei Arten der Verfallenheit (Abhängigkeit, Herrschaft des Man und das Rollendreieck) ist gemeinsam, dass das Dasein fremdbestimmt ist, also uneigentlich. Einige Bereiche der ersten und dritten Art der Verfallenheit kann man nicht dem Begriff der Herrschaft des Man zuordnen, wenn die entsprechenden Seinsweisen zu extrem sind (Verwendung illegaler Drogen oder zu extremer Alkoholkonsum im ersten Bereich oder übertriebene Ausgestaltungen der Rollen Opfer, Täter oder Helfer), aber solange wir uns im Bereich gewisser Normen bewegen, also im Bereich der Normalität, sind die Ausführungen Heideggers zum Man durchaus zutreffend. Wenn man allerdings die Verfallenheit an das Man interpretiert als Derivat der Mutter-Kind-Beziehung, dann lassen sich auch die extremen Phänomene einordnen: Alkohol wird dann ontologisch als vergiftete Muttermilch interpretiert, und die Rollen Opfer, Täter, Helfer sind nur möglich, weil das Mutter-Man dabei mitspielt.

Um den Begriff der Verfallenheit und die Modi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit zu klären, bedarf es meines Erachtens einer weiteren Analyse der Geworfenheit vom Anfang des Existierens des Daseins an. Dabei sollen die psychoanalytischen Begriffe der Abwehr und der Bewältigung erklärt und mit Heideggers Terminologie verknüpft werden: Zu Beginn seines Existierens befindet sich das Dasein normalerweise in einer engen Beziehung mit einem Anderen, nämlich seiner Mutter (siehe oben). Die Welt wird dem Dasein durch seine Mutter vermittelt, weswegen diese Beziehung auch medial genannt wird. Zum Zeitpunkt der sozialen Geburt (siehe oben) hat das Dasein bereits angefangen, nach und nach zu differenzieren und so sich selbst und das ihm in der Welt Begegnende immer mehr selbst und eigens zu entdecken. Auf diese Weise erobert es sich immer mehr seine Eigentlichkeit, also Selbstbestimmtheit. Gleichzeitig entwickelt das Dasein auch immer mehr Möglichkeiten des Seinkönnens, es „wächst“ immer mehr in die Welt hinein, das heißt es entstehen immer mehr sich weiter entwickelnde Beziehungen zu Anderen und Bezüge zu „Zeugs“, und es reift auch physisch immer mehr heran. Man muss sich hier ein Kontinuum vorstellen, dessen Endpunkte Unverständnis und echtes, eigentliches Verständnis des eigenen Seins sind. Das Dasein beginnt im Modus des einfachsten Verständnisses seiner Befindlichkeit, in dem es gerade anfängt, sich in der Welt zu finden, und strebt danach, sein In-der-Welt-sein zu verstehen, da es dem Dasein ja um seine Existenz geht. Dieser Prozess wird aber immer wieder dadurch gestört, dass es zu Ent-Täuschungen seiner Erwartungen kommt, mit denen das Dasein jeweils umgehen muss. Die erste Enttäuschung des Daseins findet, wie oben dargestellt, mit der Erschließung seiner Geworfenheit und Überantwortung statt, wenn das Dasein also entdeckt, dass es existieren muss (das Baby muss schreien, damit die Mutter Abhilfe schafft, oder es muss leiden). Die erste Enttäuschung im Sozialen findet statt, wenn das Dasein zum ersten Mal entdeckt, dass es ab und zu allein existieren muss. Allein heißt hier, dass die Mutter nicht oder nicht sofort auf den jeweiligen Ausdruck seines befindlichen Verstehens, also seiner Mitteilung, reagiert, weil sie eben nicht immer da ist oder reagieren kann. Indem das Dasein sich nach einer Enttäuschung neu versteht, also sich neu entwirft, behebt es diese Störung. Dies gelingt jedoch nicht immer, das heißt das Dasein findet nicht immer eine Möglichkeit des Seinkönnens, durch die es entweder seine Erwartung auf andere Weise erfüllen oder diese Erwartung modifizieren kann. Dann kehrt sich das Dasein von dieser Seinsart der enttäuschten Erwartung ab, wozu es zweierlei bedarf: zum einen versucht es, seine negative Gestimmtheit abzuwehren, indem das Dasein zum Beispiel eine Art „Ersatzbefriedigung“ ergreift, und sich so von etwas Seiendem (das kann auch ein eigenes Seinkönnen sein, z.B. die Helferrolle, wobei sich das Dasein davon abhängig macht, gebraucht zu werden) als Ersatz für die Mutter abhängig macht, also von diesem allzu sehr ergriffen ist – diese Verhaltensweisen sollen Abwehrstrategien genannt werden; zum andern trachtet das Dasein danach, mit und zu den Anderen in seiner sozialen Umwelt seine Beziehungen derart zu gestalten, dass es mit dieser enttäuschten Erwartung möglichst nicht mehr in Kontakt kommt, indem es sich z.B. in größeren Gemeinschaften den Anderen gegenüber sozial erwünscht verhält, also sich unter die Herrschaft des Man begibt, also gewissermaßen untertaucht in der Masse, oder bei kleineren Gemeinschaften z.B. in das Rollendreieck Opfer-Täter-Helfer „springt“ – diese und andere demselben Zweck dienende Verhaltensweisen sollen Bewältigungsstrategien genannt werden. Verfallenheit des Daseins bedeutet also insgesamt, dass das Dasein in eine Seinsweise verfällt, in der es mithilfe von Abwehr- und Bewältigungsstrategien sich von einer enttäuschten Erwartung und Ergriffenheit abkehrt und nur noch auf Ruhe und Kontrolle aus ist. Damit wendet es sich aber auch davon ab, sein eigenes Sein immer echter und eigentlicher zu verstehen, das heißt in der Verfallenheit kehrt sich das Dasein von ihm selbst als eigentlichem Selbst-sein-können ab. „Existenziell ist zwar im Verfallen die Eigentlichkeit des Selbstseins verschlossen und abgedrängt, aber diese Verschlossenheit ist nur die Privation einer Erschlossenheit, die sich phänomenal darin offenbart“ (Seite 184 ebenda), dass die Abkehr des Daseins Abkehr von ihm selbst ist. Ich habe hier bewusst den Begriff Abkehr gebraucht anstelle von Flucht bei Heidegger, denn Flucht impliziert nur Angst, Abkehr dagegen auch andere Modi der Befindlichkeit, nämlich Wut, Leid und Abscheu, die jeweils eigentlichen Modi von Zorn, Trauer und Ekel, die sich wie Angst von Furcht dadurch von ihren uneigentlichen Modi unterscheiden, dass das In-der-Welt-sein selbst die jeweilige Befindlichkeit auslöst und nicht etwas in der Welt Seiendes, Gewesenes oder möglicherweise Seiendes.

Da das Dasein ihm selbst in seinem Sein erschlossen ist (Seinsverständnis), und da Befindlichkeit und Verstehen die Seinsart dieser Erschlossenheit konstituieren, fragt Heidegger, ob es eine verstehende Befindlichkeit im Dasein gibt mit der weitestgehenden und ursprünglichsten Erschließungsmöglichkeit, die im Dasein selbst liegt. Heidegger hat hier die Befindlichkeit der Angst im Sinn, aber ich finde, dass Wut, Leid und Abscheu ebenso gleichursprünglich und wichtig sind wie die Angst. Deswegen habe ich Heideggers folgende Ausführungen entsprechend ergänzt.

Das Verfallen des Daseins an das Man, das Ergreifen der „Welt“ und das „Springen“ in das und im Rollendreieck Opfer-Täter-Helfer sind jeweils eine Abkehr von ihm selbst. Diese Abkehr kann phänomenologisch entweder eine Flucht vor, ein Kampf gegen, ein Betrauern von oder ein Sich-Ekeln vor ... oder eine Mischung von allen vier Modi sein. Das Wovor, Wogegen oder Worumwillen muss also den Charakter des Bedrohens, des Geschädigt-Habens, des Getrennt-seins oder des Widerwärtigen haben. Es ist jedoch das Dasein selbst und kein innerweltlich Seiendes vor dem es flieht, gegen das es kämpft, worum es trauert oder weswegen es sich schämt bzw. wovor es sich ekelt. Die Abkehr des Verfallens gründet vielmehr in der Angst, der Wut, dem Leid oder der Abscheu oder einer Mischung dieser Befindlichkeiten, deren Wovor bzw. Worüber oder Worum das In-der-Welt-sein als solches ist, also völlig unbestimmt, da es kein innerweltliches Seiendes ist. Die „Welt“ (jedes einzelne Seiende) hat den Charakter völliger Unbedeutsamkeit, es begegnet dem Dasein nichts, mit dem es als Bedrohlichem, Geschädigt-habendem, Getrennt-seiendem oder Widerwärtigem eine Bewandtnis haben könnte.

Als Modi der Befindlichkeit erschließen Angst, Wut, Leid und Abscheu jeweils die Welt als Welt, was jedoch nicht bedeutet, dass hierin jeweils die Weltlichkeit der Welt begriffen bzw. verstanden wird.

Das Worum von Angst, Wut, Leid oder Abscheu ist das In-der-Welt-sein selbst, dessen Eigenart es ist, dass das Dasein in der Welt immer wieder enttäuscht wird. Da die Bedrohung, die Schädigung, die Getrenntheit oder die Abscheulichkeit jeweils unbestimmt sind, versinkt alles innerweltlich Begegnende in der Unbedeutsamkeit, sowohl das Zuhandene als auch Andere, die „Welt“ hat nichts mehr zu bieten. Das Dasein wird auf das zurückgeworfen, worum es sich aufregt in Angst, Wut, Leid oder Abscheu, nämlich auf sein eigentliches In-der-Welt-sein-können. Angst, Wut, Leid oder Abscheu jeweils vereinzeln das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein. Mit dem Worum erschließt jeweils die Angst, die Wut, das Leid oder die Abscheu „das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.“ (Seite 188 ebenda)

Das Wovor, Wogegen bzw. Woran und das Worum sowie das Ängsten, Wüten, Erleiden und Verabscheuen jeweils selbst sind also dasselbe, das heißt Erschließen und Erschlossenes sind existenzial dasselbe. Nicht nur die Angst wie bei Heidegger, sondern auch die Wut, das Leid und die Abscheu offenbaren „im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-Wählens und -ergreifens“ (Seite 188 ebenda). In der Angst erscheint dieses Freisein bedroht, in der Wut geschädigt, im Leid abwesend, und in der Abscheu ist das Dasein abgestoßen von seinem In-der-Welt-sein und erscheint damit in seiner Räumlichkeit unfrei. In diesem Erschließen ist „die Welt als Welt und das In-Sein als vereinzeltes, reines, geworfenes Seinkönnen erschlossen“ (Seite 188 ebenda), was deutlich macht, dass mit den Phänomenen der Angst, der Wut, des Leides und der Abscheu ausgezeichnete Befindlichkeiten gefunden wurden. Heidegger betont an dieser Stelle: „Dieser existenziale „Solipsismus“ versetzt aber so wenig ein isoliertes Subjektding in die harmlose Leere eines weltlosen Vorkommens, dass er das Dasein in einem extremen Sinne vor seine Welt als Welt und damit es selbst vor sich selbst als In-der-Welt-sein bringt.“ (Seite 188 ebenda)

Wie weiter oben schon ausgeführt ist Ergriffenheit ein Modus der Befindlichkeit und Erwartung ist befindliches Verständnis der Ergriffenheit. Enttäuschung ist die Frustration der Erwartung und führt, wenn entsprechende Bewältigungsmöglichkeiten fehlen, zu einer Umwandlung der Befindlichkeit der Ergriffenheit in einen uneigentlichen Modus (Furcht statt Angst, Zorn statt Wut, Trauer statt Leid, Ekel statt Abscheu, Spaß statt Freude). Wie weiter oben auch schon ausgeführt wurde, ist das Wovon der Ergriffenheit das In-der-Welt-sein. Entsprechend ist das Wovon der Enttäuschung ebenfalls das In-der-Welt-sein. In der Enttäuschung ist das Dasein getrennt von einem bis dahin erwarteten Seinkönnen in der Welt, und sein bisheriger Entwurf von der Welt hat sich als Täuschung und damit als schädigend herausgestellt, so dass hierin die beiden Befindlichkeiten von Leid und Wut erkennbar werden. Diese Art des In-der-Welt-seins, nämlich die des Nicht-mehr-getäuscht-in-der-Welt-sein-Könnens, bekommt dann immer mehr den Charakter des Bedrohlichen und auch des Abscheulichen, je öfter dieses Ereignis sich wiederholt, je ernsthafter der Kontext ist und je länger es anhält. Dann liegen auch die Befindlichkeiten der Angst und des Abscheus vor. Die Befindlichkeit der Ergriffenheit wandelt sich also bei entsprechendem Fehlen von Bewältigungsmöglichkeiten und bei entsprechender Ernsthaftigkeit, Häufigkeit oder Dauer der Enttäuschung in eine Befindlichkeit um, die aus einer Mischung aus Angst, Wut, Leid und Abscheu besteht. Mit der Enttäuschung kann aber auch das Verständnis einer neuen Bewandtnis von begegnendem Seienden verbunden sein, was die Erfüllung einer Erwartung bedeuten kann, so dass das Dasein Freude am In-der-Welt-sein empfindet. Das Verstehen der Befindlichkeiten Angst, Wut, Leid, Abscheu und Freude bzw. Vorfreude ist das Verstehen des In-der-Welt-seins.

Das Worüber und Worum, sowie das Sich-Freuen der Freude ist jeweils das In-der-Welt-sein wie bei Angst, Wut, Leid und Abscheu. Freude soll abgegrenzt sein gegenüber Spaß, den das Dasein an etwas Bestimmtem in der Welt haben kann, so wie es etwa Furcht, Zorn, Trauer oder Ekel wegen etwas Bestimmtem empfindet. Wenn aus der Ergriffenheit Liebe geworden ist, dann ist die Befindlichkeit nur noch Freude. Der wichtigste Unterschied von Freude gegenüber Angst, Wut, Leid und Abscheu aber ist, dass in der Freude die Vereinzelung, der Solipsismus, zumindest solange sie anhält, überwunden ist, und dass das Dasein für den Moment der Freude in seinem eigensten In-der-Welt-sein aufgeht, es selbst ist und sich so als es selbst mit der Welt verbunden fühlt. In seinem Worumwillen ist das Dasein so angelegt, dass seine Befindlichkeit, die Ergriffenheit, entweder Freude oder wenigstens Vorfreude ist, da es ja Erfüllung anstrebt. Enttäuschung gilt es stets zu verarbeiten, da sie auf Dauer in die Abkehr vom Dasein selbst und so, wie oben dargestellt, in die Uneigentlichkeit führt. Hieraus wird noch einmal deutlich, dass die Utopie der Erfüllung und Liebe apriorisch und allgemeingültig im Dasein angelegt ist. In der Abkehr wird aus Angst Furcht, aus Wut Zorn, aus Leid Trauer, aus Abscheu Ekel und aus Freude Spaß. Diese uneigentlichen Modi der Befindlichkeit kennzeichnen die Abkehr des Daseins von ihm selbst.

Die alltägliche Daseinsauslegung und Rede ist ein weiterer Beleg dafür, dass sowohl Angst als auch Wut, Leid und Abscheu jeweils als Grundbefindlichkeit das Dasein in der Weise erschließen, dass es das Dasein vor es selbst als In-der-Welt-sein bringt. Diese Modi der Befindlichkeit spielen eine gleich wichtige Rolle als verstehende Befindlichkeit im Dasein mit der weitestgehenden und ursprünglichsten Erschließungsmöglichkeit, die im Dasein selbst liegt. In der Angst ist es dem Dasein „unheimlich“, in der Wut ist das Dasein „verzweifelt“, im Leid „untröstlich“ und in der Abscheu „elend“. „Unheimlich“ bedeutet ohne den Schutz eines Heims, kein beruhigendes Wohnen-in; „verzweifelt“ beinhaltet Entzweiung, keine Einigung, keine Harmonie, kein Vertraut-sein-mit; „untröstlich“ heißt kein Trost, keine Linderung, kein Beistand, keine Berührung, kein Sein-bei; „elend“ bedeutet im Ausland (E-Land, lateinisch „e“ oder „ex“ bedeutet aus) oder heimatlos, also Im-Nicht-zu-Hause-Sein. Heidegger erinnert daran, dass In-Sein bestimmt wurde als Wohnen-bei und Vertraut-sein-mit (Seite 53 ff. ebenda), und dass dieser Charakter durch die alltägliche Öffentlichkeit des Man konkreter sichtbar gemacht wurde als beruhigte Selbstsicherheit und selbstverständliches „Zuhause-sein“ (Seite 126 ff. ebenda). In allen vier Fällen kommt das In-Sein in den existenzialen Modus des Un-zuhause. Nichts anderes meint die Rede von der „Unheimlichkeit“, der „Verzweiflung“, der „Untröstlichkeit“ oder dem „Elend“. Das Anhalten oder sogar Zurückgehen des Daseins auf seinem Entwicklungsweg zum echten und eigentlichen Verständnis seines eigenen Seins, das heißt die Abkehr des Daseins von ihm selbst, ist also eine Flucht vor, ein Kampf gegen, ein Betrauern von oder ein Sich-Schämen bzw. Sich-Ekeln vor dem Unzuhause bzw. eine verfallende Flucht in das, ein verfallender Kampf für das, ein verfallendes Betrauern oder ein verfallendes „gemütliches Elend“ im Zuhause der Öffentlichkeit, wobei das Zuhause der Öffentlichkeit ganz konkret auch eine Psychiatrie oder ein Krankenhaus sein kann. Unheimlichkeit, Verzweiflung, Untröstlichkeit oder Elend liegen im Dasein als geworfenem, ihm selbst in seinem Sein überantworteten In-der-Welt-sein. Sie setzen dem Dasein ständig nach und behindern so immer wieder seine alltägliche, das Unzuhause „abblendende“ Abkehr von ihm selbst. Angst, Wut, Leid und Abscheu können in den harmlosesten Situationen aufsteigen. Gegenüber dem beruhigt-vertrauten In-der-Welt-sein ist das Unzuhause existenzial-ontologisch das ursprünglichere Phänomen. Ursprünglich befindet sich das Dasein im Unzuhause, in der Anspannung von Unheimlichkeit, Verzweiflung, Untröstlichkeit und Elend oder Aufenthaltslosigkeit. Diese Anspannung erinnert sehr an Heraklit (siehe Buchheim, 1994, Seite 93), nach dessen Ansicht der Streit das zeugende Phänomen (der Vater) aller Dinge ist, unauffällig und daher meist übersehen, aber die Wurzel der Eigenwüchsigkeit (Physis), also der Zeitlichkeit bzw. der Prozesshaftigkeit. Der Streit vereint und zieht in Mitleidenschaft, also zum Man hin, und so geht es auch dem Dasein unter der Herrschaft des Man, es ist mit den Anderen vereint und leidet unter seiner Getrenntheit von seinem eigentlichen und ureigensten Selbst. Dabei nimmt das Dasein immer nur den einen Ausschlag wahr, entweder die Vereinigung oder die Einsamkeit. Nur durch Angst, Wut, Leid und Abscheu kann es den grundlegenden Streit bzw. Konflikt befindlich verstehen, der auf die Sorge bzw. Ergriffenheit und Erwartung samt Täuschung und Enttäuschung sowie auf die gleichursprüngliche Utopie von Liebe und Erfüllung hinweist. Da Freude nur entsteht, wenn das Dasein schon vor es selbst und sein In-der-Welt-sein gebracht ist, spielt sie für obige Überlegungen keine Rolle, höchstens ihr uneigentlicher Modus, der Spaß, durch den das Dasein sich verleiten lassen kann, die alltägliche Abkehr von ihm selbst „abzublenden“. Mit dem Spaß aber ist es dem Dasein erschlossen, dass es auch Freude am In-der-Welt-sein haben kann, wenn es sich liebevoll davor bringt.

Und weil Angst, Wut, Leid und Abscheu das In-der-Welt-sein immer schon bestimmen, kann dieses als ergriffen-ergreifend-befindliches Sein bei der „Welt“ sich fürchten und ekeln, zürnen und trauern, aber auch Spaß haben. Furcht und Ekel, Zorn, Trauer und Spaß (wie oben unter Punkt 5 definiert) sind jeweils an die „Welt“ verfallene, uneigentliche und ihnen selbst jeweils als solche verborgene Angst und Abscheu, Wut und Leid, aber auch Freude. Faktisch bleiben denn auch die Stimmungen der Unheimlichkeit, der Verzweiflung, der Untröstlichkeit und des Elends bzw. der Aufenthaltslosigkeit, sowie das utopisch mögliche echte Zuhause-Sein in einer liebevollen Beziehung zum Sein überhaupt meist existenziell unverstanden. Wegen der unverstandenen Utopie eines echten Zuhause-Seins bleibt das Dasein zunächst und zumeist im Unzuhause und sucht nicht nach seinem Zuhause. Innerhalb einer Gemeinschaft versucht das Dasein aufgrund einer unverstandenen Angst, sich vor der empfundenen Gefahr des Alleingelassenwerdens und Wertlosseins zu schützen, indem es sich nützlich macht, und nimmt so die Helferrolle an, aufgrund einer unverstandenen Wut wegen empfundener Ungerechtigkeit geht es in die Täterrolle, aufgrund von unverstandenem Leid wegen seiner Einsamkeit in die Opferrolle und aufgrund von unverstandener Abscheu gegenüber überwältigender Gewalt in die Isolation. Dies sind die Hauptformen der Abkehr des Daseins von ihm selbst im sozialen Bereich. In Angst, Wut, Leid und Abscheu liegen Möglichkeiten eines ausgezeichneten Erschließens, weil sie vereinzeln bzw. innerhalb einer Gemeinschaft ausschließen. Dies holt das Dasein aus seiner Abkehr von ihm selbst zurück und macht ihm Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar. Diese Grundmöglichkeiten der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit zeigen sich in den Befindlichkeiten der Angst, der Wut, des Leids und der Abscheu unverstellt durch innerweltlich Seiendes, woran sich das Dasein zunächst und zumeist klammert, sodass dadurch Freude als Vorfreude auf ein Eigentlich-Sein entstehen kann.

Der Gesamtbestand dessen, was in den Befindlichkeiten der Angst, der Wut, des Leids, der Abscheu und der Freude liegt, lässt sich so registrieren: Das Sich-ängsten, das Wüten, das Leiden, das Verabscheuen und das Sich-Freuen sind als Befindlichkeiten eine Weise des In-der-Welt-seins; das Wovor der Angst, das Worüber der Wut, der Abscheu und der Freude und das Woran des Leids ist das geworfene In-der-Welt-sein; das Worum der Angst, der Wut, der Abscheu und der Freude ist das In-der-Welt-sein-können. Das volle Phänomen der Angst, der Wut, der Abscheu oder der Freude zeigt jeweils das Dasein als faktisch existierendes In-der-Welt-sein. Die fundamentalen ontologischen Charaktere dieses Seienden sind Existenzialität, Faktizität und Täuschung bzw. Verfallenheit als Abkehr von der Möglichkeit des eigentlichen Selbst-Seinkönnens. Ich verwende hier absichtlich nicht nur den Begriff des Verfallenseins, weil die Verfallenheit an die Herrschaft des Man gewisse extreme Phänomene außerhalb der Normalität wie oben dargestellt nicht umfasst. In kleineren Gemeinschaften, wenn das Dasein persönliche Beziehungen zu Anderen unterhält, besteht die Abkehr vom Modus der Eigentlichkeit hin zum Modus der Uneigentlichkeit darin, beim Vorherrschen der Angst in die Helfer-, beim Vorherrschen der Wut in die Täter-, beim Vorherrschen des Leids in die Opferrolle und beim Vorherrschen der Abscheu in die Isolation zu gehen. In der Isolation versucht das Dasein auf uneigentliche Art und Weise die Aufgabe zu lösen, die sich durch das Lebensthema Abstand von überwältigender Gewalt ergibt, in der Opferrolle die Aufgabe, die sich durch das Lebensthema der Versorgung stellt, in der Täterrolle die Aufgabe, die sich durch das Lebensthema der Macht und Selbstbestimmtheit ergibt, und in der Helferrolle die Aufgabe, die sich durch das Lebensthema des Sich-nützlich-Machens, der kreativen Produktivität und des dabei jeweils Schuldigseinkönnens stellt. Die letzten drei Lebensthemen, die ich schon oben erwähnt habe, entsprechen übrigens den drei Entwicklungsphasen der Psychoanalyse: Versorgung der oralen Phase, Macht und Selbstbestimmtheit der analen Phase und Produktivität/Sich-nützlich-machen und Schuldigseinkönnen der phallisch-ödipalen Phase. Im Unterschied zur klassischen Psychoanalyse müssen diese Lebensthemen nicht in einer bestimmten Reihenfolge erscheinen, sie können wie die Befindlichkeiten der Angst, der Wut, des Leids oder der Abscheu auch in Mischformen und in beliebiger Reihenfolge auftreten. Entsprechend kann das Dasein in der Abkehr von seiner Eigentlichkeit entweder in die Isolation gehen oder in dem Rollendreieck Opfer-Täter-Helfer beliebig „herumspringen“, was der Redewendung „im Dreieck springen“ eine neue Bedeutung gibt.

Die Grundbefindlichkeiten der Angst, der Wut, des Leids, der Abscheu und der Freude sind apriorisch im Dasein durch seine Geworfenheit gegeben und spannen den Raum aller Modi der Befindlichkeit des Daseins auf, denn sie erschließen dem Dasein jeweils die Zukunft durch die Angst, die Gewesenheit durch die Wut, die Gegenwart durch das Leid und die Räumlichkeit durch die Abscheu. Wie wir später in Kapitel 9 sehen werden, sind dies gerade die vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit. Zusammen mit der Grundbefindlichkeit der Freude, durch die dem Dasein die Entwicklungsrichtung zu Liebe und Erfüllung hin erschlossen ist, ist jeder Modus der Befindlichkeit eine Mischung aus dem, was aus Angst, Wut, Leid und Abscheu erwächst und durch die Freude im eigentlichen Modus als Befindlichkeit gehalten wird. Wenn die Freude, das belebende Element, verschwindet, verfällt die Befindlichkeit in die uneigentlichen Modi Furcht, Zorn, Trauer und Ekel, und das Dasein versucht, sich durch Spaß abzulenken und seine Befindlichkeit so zu kontrollieren. Dies wird unten in Kapitel 10 unter Bezug auf Empedokles ausführlicher dargestellt. Diese Grundbefindlichkeiten sind dem Dasein apriorisch erschlossen, werden aber von ihm erst im Laufe seiner Entwicklung entdeckt. Bei der Angst geschieht dies zum Beispiel mit acht Monaten, wenn das Dasein differenzieren kann zwischen dem vertrauten Gesicht seiner Mutter und fremden Gesichtern. Es kann zwar schon etwas früher differenzieren, aber erst durch die Angst entdeckt es in deren Verständnis die Bedeutsamkeit dieses Unterschieds. Die Bedeutung der Grundbefindlichkeiten von Freude, Leid, Wut, Angst und Abscheu findet eine phänomenale Bestätigung in den von Ekman angenommenen fünf „Basisemotionen“, nämlich Freude, Trauer, Zorn, Furcht und Ekel (wie er sie nennt), die man am Gesichtsausdruck kulturübergreifend erkennen könne (Fonagy et al., 2008, Seite 80).

In der Einheit von Existenzialität, Faktizität und Verfallen bzw. Abkehr von seiner Eigentlichkeit (Aufrechterhaltung der Täuschung), in der Einheit dieser Seinsbestimmungen des Daseins wird dessen Sein als solches ontologisch fassbar. In der Seinsverfassung des Verstehens hat sich das Worumwillen des Daseins verdeutlicht als Seinsverfassung des sich entwerfenden Seins zum eigensten Seinkönnen, des aufgrund seines Bedingt-Seins (der Geworfenheit) begrenzten und akzeptierenden Seins zum eigensten Seinkönnen. Das die Begrenzungen akzeptierende Freisein für das eigenste Seinkönnen und damit für die Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zeigt sich in einer ursprünglichen, elementaren Konkretion in der Abscheu, im Leid, in der Wut und in der Angst, aber auch positiv in der Freude. Ontologisch besagt das Sein zum eigensten Seinkönnen: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein jeweils schon vorweg (entwerfend), noch hinterher (vorausgehende Bedingungen), anwesend (akzeptierend) und sich einlassend (besorgend bzw. ergreifend). Diese Seinsstrukturen des wesenhaften Worumwillens fassen wir als das Sich-vorweg-sein, das Sich-hinterher-sein, das Anwesend-sein und das Sich-einlassend-sein. Da diese Strukturen aber das Ganze der Daseinsverfassung betreffen und das In-der-Welt-sein charakterisieren, dass also das Dasein ihm selbst überantwortet und jeweils schon in eine Welt geworfen ist, was sich ursprünglich konkret in der Angst, der Wut, dem Leid, der Abscheu und der Freude zeigt, müsste es voller gefasst heißen: Sich-vorweg-im-schon-sein-in-einer-Welt, Sich-hinterher-im-noch-sein-in-einer-Welt, Anwesend-im-gerade-sein-in-einer-Welt und Sich-einlassend-sein-bei-in-einer-Welt. Das Worumwillen (Existieren) ist immer ein Sein-in-einer-Welt (faktisches). Existenzialität (Wahlmöglichkeit) ist wesenhaft durch Faktizität (durch Bedingtheiten begrenztes Seinkönnen) bestimmt.

Faktisches Existieren des Daseins ist immer auch schon in der besorgten bzw. ergreifend-ergriffenen Welt aufgegangen, in der es sich immer wieder täuscht und dann enttäuscht wird. In diesem sich daraufhin von seinem eigentlichen Seinkönnen abkehrenden Sein-bei meldet sich, ausdrücklich oder nicht, verstanden oder nicht, das Fliehen vor der Unheimlichkeit, das Kämpfen gegen die Verzweiflung, das Leiden an der Trostlosigkeit, das Verabscheuen der Aufenthaltslosigkeit und das Spaß-Haben in der Ablenkung, was zumeist zusammen mit der latenten Angst, Wut, Leid bzw. Abscheu, aber auch der Vorfreude auf eine Möglichkeit des Eigentlich-Seins verdeckt bleibt, weil die Öffentlichkeit des Man alle Unvertrautheit niederhält, und auch die in der Abkehr von seiner Eigentlichkeit dem Dasein längst vertraute Isolation und die vertrauten Rollen des Opfers, des Täters und des Helfers bieten ihm stets ein „gemütliches Elend“. Elend bedeutet ja Ausland (siehe oben), das heißt das Dasein befindet sich in der Abkehr von seiner Eigentlichkeit nicht in seinem Zuhause, es hat es sich aber in seiner Abkehr „gemütlich“ (Spaß) gemacht. Zuhause ist es nur im echten und unmittelbaren Verstehen seines eigenen Seins, also in der Liebe.

Die formal existenziale Ganzheit des ontologischen Strukturganzen des Daseins muss daher in folgende Strukturen gefasst werden: Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt), Sich-hinterher-noch-sein-in-(der-Welt), Anwesend-im-gerade-sein-in-(der-Welt) und Sich-einlassend-sein-bei-in-(der-Welt). Dieses Seiende erfüllt die Bedeutung des Titels Ergriffenheit, Erwartung und Ergreifen als Befindlichkeit, befindliches Verständnis, Rede und Auslegung von Ergriffenheit und Erwartung, insgesamt also Sorge und Besorgen nach Heidegger.

Weil das In-der-Welt-sein wesenhaft Ergriffenheit, Erwartung, Täuschung und Ergreifen, also Sorge ist, kann das Sein bei dem Zuhandenen als Besorgen bzw. Ergreifen und das Sein mit Anderen als Sich-Auseinandersetzen (auch jeweils als Privation) gefasst werden. Sorge bestimmt als Grundstruktur des Mitseins und In-Seins das Sein-bei, auch „Berührung“ (Seite 55 ebenda), eine Weise des In-Seins, nämlich die Seinsweise des Besorgens bzw. ergriffenen Ergreifens. Die Sorge charakterisiert nicht etwa nur Existenzialität (als Erwartungen mit entsprechenden Wahlmöglichkeiten), sondern auch die Faktizität (als Ergriffenheit von faktisch Begegnendem mit dessen Grenzen und Bedingungen) und die Verfallenheit als Abkehr von der Eigentlichkeit des Daseins, wenn eine Täuschung aufgrund der faktischen Nichtigkeit der erwarteten Möglichkeiten vorliegt, an der das Dasein festhält. Sorge kann nicht ein besonderes Verhalten zum Selbst meinen, es ist ontologisch schon durch das Sich-vorweg-sein (Erwartung), das Sich-hinterher-sein (Ergriffenheit), das Anwesend-sein (mögliche Täuschung) und Sein-bei (Ergreifen) charakterisiert. In diesen Bestimmungen sind aber auch die anderen strukturalen Momente der Sorge mitgesetzt: das Schon-sein-in (Möglichkeiten entwerfen), das Noch-sein-in (Bedingtheiten verstehen), das Gerade-sein-in (sich möglicherweise täuschen) und das Sein-bei-in (ergreifen, besorgen). Die Konsequenz der Enttäuschung als Abkehr oder Sich-weiter-Einlassen ist ebenfalls ein strukturales Moment der Sorge: Das Dasein „sorgt“ für etwas je nachdem, wie es mit der jeweiligen Enttäuschung umgeht. Dies wird bei Heidegger durch die Begriffe Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit erfasst, aber nicht als Moment der Sorge beschrieben. Das Dasein sorgt entweder für eine Entwicklung zur Eigentlichkeit (Sich-weiter-Einlassen auf sich selbst) oder zur Uneigentlichkeit (Abkehr von sich selbst), je nachdem wie sehr es von ihm selbst ergriffen ist. Es nähert sich ihm selbst, je mehr es von ihm selbst ergriffen ist, oder es entfernt sich von ihm selbst, kehrt sich also von ihm selbst ab, je weniger – insgesamt also ein räumliches Phänomen. Aufgrund seines Seinsverständnisses hat das Dasein nämlich ein Vorverständnis von ihm selbst.

Im Sich-vorweg-sein, Sich-hinterher-sein, Anwesend-sein und Sich-einlassend-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existenzial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Begrenzungen akzeptierenden Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten. Innerhalb seiner Freiheit kann das Dasein sich zu seinen Möglichkeiten auch unwillentlich verhalten, es kann uneigentlich sein und ist faktisch zunächst und zumeist in dieser Weise. Auch in der Uneigentlichkeit bleibt das Dasein wesenhaft Sich-vorweg, Sich-hinterher, Anwesend und Sich-einlassend, ebenso wie das Fliehen, das Kämpfen, das Leiden oder das Verabscheuen des Daseins vor, gegen, an ihm selbst oder seiner selbst noch die Seinsverfassung zeigt, dass es diesem Seienden um sein Sein geht.

„Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit existenzial-apriorisch „vor“ jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen „Verhaltung“ und „Lage“ des Daseins. Das Phänomen drückt daher keineswegs einen Vorrang des „praktischen“ Verhaltens vor dem theoretischen aus. […] „Theorie“ und „Praxis“ sind Seinsmöglichkeiten eines Seienden, dessen Sein als Sorge“ (Seite 193 ebenda) bzw. Ergriffenheit und Erwartung bestimmt werden muss.

Das Phänomen der Sorge bzw. der Ergriffenheit und Erwartung in seiner wesenhaft unzerreißbaren Ganzheit lässt sich auch nicht auf besondere Akte oder Triebe wie Wollen und Wünschen oder Drang und Hang zurückleiten, bzw. aus ihnen zusammenbauen. (Seite 193 f. ebenda) Sie setzen ontologisch Sorge bzw. Erwartung und Ergriffenheit voraus.

Im Paragraph 41 schildert Heidegger ein vorontologisches Zeugnis dafür, dass das Dasein sich schon früher in einer alten Fabel als Sorge ausgelegt hat. Es ist dies die Cura-Fabel des Hyginus. Heidegger, der eine phänomenologische Abneigung gegen rein deduzierende, konstruierende Verfahren in der Philosophie hat, nimmt diese Fabel als Bewährung, die für ihn im Sinne des hermeneutischen Zirkels wichtig ist, damit er seiner methodischen Vorgehensweise treu bleibt, dass es immer erst auch ein Vorverständnis geben muss, an das ontologische Erkenntnisse gebunden sind. Da wie oben in Kapitel 2 ausgeführt Ergriffenheit und Erwartung zusammen die Sorge ausmachen, kann ich die Cura-Fabel dafür auch in Anspruch nehmen. Ein weiteres vorontologisches Zeugnis für den Begriff der Erwartung ist die Lehre des Buddha, der in der Erwartung den Ursprung allen Leids der Menschen sieht. So wie die Sorge den Doppelcharakter hat, dass sie einerseits aufgrund der Geworfenheit eine Belastung sein kann, andererseits aber auch im Entwerfen eine Herausforderung, so kann auch die Erwartung Resignation auslösen oder einen anspornen. In der Erwartung gründet einerseits Hoffnung auf Erfüllung, andererseits aber auch Angst vor Enttäuschung.

Betrachten wir noch einmal die Struktur von Sorge als Ergriffenheit und Erwartung. Ergriffenheit war als Befindlichkeit, die in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher Intensität die Befindlichkeiten Freude, Angst, Wut, Leid und Abscheu enthalten kann (Ergriffenheit kann also reine Freude, reine Angst, reine Wut, reines Leid oder reine Abscheu sein, oder irgendeine Mischung dieser fünf Befindlichkeiten), und als Sein-bei definiert, wobei Ergriffenheit ontologisch verstanden außerdem räumliche Nähe-zu ist (siehe oben). Erwartung ist das befindliche Verstehen der Ergriffenheit und die Rede als vorgreifende Gliederung von dieser Befindlichkeit und deren Verstehen, und das Ergreifen ist die Auslegung und das sich ausdrückliche Aneignen des in der Erwartung Begriffenen. Erwartung kann in unterschiedlichen Graden erfüllt oder enttäuscht sein, sie kann eher optimistisch oder eher pessimistisch getönt sein. Diese Eigenschaften der Erwartung entsprechen den unterschiedlichen Mischungsverhältnissen von Freude, Angst, Wut, Leid und Abscheu bei der Ergriffenheit. Wenn die Ergriffenheit Angst beinhaltet, von der sich das Dasein zunächst und zumeist abkehrt, und daher die Erwartung weder optimistisch noch pessimistisch getönt und noch nicht richtig erfüllt, aber auch nicht vollkommen enttäuscht ist, dann liegt „Sorge“ nach dem alltäglichen Sprachgebrauch vor. Insofern ist dieser Alltagsbegriff in Ergriffenheit und Erwartung enthalten. Wenn man wie Heidegger die Sorge ausschließlich mit Angst koppelt, dann umfasst dies nicht mehr alle Möglichkeiten von Ergriffenheit und Erwartung. Insofern sind Ergriffenheit und Erwartung nur dann mit Sorge gleichzusetzen, wenn man Sorge entsprechend weiter fasst als Heidegger und alle Befindlichkeiten von Angst, Wut, Leid, Abscheu und Freude sowie deren Mischungen mit einbezieht.

Im Paragraph 44 untersucht Heidegger den Wahrheitsbegriff und stellt dem traditionellen Begriff, den er kurz als Übereinstimmung von Idee und Realem beschreibt und dessen Ort sich im Urteil befindet, seinen eigenen Begriff von Wahrheit gegenüber: Wahrheit ist die Erschlossenheit des Seins. Ich interpretiere seine Ausführungen so, dass Wahrheit auf einer Beziehung beruht, und zwar der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt. In dieser Beziehung ist das Sein des Daseins und das In-der-Welt-sein als etwas Erschlossenes gegeben, und das Dasein kann in dieser Beziehung das Erschlossene befindlich verstehen und sich dann ausdrücklich aneignen und so im Ausdruck etwas zurück geben, so dass diese Beziehung selbst in diesem Geben und Nehmen erschließbar ist. Da es dem Dasein in dieser Beziehung um das Sein überhaupt geht, versteht es dieses Sein genau dann echt und unmittelbar, wenn es sich selbst in seinem Worumwillen echt und unmittelbar versteht. Dann ist diese Beziehung des Daseins mit dem Sein überhaupt, also sein menschliches Leben, die Wahrheit des Daseins. Beim traditionellen Wahrheitsbegriff ist diese Beziehung, auf der die Wahrheit beruht, verkürzt und reduziert auf eine Übereinstimmungsrelation von Idee und Realem, wobei außerdem noch weggelassen wurde, von wem die Idee stammt, das heißt wessen Wahrheit es ist. Erschlossenheit ist ja ein Existenzial des Daseins, das heißt es kann verschiedene Modi annehmen. Sie kann zum Beispiel teilweise entdeckt oder verdeckt sein, oder teilweise auch nur scheinbar entdeckt oder scheinbar verdeckt. Das Dasein existiert also sowohl in der Wahrheit als auch in der Unwahrheit. Je mehr sich die Sorge des Daseins zur Liebe hin entwickelt hat, desto mehr existiert das Dasein in der Wahrheit, desto mehr hat das Dasein die Erschlossenheit seines Seins entdeckt, und zwar dadurch, dass es das Sein überhaupt immer echter und unmittelbarer versteht. Wahrheit ist dann die echte und unmittelbare Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, das heißt sein Leben ist Liebe und Erfüllung.

Sein zum Tode bzw. Sterblichkeit (§§ 45 bis 53) Bearbeiten

Am Anfang dieses Abschnitts zieht Heidegger Resümee, was ich an dieser Stelle nachvollziehen möchte, allerdings mit meinen Abwandlungen. Gefunden wurde die Grundverfassung des Daseins, das In-der-Welt-sein mit dem wichtigen Existenzial (mögliche Seinsweise) der Erschlossenheit. Die Ganzheit dieses Strukturganzen enthüllte sich als Sorge mit den Unterstrukturen Befindlichkeit bzw. Ergriffenheit und deren Verständnis, Rede und ausdrückliche Auslegung, nämlich der Erwartung und dem Besorgen bzw. dem Ergreifen. Als Leitfaden für die Analyse dieses Seins wurde die Existenz genommen, das heißt das Sein, um das es dem Dasein als verstehendem Seinkönnen geht. Dieses Seiende, das Dasein, sind wir jeweils selbst. Hierbei wurde vorgreifend die Existenz als das Wesen des Daseins bestimmt. Die Herausarbeitung des Phänomens der Sorge und des Besorgens bzw. Ergriffenheit, der Erwartung und des Ergreifens verschaffte einen Einblick in die konkrete Verfassung der Existenz, das heißt in ihren gleichursprünglichen Zusammenhang mit der Faktizität und der Existenzialität, der Wahlmöglichkeit der Abkehr des Daseins von seiner Enttäuschung der Erwartung, also der enttäuschten Abkehr des Daseins von ihm selbst und seinem In-der-Welt-sein, oder der Verarbeitung der Enttäuschung ohne Abkehr von ihm selbst.

Gesucht wird die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, wobei diese Grundfrage zuerst einmal grundlegend ausgearbeitet werden muss. Dazu muss so etwas wie Sein überhaupt erst einmal verständlich werden, das heißt die Möglichkeit des Seinsverständnisses überhaupt muss erst einmal aufgeklärt werden. Da diese Möglichkeit zur Verfassung des Daseins gehört, lässt sich die Möglichkeit des Seinsverständnisses überhaupt nur dadurch grundlegend aufklären, dass das Dasein an ihm selbst hinsichtlich seines Seins ursprünglich interpretiert ist. Wann aber ist eine ontologische Interpretation bzw. Untersuchung ursprünglich?

Jede ontologische Untersuchung ist eine Art Auslegung, die als ausdrückliches Ausarbeiten und Zueignen eines Verstehens gekennzeichnet ist. Als Voraussetzung bedarf dies der sogenannten hermeneutischen Situation, also einer vorgängigen Klärung und Sicherung des „Forschungsgegenstandes“ in Form einer Vor-Habe durch eine erste phänomenale Charakteristik, einer Vor-Sicht auf die Seinsart des zu Erforschenden, die alle weiteren Schritte der Analyse führen muss, und eines Vor-Griffs, das heißt der Begrifflichkeit, die durch Vor-Habe und Vor-Sicht vorgezeichnet ist und in die alle Seinsstrukturen zu heben sind. Der Vor-Griff wird dann ausgelegt, also ausdrücklich ausgearbeitet und das so Verstandene sich zugeeignet.

Eine ontologische Untersuchung ist nur dann ursprünglich, wenn sie die ganze phänomenale Charakteristik in die Vor-Habe gebracht hat, und die Vorzeichnung (Vor-Sicht) des Seins des Daseins muss dieses Sein hinsichtlich der Einheit der zugehörigen und möglichen Strukturmomente treffen. Erst dann gibt es die Möglichkeit des Seinsverständnisses überhaupt, das heißt des Verständnisses der Einheit der Seinsganzheit.

Heidegger hat sich bisher auf die Interpretation der durchschnittlichen Alltäglichkeit beschränkt und somit die existenziale Struktur des eigentlichen Seinkönnens nicht in die Existenzidee hineingenommen. Damit fehlt schon der Vor-Sicht die Ursprünglichkeit, denn die Einheit der zugehörigen und möglichen Strukturmomente der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit ist noch nicht getroffen. Auch bei der Vor-Habe ist nicht das ganze Dasein von Anfang bis Ende phänomenal charakterisiert, wobei sich hier die problematische Frage erhebt, ob das Dasein, das jeweils etwas noch nicht ist, solange es existiert, überhaupt in seiner Ganzheit erfasst werden kann. Letzteres löst Heidegger dadurch, dass er nicht das Zu-Ende-sein des Daseins im Tod betrachtet sondern das Zum-Ende-sein des Daseins, nämlich seine Sterblichkeit (siehe Rentsch, 2007, Seite 139). Diese existenziale Struktur erweise sich als die ontologische Verfassung des Ganzseinkönnens des Daseins, so dass sich das ganze existierende Dasein in die existenziale Vor-Habe bringen lässt. Hierbei fehlt meines Erachtens aber noch das Am-Anfang-sein des Daseins in der ursprünglichen Geworfenheit als erste Seins-Bedingtheit, vor die das Dasein nicht gelangen kann. Ontologisch ist dies das Vom-Anfang-her-sein des Daseins, was man existenzial als Unteilbarkeit oder Individualität anzeigen kann. In der Individualität offenbart sich die Unverfügbarkeit des Daseins, es lässt sich nicht wie eine Maschine in Einzelteile oder Einzelfunktionen aufteilen und wie etwas Zuhandenes benutzen, es ist ganzheitlich und kann bei echtem und unmittelbarem Verständnis auch nicht als lediglich Vorhandenes betrachtet werden. Faktisch bzw. biologisch ereignet sich der Anfang des Daseins, wenn sich nach der Konzeption keine Mehrlinge mehr bilden. Ab hier beginnt das, was ich als faktische Individualität bezeichnen möchte. Wie aber ist es mit der Eigentlichkeit bestellt, kann das Dasein auch eigentlich ganz existieren?

Um die Ganzheit des Daseins in die existenziale Vor-Habe zu bringen, untersucht Heidegger zunächst das Phänomen des Todes. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass der Tod weder etwas Zuhandenes noch etwas Vorhandenes ist, sondern ein existenziales Phänomen: „Das äußerste Noch-nicht hat den Charakter von etwas, wozu das Dasein sich verhält.“ (Seite 250 ebenda) „Äußerst“ bedeutet hier nicht nur zeitlich die letzte Möglichkeit, sondern auch räumlich die Möglichkeit, dass das Dasein derart weit nach „außen“ aus der Welt hinausgeworfen wird, dass es nicht mehr ein In-der-Welt-sein ist. Der Tod als Vollzug ist zwar nicht wählbar, aber das Wie, also die Seinsweise des Daseins vor und im Augenblick des Todes. Dasselbe gilt natürlich auch für den Tod eines Anderen. Insofern ist auch der Tod des Anderen als Vollzug prinzipiell nicht erfahrbar für das Dasein. Heidegger wird hier meines Erachtens missverstanden, wenn man ihm vorwirft, er sei blind für die vom empathischen Mitsein her mögliche Todeserfahrung. In der Empathie des Daseins mit dem Anderen kann es dessen Seinsweise im Augenblick des Todes wohl erfassen und sich davon berühren lassen. Aber darum geht es Heidegger im Paragraph 47 gar nicht, denn er betrachtet hier den Tod des Anderen lediglich als Vollzug des Anderen, und der ist prinzipiell nicht erfahrbar für das Dasein. Der Tod als das Zu-Ende-sein besagt also existenzial: Sein zum Ende (Sterblichkeit).

Entsprechend möchte ich das Phänomen der Geworfenheit untersuchen. Diese ist weder etwas Zuhandenes noch etwas Vorhandenes, sondern auch ein existenziales Phänomen: Das äußerste Schon-Vorweg, die äußerste Bedingung hat den Charakter von etwas, von woher das Dasein sich verhält. „Äußerst“ bedeutet hier nicht nur zeitlich die erste Bedingung, sondern auch räumlich die Bedingung, dass das Dasein von so weit „außen“ in die Welt hineingeworfen wurde, dass es noch nicht ein In-der-Welt-sein gewesen ist. Sowohl beim Phänomen der Geworfenheit, als auch schon oben bei dem des Todes weist das Attribut „äußerst“ auf die Bedeutung der Räumlichkeit hin, die Heidegger nicht beachtet hat. Das äußerste Schon-Vorweg, als welches ich das Phänomen der Geworfenheit anzeigen möchte, ist als Vollzug nicht wählbar, aber die Seinsweise der Geworfenheit, wenn das Dasein sich selbst überantwortet ist und vor die Wahl (nicht Entscheidung) gestellt ist, diese Verantwortung bzw. sich selbst anzunehmen oder nicht (Selbstwahl). Die Geworfenheit als das Am-Anfang-sein besagt also existenzial: Sein vom Anfang her (individuelle Unverfügbarkeit oder kurz Individualität).

Aus den Betrachtungen Heideggers über Ausstand, Ende und Ganzheit (siehe Seite 241 ff., ebenda) ergibt sich die Notwendigkeit, das existenziale Phänomen des Todes als Sein zum Ende (Sterblichkeit) aus der Grundverfassung des Daseins zu interpretieren. Dadurch kann deutlich werden, inwiefern im Dasein selbst dadurch ein konstituiertes Ganzsein möglich ist. Als Grundverfassung des Daseins wurden die Sorge bzw. die Ergriffenheit und die Erwartung sichtbar gemacht. Ontologisch bedeutet dies: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt), Sich-hinterher-noch-sein-in-(der-Welt), Anwesend-gerade-sein-in-(der-Welt) und Sich-einlassend-sein-bei-in-(der-Welt). Damit sind die fundamentalen Charaktere des Seins des Daseins ausgedrückt: im Sich-vorweg, Sich-hinterher, Anwesend und Sich-einlassend jeweils die Existenz, im Schon-sein-in, Noch-sein-in, Gerade-sein-in und Sein-bei-in jeweils die Faktizität, im Sich-einlassend zusätzlich das Verfallen bzw. die mögliche Abkehr bei Enttäuschung der Erwartung. Von diesen Charakteren aus muss sich das Sein zum Ende bestimmen lassen.

Am Phänomen des Todes enthüllen sich Existenz, Faktizität und mögliche Abkehr des Daseins von ihm selbst wie folgt: Der Tod ist nichts Vorhandenes, welches noch aussteht, sondern eine Möglichkeit, die dem Dasein bevorsteht und die es selbst zu übernehmen hat, das Dasein ist also „völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen“ (Seite 250 ebenda) ohne irgendeinen Bezug zu anderem Dasein. Da der Tod als Seinkönnen nicht zu überholen ist, enthüllt er sich so insgesamt als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit. Im Sein zu dieser ausgezeichneten Möglichkeit hat die Existenz im Sich-vorweg (Möglichkeit), Sich-hinterher (unüberholbare), Anwesend (unbezügliche) und Sich-einlassend (eigenste) ihre ursprünglichste Konkretion. Sobald das Dasein existiert, ist es seinem Tod überantwortet, und diese Geworfenheit in den Tod enthüllt sich ihm in den Grundbefindlichkeiten Angst, Wut, Leid und Abscheu als „Erschlossenheit davon, dass das Dasein [Ergänzung von mir: hier und jetzt] als geworfenes Sein zu seinem Ende existiert“ (Seite 251 ebenda). Es ist die Angst davor, dass das Dasein zu seinem Ende existiert, die Wut darüber, dass das Dasein als geworfenes Sein schon sterblich ist, das Leid deswegen, weil das Dasein jetzt sterblich ist, und die Abscheu deswegen, weil das Dasein hier in der Welt sterblich ist, also die Angst vor dem, die Wut, das Leid und die Abscheu über das In-der-Welt-sein selbst. Dabei geht es der Angst, der Wut, dem Leid und der Abscheu um das In-der-Welt-sein des Daseins, und das Sich-ängsten, Wüten, Leiden und Verabscheuen ist ein sich-angehen-lassendes Freigeben für das eigenste Seinkönnen des Daseins. In diesem Schon-sein-in, Noch-sein-in, Gerade-sein-in und Sein-bei-in der Geworfenheit in den Tod zeigt sich also die Faktizität des Daseins. Hieraus ergibt sich übrigens, dass das Sein zum Tode für die Ganzheit ausreicht, da die Geworfenheit, also das Sein vom Anfang her, darin enthalten ist. Indem das Dasein zunächst und zumeist das eigenste Sein zum Tode verdeckt und nicht Sich-einlassend ist, wird die Abkehr des Daseins von ihm selbst enthüllt.

Nachdem gezeigt ist, dass das Sein zum Tode hinsichtlich seiner ontologischen Möglichkeit in der Ergriffenheit und der Erwartung, also in der Sorge, gründet, muss es auch in der Alltäglichkeit aufweisbar sein. Damit kommen wir dem Ziel näher aufzuzeigen, dass in der Sorge sich ontologisch die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins enthüllt. „Dem Dasein geht es auch in der durchschnittlichen Alltäglichkeit ständig um dieses eigenste, unbezügliche und unüberholbare Seinkönnen, wenn auch nur im Modus des Besorgens [bei mir des Ergreifens] einer unbehelligten Gleichgültigkeit gegen die äußerste Möglichkeit seiner Existenz“ (Seite 255 ebenda).

Im Alltäglichen ist die Angst vor dem Tod eine Flucht bzw. ein Ausweichen, und daraus ergibt sich „die Anweisung zu dem Versuch, durch eine eindringlichere Interpretation des verfallenden Seins zum Tode als Ausweichen vor ihm den vollen existenzialen Begriff des Seins zum Ende zu sichern“ (Seite 255 ebenda). Entsprechend ist die Wut, das Leid und die Abscheu bezüglich des Todes ein Kampf gegen die, ein Trauern und Verabscheuen wegen der Sterblichkeit, was im Alltäglichen zu einer Resignation vor dem Unausweichlichen und damit ebenfalls zu einem Ausweichen führt. Um den vollen existenzialen Begriff des Todes zu gewinnen, muss daher das alltägliche Sein zum Ende ergänzend so interpretiert werden: Im „man stirbt“ gibt die Alltäglichkeit so etwas wie eine Gewissheit des Todes zu. Gleichzeitig ist der Tod aber auch unbestimmt, da er jeden Augenblick möglich ist. Beides wird dadurch verdeckt, dass „man sagt: der Tod kommt gewiss, aber vorläufig noch nicht“ (Seite 258 ebenda). „Der volle existenzial-ontologische Begriff des Todes lässt sich jetzt in folgenden Bestimmungen umgrenzen: Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins. Der Tod ist als Ende des Daseins im Sein dieses Seienden [von seinem Anfang an bis] zu seinem Ende.“ (Seite 258 f. ebenda)

Entsprechend ergibt sich auch die Notwendigkeit, das existenziale Phänomen der Geworfenheit als Sein vom Anfang her (Individualität) aus der Grundverfassung des Daseins zu interpretieren. Wie oben schon festgestellt sind die fundamentalen Charaktere des Seins des Daseins so ausgedrückt: im Sich-vorweg, Sich-hinterher, Anwesend und Sich-einlassend jeweils die Existenz, im Schon-sein-in, Noch-sein-in, Gerade-sein-in und Sein-bei-in jeweils die Faktizität, im Sich-einlassend zusätzlich die mögliche Abkehr bei Enttäuschung der Erwartung. Von diesen Charakteren aus muss sich das Sein vom Anfang her bestimmen lassen.

Am Phänomen der Geworfenheit enthüllen sich Existenz, Faktizität und Abkehr des Daseins von ihm selbst wie folgt: Die Geworfenheit ist nichts Vorhandenes, welches schon ansteht, sondern eine Bedingtheit für gewisse Möglichkeiten, die dem Dasein eigens überantwortet ist, das Dasein ist also völlig auf seine eigenste Bedingtheit verwiesen ohne irgendeinen Bezug zu anderem Dasein. Da die Geworfenheit als Bedingtheit nicht zu hintergehen ist, enthüllt sie sich so insgesamt als die eigenste, unbezügliche, unhintergehbare Bedingtheit für gewisse Möglichkeiten. Im Sein von dieser ausgezeichneten Bedingtheit her hat die Existenz im Sich-vorweg (unhintergehbare), Sich-hinterher (Bedingtheit), Anwesend (unbezügliche) und Sich-einlassend (eigenste) ihre ursprünglichste Konkretion. Solange das Dasein existiert, ist ihm seine Geworfenheit überantwortet, und diese Überantwortung enthüllt sich ihm in den Grundbefindlichkeiten der Angst, der Wut, des Leids und der Abscheu als Erschlossenheit davon, dass das Dasein als überantwortetes Sein von seinem Anfang her bis jetzt existiert. Es ist die Angst vor der Verantwortung, die Wut darüber, dass durch seine spezifische Geworfenheit vereitelt wurde, dass das Dasein ein anderes Dasein hat, das Leid über die momentane Abwesenheit davon, ein anderes Dasein zu haben, und die Abscheu davor, überhaupt geworfen worden zu sein und jetzt so zu sein, wie es ist, also die Angst, die Wut, das Leid und die Abscheu jeweils über das In-der-Welt-sein selbst. Dabei geht es der Angst, der Wut, dem Leid und der Abscheu jeweils um das In-der-Welt-sein des Daseins, und das Sich-ängsten, das Wüten, das Leiden und das Verabscheuen ist jeweils ein sich-angehen-lassendes Freigeben für die eigenste Bedingtheit des Daseins für gewisse Möglichkeiten. In diesem Schon-sein-in, Noch-sein-in, Gerade-sein-in und Sein-bei-in der Überantwortung der Geworfenheit, solange das Dasein existiert, zeigt sich also die Faktizität des Daseins. Selbstverständlich empfindet das Dasein nicht ständig Angst, Wut, Leid oder Abscheu gegenüber seinem In-der-Welt-sein und seiner Geworfenheit in die Welt hinein, aber hin und wieder, z.B. wenn es von etwas enttäuscht ist. Wenn seine „Erwartungen“ (ontisch) gerade erfüllt sind, kann es sogar Freude über seine Geworfenheit empfinden. Entsprechend hat das Dasein ja auch nicht ständig Angst vor seinem Tod. Wenn es entsprechend extrem leidet, kann es sich sogar u.U. auf den Tod freuen. Im „solange das Dasein existiert“ zeigt sich wie beim Tod, dass das Sein vom Anfang her, also die Geworfenheit, für die Ganzheit des Daseins ausreicht, da der Tod, bis zu dem das Dasein existiert, darin enthalten ist. Das Dasein ist als etwas Ursprüngliches, als einheitliches Phänomen nicht ableitbar, aber das schließt eine Mannigfaltigkeit konstitutiver Momente nicht aus wie zum Beispiel die Geworfenheit und den Tod. Existenzial sind sie beide gleichursprünglich, das heißt sie entspringen den gleichen Bedingungen des Seins des Daseins, nämlich seiner Individualität, die ihm einmal gegeben wurde und die es einmal genommen bekommt. Auf Seite 131 in Sein und Zeit mahnt Heidegger, dieses Phänomen der Gleichursprünglichkeit in der Ontologie – also bei der existenzialen Analyse, Heideggers Fundamentalontologie – nicht zu missachten, sondern es methodisch zu nutzen, um das Ursprüngliche, in diesem Fall das Dasein, phänomenal zu heben. Indem das Dasein zunächst und zumeist das eigenste Sein vom Anfang her verdeckt und nicht Sich-einlassend ist, wird die Abkehr des Daseins von ihm selbst enthüllt.

Nachdem gezeigt ist, dass das Sein vom Anfang her hinsichtlich seiner ontologischen Bedingtheit in der Ergriffenheit und der Erwartung, also in der Sorge, gründet, muss es auch in der Alltäglichkeit aufweisbar sein. Damit kommen wir dem Ziel näher aufzuzeigen, dass in der Sorge sich ontologisch die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins enthüllt. Dem Dasein geht es auch in der durchschnittlichen Alltäglichkeit ständig um diese eigenste, unbezügliche und unhintergehbare Bedingtheit, wenn auch nur im Modus des Besorgens oder des Ergreifens einer unbehelligten Gleichgültigkeit gegen die ursprünglichste Bedingtheit seiner Existenz.

Im Alltäglichen sind die Angst, die Wut, das Leid und die Abscheu über bzw. wegen der Geworfenheit ein Sich-fürchten vor, ein Trauern über, Hadern mit und Verabscheuen von dem überantworteten Schicksal, und daraus ergibt sich die Anweisung zu dem Versuch, durch eine eindringlichere Interpretation des verfallenden Seins von der Geworfenheit her als Ausweichen vor ihr den vollen existenzialen Begriff des Seins vom Anfang her zu sichern. Um diesen vollen existenzialen Begriff der Geworfenheit zu gewinnen, muss nun das alltägliche Sein vom Anfang her ergänzend so interpretiert werden: Im „man kann sich sein Leben nicht aussuchen“ gibt die Alltäglichkeit auf der ontischen Ebene so etwas wie eine Gewissheit der Geworfenheit zu. Gleichzeitig ist die Geworfenheit aber auch unbestimmt, da sie ontisch jeden Augenblick eine andere faktische Bedeutung haben kann. Beides wird dadurch verdeckt, dass man sagt: „Man kann sowieso nichts machen, aber es kann jederzeit ein Wunder geschehen.“ Der volle existenzial-ontologische Begriff der Geworfenheit lässt sich jetzt in folgenden Bestimmungen umgrenzen: Die Geworfenheit als Anfang des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unhintergehbare Bedingtheit des Daseins für gewisse Möglichkeiten. Die Geworfenheit ist als Anfang des Daseins im Sein dieses Seienden von seinem Anfang her bis zu seinem Ende hin.

Heidegger fragt nun nach dem eigentlichen Sein zum Tode, das heißt ein Sein zum Tode, das sich nicht von ihm selbst abkehrt, einem Seinkönnen seiner eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren, gewissen als solchen unbestimmten Möglichkeit. Diese existenzielle Möglichkeit des Daseins muss herausgestellt und ontologisch bestimmt sein, damit der existenzialen Interpretation des Seins zum Ende kein wesentlicher Mangel anhaftet. In meiner Begrifflichkeit heißt die Frage, ob das Dasein, wenn es die Enttäuschung erfährt, dass es sterblich ist, sich in der Seinsweise halten kann, dass es sich nicht von ihm selbst bzw. von seinem In-der-Welt-sein und damit auch von seinem Sein zum Tode (seiner Sterblichkeit) abkehrt. Die Frage ist also, gibt es etwas, was das Dasein dazu bringen könnte, sich mit seiner Sterblichkeit auseinander zu setzen und sie als eigenste, unbezügliche und unüberholbare, gewisse als solche unbestimmte Möglichkeit zu verstehen. Ansonsten ist der Entwurf einer solchen existenzialen Möglichkeit ein fantastisches Unterfangen. Lassen sich aus dem Dasein selbst Gründe entnehmen, die eine Auseinandersetzung mit und ein Verstehen von seiner Sterblichkeit phänomenal rechtfertigen?

„Das Sein zum Tode ist Vorlaufen in einem Seinkönnen des Seienden, dessen Seinsart das Vorlaufen selbst ist. Im vorlaufenden Enthüllen dieses Seinkönnens erschließt sich das Dasein ihm selbst hinsichtlich seiner äußersten Möglichkeit. Auf eigenstes Seinkönnen sich entwerfen aber besagt: sich selbst verstehen können im Sein des so enthüllten Seienden: existieren.“ (Seite 262 f. ebenda) Da es dem Dasein um es selbst geht, ist jedes Erschließen einer seiner Möglichkeiten etwas, worum es ihm geht. Somit kann es also durchaus im Sinne des Daseins sein, sich ohne enttäuschte Abkehr mit seiner Sterblichkeit auseinander zu setzen. Die ontologische Verfassung dieser Auseinandersetzung muss mit der Herausstellung der konkreten Struktur des Vorlaufens in den Tod sichtbar werden. Das vorlaufende Erschließen muss zum reinen Verstehen des Todes als Ende des Daseins führen, also zum reinen Verstehen der eigensten, unbezüglichen, unüberholbaren, gewissen und als solcher unbestimmten Möglichkeit des Daseins.

Das Sein zum Tod als eigenste Möglichkeit des Daseins erschließt ihm sein eigenstes Seinkönnen, so dass es sich vorlaufend jeweils schon der enttäuschten Abkehr entreißen kann. Das Verstehen dieses Seinkönnens enthüllt erst die faktische Abkehr des Daseins von ihm selbst bzw. von seinem In-der-Welt-sein, sodass das vorlaufende Erschließen zum reinen Verstehen der Sterblichkeit als eigenster Möglichkeit des Daseins führt.

Das Vorlaufen zum Tod als eigenste und unbezügliche Möglichkeit des Daseins lässt es verstehen, dass es dieses Seinkönnen einzig von ihm selbst her zu übernehmen hat. Meines Erachtens bedeutet dies auch, dass das Dasein ontisch betrachtet alles entrissen bekommt, was es ergriffen hat und von dem es ergriffen ist. Ontologisch hat es somit entweder die Seinsart des Entrissen-Bekommens mit dem Zorn, der Furcht, der Trauer oder der Apathie und/oder dem Ekel als jeweils uneigentlicher Befindlichkeit, so dass es zu Kampf, Flucht, Leiden oder Depressivität und/oder Angewidertheit (auch gegenüber seinem körperlichen Sein, z.B. in Vorstellungen des eigenen verfaulenden Fleisches), also zur Abkehr von ihm selbst kommt, oder die Seinsart des Bereit-Seins zum Loslassen in Harmonie mit sich und der Welt, womit das Entwicklungsziel des echten und eigentlichen Verstehens des eigenen Seins erreicht ist, da das Dasein dann die faktische Konsequenz seiner Geworfenheit in ein Sein zum Tode verstanden und angenommen hat. „Das Vorlaufen in die unbezügliche Möglichkeit zwingt das vorlaufende Seiende in die Möglichkeit, sein eigenstes Sein von ihm selbst her aus ihm selbst zu übernehmen.“ (Seite 263 f. ebenda) Das ist das reine Verstehen der Sterblichkeit als unbezügliche Möglichkeit des Daseins. („Das letzte Hemd hat keine Taschen.“)

Das Vorlaufen zum Tod als unüberholbare Möglichkeit lässt das Dasein verstehen, dass ihm die Selbstaufgabe bevorsteht. Auch hier hat das Dasein ontologisch die Wahl zwischen den beiden Seinsarten des Sich-Selbst-entrissen-Werdens mit einer Mischung aus Furcht, Zorn, Trauer oder Apathie und Ekel als jeweils uneigentlicher Befindlichkeit, so dass es zu einer Agonie, also der Abkehr des Daseins von ihm selbst kommt, oder des Sich-Selbst-Loslassens in Harmonie mit sich selbst. „Weil das Vorlaufen in die unüberholbare Möglichkeit alle ihr vorgelagerten Möglichkeiten mit erschließt, liegt in ihm die Möglichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins, das heißt die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu existieren.“ (Seite 264 ebenda) Insofern können der Tod und das Vorlaufen zu ihm als Ratgeber (siehe Castaneda, 1976) dienen. Das Vorlaufen führt zum reinen Verstehen des Todes als unüberholbar äußerster Möglichkeit, wodurch alle vorgelagerten Möglichkeiten erschlossen sind, da es zu einem Gesamtverständnis des Daseins kommt, sodass das Sich-Zurückbringen auf die Geworfenheit mit einbezogen ist.

Die Weise, sich des Todes gewiss zu sein, bestimmt sich aus der Wahrheit dieser Möglichkeit des Seinkönnens, nämlich der Erschlossenheit der eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Möglichkeit des Daseins. „Im Vorlaufen erst kann sich das Dasein seines eigensten Seins in seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern.“ (Seite 265 ebenda)

Der Tod ist hinsichtlich seiner Gewissheit unbestimmt, was das Dasein im Vorlaufen zum unbestimmt gewissen Tode dadurch erschließt, dass es sich dafür öffnet, dass der Tod als seine eigenste Möglichkeit jederzeit eintreten kann. Laut Heidegger stellt dies „eine aus seinem Da selbst entspringende, ständige Bedrohung“ (Seite 265 ebenda) dar. In seiner anschließenden Analyse kommt er schließlich zu der Aussage, dass das Sein zum Tode wesenhaft Angst sei. Meines Erachtens enthüllt der Tod, ob das Dasein in seiner Entwicklung das echte und unmittelbare Verstehen seines eigenen Seins erreicht hat oder nicht. Wenn nicht, dann erscheint einem der Tod bedrohlich, die Sterblichkeit ärgerlich, die Trennung vom In-der-Welt-sein traurig oder das Sterben, das Dahinsiechen, widerwärtig, sodass das Dasein Angst, Wut, Leid oder Abscheu empfindet, im ersten Fall jedoch nicht. Somit kommt dem Vorlaufen zum Tod noch ein weiteres Erschließen zu, nämlich ob das Dasein das echte und unmittelbare Verständnis seines eigenen Seins schon erreicht hat oder nicht. Hierbei ist zu beachten, dass es keine Instanz von außen gibt, die darüber urteilt, ob das Dasein dieses Verständnis erreicht hat oder nicht. Das Kriterium dafür liegt ganz und gar im Dasein selbst, nämlich ob es im Vorlaufen auf den Tod Angst, Wut, Leid oder Abscheu empfindet oder nicht. Somit erweist sich der Tod nicht nur als eigenster Ratgeber, sondern auch als eigenste beurteilende Instanz. Insgesamt könnte man auch sagen, der Tod ist der eigenste Coach, der das Dasein zum echten und unmittelbaren Verstehen seines Seins führt, wenn das Dasein sich nicht von ihm abkehrt. Mit solchem Verstehen aber ist das Dasein in der Liebe. Der Tod kann das Dasein in die Liebe führen, wenn es sich nicht von ihm abkehrt.

Entsprechend frage ich nun nach dem eigentlichen Sein vom Anfang her, das heißt ein Sein vom Anfang her, das sich nicht von ihm selbst abkehrt, also einem Akzeptieren und Verstehen des Bedingt-Seins des Daseins in seiner eigensten, unbezüglichen und unhintergehbaren, gewissen als solchen unbestimmten Bedingtheit. Diese existenzielle Bedingtheit des Daseins muss herausgestellt und ontologisch bestimmt sein, damit der existenzialen Interpretation des Seins vom Anfang her kein wesentlicher Mangel anhaftet. In meiner Begrifflichkeit heißt diese Frage, ob das Dasein, wenn es die Enttäuschung erfährt, dass es individuell unverfügbar (zwar auch für Andere, aber vor allem) für sich selbst (denn es kann z.B. jederzeit sterben) und ganz allein sich selbst überantwortet ist, sich in der Seinsweise halten kann, dass es sich nicht von ihm selbst bzw. von seinem In-der-Welt-sein und damit auch von seinem Sein vom Anfang her (seiner Überantwortung seiner unverfügbaren Individualität) abkehrt. Die Frage ist also, gibt es etwas, was das Dasein dazu bringen könnte, sich mit der Überantwortung seiner unverfügbaren Individualität auseinander zu setzen und sie als eigenste, unbezügliche und unhintergehbare, gewisse als solche unbestimmte Bedingtheit zu verstehen. Ansonsten ist der Entwurf einer solchen existenzialen Möglichkeit ein fantastisches Unterfangen. Lassen sich aus dem Dasein selbst Gründe entnehmen, die eine Auseinandersetzung mit und ein Verstehen von seiner Individualität und deren Überantwortung phänomenal rechtfertigen?

Das Sein vom Anfang her ist Sich-Zurückbringen auf ein Bedingt-Sein des Seienden, dessen Seinsart das Sich-Zurückbringen auf sein Sich-hinterher-noch-sein-in-(der-Welt) selbst ist. Im sich zurückbringenden Enthüllen dieses Bedingt-Seins erschließt sich das Dasein ihm selbst hinsichtlich seiner ersten, im Vorweg unerschließbaren Bedingtheit. Auf eigenstes Bedingt-Sein sich erschließen aber besagt: sich selbst verstehen können im Sein des so enthüllten Seienden: existieren. Da es dem Dasein um es selbst geht, ist jedes Erschließen einer seiner Bedingtheiten etwas, worum es ihm geht. Somit kann es also durchaus im Sinne des Daseins sein, sich ohne enttäuschte Abkehr mit der Überantwortung seiner Individualität auseinander zu setzen. Die ontologische Verfassung dieser Auseinandersetzung muss mit der Herausstellung der konkreten Struktur des Sich-Zurückbringens auf die Geworfenheit hin sichtbar werden. Das sich zurückbringende Erschließen muss zum reinen Verstehen der Geworfenheit als Anfang des Daseins führen, also zum reinen Verstehen der eigensten, unbezüglichen, unhintergehbaren, gewissen und als solcher unbestimmten Bedingtheit des Daseins.

Das Sein vom Anfang her als eigenste Bedingtheit des Daseins erschließt ihm sein eigenstes Bedingt-Sein, so dass es sich zurückbringend jeweils schon der enttäuschten Abkehr entreißen kann. Das Verstehen dieses Bedingt-Seins enthüllt erst die faktische Abkehr des Daseins von ihm selbst bzw. von seinem In-der-Welt-sein, so dass das sich zurückbringende Erschließen zum reinen Verstehen der Überantwortung seiner Individualität als eigenster Bedingtheit des Daseins führt.

Das Sich-Zurückbringen auf die Geworfenheit als eigenste und unbezügliche Bedingtheit des Daseins lässt es verstehen, dass es dieses Bedingt-sein einzig von ihm selbst her zu übernehmen hat. Meines Erachtens bedeutet dies auch, dass das Dasein ontisch betrachtet alle Last und Verantwortung dafür bekommt, was es von Anfang her ist und was es ergriffen hat bzw. wovon es ergriffen wurde. Ontologisch hat es somit entweder die Seinsart des Aufgebürdet-Bekommens der Überantwortung seiner Individualität mit dem Zorn, der Furcht, der Trauer oder der Apathie und/oder dem Ekel als jeweils uneigentlicher Befindlichkeit, sodass es zu Kampf, Flucht, Leiden oder Depressivität und/oder Angewidertheit (auch gegenüber seinem eigenen körperlichen Sein, z.B. seinen Ausscheidungen), also der Abkehr des Daseins von ihm selbst kommt, oder die Seinsart des Bereit-Seins zum Akzeptieren und Verstehen der Überantwortung seiner Individualität in Harmonie mit sich und der Welt, womit das Entwicklungsziel des echten und eigentlichen Verstehens des eigenen Seins erreichbar ist. Das Sich-Zurückbringen auf die unbezügliche Bedingtheit zwingt das sich zurückbringende Seiende in die Bedingtheit, sein eigenstes Sein in seiner ganzen Möglichkeit eigensten Seinkönnens von ihm selbst her aus ihm selbst zu übernehmen. Das ist das reine Verstehen der Überantwortung seiner unverfügbaren Individualität als unbezügliche Bedingtheit des Daseins.

Das Sich-Zurückbringen auf die Geworfenheit als unhintergehbare Bedingtheit lässt das Dasein verstehen, dass es die Selbstübernahme faktisch mit der Geworfenheit schon längst vollzogen hat. Auch hier hat das Dasein ontologisch nur die Wahl zwischen den beiden Seinsarten des Sich-Selbst-aufgebürdet-Bekommens mit einer Mischung aus Furcht, Zorn, Trauer oder Apathie und Ekel als jeweils uneigentlicher Befindlichkeit, so dass es zu einer Abkehr von ihm selbst kommt, oder des Sich-Selbst-Annehmens in Liebe und Frieden mit sich selbst und der Welt. Weil das Sich-Zurückbringen auf die unhintergehbare Bedingtheit alle ihr nachgelagerten Bedingtheiten mit erschließt, liegt in ihm die Möglichkeit eines existenziellen Zusammennehmens des ganzen Daseins, das heißt die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu existieren. Insofern können Geworfenheit und das Sich-Zurückbringen auf sie sowie der Tod und das Vorlaufen zu ihm jeweils als Ratgeber dienen. Das Sich-Zurückbringen führt zum reinen Verstehen der Geworfenheit als unhintergehbarer erster Bedingtheit, wodurch alle nachgelagerten Bedingtheiten erschlossen sind, auch das reine Verstehen des Todes als unüberholbar äußerster Möglichkeit, sodass es zu einem Gesamtverständnis des Daseins kommt. Dieses beinhaltet das echte und unmittelbare Verständnis, was es mit seiner Individualität, seiner Überantwortung und seiner Sterblichkeit auf sich hat, dass ihm die Individualität überantwortet wurde, die ihm im Tod wieder genommen wird. Mit diesem Geben und Nehmen erschließt sich dem Dasein seine Beziehung zum Sein überhaupt, die es dann echt und unmittelbar verstehen und die somit zu seiner Wahrheit, der wahren Beziehung zum Sein überhaupt, werden kann.

Die Weise, sich der ursprünglichen Geworfenheit gewiss zu sein, bestimmt sich aus der Wahrheit des Daseins bezüglich dieser Bedingtheit des Daseins, nämlich der Erschlossenheit der eigensten, unbezüglichen und unhintergehbaren Bedingtheit des Daseins. Im Sich-Zurückbringen zusammen mit dem Vorlaufen erst kann sich das Dasein seines eigensten Seins in seiner unhintergehbaren und unüberholbaren Ganzheit vergewissern, indem es diese echt und unmittelbar versteht.

Die Geworfenheit ist hinsichtlich ihrer Gewissheit unbestimmt, was sich dem Dasein im Sich-Zurückbringen auf die unbestimmt gewisse Geworfenheit dadurch erschließt, dass es sich dafür öffnet, dass das Dasein jederzeit faktisch in im Vorweg unerschließbare Bedingungen hineingeworfen werden kann, und dass dies schon immer so gewesen ist bis hin zur ersten und ursprünglichen Geworfenheit, als das Dasein in seine unverfügbare Individualität und damit in seine Sterblichkeit geworfen wurde. Bedingungen allgemein und die Geworfenheit im Speziellen sind aber in ihrer Bedeutung insofern unbestimmt, als sie in jeder Situation eine andere Bedeutung haben können. Eine bestimmte Bedingung kann in der einen Situation ein Vorteil, in der anderen ein Nachteil sein. Das Dasein kann seine ursprüngliche Geworfenheit, also seine Existenz einmal als Glück und einmal als Unglück empfinden. Jede Geworfenheit, die ursprüngliche wie auch alle nachfolgenden, stellt eine aus seinem Da selbst entspringende, gewesene Schädigung oder heutige Getrenntheit von einer Möglichkeit dar, was ihm insgesamt auch bedrohlich und widerwärtig sein kann. So könnte man schließlich zu der Aussage kommen, dass das Sein vom Anfang her wesenhaft Wut, Leid, Angst und Abscheu sei. Meines Erachtens enthüllt die Auseinandersetzung des Daseins mit seiner Geworfenheit und seiner Überantwortung seiner Individualität, ob das Dasein in seiner Entwicklung das echte und unmittelbare Verstehen seines eigenen Seins erreicht hat oder nicht. Im ersten Fall ist die Unbestimmtheit der Geworfenheit weder eine frühere Schädigung noch eine heutige Getrenntheit noch etwas Bedrohliches oder eine Widerwärtigkeit, im zweiten Fall jedoch schon. Somit kommt dem Sich-Zurückbringen auf die Geworfenheit noch ein weiteres Erschließen zu, nämlich ob das Dasein das echte und unmittelbare Verständnis seines eigenen Seins schon erreicht hat oder nicht. Hierbei ist zu beachten, dass es keine Instanz von außen gibt, die darüber urteilt, ob das Dasein dieses Verständnis erreicht hat oder nicht. Das Kriterium dafür liegt ganz und gar im Dasein selbst, nämlich ob es im Sich-Zurückbringen auf die Geworfenheit hadert, trauert, sich fürchtet, sich ekelt oder nicht. Somit erweist sich nicht nur der Tod sondern auch die Geworfenheit nicht nur als eigenster Ratgeber, sondern auch als eigenste beurteilende Instanz. Insgesamt könnte man auch sagen, die Geworfenheit ist der eigenste Coach, der das Dasein zum echten und unmittelbaren Verstehen seines Seins führt, wenn das Dasein sich nicht von ihr abkehrt. Mit solchem Verstehen aber ist das Dasein in der Liebe. Der Tod und die Geworfenheit können das Dasein in die Liebe führen, wenn es sich nicht von ihnen abkehrt. Auf dem Weg dorthin überwindet das Dasein die Befindlichkeiten von Angst, Wut, Leid und Abscheu und kommt immer mehr und anhaltender in die Befindlichkeit der Freude.

Die bislang dargestellte ontologische Möglichkeit eines Ganzseinkönnens des Daseins ohne Abkehr von seinem eigensten Sein ist also das eigentliche Sein vom Anfang her, was in der bisherigen Darstellung als sich zurückbringend auf die Geworfenheit enthüllt wurde, in Einheit mit dem gleichursprünglichen eigentlichen Sein zum Tode, was in der bisherigen Darstellung als vorlaufend zum Tod enthüllt wurde. Diese Kombination von Sich-Zurückbringen und Vorlaufen führt das Dasein zum echten und eigentlichen Verstehen seines Seins, insbesondere seiner unverfügbaren Individualität und seiner Sterblichkeit, so dass es die aus der Ergriffenheit und der Erwartung heraus erfahrene Enttäuschung durch Loslassen befindlich bewältigt ohne Abkehr von sich und seinem In-der-Welt-sein und so immer mehr zur Liebe gelangt. Diese Überlegungen aber bedeuten nach Heidegger so lange nichts, wie sich nicht das entsprechende ontische Seinkönnen aus dem Dasein selbst erwiesen hat, und zwar derart, dass das Dasein aus dem Grunde seines eigensten Seins eine Auseinandersetzung mit seiner unverfügbaren Individualität und seiner Sterblichkeit, ein Seinkönnen ohne Abkehr von ihm selbst und seinem In-der-Welt-sein fordert und auch durchführen kann, ein Seinkönnen, welches durch das Sich-Zurückbringen auf die Geworfenheit und durch das Vorlaufen zum Tode bestimmt ist. Zuerst will Heidegger jedoch nachforschen, inwieweit und wie das Dasein aus seinem eigensten Seinkönnen her Zeugnis davon gibt, dass es von ihm selbst so etwas fordert. Entsprechend ist auch zu fragen, ob das Dasein eine Entwicklung zur Liebe fordert, die durch das Sich-Zurückbringen auf die Geworfenheit und durch das Vorlaufen zum Tode angeregt wird.

Wenn das Dasein uneigentlich ist, ergibt sich eine sehr widersprüchliche Situation: einerseits hat es Furcht, die Verantwortung in bestimmten Situationen für seine Geworfenheit zu übernehmen, ist zornig über bestimmte Bedingungen seines Seins und über die Unbestimmtheit seiner Geworfenheit, ist traurig, dass es durch seine Geworfenheit etwas Bestimmtes nicht erreichen kann, wovon es ergriffen ist, und ekelt sich vor allem Möglichen, was ihm in der Welt aufgrund seiner Geworfenheit begegnet, kurz gesagt, es findet seine Geworfenheit bzw. seine Individualität als schlecht, schlimm, belastend usw. Andererseits aber hat es dieselben negativen Befindlichkeiten in Bezug auf den Tod. So betrachtet kann man es dem Dasein in der Uneigentlichkeit „nicht recht machen“: es fühlt sich unwohl mit seiner Individualität, hat aber genauso negative Empfindungen dabei, sie zu verlieren. Allein wegen dieser Zerrissenheit kann man schon vermuten, dass das Dasein aus seinem eigensten Seinkönnen her Zeugnis davon gibt, ein Seinkönnen ohne Abkehr von ihm selbst und seinem In-der-Welt-sein zu fordern, also allein schon deswegen, um diese Zerrissenheit aufzulösen und eindeutig zu werden. Diese Schlussfolgerungen ergeben sich allein daraus, dass durch die gleichzeitige Betrachtung der Geworfenheit und der Sterblichkeit das Ganz-Seinkönnen phänomenal gehoben wird.

Eigentlichkeit und Entschlossenheit (§§ 54 bis 60) Bearbeiten

Am Anfang dieses zweiten Kapitels des zweiten Abschnitts von Sein und Zeit befasst sich Heidegger nochmals mit den Begriffen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, wobei er nochmals betont, dass deren Verhältnis nicht als zwei Modi des Daseins bzw. des In-der-Welt-seins zu betrachten sind, sondern Eigentlichkeit eine Modifikation der Uneigentlichkeit bezeichnet: „Das eigentliche Selbstsein bestimmt sich als eine existenzielle Modifikationen des Man, die existenzial zu umgrenzen ist.“ (Seite 267 ebenda) Diese Auslegung Heideggers passt sehr gut zu meiner oben angeführten Interpretation der Verfallenheit als ein Derivat der Mutter-Kind-Beziehung, wobei ich diese als die ursprüngliche Verfallenheit bezeichnet habe, die das Kind aber zu mehr Verständnis seines Worumwillens führt (siehe oen). So wie der Mensch, ob als Kind oder als Erwachsener, immer eine Beziehung zu seiner Mutter haben wird und daher auch seine Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von ihr lediglich eine Modifikation der ursprünglichen Beziehung darstellt, so ist auch das eigentliche Selbstsein eine entsprechende existenzielle Modifikation der Beziehung des Daseins zum Man-Sein. Die Situation des Daseins ist ja folgende: Es wird in die Welt geworfen (dies ist bei Heidegger nicht nur Ausdruck für die Geburt), und dies geschieht ständig (das ist die Unbestimmtheit der Geworfenheit, siehe oben), weil das Dasein immer wieder mit neuen Gegebenheiten konfrontiert ist (Faktizität bei Heidegger), die seiner Geworfenheit jeweils andere und neue Bedeutungen geben können. Es ist am Anfang seines Seins auf die Welt angewiesen (Verfallenheit bei Heidegger), was dem Dasein einerseits einen Freiraum gibt für seine Entwicklung (kein anderes Lebewesen bekommt dafür so viel Zeit, nämlich circa 20 Jahre), der Schutz dieses Freiraums aber bedeutet andererseits, dass das Dasein sich an die Gegebenheiten der Welt und an eine bestimmte Ordnung der Gemeinschaft halten muss, die ihm diesen Freiraum zur Verfügung stellt. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten des Daseins, mit dieser Situation umzugehen (Existenzialität bei Heidegger): das Dasein kann kapitulieren (die Verantwortung abgeben) oder, wie Heidegger es ausdrückt, an die Herrschaft des Man verfallen, oder es kann seinen eigenen Weg finden, mit dieser Ordnung umzugehen (nach dem Motto: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!“) und seine faktischen Möglichkeiten zu entdecken und jeweils zu ergreifen. Die Verfallenheit ist also so etwas wie ein Dahinvegetieren des Daseins in einer Art Symbiose mit dem Man, wobei das Dasein dabei an der Täuschung festhält, seine eigene Befindlichkeit, sein eigenes Verstehen, seine eigene Rede als Gliederung von Befindlichkeit und Verstehen und seine Auslegung seien die des Man, während die Auseinandersetzung mit den faktischen Gegebenheiten, insbesondere mit seiner Individualität (also eigener Befindlichkeit, eigenem Verstehen, eigener Rede und eigener Auslegung) und seiner Sterblichkeit, zum eigentlichen Selbstsein des Daseins führt. Man könnte die Verfallenheit auch als so etwas wie den Schlaf bezeichnen und das eigentliche Selbstsein als das Wachsein des Daseins. Hier finden wir eine Parallele zu Heraklit, der hierin zwei gegensätzliche Kräfte sehen würde, die abwechselnd das Dasein in Richtung der Uneigentlichkeit und der Eigentlichkeit ziehen. Mit dem Ausdruck Modifikation meint Heidegger wahrscheinlich, dass es in diesem „Streit“, wie Heraklit es nennen würde, kein Entweder-Oder gibt, sondern stets ein abwechselndes (womöglich rhythmisches?!) Sowohl-Als-Auch (siehe Kapitel 15). Der Ausgangszustand des Daseins, in den es auch immer wieder zurückfällt, den es weder vermeiden noch überwinden kann, ist dieser „Schlaf“ der Verfallenheit, ein Existenzial des Daseins, und die Frage ist nun, ob das Dasein überhaupt wach im Sinne von Eigentlich-Sein will, das heißt, ob es eine daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens gibt, und kann, das heißt, ob sich das entsprechende ontische Seinkönnen aus dem Dasein selbst erweisen lässt. Um Ersteres geht es in diesem Kapitel. Was übrigens das Können betrifft, so geben die Befindlichkeiten von Angst, Wut, Leid und Abscheu dem Dasein zumindest immer wieder Gelegenheiten, eigentlich zu werden, da sie das Dasein „in einem extremen Sinne […] vor sich selbst als In-der-Welt-sein“ (Seite 188 ebenda) bringen.

Als Bezeugung dafür, dass das Dasein aufwachen will, nimmt Heidegger das Gewissen und dessen Rufen, welches den Charakter eines Weckrufs hat, der letztlich von der reflexiven Struktur des Daseins ausgeht, die Heidegger Sorge nennt, und die ich mit Ergriffenheit und Erwartung als Strukturmomente näher charakterisiert habe. Der Gewissensruf kann auch durch Andere ausgelöst werden (ins Gewissen reden). Anstelle eines Streits bei Heraklit nimmt Heidegger die Sorge, die das Dasein abwechselnd die Herrschaft des Man aufsuchen (möglicherweise um sich nicht zu sehr von den Anderen zu entfernen oder um sich auszuruhen wie beim Schlaf) und per Weckruf des Gewissens wieder zu seiner Eigentlichkeit streben lässt. In Kapitel 15 wird noch eine andere Bedeutung des Oszillierens zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit aufgezeigt, die den im Konzept von Eigentlichkeit versteckten Subjektivismus aufdeckt und im Oszillieren auflöst. Vom Dasein richtig verstanden rüttelt der Gewissensruf es auf, eigentlich bzw. selbstbestimmt bzw. authentisch zu sein. Der Gewissensruf macht auf eine Not aufmerksam, die dem Dasein durch seine Sorge erschlossen ist, aber nicht unbedingt entdeckt. Das richtige Verstehen des Weckrufs bedeutet, dass das Dasein diesen Ruf hören und die Not entdecken will, ein Gewissen haben will, aufwachen im Sinne von Die-Verfallenheit-modifizieren und eigentlich sein will, seine Selbstwahl also annimmt, es selbst sein will. Die Selbstwahl ist keine Entscheidung zwischen verschiedenen Optionen, sondern nur die Wahl, ob es die Selbstwahl annimmt oder nicht. Die Annahme der Selbstwahl nennt Heidegger Entschlossenheit. Heidegger unternimmt hier keinerlei Versuche, irgendetwas vorzugeben, wie man sein, was man tun soll, muss oder darf, keinerlei moralische Gebote oder Verbote, noch nicht einmal Empfehlungen. Er ruft noch nicht einmal dazu auf, eigentlich oder authentisch zu sein. Entweder dieser Aufruf ist im Dasein selbst schon bezeugt, oder es gibt ihn gar nicht, so dass es auch zwecklos wäre, ihn von außen an das Dasein heranzutragen. Wenn ich das Bild von Schlaf und Wachsein für Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit nehme, dann ergibt sich für die Uneigentlichkeit folgende mögliche und sicherlich nicht einzige Bedeutung: Sie ist notwendig für das Dasein, damit es sich immer wieder regenerieren kann und die Kraft hat, sich immer wieder zu bemühen, eigentlich zu werden. Wenn das Dasein nicht die Möglichkeit für sich sieht, die Verantwortung der Selbstwahl zu tragen, dann wird es Angst haben, eigentlich zu sein, da es dann unter Umständen nicht ausreichend für sich sorgen kann. Die Selbstwahl und das In-der-Welt-sein werden damit bedrohlich.

Aus meiner eigenen psychotherapeutischen Praxis kann ich berichten, dass es solche Menschen gibt, die Angst davor haben, eigene Entscheidungen zu treffen, für die sie dann die Verantwortung übernehmen müssen, zum Beispiel sich zu entscheiden, eine Partnerschaft mit all ihren Verbindlichkeiten einzugehen. Diese Menschen haben Angst, eigentlich zu sein, und können sich nicht dazu entschließen. In einigen Fällen konnte ich dadurch helfen, dass ich der betreffenden Person vorschlug, sich vorzustellen, dass sie morgen sterben würde, und was für sie, dies wissend, heute wichtig wäre zu tun. Das Sich-Einlassen auf das Vorlaufen zum Tod hat hier dazu geführt, dass der Betreffende im Zusammenhang mit seiner Sterblichkeit erkannt hat, dass er gar nicht so viel Verantwortung zu tragen und in dem durch den Tod begrenzten Rahmen seines In-der-Welt-seins genug Kraft hat, ausreichend für sich zu sorgen. Wie weiter unten erläutert wird, bedeutet Entschlossenheit keinesfalls Versessenheit, sondern stattdessen die Bereitschaft sich ständig neu falls erforderlich zu entschließen. Auch damit, mit dieser Freiheit, ist es dann viel einfacher für das Dasein, seine Selbstwahl entschlossen anzunehmen.

Es wäre übrigens auch einmal interessant, das Phänomen des faktischen Schlafes zu analysieren, was vom Standpunkt der Fundamentalanalyse Heideggers deswegen brisant ist, weil der Schlaf oft als der Bruder des Todes bezeichnet wird. Mit demselben Recht könnte man die erste Wachheit nach dem Schlaf als die Schwester der Geworfenheit bezeichnen, weil morgens mit dem Aufwachen das Dasein in den Tag hineingeworfen wird. Auch das Träumen sowohl im Schlaf als auch im Wachzustand und das im Wachzustand geleitete und begleitete Träumen, die Hypnose, sind Phänomene, deren Analyse Heideggers Fundamentalontologie ergänzen und bereichern könnten. Es geht hier letztlich um unwillkürliche Prozesse, wie es zum Beispiel ja auch der Ruf des Gewissens ist, der „ja gerade nicht und nie von uns selbst weder geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen“ (Seite 275 ebenda) wird. Jede Art von Traum, wenn wir ihn entsprechend als Weckruf verstehen können, kann dieselbe Qualität haben wie der Ruf des Gewissens. Siegmund Freud kam bei der Analyse des Traums unter anderem auf zwei Tendenzen, zum einen als Hüter des Schlafes auf seine verschleiernde Tendenz, das würde Heidegger als Versuch des Man-Selbst bezeichnen, um seine Herrschaft über das Dasein aufrecht zu erhalten wie eine (über-)behütende Mutter, und zum anderen auf seine aufrüttelnde Tendenz, ungelöste Konflikte (Folgen von Enttäuschungen, von denen sich das Dasein abgekehrt hat) zu thematisieren.

Ausgehend von der Struktur aller Seinsmöglichkeiten des Daseins, wobei diese Struktur eine Analogie zur Struktur einer Gemeinschaft besitzt, bedeutet ein Konflikt eine Disharmonie innerhalb dieser Struktur. Ungelöste Konflikte sind die Folge früherer Enttäuschungen, mit denen das Dasein noch nicht zurechtkommt, von denen es sich deshalb abgewendet hat mit der Konsequenz einer Abkehr vom eigenen Dasein selbst. Hieraus kann man entsprechend wie Heidegger für den Gewissensruf ableiten, dass Träume aus dieser reflexiven Struktur kommen, die Heidegger mit Sorge (von mir in den beiden Strukturmomenten Ergriffenheit und Erwartung dargestellt) anzeigt. Was Heidegger nicht erwähnt, weil es für den Zweck seiner Analyse nicht so wichtig ist, ist, dass es beim Gewissensruf ebenso wie beim Träumen zu einer Gegenreaktion des Man kommen kann bzw. fast immer kommt, sodass das Verstehen erschwert wird. Da das Träumen deutlich häufiger wahrgenommen wird und daher auch deutlich häufiger vorkommt als der reine Gewissensruf, aber beides dieselbe Qualität hat und aus derselben Quelle stammt - manche Menschen träumen ja fast jede Nacht und können sich daran erinnern -, kann man davon ausgehen, dass der Weckruf der Sorge bzw. der Ergriffenheit und der Erwartung fast täglich erfolgt, auch wenn er vom Dasein nicht immer gehört bzw. verstanden wird. Aufgrund der häufigen und oft überhörten Weckrufe scheint es mir wesentlich fragwürdiger, ob das Dasein aufwachen will, und weniger, ob es kann, da sich doch so viele Gelegenheiten bieten. Hier kommt allerdings meine therapeutische Voreinstellung ins Spiel, dass ich einem Patienten, der sagt, er könne etwas nicht, oft provokativ unterstelle, er wolle wohl nicht und könne sich ruhig trauen, das zuzugeben. Mit etwas mehr Abstand muss ich zugeben, dass die Weckrufe in Träumen meist sehr verdeckt sind und sich dem Dasein nicht so ohne weiteres unverhüllt zeigen. Meistens sind sie durch das Man (Heidegger) bzw. die Traumzensur (Freud) bis zur Unverständlichkeit verzerrt oder ins Gegenteil verkehrt.

An dieser Stelle bietet es sich an, noch einmal auf eine etwas andere Weise als bisher auszuführen, wie es zu psychischen Störungen oder Erkrankungen kommt, und wie sich dies in Heideggers Fundamentalontologie einordnen lässt: Wenn das Dasein sich mit den faktischen Gegebenheiten seines In-der-Welt-seins auseinandersetzt, wird es immer wieder enttäuscht werden und Gefahr laufen, sich auf bestimmte Entwürfe zu existieren festzulegen bzw. zu fixieren. Man könnte diese Entwürfe auch Maschen nennen, weil es Standardentwürfe sind, mit denen das Dasein auf vieles ihm Begegnende gleichermaßen reagiert. Weil es Standards sind, kann man diese Art des Existierens auch ontologisch interpretieren als eine Art und Weise, dem eigentlichen Seinkönnen auszuweichen bzw. sich davon abzukehren. Wenn diese Maschen sich nicht mehr einordnen lassen in die alltägliche Verfallenheit an die Herrschaft des Man, dann spricht man von psychischen Störungen oder Erkrankungen. Man könnte dies auch als eine extreme Form der Verfallenheit bezeichnen, die in ihrer Extremität das Man-sein stört. In ihrer Extremität liegen zwei Möglichkeiten: Entweder verfällt das Dasein in eine Art Schlaf der Verfallenheit, den man schon als komatös bezeichnen kann, und aus dem das Dasein wenn überhaupt nur ganz schwer aufwachen kann, oder das Dasein wird derart aufgerüttelt, dass es - unter Umständen mithilfe Anderer - wacher wird und mehr zu sich selbst findet, also eigentlicher wird. Für diese Überlegungen aber müssen erst die Fragen beantwortet werden, ob und unter welchen Umständen das Dasein wach werden will und kann.

Heidegger wird oft vorgeworfen, er würde doch versteckt Ethik betreiben, weil er Begriffe verwendet, die stark wertende Konnotationen haben. Es ist jedoch ein Unterschied „… zwischen „Wertungen vornehmen“ bzw. werten und mit Wertprädikaten beschreiben.“ (Luckner in Rentsch, 2007, Seite 151) Man kann allerdings infrage stellen, ob die entsprechenden Beschreibungen von Heidegger auch adäquat sind, da sie oft schon Missverständnisse erzeugt haben wie zum Beispiel, dass Eigentlichkeit gut und Uneigentlichkeit schlecht ist (siehe Kapitel 15).

Beim Verstehen des Gewissensrufs kommt Heidegger auf den Begriff der Schuld, den er weiter fasst als den so genannten vulgären Schuldbegriff, der „in den Bezirk des Besorgens im Sinne des ausgleichenden Verrechnens von Ansprüchen“ (Seite 283 ebenda) gebracht ist. Dies ist der Schuldbegriff des Man, welches auf diese Weise den Gewissensruf entschärfen will, (durch den ja, wenn er richtig verstanden ist, die Herrschaft des Man gebrochen wird,) und sogar als Instrument benutzt, um seine Herrschaft dadurch zu festigen, dass es das Dasein in die Position bringt, dass es etwas besorgen soll. Das Man, das Derivat der Mutter, als Vertreter der Eltern und Älteren in der Gemeinschaft, in der das Dasein aufgewachsen ist, hat allerdings auch einen berechtigten Anspruch an das Dasein, dass es eine Schuld im vulgären Sinne auszugleichen hat, nämlich, dass das Dasein später zumindest materiell für Eltern und Ältere sorgt, wenn diese zu alt sind, um dies für sich selbst tun zu können. Schuld wird hier noch als Mangel bestimmt, als Nichtvorhandensein eines Gesollten. Da dieser Mangel aber eine Seinsbestimmung des Vorhandenen ist, kann in diesem Sinne „an der Existenz wesenhaft nichts mangeln, nicht weil sie vollkommen wäre, sondern weil ihr Seinscharakter von aller Vorhandenheit unterschieden bleibt.“ (Seite 283 ebenda) Wenn man diesen Gedanken weiterführt, kommt man darauf, dass das Dasein nichts muss oder soll, außer dass es mit den Konsequenzen existieren muss, die seine Wahlen oder Nicht-Wahlen haben. Das Dasein ist weder vorhanden noch zuhanden, es ist nicht verfügbar wie eine Sache. Das Verstehen dieser Unverfügbarkeit, die ich schon oben erwähnt habe, ist die einzige Ethik, die bei Heidegger zu finden ist, und sie ist nicht normativ in dem Sinne, dass das Dasein sich entscheiden muss, irgendeine Regel oder Vorschrift zu erfüllen, es ist lediglich vor die Aufgabe gestellt zu verstehen, dass es selbst (und alle anderen daseinsmäßig Seienden) weder vorhanden noch zuhanden, sondern unverfügbar ist. Ein solches Verstehen als Zuerkennen eines Status der Unverfügbarkeit ist insofern ein ethischer Akt, als dass zum Beispiel Sklaverei und Ausbeutung mit diesem Verstehen unvereinbar sind. Nur im Verstehen seiner eigenen Unverfügbarkeit und der aller Anderen ist das Dasein in der Lage, eigentlich zu sein und zu lieben.

„Schuld haben an“ besagt ontologisch-existenzial, Grundsein dafür, dass eine bestimmte Möglichkeit des Seinkönnens nicht gewählt wurde, das heißt Grundsein einer Nichtigkeit. „Das Schuldigsein resultiert nicht erst aus einer Verschuldung, sondern umgekehrt: diese wird erst möglich „auf Grund“ eines ursprünglichen Schuldigseins.“ (Seite 284 ebenda) Dadurch, dass das Dasein seine Geworfenheit nicht nur angenommen hat, sondern auch ständig immer wieder annimmt, wenn es existierend sich entwirft, übernimmt es dieses ursprüngliche Schuldigsein. Es übernimmt das Grundsein der Nichtigkeit, die zum Freisein des Daseins für seine existenziellen Möglichkeiten gehört, nämlich die freie Entscheidung zu treffen, eine Seinsmöglichkeit nicht zu wählen. In seinem Existieren kann das Dasein nie hinter seine Geworfenheit zurück. Der ontologische Sinn dieser existenzialen Nichtigkeit, die in der Geworfenheit liegt, bleibt noch dunkel, und allein die Bedingungen, auf deren Grund sich dieses Problem stellen lässt, kann man, wie Heidegger meint, nur „in der thematischen Klärung des Sinnes von Sein überhaupt“ (Seite 286 ebenda) finden (siehe dazu Weiter unten). Das Dasein „ist im Grunde seines Seins schuldig, …“ (Seite 286 ebenda) und erst dieses Schuldigsein gibt die ontologische Bedingung dafür, „dass das Dasein faktisch existierend schuldig werden kann.“ (Seite 286 ebenda) Das existenziale Schuldigsein ist ein Seinkönnen, und die Entschlossenheit, auf den Gewissensruf hören zu wollen, wird so zur Übernahme der Verantwortung dafür, dass das Dasein sich jederzeit faktisch existierend schuldig machen kann. Was Heidegger sicherlich nicht meint, ist, dass das Dasein dafür etwas schuldig ist, dass es in die Existenz geworfen wurde, dass ihm etwas zugeeignet wurde, das es selbst nicht verursacht hat. Dann wäre nämlich die Geworfenheit etwas Vorhandenes, das verrechnet werden könnte. Die Geworfenheit aber gehört zum Dasein und ist daher nichts Vorhandenes, das man verrechnen kann. Die Geworfenheit hat auch nichts mit dem Austragen während der Schwangerschaft und dem Versorgen in der Kindheit durch Eltern und Gesellschaft für das Dasein am Anfang seines Existierens zu tun. Entschlossenheit als Übernahme des ursprünglichen Schuldigseins ist also die Bereitschaft des Daseins, jederzeit dafür offen zu sein, ob es sich in einem gewählten Seinkönnen faktisch schuldig gemacht hat. Es droht jederzeit, dass sich herausstellt, dass das Dasein sich schuldig macht oder schuldig gemacht hat, und das Dasein kann sich immer wieder in der Zukunft schuldig machen. Letzteres ist das angstbereite Sichentwerfen des Daseins. Was damit jeweils gemeint ist, mag folgende Geschichte erläutern: Ein Lehrer fragt drei seiner Schüler, was sie tun würden, wenn sie eine mit viel Geld gefüllte Geldbörse auf der Straße finden würden. Als der erste antwortet, er würde sofort alles tun, damit der rechtmäßige Besitzer seine Geldbörse zurückbekommt, sagt der Lehrer zu ihm: „Du Heuchler!“ Als der zweite antwortet, er würde natürlich die Geldbörse behalten, sagt der Lehrer zu ihm: „Du Verbrecher!“ Aber als der dritte antwortet, er würde Gott darum bitten, dass er ihm die Kraft gebe, das Richtige zu tun und dem rechtmäßigen Besitzer die Geldbörse wiederzugeben, sagt der Lehrer: „Das ist die richtige Haltung, wenn man seine eigenen Schwächen kennt, aber sich ihnen nicht überlässt.“

Wie lernt nun das Dasein seine eigenen Unzulänglichkeiten, also sein ursprüngliches Schuldigsein kennen? Wie auch bei anderen Existenzialen, indem es sie zuerst bei Anderen entdeckt und dann bei sich selbst. Erschlossen ist dem Dasein sein ursprüngliches Schuldigsein durch seine Befindlichkeit, wenn es auf den Weckruf des Gewissens hört und sein eigenstes Schuldigseinkönnen annimmt: zum einen ist da die von Heidegger erwähnte Angst, wenn das Dasein die Bedrohung entdeckt hat, dass es schuldig werden kann, außerdem die Wut, wenn das Dasein entdeckt hat, dass es schuldig geworden ist, und das Leid wegen der momentanen Konsequenzen deswegen. Am wichtigsten aber finde ich, wenn das Dasein eine Abscheu empfindet, sich dem Schuldigsein zu überlassen und damit immer uneigentlicher zu werden. Es ist nichts Abscheuliches daran, schuldig zu werden, davor ist niemand gefeit, aber es ist abscheulich, sich dem zu überlassen. Sich davon zu distanzieren und gegebenenfalls umzukehren, das ist die gemeinte Entschlossenheit, ein Existenzial des Daseins. Dabei ist das Dasein dann bereit, sich mit der Befindlichkeit der Abscheu (auch die von Anderen) auseinanderzusetzen. Wie man hieraus erkennt, ist die Abscheu die Befindlichkeit, durch die dem Dasein sein ursprüngliches Schuldigsein und sein prinzipielles und ständiges Schuldigseinkönnen primär erschlossen sind. Der Weckruf des Gewissens, der aus der Sorge des Daseins entspringt, wird durch die Abscheu davor ausgelöst, sich seinem Schuldigsein zu überlassen. Je besser das Dasein mit seinen Unzulänglichkeiten umgeht, desto mehr Freude kann es dadurch empfinden, wodurch seine Entschlossenheit weiter gestärkt wird. Somit spielen alle fünf Grundbefindlichkeiten, Angst, Wut, Leid, Abscheu und Freude, wichtige Rollen bei der Ausbildung der Entschlossenheit des Daseins, die auch eine Bereitschaft ist, sich mit diesen Befindlichkeiten auseinanderzusetzen.

Wenn man etwas tiefer geht als Heidegger, und untersucht, welche Auswirkungen es auf das Dasein hat, wenn es sein ursprüngliches Schuldigsein, seine eigenen Schwächen, nicht angenommen hat oder die Konsequenzen der getroffenen Wahl einer bestimmten Möglichkeit seines Seinkönnens nicht akzeptiert, dann findet man, dass die Struktur aller Seinsmöglichkeiten des Daseins nicht harmonisch, also konflikthaft ist. Zwischen Möglichkeiten, ein Schuldig-Werden zu vermeiden, und Möglichkeiten, bei denen das Dasein sich schuldig machen kann, entscheidet sich das Dasein nicht klar und deutlich, so dass nicht geklärte Gegensätze konflikthaft nebeneinander bestehen, oder wenn es sich klar entscheidet, dann erzeugt oder verschärft dies entsprechende Konflikte mit Anderen, wodurch Konflikte in der Struktur aller Seinsmöglichkeiten des Daseins erzeugt oder verschärft werden. In jedem Fall entsteht eine angespannte Situation, mit der das Dasein nicht zufrieden sein kann, es sei denn, es hat sich von ihm selbst abgekehrt.

Das Moment, welches Heidegger bei dem Begriff der Entschlossenheit betrachtet, ist vor allem auf die Zukunft ausgerichtet als eine ausgezeichnete, durch das Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit, die das verschwiegene, angstbereite die Bedingtheit seines Schuldigseins verstehende und akzeptierende Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein ist. (Seite 296 f. ebenda, mit Ergänzung von mir) Das dazugehörige Strukturmoment der reflexiven Struktur des Daseins ist das Bemühen, Vorkehrungen zu treffen, die die Gefahr des Schuldigwerdens vermindern, und sich immer wieder neu dazu zu entschließen, im Falle eines Schuldigwerdens bzw. einer Enttäuschung sich nicht von ihm selbst abzukehren. Dies ist die Entschlossenheit zur Selbstreinerhaltung, zur Erhaltung der Harmonie innerhalb der Struktur der Seinsmöglichkeiten des Daseins, und da es dem Dasein um seine Existenz geht, geht es ihm auch um diese Harmonie, es will also die Selbstreinerhaltung und ist dazu entschlossen.

An dieser Stelle lässt Heidegger eine wichtige Gelegenheit aus, um dieses Thema noch tiefer zu ergründen. Er könnte nämlich jetzt den Begriff der Reue ontologisch interpretieren. Wenn das Dasein sein Schuldigsein annimmt und entschlossen Vorkehrungen zur Selbstreinerhaltung trifft, so wird es trotzdem hin und wieder faktisch schuldig sein, da es immer wieder Täuschungen erliegen kann, solange es das Sein nicht echt, unmittelbar und ganz verstanden hat und seine Existenz dementsprechend Liebe und Erfüllung ist. Dann sieht es sich einer Getrenntheit gegenüber, und zwar ist es getrennt von der Erfüllung seiner Erwartung, faktisch nicht schuldig zu sein. Die zugehörige Befindlichkeit des Daseins ist somit das Leid. Das Sein des Daseins zu seinem Da ist Bereuen. Die Sorge befindet sich im Modus der Reue mit der Befindlichkeit des Leids und dem Sein-bei der Getrenntheit bzw. Abwesenheit von der Erfüllung eigener Erwartungen und/oder der von Anderen, dem Verständnis seiner faktischen Schuld und der Rede von der Übernahme der Verantwortung dafür sich selbst und/oder Anderen gegenüber, also der begrifflich bzw. begreiflich gegliederten Schuld. Wenn das Dasein sein Schuldigsein nicht annimmt, dann kehrt es sich von seinem eigenen Seinkönnen ab, wenn es das aber versteht und annimmt, dann findet eine Art Einkehr statt, ein Begreifen seiner Schuld. Mit der Reue und mit dem Verstehen des damit verbundenen Leids (unter Umständen auch des Leids bei Anderen) gewinnt das Dasein ein neues Begreifen seines In-der-Welt-seins (insbesondere seines Geworfenseins). Ich möchte daher Heideggers Begriff der Entschlossenheit zur Selbstwahl, den er auf das angstbereite Sichentwerfen eingeschränkt hat, erweitern und ihm als weiteres Strukturmoment die Reumütigkeit als die Entschlossenheit zur Einkehr oder Reue bzw. zum Begreifen seiner Schuld an die Seite stellen. Entschlossenheit zu Einkehr und Reue als ausgezeichnete, im Dasein selbst durch sein Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit ist das verschwiegene, leidbereite (auch für das Leid der Anderen) die Bedingtheit seines Schuldigseins verstehende und akzeptierende Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein, ganz analog zur Entschlossenheit zur Selbstreinerhaltung.

Und noch ein Drittes findet bei Heidegger keine Beachtung, nämlich die wiedergutmachende Harmoniesuche, die ich hier auch ontologisch interpretieren möchte. Wenn das Dasein schuldig geworden ist und Leid verstehend und seine Schuld begreifend bereut, dann empfindet es auch Wut und versteht damit, wie widersinnig und damit wie schädigend von seinem jetzigen Begreifen aus betrachtet die frühere Wahl seines Seinkönnens (zum Beispiel auch ein früheres Verständnis seiner Geworfenheit) gewesen ist. Anders formuliert könnte man auch sagen, das Dasein sieht im Verstehen seiner Wut die gewesene Schädigung seiner selbst und/oder der von Anderen. Wenn das Dasein diese Wut annehmend versteht, ordnet es seine Erfahrungen mit sich selbst und/oder mit Anderen ein, es hält die Kongruenz zwischen seiner Erfahrung und seiner Weltlichkeit aufrecht und/oder bemüht sich, das Verhältnis mit Anderen zu bereinigen. Man kann sagen, alles ist nach Möglichkeit „wieder gut gemacht“ bei sich und Anderen. Das Dasein hat sich selbst verziehen und/oder sich um Verzeihung von Anderen bemüht, es ist wieder „gut“, das heißt „im Einklang“, mit sich selbst und/oder mit Anderen. Die Struktur der Seinsmöglichkeiten des Daseins (seine Selbstbedeutsamkeit) ist wieder in Harmonie. Das Sein des Daseins zu seinem Da ist Harmoniesuche und Wiedergutmachungsbereitschaft, das heißt es versteht die Bedingtheit seines Vergehens und erkennt seine Unzulänglichkeit. Man könnte dies als Rückkehr des Daseins zu sich selbst bezeichnen. In Gemeinschaften nimmt das Dasein entsprechend die Wut von Anderen an und leistet auch dort „Wiedergutmachung“. Die Sorge befindet sich im Modus der Wiedergutmachungsbereitschaft, der sich aufgrund der Harmoniesuche aus der Reue entwickelt. Die Ergriffenheit verlässt nach dem Wiedergutmachen und dem Verarbeiten der betreffenden Enttäuschung wieder den Modus von Unheimlichkeit, Verzweiflung, Trostlosigkeit und Elend. Wenn das Dasein nicht die unharmonische Struktur seiner Seinsmöglichkeiten oder die Disharmonie innerhalb seiner Gemeinschaft betrachtet, dann kehrt es sich von seinem eigenen Seinkönnen ab, wenn es das aber betrachtet, dann versteht das Dasein die Disharmonie besser, sorgt für Harmonie innerhalb der Struktur seiner Seinsmöglichkeiten (seiner Selbstbedeutsamkeit) und seiner Gemeinschaft und versteht sich und die Anderen in seinem bzw. ihrem Worumwillen in größerem Maße unmittelbar und echt. In der Wiedergutmachungsbereitschaft kommt das Dasein der Selbstliebe und damit der Liebe überhaupt immer näher. Der Entschlossenheit zur Selbstreinerhaltung und zu Einkehr und Reue ist also noch die zur Wiedergutmachung beizufügen. Entschlossenheit zur Wiedergutmachung als ausgezeichnete, im Dasein selbst durch sein Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit ist das verschwiegene, wutbereite (indem es bereit ist, sich seiner eigenen Wut und auch der von Anderen innerhalb einer Gemeinschaft zu stellen und Wiedergutmachung zu leisten bzw. die entsprechende Enttäuschung, auch die der Anderen, zu verarbeiten), die Bedingtheit seines Schuldigseins verstehende und akzeptierende Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein. Insofern gibt das Dasein aus seinem eigensten Seinkönnen Zeugnis davon, dass es von ihm selbst eine Entwicklung zur Liebe fordert, indem es sich entschließt, sich selbst und Andere immer echter und unmittelbarer zu verstehen. Das Begreifen und Wiedergutmachen, sowie die Vorkehr gegen eine Wiederkehr seiner Schuld ergibt insgesamt eine Umkehr des Daseins, die entschlossene Auslegung, das ausdrückliche Ergreifen der Konsequenzen der begriffenen Schuld. Dazu war es in der Entschlossenheit schon bereit durch das Verstehen seiner Abscheu, sich dem Schuldigsein zu überlassen. Umkehr bedeutet neben der Wiedergutmachung auch eine Änderung des Sinnes, der ja das formale Gerüst dessen umfasst, „was notwendig zu dem gehört, was verstehende Auslegung artikuliert [hier muss es meines Erachtens „ausdrückt“ heißen, siehe oben]“ (Seite 151 ebenda). Das griechische Wort Metanoia für Sinnesänderung wird meist mit Buße übersetzt. So verstanden bereut das Dasein, macht wieder gut und trifft entsprechende Vorkehrungen und tut damit insgesamt Buße, wenn es sein Schuldigsein immer besser versteht und annimmt. So betrachtet ist Buße eine Umkehr, bestehend aus Wiedergutmachung und Sinnesänderung. In Bezug auf das ursprünglichste Schuldigsein ist Buße eine ständige Bereitschaft zu Wiedergutmachung und Sinnesänderung, bis das Dasein in die Liebe gekommen ist, denn vorher kann es seine Geworfenheit als ursprünglichste Unzulänglichkeit und alle weiteren Unzulänglichkeiten nicht echt und unmittelbar verstehen. Entsprechend sind die Entschlossenheit zum Begreifen seiner Schuld (Reue), zur Selbstreinerhaltung und zur Wiedergutmachung ebenfalls ständige Prozesse, bis das Dasein in die Liebe gekommen ist. Es sind Existenziale, ohne die es keine Selbstwahl gibt, und wie bei dieser hat das Dasein nur die Wahl, zu wählen oder nicht zu wählen bzw. sich zu entschließen und sich gegebenenfalls immer wieder neu zu entschließen oder sich nicht derart zu entschließen.

Wenn man einmal den Ablauf betrachtet, so folgt auf den Gewissensruf das Empfinden von Leid, denn der Gewissensruf ist eine Störung der Harmonie in seinem Selbstentwurf, also die Abwesenheit oder die Getrenntheit von Harmonie, von der das Dasein ergriffen ist, wenn es sich nicht von ihm selbst abgekehrt hat. Wenn es sich von ihm selbst abgekehrt hat, empfindet es zuerst Angst, und nur dann anschließend Leid, wenn es den Gewissensruf hören will und sich daher seine Angst verstehend sich selbst zuwendet. Die Störung der Harmonie erkennt das Dasein, wenn es beginnt, seine Befindlichkeit des Leids als Abwesenheit der Harmonie zu verstehen. Entschlossen aufgrund der Abscheu, sich der Disharmonie zu überlassen, bringt sich das Dasein im weiteren Verstehen zurück und erkennt anhand seiner Befindlichkeit der Wut, dass etwas Schädigendes passiert ist, dass es sich faktisch schuldig gemacht hat. Dann läuft es aufgrund der Abscheu, sich seinem Schuldigsein zu überlassen, entschlossen vor, und versteht aufgrund seiner Befindlichkeit der Angst, dass es Vorkehrungen zur Schadensbegrenzung treffen muss. Gehalten in der Vor-Habe seiner faktischen Schuld und in der Vor-Sicht des Entwerfens von Vorkehrungen begreift es das Verständnis seines Leids als Schuld in der Rede, das heißt es bereut. Diese Reue legt es im Verständnis seiner Befindlichkeit der Abscheu, sich seinem Schuldigsein zu überlassen, handelnd bzw. ergreifend aus, indem es wieder gutmacht, soweit es geht, was an Schaden entstanden ist. In der Auslegung seiner Reue ist außerdem eine ausdrückliche Sinnesänderung enthalten, nämlich die Buße, in welcher Reue, Wiedergutmachung und Selbstreinerhaltung, sowie die ausdrückliche Entschlossenheit, sich immer wieder sich selbst zuzuwenden, enthalten sind.

Heideggers Gewissensruf, der aus der Sorge kommt, also aus der Ergriffenheit und der Erwartung, und die im darauf Hören gründende Entschlossenheit als Bezeugung dafür, dass das Dasein eigentlich sein, das heißt seine Anfälligkeit für Täuschungen und seine Unzulänglichkeit annehmen will, ist aber nicht nur eine Mahnung, Möglichkeiten des Schuldigseins zu vermeiden oder dessen Folgen wieder gut zu machen, sondern auch eine Aufforderung, eigentlich zu sein bzw. Liebe und Erfüllung zu erreichen. Die Entschlossenheit des Daseins ist nicht nur eine Reaktion auf die Mahnung, die im Gewissensruf enthalten ist. Dann wäre das Dasein nur in einem negativen Sinne motiviert, eigentlich zu sein. Im Gewissensruf gibt es auch eine positive Motivation, nämlich die Vor-Freude auf Wiederherstellung der Harmonie. Wenn das Dasein durch Wiedergutmachung seine Ergriffenheit immer mehr zur Liebe hin und damit seine Erwartung immer mehr zur Erfüllung hin entwickelt, dann wird seine Ergriffenheit wegen der häufigeren Erfüllung immer mehr zu einem freudigen Sein-bei. Die darin enthaltene Befindlichkeit der Freude, auch wenn sie jeweils nicht unbedingt sehr lange anhält, stärkt als im Gewissensruf enthaltene Vor-Freude die Entschlossenheit und bezeugt damit ebenfalls, dass das Dasein eigentlich sein und lieben lernen will. Wie später noch Weiter unten auszuführen sein wird, hat Liebe auch den Aspekt der Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz, der vom Dasein erschlossen ist im Orgasmus, aber erst in der Liebe voll und ganz begriffen, verstanden und entdeckt ist. Die im Orgasmus erschlossene Bereitschaft zur Hingabe ist eine weitere Bezeugung dafür, dass das Dasein sich selbst freudig zu einer Entwicklung zur Liebe aufruft.

Entschlossenheit zur Buße als Reue, Wiedergutmachung und Vorkehr gegen eine Wiederkehr des Schuldig-Seins stellen das positive Moment der Ergriffenheit, nämlich das Freisein der Entwicklung der Ergriffenheit zur Liebe hin, wieder her. Nach dieser Wiederherstellung befindet sich die Ergriffenheit in einem veränderten, weiter entwickelten Zustand, und die Selbstreinerhaltung verhilft dazu, dass die Weiterentwicklung der Ergriffenheit möglichst störungsfrei verläuft, das heißt möglichst ohne eine Abkehr des Daseins von ihm selbst, wodurch Buße bzw. Umkehr als Reue bzw. Einkehr, Wiedergutmachung bzw. Rückkehr und Selbstreinerhaltung bzw. Vorkehr gegen eine Wiederkehr der Abkehr nötig wäre, um die Störung dieser Entwicklung zu beheben. Wenn wir uns die Begriffe Umkehr, Einkehr, Rückkehr und Vorkehr betrachten, so ist in allen dreien das Wort „Kehren“ enthalten, welches auch die Bedeutung von „Reinigen“ beinhaltet. Dies stimmt auch damit überein, dass der Prozess, der durch Umkehr als Einkehr, Rückkehr und Vorkehr bestimmt ist, eine Art Entschlossenheit zur Reinheit bzw. Entschlossenheit zur Harmonie des Daseins mit sich und Anderen und damit Entschlossenheit zur Selbstliebe und Liebe darstellt. Reinheit, Harmonie und Liebe sind aber mit der Befindlichkeit der Freude gekoppelt, so dass die Entschlossenheit dazu durch eine entsprechende Vorfreude gestärkt wird. Buße, also Reue, Wiedergutmachung und Selbstreinerhaltung als Strukturmomente des Wozu (der Richtung, des Sinns) der Entschlossenheit beschreiben also genauer einen Teil der reflexiven Struktur des Daseins (nämlich die Steuerelemente des Daseinsprozesses), zu denen noch als Antrieb die freudige Neugierde (Cura bedeutet neben Sorge auch Neugierde), also die Vorfreude hinzukommt. Die Struktur der Sorge wurde ja phänomenologisch durch Faktizität, Täuschung oder Verfallenheit und Existenzialität aufgezeigt. Die Entschlossenheit zu Buße, also zu Reue, Wiedergutmachung und Selbstreinerhaltung, als im Dasein selbst durch sein Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit ist die Entschlossenheit zu lieben. Die eigentliche Entschlossenheit ist das verschwiegene, die Bedingtheit seines Schuldigseins verstehende und akzeptierende Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein, das Nach Heidegger nur für die Angst, bei mir aber für alle Befindlichkeiten (Abscheu, Leid, Wut und Angst), nicht nur die eigenen, sondern auch die der Anderen in seiner Gemeinschaft, offen und bereit ist. Dabei wird diese Entschlossenheit, vom Mahnruf des Gewissens geweckt und durch die Vorfreude auf Erfüllung und Liebe entsprechend gestärkt. Die Entschlossenheit zum Büßen als Schuld-Begreifen oder Bereuen, Wiedergutmachen und Selbstreinerhalten entdeckt erst das faktisch Mögliche, so dass das Dasein dieses Mögliche derart ergreift, wie es als eigenstes Seinkönnen möglich ist in der Angewiesenheit auf seine Umwelt und die Gemeinschaften, in denen es Mitglied ist. Die existenziale Bestimmtheit des jeweils möglichen „entschlossenen Daseins umfasst die konstitutiven Momente des bisher übergegangenen existenzialen Phänomens, das wir Situation nennen.“ (Seite 299 ebenda) Darin ist eine räumliche Bedeutung enthalten, die auch im „Da“ liegt. Die Situation ist das jeweils in der Entschlossenheit zu Buße als Reue, Wiedergutmachung und Selbstreinerhaltung erschlossene Da des Daseins. Die Situation, das erschlossene Da, ist nur durch und in diesen Strukturmomenten des Sichentwerfens. Durch die Situation erschließt sich dem Dasein der jeweilige faktische Bewandtnischarakter der Umstände, die Bedeutsamkeit als Struktur seiner Weltlichkeit.

Ich will an dieser Stelle einmal innehalten und ein Resümee ziehen von dem, was Heidegger bislang erarbeitet hat, um sodann Heidegger interpretierend ein eigenes vorläufiges Resümee zu ziehen. Heidegger geht vom Dasein aus als dem Seienden, dem es um sein eigenes Sein bzw. In-der-Welt-sein geht, und beschreibt dies phänomenologisch näher: Das Dasein findet sich in fremdbestimmten Verhältnissen mit Anderen vor (Faktizität), auf die es angewiesen ist, von denen es auch getäuscht werden und in denen es sich auch täuschen kann (Verfallenheit), und begreift in der Folge immer mehr, dass es sich auf bestimmte Daseinsmöglichkeiten hin entwerfen kann (Existenzialität). Der reflexiven Struktur des Daseins, die durch die Faktizität, die Verfallenheit, und die Existenzialität konstituiert ist, gibt Heidegger den Titel Sorge und stellt ihr als grundlegende Befindlichkeit die Angst zur Seite. Einerseits übergeht Heidegger das von mir herausgestellte aggressive Moment des Sich-Annäherns, andererseits aber, nachdem Heidegger den Begriff der Entschlossenheit eingeführt und auch schon vorher erwähnt hat, dass das Dasein sich seine Eigentlichkeit zurückholen müsse, wenn es das will (Seite 268 ebenda), kommt das aggressive Moment doch zum Vorschein. Das Zurückweisen der Wissenschaft „auf ihren Platz“, und das „Vorlaufen zum Tode“, um sich von der Herrschaft des Man zu befreien, die einseitige Interpretation des Verstehens als „Können“, und nicht auch als Akzeptieren des Bedingt-Seins der Situation des Daseins, alles das verleitet zu dem Missverständnis, dass es Heidegger allein um einen Machtkampf geht, den Kampf um die Selbstbestimmung des Daseins. Die Gegensätzlichkeiten ließen sich fortsetzen: Er benutzt Begriffe wie Sorge und Angst, die auf inadäquate Weise nahe legen, das Dasein sei wie ein Bettler, der Angst vor dem Morgen haben und sich wegen seiner Sterblichkeit sorgen muss, wenn er selbstbestimmt sein will. Dann wiederum stattet Heidegger das Dasein mit einer formalen Rüstung aus Entschlossenheit, einer formalen Heerestrompete des Gewissens und einer formalen Lanze für die Freiheit aus, und stellt damit eine mögliche heroische Seinsweise des Daseins heraus. Dieses aggressive Moment habe ich versucht mit dem Begriff der Ergriffenheit zum Ausdruck zu bringen. Aber weder eine Seinsweise als Bettler noch eine als Krieger können das Dasein, welches wir ja jeweils selbst sind, richtig erfassen, auch nicht der positivste Seinszustand der Verfallenheit, wenn das Man uns in Sicherheit wiegt und wir uns wie im Schlaraffenland oder wie „Gott in Frankreich“ fühlen und unseren Spaß haben. Wie Heidegger ganz richtig feststellt, findet sich das Dasein nur über seine Befindlichkeit, und die grundlegenden Befindlichkeiten, die bis jetzt noch fehlen, sind Abscheu, Leid und Freude. Analog zu diesen fünf Befindlichkeiten muss die reflexive Struktur des Daseins (die Sorge) ausgedrückt werden durch die fünf Modalitäten des Verstehens: Entschlossenheit, sich mit seinen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen (Verstehen der Abscheu), Bereitschaft zu Reue und Schuld-Begreifen (Verstehen des Leids) und Wiedergutmachung (Verstehen der Wut), Streben nach Selbstreinerhaltung (Verstehen der Angst), also Vorkehrungen zu treffen, die die Gefahr des Schuldigwerdens bzw. des Unharmonischwerdens der Struktur der Seinsmöglichkeiten des Daseins vermindern, und Streben nach echtem und unmittelbarem Verstehen des Worumwillens bei ihm selbst und bei Anderen, also Streben nach Liebe und Erfüllung (Verstehen der Freude). Entsprechend ertönt der Weckruf des Gewissens aus einer Mischung von Entschlossenheit, Reue, Wiedergutmachungsbereitschaft, Selbstreinerhaltungsstreben und Lieben-Lernen-Wollen. Im lateinischen Wort Cura ist die Reue ebenfalls enthalten, wenn man die etymologische Herleitung „Cor Urit“, das Herz brennt, betrachtet. Cura in der Bedeutung von Heilbehandlung schließt auch die Wiedergutmachung mit ein. Als „dem Menschen angeborene Neugierde“ (cura ingenii humani) enthält sie auch die Vorfreude, und je besser das Besorgen dann gelingt, desto größer wird auch die Freude des Daseins, die die Entschlossenheit, die Reue, die Bereitschaft, etwas wieder gut zu machen, und das Streben nach Selbstreinerhaltung entsprechend stärkt.

Ich komme noch einmal auf die Gegensätzlichkeiten in Heideggers Ausdrucksweise zurück, in der sich Ängste und Aggressionen zu verschränken scheinen. Ich interpretiere dies auf dem Hintergrund des von Deutschland verlorenen Ersten Weltkriegs, durch den große Existenzängste und Aggressionen aufgrund des Versailler Vertrags entstanden waren (Stichwort Kriegsschulddebatte). Selbstbestimmung und Eigentlichkeit waren bei einer derart „geprügelten Nation“, die sich als solche auch empfand, sicherlich nicht sehr ausgeprägt. Reue, Buße und Wiedergutmachung waren damals Begriffe, die die Generation von Heidegger eher aufgebracht hätte. Der Begriff Schuld als Unzulänglichkeit, wie Heidegger diesen Begriff ontologisch interpretiert, war wohl gerade noch zu tolerieren. So finden wir erneut Hinweise, was dazu geführt haben mag, dass Heidegger gehofft hatte, mithilfe der Nazis seinen Traum von der Verbreitung eigentlichen philosophischen Denkens in der akademischen Bevölkerung zu verwirklichen.

Wenn man mit Heidegger für die reflexive Struktur des Daseins das Wort Sorge benutzt, sollte man dabei im Gedächtnis behalten, dass es die Begriffe von Entschlossenheit, Reue, Wiedergutmachungsbereitschaft und Selbstreinerhaltungsstreben enthält, aber auch die freudige Neugierde, die Vorfreude. In der Sorge, bestehend aus den beiden Strukturmomenten Ergriffenheit und Erwartung, ist ja die Enttäuschungsgefahr enthalten und damit auch die Sorge, dieser Gefahr zu begegnen. Das ist ein Teil des Bemühens um Selbstreinerhaltung. Der andere Teil dieses Bemühens ist die Entschlossenheit zu Umkehr als Einkehr, Rückkehr und Vorkehr, falls es doch zu einer Täuschung gekommen ist. Die Enttäuschungsgefahr impliziert ja auch, dass das Dasein sich unter Umständen abkehrt von ihm selbst. Um dieser Gefahr zu begegnen bzw. um die Abkehr wieder rückgängig zu machen, bedarf es des Gewissensrufs, der, wenn das Dasein auf ihn hört, weil es eine Abscheu davor empfindet, sich seinen Unzulänglichkeiten zu überlassen, Reue und Wiedergutmachungsbereitschaft in Gang setzt. Es bedarf aber auch der Vorfreude, die in der Sorge ebenfalls enthalten ist. Der Gewissensruf kommt aus der Sorge. Somit sind in der Sorge Entschlossenheit, Reue, Wiedergutmachungsbereitschaft und Selbstreinerhaltungsstreben, sowie die Vorfreude als positive Verstärkung enthalten. Bei der Bedeutung Heilbehandlung von Cura (Sorge) könnte man interpretieren, das In-der-Welt-sein sei eine Heilbehandlung für das Dasein, durch die es in die Liebe gebracht werden soll, wodurch es dann geheilt ist. Was auf der Ebene der Befindlichkeiten neben Wut, Leid, Abscheu und Angst noch mehr Beachtung verdient, ist die Freude. Ihr entspricht auf der Ebene der reflexiven Struktur des Daseins neben Entschlossenheit, Reue, Wiedergutmachungsbereitschaft und Selbstreinerhaltungsstreben als Steuerelementen des Daseinsprozesses die freudige Neugierde, die Vorfreude, also der positive Antrieb der Entwicklung des Daseins. Dieser Antrieb versiegt, das heißt die Entwicklung der Ergriffenheit hin zur Liebe stockt, wenn das Dasein aufgrund einer Enttäuschung sich von ihm selbst abgekehrt hat. Die Ergriffenheit befindet sich dann in einem uneigentlichen Modus, einer Mischung aus Zorn, Trauer, Furcht oder Ekel, oder die Ergriffenheit weicht aus auf ein Ersatzziel, bei dem es aber nur oberflächlichen Spaß, also uneigentliche Freude, empfinden kann.

Ergriffenheit und Erwartung beinhalten also die Möglichkeit von Täuschung. Erwartung ist unter anderem das Verständnis der Ergriffenheit, und Enttäuschung ist die Konfrontation der Erwartung als Täuschung mit der Tatsächlichkeit und Faktizität der Welt, wenn diese mit der Erwartung nicht übereinstimmt, was dann eine entsprechende Veränderung der Erwartung und der Ergriffenheit hervorruft, es sei denn, das Dasein hält an der Erwartung, der Täuschung fest, ein Nicht-Verstehen-Wollen der Enttäuschung. Mit der Enttäuschung, an die der Gewissensruf oder auch das Träumen immer wieder erinnern, wird das Dasein mit der ursprünglichsten Enttäuschung, die alle nachfolgenden Enttäuschungen enthält, nämlich, dass es unvollkommen ist, also mit seiner Geworfenheit konfrontiert und somit mit seinem ursprünglichsten Schuldigseinkönnen. Man könnte nun sagen, dass das, was dem Dasein in der Geworfenheit übereignet und überantwortet worden ist, nämlich dass es Da sein kann, durch ein Verrechnen von Ansprüchen gegenüber demjenigen ausgeglichen werden sollte, der das Dasein geworfen hat. Rein formal können wir diesen Gedankengang wie oben allein dadurch zurückweisen, dass das Da-sein-können als Möglichkeit des Daseins nicht mit etwas Vorhandenem, den Ansprüchen, verrechnet werden kann. Wir können dies aber auch inhaltlich zurückweisen, wenn wir erst einmal den Sinn von Sein überhaupt thematisch geklärt haben. Dann können wir auch die Bedingungen finden, die uns erst in die Lage versetzen, dass wir die Frage nach dem, was in der Geworfenheit gegeben wurde, überhaupt vernünftig stellen können. Erst dann, wenn uns der Sinn unseres jetzigen Daseins klar wird, können wir unsere Geworfenheit und unsere Situation entsprechend würdigen und wertschätzen. Durch die Strukturmomente des Sichentwerfens (Entschlossenheit, Bereitschaft zu Buße als Reue, Wiedergutmachung und Streben nach Selbstreinerhaltung, sowie Vorfreude auf Liebe und Erfüllung) läuft ein Prozess ab, der immer wieder erneut durch die Vorfreude oder, falls diese versiegt ist, durch den Gewissensruf von Entschlossenheit, Reue, Wiedergutmachungsbereitschaft und Streben nach Selbstreinerhaltung in Gang gebracht werden muss, da das Dasein immer wieder in Täuschungen verfällt, in welche es sich durch unwillkürliche Prozesse treiben lässt. Man könnte es auch so formulieren: die Prozesse des Daseins sind so vielfältig, dass das Dasein sie nicht alle auf einmal entwerfen bzw. kontrollieren kann, das heißt es ist darauf angewiesen, dass bestimmte Prozesse in der jeweiligen Situation automatisch, das heißt von alleine laufen. Es muss in diesem Unwillkürlich-Sein darauf vertrauen, dass alles zumeist und zunächst gut abläuft. Darauf ist das Dasein angewiesen, und das ist seine eigentliche Verfallenheit und Unzulänglichkeit, die immer wieder Täuschungen hervorbringen kann. Durch Enttäuschungen und durch den Gewissensruf, der auf unerledigte, weil nicht hinreichend echt verstandene, frühere Enttäuschungen und/oder zukünftige Gefahren hinweist, wird das Dasein aufgerüttelt, bestimmte Prozesse aufmerksam zu betrachten und seine eigenen Seinsmöglichkeiten anders bzw. neu zu entwerfen durch Entschlossenheit, Bereitschaft zu Buße bzw. Umkehr als Reue bzw. Einkehr, Wiedergutmachung bzw. Rückkehr zum inneren und/oder äußeren Einklang, zur inneren Harmonie der Struktur der Seinsmöglichkeiten des Daseins und/oder zur äußeren Harmonie innerhalb seiner Gemeinschaft, und Streben nach Vorkehrungen, dass sich das Dasein bei weiteren Enttäuschungen, die es immer wieder geben kann, nach Möglichkeit nicht wieder von ihm selbst abkehrt. Die Vorkehr soll die Wiederkehr der Abkehr verhindern, damit die Abkehr nicht immer wieder durch Umkehr als Einkehr, Rückkehr und verbesserter Vorkehr aufgehoben werden muss. Bei einer Enttäuschung wird das Dasein von der Faktizität und Tatsächlichkeit der Welt aufgerüttelt, beim Gewissensruf von ihm selbst bzw. seiner Sorge. Am Ende dieser gesamten Entwicklung befindet sich das Dasein dann in der Liebe, in die sich bis dahin die Ergriffenheit verwandelt hat. Die Ergriffenheit ist sozusagen die Vor-Form, die sich bei dem Entwicklungsprozess, der von Entschlossenheit und freudiger Neugierde (auch eine Bedeutung von Cura), die auch in Ergriffenheit und Erwartung, also auch in Sorge enthalten ist, angetrieben und gegebenenfalls von Reue, Wiedergutmachung und Selbstreinerhaltung gesteuert wird, in ihre eigentliche Form umwandelt, nämlich in Liebe. In der Liebe sorgt sich das Dasein nicht mehr ängstlich, es kämpft nicht mehr ärgerlich um Selbstbestimmung, es trauert keinen verpassten Gelegenheiten mehr nach, von denen es gerade getrennt ist, und es verabscheut nichts mehr von seinem In-der-Welt-sein. Es gibt dann auch keinen Unterschied mehr zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, in der Liebe ist das Dasein eigentlich uneigentlich, es ist unmittelbar. Es gibt keinen Grund mehr für einen Gewissensruf, also kann das Dasein alles so laufen lassen nach dem Motto: Es lebt mich. Wie weiter oben schon ausgeführt, hat sich die Erwartung bei diesem Entwicklungsprozess in Erfüllung umgewandelt, so dass man feststellen kann, dem Dasein geht es eigentlich um die Erfüllung seines Seins, um Liebe, und nicht um Selbstbestimmtheit, um Macht. Liebe und Erfüllung machen zusammen die wahre Beziehung des Daseins mit dem Sein überhaupt aus, das heißt sie sind die beiden Strukturmomente der Wahrheit. Bei der Entwicklung des Daseins zum echten und unmittelbaren Verstehen entwickelt sich die Sorge von ihrer uneigentlichen Form zur eigentlichen, nämlich zur Wahrheit. Die Befindlichkeit des Daseins ist dann Freude, so dass der Ausspruch bestätigt ist: Wahrheit ist der Feind der Angst, der Wut, des Leids und der Abscheu.

Auf diesem Hintergrund betrachtet, der den Sinn von Sein thematisch etwas mehr geklärt hat, möchte ich vorsichtig die Vermutung äußern, dass das, was uns mit der Geworfenheit gegeben wurde, die Möglichkeit ist, lieben zu lernen. Das ist der ontologische Sinn dessen, dass wir in die Welt geworfen wurden. Dabei ist jeder von uns Lernender, aber gleichzeitig ermöglichen wir allen Anderen und uns selbst, lieben zu lernen. Jeder von uns ist Schüler und in gewisser Weise, auch wenn wir dies nicht immer wahrnehmen, auch Lehrer für sich selbst und die Anderen. Auf diesem Hintergrund können wir daher auch inhaltlich zurückweisen, wir seien für unsere Geworfenheit irgendetwas schuldig, das verrechnet werden könnte, da wir ja gleichermaßen Schüler und Lehrer sind. Wir können aber unsere Geworfenheit würdigen und wertschätzen als Gelegenheit, lieben zu lernen und so ganz und heil zu werden in der Verbundenheit mit allem Sein.

Wie sieht es nun innerhalb einer Gemeinschaft aus, wie lassen sich hier die Phänomene von Schuld, Entschlossenheit, Reue, Wiedergutmachungsbereitschaft, Buße und Selbstreinerhaltung usw. ontologisch interpretieren? Bei der Liebe, sei es Selbstliebe oder Fremdliebe, geht es um echtes und unmittelbares Verstehen des Seins überhaupt in seinem Worumwillen, also seiner reflexiven Struktur, wobei die Unzulänglichkeiten des Daseins echt und unmittelbar von ihm verstanden werden müssen, damit es die dadurch aufgeworfenen Probleme lösen kann. Echtes und unmittelbares Verstehen seiner Unzulänglichkeiten erreicht das Dasein durch entsprechendes Verstehen seiner Befindlichkeiten Abscheu, Leid, Wut und Angst, was durch dieses Verstehen zu Entschlossenheit als Bereitschaft zu Buße, also Bereitschaft zu Reue und zu Wiedergutmachung und Streben nach Selbstreinerhaltung führt, wie oben schon dargelegt. Bezogen auf einen Anderen ist solches Verstehen ein echtes und unmittelbares Verstehen von dessen Schuldigsein, also von dessen Schwäche. Es versteht somit dessen Befindlichkeit der Angst wegen möglicher Konflikte, auch wenn der Andere sich davon abgekehrt hat, zum anderen ein echtes und unmittelbares Verstehen seines ihm durch seine Schwäche entstehenden Leids, auch wenn der Andere sich davon abgekehrt hat, ein echtes und unmittelbares Verstehen der eigentlichen Wut des Anderen, so dass das Dasein im Anderen immer noch das Streben nach Harmonie sehen und ihm so verzeihen kann, auch wenn der Andere sich von dieser seiner Wut und seinem Harmoniestreben ebenfalls abgekehrt hat, und zum vierten ein echtes und unmittelbares Verstehen der Abscheu des Anderen, so dass das Dasein die Abscheu vor Unentschlossenheit und Versessenheit verstehen kann, auch wenn der Andere sich von dieser seiner Abscheu apathisch abgekehrt hat. Insgesamt versteht das Dasein so auch die mögliche Abkehr des Anderen von sich selbst. Der Begriff Liebe bekommt auf diese Art und Weise eine etwas umgrenztere Bedeutung, da er doch bis jetzt sehr allgemein definiert worden ist. Bei alledem bleibt es aber ein ontologischer Begriff, der insofern unbestimmt bleiben muss, da Liebe erst in einer konkreten Situation eine bestimmte Seinsmöglichkeit sein kann.

Im Christentum gibt es ja das Gebot der Feindesliebe. Ich verstehe Gebote als Hinweise und diesen Hinweis als eine empfehlenswerte Lernmöglichkeit, weil sie die Entwicklung zur Liebe enorm beschleunigen kann. Ein Feind des Daseins ist ein Anderer, der in seinem In-der-Welt-sein und in seiner Weltlichkeit und Gemeinschaftlichkeit in vieler Hinsicht in einem großen Gegensatz zum Dasein steht. Wenn das Dasein diesen Feind immer mehr lieben, also immer echter und unmittelbarer verstehen kann, dann hat es enorm viel vom Sein überhaupt in seinem Worumwillen verstanden und hat so einen sehr großen Schritt in der Entwicklung zur Liebe geschafft. Dies ist deshalb so, weil das Dasein in einem Feind ein Gegenüber hat, in dem es viele Seinsmöglichkeiten verstehen kann, die es bei sich selbst noch nicht entdecken konnte. So entwickelt das Dasein eine große Menge neuen Verständnisses von Sein überhaupt.

Zeitlichkeit oder Prozesshaftigkeit (§§ 61 bis 66) Bearbeiten

Um den Anfang für einen hermeneutischen Zirkel zur Bestimmung des Sinns des Seins des Daseins zu erhalten, sind bereits zwei entscheidende Ergebnisse gewonnen:

1. Ein eigentliches Ganzseinkönnen des Daseins ohne Abkehr von ihm selbst oder von seinem In-der-Welt-sein, wodurch die Sorge bzw. die Ergriffenheit des Daseins immer eigentlicher wird bzw. sich immer mehr in Liebe verwandelt und die Erwartung in Erfüllung, wurde im eigentlichen Sein zum Tode kombiniert mit dem eigentlichen Sein zur Geworfenheit hin als ontologische Möglichkeit des Daseins zu Begriff gebracht. (Siehe Kapitel 7) 2. Die im Dasein selbst durch das Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit wird als Entschlossenheit (einschließlich Bereitschaft zu Buße, also Bereitschaft zu Reue und Wiedergutmachung, Streben nach Selbstreinerhaltung und Lieben-Lernen-Wollen) gefordert, das heißt dass das Dasein keine Abkehr von ihm selbst oder von seinem In-der-Welt-sein will, sondern sein eigentliches Ganzseinkönnen ohne eine solche Abkehr. Aus seinem eigensten Seinkönnen gibt das Dasein Zeugnis davon, dass es eine Entwicklung zur eigentlichen Sorge bzw. von der Ergriffenheit zur Liebe und von der Erwartung zur Erfüllung, insgesamt also von der Sorge zum wahren Leben fordert. (Siehe Kapitel 8)

Damit haben wir für den hermeneutischen Zirkel schon den Vor-Griff (Punkt 1) und die Vor-Sicht (Punkt 2), es fehlt nur noch die Vor-Habe, die Bestätigung, dass das Dasein sein eigentliches Ganzseinkönnen ohne Abkehr von ihm selbst oder von seinem In-der-Welt-sein auch faktisch sein kann, und dass das Dasein sich so entwickeln kann, dass seine Ergriffenheit immer mehr zu Liebe und seine Erwartung immer mehr zu Erfüllung wird. Es geht also darum, die existenziale Interpretation der Entschlossenheit (einschließlich Bereitschaft zu Buße, also Bereitschaft zu Reue und Wiedergutmachung, Streben nach Selbstreinerhaltung und Lieben-Lernen-Wollen) als eigentliche Erschlossenheit, das heißt als existenzieller Modus eigentlicher Existenz, auf der ontischen Ebene existenziell zu bestätigen. Es geht an dieser Stelle auch darum, aufzuzeigen, ob und wie das Dasein den nötigen Sinn und die nötige Richtung für seine Umkehr zu seinem eigensten Seinkönnen finden kann.

Die eigentliche Erschlossenheit ist ein existenzielles Seinkönnen. Sie liefert die geforderte existenzielle Bestätigung dafür, dass sich das Dasein in der Mannigfaltigkeit der Strukturmomente seines Seins erschlossen ist. Existenzial interpretiert ist dieses existenzielle Seinkönnen die Entschlossenheit als das verschwiegene, für die Angst bei Heidegger und bei mir für die Befindlichkeiten Abscheu, Wut, Leid und Angst offene Verstehen bzw. Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein und verstehendes Akzeptieren der Bedingtheit des eigensten Schuldigseins, welches gegebenenfalls ein reumütiges Umkehren und eine Sinnesänderung bedeutet, um dann wiedergutmachend zurückzukehren zu einer harmonischen Struktur der eigenen Möglichkeiten seines Seinkönnens, und welches in jedem Fall das Bemühen ist um bestimmte Möglichkeiten der Vorkehr. Insgesamt beinhaltet die Entschlossenheit somit das Lieben-Lernen-Wollen, sodass sie durch Vorfreude auf Erfüllung und Liebe gestärkt wird. Unklar ist hierbei lediglich, ob die Entschlossenheit auch ein ganzes Seinkönnen ist. Ein existenzialer Begriff von Ganzheit wurde bereits mit den Analysen der Geworfenheit und des Todes gefunden. Dieser Begriff muss für die Entschlossenheit nur noch existenziell bezeugt werden. Die Entschlossenheit muss „in ihrer eigensten existenziellen Seinstendenz selbst vor auf die vorlaufende Entschlossenheit als ihre eigenste eigentliche Möglichkeit“ weisen (Seite 302 ebenda) und entsprechend auch auf die sich zurückbringende Entschlossenheit. Vorlaufen, Sich-Zurückbringen und Entschlossenheit sind existenziale Phänomene, die, weil es dem Dasein, das wir jeweils selbst sind, um sein eigenes Sein geht, auf die in ihnen vorgezeichneten existenziellen Möglichkeiten entworfen und diese existenzial „zu Ende gedacht“, und entsprechend in den in ihnen aufgezeichneten Bedingtheiten verantwortet und diese existenzial „zum Anfang hin gedacht“ werden müssen. Die Herausarbeitung der vorlaufenden und sich zurückbringenden Entschlossenheit als existenziell mögliches eigentliches Ganzseinkönnen verliert so den Charakter der Willkürlichkeit und wird „zur interpretierenden Befreiung des Daseins für seine äußerste Existenzmöglichkeit“ (Seite 303 ebenda) und ebenso zur interpretierenden Befreiung des Daseins zu seiner ursprünglichen und äußersten, im Vorweg nicht erschließbaren Existenzbedingtheit. Vorlaufen, Sich-Zurückbringen und Entschlossenheit werden daher in ihrem Vollzug nicht vorgegeben, das lässt Heidegger in der Verantwortung des Daseins, das wir jeweils selbst sind, um einer Befreiung nicht im Weg zu stehen, und das existenziale Zu-Ende-und-zum-Anfang-hin-Denken der Entschlossenheit lässt diese aus sich selbst heraus, also gerade nicht durch ein äußerliches Zusammenbinden, mit dem Sein zum Tode und dem Sein von der Geworfenheit her verschmelzen.

Indem Heidegger nicht konkret beschreibt, wie das Dasein es selbst und ganz sein kann, bleibt er seiner Auffassung von Philosophie als Protreptik treu, er provoziert uns, ganz zu uns selbst zu finden und ganz bei uns zu bleiben. Dies ist auch eine klare Absage an die traditionelle Ontologie, die schon immer bestimmte Entitäten und eine dazugehörige feste Sinnstruktur vorgegeben hat. Das Dasein ist aufgefordert, auf kreative Weise und entschlossen immer wieder neu eine „existenzielle Ontologie“ zu finden bzw. zu erfinden, die den Anforderungen des existenzial Zu-Ende-und-zum-Anfang-hin-Denkens der Entschlossenheit genügt und so zu einem immer echteren und unmittelbareren befindlichen Verstehen des Seins überhaupt führt, also zu immer mehr Liebe und Erfüllung. Dadurch dass auch ich die Begriffe Selbstliebe und Liebe nur existenzial interpretiere, fordere auch ich uns, mich selbst eingeschlossen, dazu auf, sowohl uns selbst als auch andere zu lieben. Indem ich Heideggers analytischen Ansatz von der Arbeitswelt, also von den Aufgaben einer Gemeinschaft, die sich mit dem Außen befassen, indem sie die Gemeinschaft vor äußeren Gefahren schützen und Ressourcen von außen heranholen, auf die inneren Aufgaben einer Gemeinschaft übertragen habe und darauf, dass das Dasein, wenn es ihm um es selbst geht, ein Interesse daran haben muss, dass innerhalb der Struktur seiner Seinsmöglichkeiten (ein Analogon zur Struktur einer Gemeinschaft) eine möglichst große Harmonie herrscht, bin ich auf ähnliche Weise wie er zur Selbstbestimmung zusätzlich noch zu Liebe und Selbstliebe gekommen. So wie Heidegger dazu auffordert, vom Cartesianismus, der allzu sehr das Denken betont, zum Gefühl, zur Befindlichkeit zu kommen, so will auch ich dazu ermuntern, vom Versorgungs- und Machtdenken weg sich auf die Liebe zu besinnen. Im Zirkel des Verstehens geht Heidegger von einem Vorverständnis des Menschen aus als Dasein, dem es um sein eigenes Sein geht, und gelangt über eine erste hermeneutische Auslegung zur geforderten Möglichkeit der Selbstbestimmung des Menschen. Von demselben Vorverständnis des Menschen ausgehend gelange ich in einer ersten Analyse dazu, dass wir Menschen nach Harmonie streben sollten, wenn es uns um unser eigenes Sein geht, sowohl innerhalb unserer jeweiligen Gemeinschaft als auch innerhalb der Struktur der Selbstbedeutsamkeit unserer Seinsmöglichkeiten, also unseres Selbstentwurfs, wenn wir nicht die Grundlage unserer Existenz in Gefahr bringen wollen. Parallel zu Heidegger komme ich dann in einer ersten hermeneutischen Auslegung zur geforderten Möglichkeit von Liebe und Selbstliebe als Erfüllung des Harmoniestrebens.

Um Heidegger noch besser verstehen zu können, möchte ich eine These von Alice Miller aufgreifen, eine jüdische Psychoanalytikerin, die im „Dritten Reich“ in die Schweiz ins Exil gegangen und dort geblieben ist. Sie schreibt in einem ihrer Bücher (Miller, 1983, Seite 169 ff.), Hitlers Generation, zu der ja auch Heidegger gehört, sei eine Generation geprügelter Kinder, die nach einer sogenannten „Schwarzen Pädagogik“ (Miller, 1983, Seite 17 ff.) erzogen worden sei, die von Pädagogen des 19. Jahrhunderts wie zum Beispiel Schreber, von dem auch die Schrebergärten sind, propagiert worden ist. Hitler ist nach dieser These ein Protagonist dieser Generation, der besonders heftig von seinem Vater, der wahrscheinlich Halbjude war (vermutlich eine unbewusste Quelle von Hitlers Judenhass), verprügelt wurde. Auf diesem Hintergrund wird es immer verständlicher, warum Heidegger die Selbstbestimmung so sehr betont und das Dasein, also uns Menschen, dazu provoziert, ganz selbstbestimmt leben zu wollen. Für Heidegger muss daher auch die Idee der Nationalsozialisten, eine möglichst autarke Existenz für die deutsche Nation zu schaffen, sehr anziehend gewesen sein. Die Sehnsucht Heideggers, von einem ihm unheimlichen Zuhause, das er Unzuhause nennt und wo er als Kind wahrscheinlich auch geprügelt worden war, wegzukommen zu einer selbstbestimmten und selbst geschaffenen Heimat, ist daher nur allzu verständlich. Innerhalb der Gemeinschaft der deutschen Nationalsozialisten, die nach außen nur Schrecken und Krieg verbreiteten, herrschte keine Harmonie, so dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es zum Zusammenbruch dieser Schreckensherrschaft kam. Somit zeigt auch die Geschichte, dass Freiheit und Selbstbestimmung ohne Liebe früher oder später immer ins Verderben führen.

[In der Astronomie hat man festgestellt, dass das ganze Weltall immer mehr auseinander strebt. Das ganze Weltall? Nein, auf einem ganz kleinen Planeten in einem der kleinsten Sonnensysteme in einer der kleinsten Galaxien des Universums gibt es Wesen, die immer wieder zueinander streben und zusammenhalten, weil sie einen Zauber haben, der sie immer wieder heilt und stark macht und den sie Liebe nennen. - Genug der Protreptik mit dieser Anspielung auf Asterix und Obelix, zurück zum Thema!]

Heideggers Fundamentalontologie ist kein eigengesetzliches Bestimmen und Interpretieren, seine Begriffe, die Existenziale, sind auch keine Bezeichnungen, sondern sie zeichnen ein Seinkönnen vor, sie sind formale Anzeigen, die auf etwas hinweisen. Die Wahrheit einer existenzialen Interpretation eines Philosophen liegt nicht primär in der Angemessenheit bezüglich eines bestimmten Phänomens, sondern in ihrer Wirksamkeit als Bezeugung und Aufforderung, das Dasein zu einer Wahl zu bringen. Die Wahrheit dieses Philosophen ist ja seine Beziehung zum Sein überhaupt, wenn er dieses Sein echt und unmittelbar versteht. Dann ist seine Interpretation von diesem Verständnis getragen und wirkt somit echt und unmittelbar auf das Dasein, indem sie es ausdrücklich vor die Wahl stellt, die darin enthaltene Aufforderung und Bezeugung anzunehmen oder nicht. Je mehr die Interpretation dieses Philosophen also in seiner Wahrheit ist, desto ausdrücklicher stellt sie das Dasein vor diese Wahl. Somit ist die Fundamentalontologie als mögliche Aufweisung des Seinkönnens des Daseins von derselben Seinsart wie das Dasein selbst in seiner Existenz. Ausgehend von dem existenzial interpretierten Phänomen der Entschlossenheit ist dessen existenzieller Vollzug nicht vorgegeben, sondern wird vom Fundamentalontologen lediglich vorgezeichnet. Im existenzial „zu Ende denken“, und entsprechend im existenzial „zum Anfang hin denken“ wird diese Vorzeichnung konsequent als existenziales Phänomen begriffen.

Im Unterschied zu Heidegger habe ich die Entschlossenheit umfassender definiert als das sich seine eigene Befindlichkeit und die der Anderen zumutende, verschwiegen die Bedingtheit seines Schuldigseins verstehende und akzeptierende Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein, wobei in diesem Fall die Befindlichkeit eine Mischung aus Angst, Wut, Leid und Abscheu ist. Außerdem ist in der Entschlossenheit als Lieben-Lernen-Wollen die stärkende Vorfreude auf Erfüllung enthalten. Wie in diesem Kapitel später ausgeführt, müsste es genauer achtsame Entschlossenheit heißen. Im eigenen Sinne der Entschlossenheit liegt es, die Bedingtheit dieses Schuldigseins zu verstehen und zu akzeptieren und sich auf dieses Schuldigsein zu entwerfen, als welches das Dasein ist, seitdem und solange es ist. (Seite 305, ebenda, Ergänzungen von mir) Als Bedingung für eine existenzielle Übernahme dieser „Schuld“ in der Entschlossenheit muss das Dasein sein Schuldigsein als ständiges von Anfang bis zum Ende seines Da-Seins verstehen. Dies ist nur möglich, wenn das Dasein sich die Bedingtheit und das Seinkönnen „von seinem Anfang bis zu seinem Ende“ erschließt. Dann wird die Entschlossenheit eigentlich das, was sie sein kann, als verstehendes Sein vom Anfang bis zum Ende, das heißt als Sich-Zurückbringen auf die Geworfenheit und als Vorlaufen in den Tod. (Seite 305, ebenda, Ergänzungen von mir) Mit „ständig“ ist hier nicht ein innerzeitlicher Begriff von Dauer gemeint, sondern ein Zustand der Ganzheit des Daseins. Die Entschlossenheit birgt das eigentliche Sein von der Geworfenheit her bis zum Tode hin in sich als die mögliche existenzielle Modalität ihrer eigenen Eigentlichkeit. (Seite 305, ebenda, Ergänzungen von mir) Dieser Zusammenhang soll nun phänomenal verdeutlicht werden. Ich folge hier mit einigen Ergänzungen und Umformulierungen den Ausführungen Heideggers ab Seite 305 ff.

Das Schuldigsein muss wie oben schon erwähnt als Schuldigseinkönnen begriffen werden, weil es zum Sein des Daseins gehört. Die Entschlossenheit versteht und akzeptiert die Bedingtheit des Schuldigseins, das Dasein nimmt seine Unzulänglichkeiten an, und es entwirft sich auf dieses Seinkönnen, das heißt es rechnet mit seinen Unzulänglichkeiten und trifft in seinem Entwerfen entsprechende Vorkehrungen. Dieses Verstehen hält sich demnach in einer jeweils ursprünglichen Bedingtheit und schlechthinnigen Möglichkeit des Daseins und es hält sich eigentlich darin, wenn die Entschlossenheit ursprünglich ist. Die ursprüngliche Bedingtheit und die schlechthinnige Möglichkeit werden erst im Sich-Zurückbringen und im Vorlaufen erschlossen. Die Entschlossenheit wird daher erst als sich zurückbringende und als vorlaufende ein ursprüngliches Sein von der eigensten Bedingtheit des Daseins her und zum eigensten Seinkönnen des Daseins hin.

Das eigenste bzw. ursprüngliche Schuldigsein bedeutet ja nichtiges Grundsein einer Nichtigkeit, das heißt eine grundlegende Unzulänglichkeit, die schon in der Geworfenheit da ist (daher nichtiges Grundsein, denn das Dasein ist nicht der Grund seiner Geworfenheit, sondern umgekehrt die Geworfenheit ist der Grund seines Da-Seins). Der Tod wurde auch charakterisiert als Nichtigkeit, und zwar die schlechthinnige Nichtigkeit, das heißt der Tod bzw. die Sterblichkeit ist die schlechthinnige Unzulänglichkeit. Und die Sorge als Ergriffenheit und Erwartung ist von Enttäuschung durchsetzt, und Enttäuschung ist auch eine Nichtigkeit. Das (ursprüngliche) Schuldigsein und die Sterblichkeit sind also als Enttäuschung (das bedeutet die Aufhebung der Täuschung, die in der Erwartung liegt, das Dasein sei unsterblich und vollkommen) in der Sorge enthalten. So betrachtet birgt die Sorge Geworfenheit, Schuld und Tod gleichursprünglich in sich. Sie sind in der Sorge erschlossen, aber nicht unbedingt entdeckt bzw. befindlich verstanden. Erst die sich zurückbringende und vorlaufende Entschlossenheit versteht die Unzulänglichkeiten des Daseins eigentlich und ganz, das heißt ursprünglich.

Die passive Seite der Sorge bzw. der Ergriffenheit des Daseins von der Welt hat zwei Aspekte: zum einen Angewiesenheit, zum anderen Täuschung und Verlorenheit oder Verfallenheit. Auch die Welt hat ihre Unzulänglichkeiten, und diese enthüllen sich zusammen mit den eigenen Unzulänglichkeiten dem Dasein im Verstehen des Gewissensrufes. Mehr noch: das Dasein differenziert zwischen den verschiedenen Nichtigkeiten und erschließt sich so insbesondere die eigenen Unzulänglichkeiten, das heißt eigentlich und ganz durchsichtig wird die eigene Bedingtheit und wird das eigene Seinkönnen im verstehenden Sein vom Anfang her bis zum Tode hin. Dieses verstehende Sein vom Anfang her bis zum Tode hin stellt die eigenste Möglichkeit des Daseins dar. Wir haben übrigens auch hier wieder das Phänomen, dass das Dasein zuerst die ihm begegnenden Unzulänglichkeiten in der Welt entdeckt und dann die eigenen, da es sich selbst ja ontologisch gesehen am fernsten ist.

Die Differenzierung und Erschließung insbesondere der eigenen Unzulänglichkeiten des Daseins werden durch den verstandenen Gewissensruf in aller Schärfe herausgestellt, da der Ruf des Gewissens das Dasein unnachsichtig vereinzelt auf seine eigene Nichtigkeit bzw. Unzulänglichkeit. Sowohl die Geworfenheit als unbezügliche Bedingtheit als auch der Tod als unbezügliche Möglichkeit werden im Sich-Zurückbringen und im Vorlaufen jeweils so erschlossen.

Gewissen-haben-wollen bedeutet die Bereitschaft, sich mit seinen Unzulänglichkeiten auseinander zu setzen, und zwar schon bevor durch sie eine faktische Verschuldung entsteht und nachdem eine solche entstanden ist, um sie unter Umständen wieder gut zu machen. Die Ständigkeit des Schuldigseins zeigt sich erst dann unverdeckt als Vorgängigkeit und als Nachgängigkeit, wenn beides jeweils hineingestellt wird in die Bedingtheit, die für das Dasein schlechthin unhintergehbar ist, bzw. in die Möglichkeit, die für das Dasein schlechthin unüberholbar ist. Wenn die Entschlossenheit sich zurückbringend die Bedingtheit der Geworfenheit ursprünglich verstanden und akzeptiert hat und vorlaufend die Möglichkeit des Todes in ihr Seinkönnen eingeholt hat, dann kann die eigentliche Existenz des Daseins durch nichts mehr hintergangen oder überholt werden.

Durch die Entschlossenheit als Weise der Erschlossenheit sind wir vor die eigentliche und ganze, das heißt vor die ursprüngliche Erschlossenheit des Seins des Daseins, also vor die ursprüngliche Wahrheit der Existenz geführt. Erschlossenheit und Wahrheit sind nichts Statisches, sie müssen gehalten werden in einem entsprechenden Für-wahr-halten, nämlich in der in der Wahrheit gehaltenen Beziehung des Daseins mit seinem Sein. Die ausdrückliche Zueignung des Erschlossenen ist das Gewiss-Sein. Somit verlangt die ursprüngliche Wahrheit der Existenz ein gleichursprüngliches Gewiss-Sein als Sich-halten in und eben Sich-nicht-abkehren von dem, was die Entschlossenheit erschließt. Die Entschlossenheit gibt sich die jeweils faktische Situation und deren faktische Bedingungen und bringt sich in sie. Die Situationen und ihre Bedingungen werden nur erschlossen in einem freien, zuvor unbestimmten, aber der Bestimmbarkeit offenen Sich-entschließen. Folgende Geschichte mag dies veranschaulichen: Einem Bauern läuft sein Pferd davon in die Wildnis. „Was für ein Pech!“, sagen die Leute. Der Bauer zuckt mit den Achseln: „Glück, Pech, wer weiß!“ Einen Tag später kommt das Pferd zurück, und drei Wildpferde folgen ihm. „Was für ein Glück!“, sagen die Leute. Der Bauer zuckt mit den Achseln: „Glück, Pech, wer weiß!“ Wieder einen Tag später versucht der Sohn des Bauern eines der Wildpferde zu zähmen, wird aber abgeworfen und bricht sich das Bein. „Was für ein Pech!“, sagen die Leute. Der Bauer zuckt mit den Achseln: „Glück, Pech, wer weiß!“ Wieder einen Tag später kommen die Boten des Königs, der Krieg führen will, und alle jungen Männer des Dorfes müssen zu den Soldaten bis auf einen. „Was für ein Glück!“, sagen die Leute. Der Bauer zuckt mit den Achseln: „Glück, Pech, wer weiß!“ Und so könnte man immer weiter erzählen, das heißt, die Situation, ihre Möglichkeiten und ihre Bedingtheiten sind immer wieder anders erschlossen, einmal als Pech und einmal als Glück. Nur der Bauer selbst hält sich in einem freien, zuvor unbestimmten, aber der Bestimmbarkeit offenen Sich-entschließen. Er versteift sich nicht auf die Situation, sondern versteht, dass der Entschluss seinem eigenen Erschließungssinn nach frei und offen gehalten werden muss für die jeweilige faktische Möglichkeit, die sich noch ergeben oder die er selbst noch herbeiführen kann. Die Gewissheit des Entschlusses bedeutet also ein Sich-frei-halten für seine mögliche und je nach dem notwendige Zurücknahme. Dieses entschlossene Sich-frei-halten für eine Zurücknahme ist keine Unentschlossenheit, sondern das genaue Gegenteil, nämlich die eigentliche Entschlossenheit zur Wiederholung ihrer selbst, und damit eine ständig sich aufrecht erhaltende Entschlossenheit. Auch hier bedeutet ständig nicht dauernd, sondern einen Zustand, einen Bereitschaftszustand, sein ganzes Sein von Anfang bis zum Ende, von der ursprünglichen Geworfenheit bis zum Tod, als überantwortet zu verstehen und es nun selbst und eigens zu wählen. Diese ständige Gewissheit kann die Entschlossenheit nur dadurch halten, dass sie einerseits diejenige Bedingtheit versteht und akzeptiert, deren sie sich von vorneherein gewiss sein kann, also die Geworfenheit, und dass sie andererseits sich zu der Möglichkeit verhält, deren sie schlechthin gewiss sein kann, also zum Tod. In seiner Geworfenheit muss sich das Dasein von vorneherein „annehmen“, und in seinem Tod muss sich das Dasein schlechthin „zurücknehmen“. Dessen ständig gewiss, das heißt sich zurückbringend und vorlaufend, gewinnt die Entschlossenheit ihre eigentliche und ganze Gewissheit.

Das Dasein ist aber gleichursprünglich auch in der Unwahrheit. Durch Täuschungen ist die Beziehung des Daseins mit seinem Sein nicht mehr wahr. Die sich zurückbringende und vorlaufende Entschlossenheit gibt ihm zugleich die ursprüngliche Gewissheit seiner Verschlossenheit. Der Bauer in der oben erwähnten Geschichte weiß, dass es ihm verschlossen ist, was noch alles sein kann. Entschlossen hält sich das Dasein offen für die ständige, aus dem Grunde des eigenen Seins jeweils in seiner Angewiesenheit bedingte und immer wiederkehrend mögliche Täuschung und Abkehr von seiner Entschlossenheit und damit Abkehr von ihm selbst. Diese Unerschlossenheit ist als ständige noch nicht erschlossene Bedingtheit und als ständige noch nicht erschlossene Möglichkeit des Daseins mitgewiss. Daher zuckt der Bauer mit den Achseln und sagt: „Glück oder Pech, wer weiß!“ Die sich selbst so durchsichtige Entschlossenheit versteht, dass die Unbestimmtheit sowohl der Bedingtheiten, in die das Dasein geworfen ist, als auch der Möglichkeiten des Seinkönnens, die das Dasein wählen kann, sich jeweils nur bestimmt im Entschluss auf die jeweilige Situation. Die Entschlossenheit weiß um die Unbestimmtheit, und dieses Wissen entspringt aus einem eigentlichen Erschließen, denn es offenbart sich erst ganz im Sein vom Anfang her, also von der Geworfenheit her, und im Sein zum Tode, also durch die Sterblichkeit. Somit erschließt sich die Unbestimmtheit ursprünglich erst durch das nichtige Grundsein der schlechthinnigen Nichtigkeit, durch die Geworfenheit in den Tod bzw. durch das schlechthinnige Schuldigsein, durch die individuelle Verantwortlichkeit für die eigene Unzulänglichkeit schlechthin (über die das Dasein nicht verfügen kann). Die Abscheu vor der Möglichkeit, sich seinen Unzulänglichkeiten zu überlassen, bringt das Dasein in die Entschlossenheit. Im entschlossenen Sich-Zurückbringen auf das nichtige Grundsein und im entschlossenen Vorlaufen zur schlechthinnigen Nichtigkeit bringt sich das Dasein zu einer Bedingtheit, die ständig gewiss ist und dennoch in ihrer Bedeutung jeden Augenblick unbestimmt bleibt in dem, wann die Bedingtheit zur Unbedingtheit wird, wann das Dasein unbedingt, also ohne Vorbedingung, in eine Situation geworfen wird, und vor eine Möglichkeit, die ständig gewiss und ebenfalls jeden Augenblick unbestimmt bleibt in dem, wann die Möglichkeit zur Unmöglichkeit wird, wann der Tod tatsächlich eintritt. Die jeweilige Unbestimmtheit als faktische Unzulänglichkeit, die das Dasein ständig herausfordert, erschließt sich in der Angst. Indem das Dasein diese Herausforderung annimmt, erschließt sich ihm im Leid die faktischen Auswirkungen seiner Unzulänglichkeit. Die Wut schließlich bringt es vor seine individuelle, vom Dasein nicht verfügbare Verantwortlichkeit, dass es gegen die eigene Unzulänglichkeit angehen, mit ihr umgehen und sich so verzeihen und wieder gut machen, das heißt die Harmonie wiederherstellen kann. Abscheu, Angst, Leid und Wut bringen so das Dasein vor die verantwortliche Auseinandersetzung mit seiner Unzulänglichkeit, worin sich die Unzulänglichkeit als die Nichtigkeit enthüllt, die das Dasein in seinem Grunde bestimmt und woraus seine eigentliche Sorge als Liebe und Erfüllung entspringen kann, wenn diese Auseinandersetzung verantwortlich zu Ende gebracht ist und zum echten und unmittelbaren Verständnis des Worumwillens seiner Existenz geführt hat. Der Grund ist die Geworfenheit in die überantwortete Individualität (die ursprüngliche Unverfügbarkeit), die gleichursprünglich mit der Sterblichkeit (der schlechthinnigen Unverfügbarkeit) ist. Dies stimmt übrigens auch mit faktischen Erkenntnissen aus der Biologie überein, wonach die Sterblichkeit ab dem Moment gegeben ist, ab dem nach der Befruchtung der Eizelle der entstandene Zellhaufen sich nicht mehr in Mehrlinge aufteilt, das heißt individuell, also unteilbar und unverfügbar ist. Die grundlegende Unzulänglichkeit des Daseins, seine Unverfügbarkeit, hat also die beiden Momente Individualität und Sterblichkeit, die sich dem Dasein im entschlossenen Vorlaufen und Sich-Zurückbringen erschließen. In der Geworfenheit muss das Dasein seine Individualität und Unverfügbarkeit annehmen und im Tod wieder zurückgeben. Beides geschieht jeweils echt und unvermittelt bzw. unmittelbar. Entsprechend kann das Dasein beides auch nur echt und unmittelbar befindlich verstehen, das heißt nur in der Liebe. Und wenn das Dasein beides versteht, dann ist es auch jederzeit bereit, sein Dasein hinzugeben, das heißt in der Bereitschaft zur Hingabe zu existieren. Damit haben wir ein weiteres wichtiges Moment der Liebe entdeckt, nämlich die Bereitschaft zur Hingabe seiner Existenz. Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz hat nichts mit Kapitulation oder Verantwortung-Abgeben zu tun, im Gegenteil: es ist einerseits das Loslassen und die Gelassenheit, wenn das Dasein nichts bewirken kann aufgrund der Unbestimmtheit, es ist andererseits mutige Entschlossenheit, wenn das Dasein etwas bewirken kann aufgrund der Gewissheit, und es erfordert entsprechende Erfahrungen und Weisheit, das heißt eine entsprechende Erschlossenheit und Entdecktheit bzw. Verständnis von innerweltlich Begegnendem und vom eigenen Dasein, das eine vom anderen zu unterscheiden. So betrachtet hat die Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz mit dem eigensten Seinkönnen und dem eigensten Nicht-Seinkönnen zu tun, dem Gegenteil von Kapitulation. Diese Bereitschaft, die im Wesentlichen nur durch die entsprechende Weisheit in der rechten Weise vollzogen werden kann, ist nur durch das unmittelbare und echte Verstehen des Seins überhaupt gegeben, also durch die Liebe. Damit haben wir aber auch den nötigen Sinn und die nötige Richtung für die Umkehr, die wir im vorigen Kapitel gefordert haben. Leid entsteht immer dann, wenn wir enttäuscht werden. Die Umkehr besteht dann in der Bereitschaft zum Loslassen und Hingeben von dem, wovon wir uns durch Täuschungen haben ergreifen lassen und was wir ergriffen haben. Die äußerste Unzulänglichkeit des Daseins ist das Festhalten-Wollen am Dasein selbst und dies schließt alle anderen Unzulänglichkeiten des Daseins ein. Entsprechend wirkt die Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz allen Unzulänglichkeiten des Daseins entgegen, denn jede Unzulänglichkeit des Daseins ist ontologisch betrachtet ein Festhalten-Wollen an etwas, was das Dasein früher oder später zurückgeben muss, spätestens im Tod. Die Richtung der Umkehr bzw. die Buße als Sinnesänderung besteht also in der Bereitschaft zur Hingabe, das heißt letztendlich in der Bereitschaft, lieben zu lernen.

Die verantwortliche Auseinandersetzung mit seiner Unzulänglichkeit ist also die sich zurückbringende und vorlaufende Entschlossenheit zu Umkehr als Einkehr, Rückkehr und Vorkehr gegen eine Wiederkehr der Abkehr, die in dieser Auseinandersetzung immer mehr auf echtes und unmittelbares Verstehen des Daseins in seinem Worumwillen und damit sowohl auf Selbstliebe als auch auf Liebe hinzielt. Die verantwortliche Auseinandersetzung birgt in seinem Hinzielen auf die Liebe die Vorfreude in sich.

Die Analyse enthüllte der Reihe nach die aus dem eigentlichen Sein von der Geworfenheit her bis in den Tod als der eigensten, unbezüglichen, unhintergehbaren bzw. unüberholbaren, gewissen und dennoch unbestimmten Bedingtheit und Möglichkeit erwachsenden Momente der Modalisierung, worauf die Entschlossenheit aus ihr selbst tendiert. Die Entschlossenheit ist eigentlich und ganz, was sie sein kann, nur als sich zurückbringende und vorlaufende Entschlossenheit. Als solche zielt sie sowohl auf Selbstliebe als auch auf Liebe hin und findet darin, also in der Vorfreude darauf, eine positive Verstärkung. Die Sinnrichtung der ursprünglichen (also eigentlichen und ganzen) Entschlossenheit ist die Liebe.

Umgekehrt zeigt sich in dieser Interpretation des „Zusammenhangs“ zwischen Entschlossenheit einerseits und Sich-Zurückbringen und Vorlaufen andererseits, dass Letzteres weder erdichtet noch dem Dasein aufgezwungen, sondern der Modus eines im Dasein selbst bezeugten existenziellen Seinkönnens ist, und wenn das Dasein sich als entschlossenes eigentlich versteht, dann mutet es sich diesen Modus zu. Somit ist das Sich-Zurückbringen und Vorlaufen in der existenziell bezeugten Entschlossenheit verborgen und daher als Möglichkeit der eigentlichen Entschlossenheit mit bezeugt. Das eigentliche „Denken an die ursprüngliche Geworfenheit und an den Tod“ ist das existenziell sich durchsichtig gewordene Gewissen-haben-wollen, und es ist das sich durchsichtig gewordene Lieben-wollen. In der damit verbundenen Vorfreude liegt auch die positive Motivation für das Gewissen-haben-wollen.

In der existenziell bezeugten Entschlossenheit ist auch ein eigentliches Ganzseinkönnen des Daseins mit bezeugt. „Die Frage nach dem Ganzseinkönnen ist eine faktisch-existenzielle. Das Dasein beantwortet sie als entschlossenes.“ (Seite 309, ebenda) Entsprechend ist auch die Frage nach dem Lieben-wollen faktisch-existenziell, und das Dasein beantwortet sie mit Vorfreude und mit der entschlossenen Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz, das heißt zu Umkehr als Einkehr, Rückkehr und Vorkehr gegen eine Wiederkehr der Abkehr, indem es sich Abscheu in der Entschlossenheit, Leid in der Reumütigkeit, Wut in der Wiedergutmachungsbereitschaft und Angst im Selbstreinerhaltungsstreben zumutet.

Da wir bei dem Thema Liebe in der Regel hauptsächlich an Paarbeziehungen denken, sollte sich das, was wir bisher als Ergebnis unserer Analyse von Entschlossenheit und Liebe erhalten haben, in der Betrachtung der Paarbeziehung phänomenal bewähren. Unter einer Paarbeziehung soll eine Gemeinschaft von zwei daseinsmäßig Seienden verstanden werden, die derart voneinander ergriffen sind, dass es zu sexuellen Handlungen zwischen ihnen kommt. Solange es beiden um ihre Paarbeziehung geht, so lange existiert diese. Somit sind der Begriff und die faktische Existenz von Paarbeziehungen geklärt. Was bislang von Gemeinschaften aufgezeigt wurde, gilt natürlich auch für die Paarbeziehung. Wie ist nun das Sein dieser Gemeinschaft ontologisch ursprünglich, das heißt ganz und eigentlich zu interpretieren? Wie kann eine Paarbeziehung ganz und eigentlich sein, und wie kann ein Paar seine Beziehung auf Liebe hin ausgerichtet halten? Inwiefern sind die beiden Partner von ihrer Beziehung her dazu aufgefordert, ihre Paarbeziehung ganz und eigentlich zu führen und sich zu bemühen, sich immer mehr zu lieben? Welche Bedeutung hat dabei die Sexualität?

Die Paarbeziehung ganz zu interpretieren, bedeutet, sie von Anfang bis zum Ende zu interpretieren. Der Anfang ist dadurch gegeben, dass beide derart voneinander ergriffen sind, dass sie den Wunsch nach einer gemeinsamen Sexualität haben. Diese Art der Ergriffenheit nennt man Verliebtheit. Das Ende ergibt sich dann, wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, dass es beiden um ihre Paarbeziehung geht. Der Gewissensruf erfolgt dadurch, dass mindestens einer der beiden in seiner Erwartung von der Paarbeziehung enttäuscht ist und ihre Verbesserung möchte. Eigentlichkeit wird dadurch erreicht, dass beide auf solche Enttäuschungen reagieren und in einer sich auseinandersetzenden Harmoniesuche sich gegenseitig ihre Befindlichkeit mitteilen. Insofern kann man sagen, dass eine eigentliche Paarbeziehung aus einem Bedürfnisdialog bzw. einem ausdrücklichen, verständlichen und verständigen Befindlichkeitsdialog besteht. Eigentliche Entschlossenheit zeigt sich darin, dass beide es prinzipiell verabscheuen, uneigentlich zu sein, und somit jeweils offen für die eigene Enttäuschung und die des anderen sind, also reumütig offen für das Leid, das in der Enttäuschung liegt, wiedergutmachend offen für die entsprechende Wut und achtungsvoll, weiteren Enttäuschungen vorbeugend offen für die entsprechende Angst. Indem beide sich immer wieder dazu entschließen, die Unzulänglichkeit des anderen zu akzeptieren und zu verstehen und mit der eigenen Unzulänglichkeit verantwortlich umzugehen, weil beide sich in Erinnerung rufen (wieder holen), was sie jeweils am Anderen von Anfang an geschätzt haben, wovon sie jeweils ergriffen waren und heute noch ergriffen sind (Sich-Zurückbringen auf den Anfang der Paarbeziehung), aber auch immer wieder erneut zu prüfen, inwieweit man die Unzulänglichkeit des anderen akzeptieren und inwieweit man mit der eigenen Unzulänglichkeit noch besser umgehen kann, damit es beiden jeweils immer noch um die Beziehung geht (Vorlaufen zum Ende der Beziehung), kann die Paarbeziehung ganz und eigentlich sein. Da bei der eigentlichen Entschlossenheit das Verständnis von sich und dem anderen immer echter und unmittelbarer wird, kann das Paar seine Beziehung immer wieder auf Liebe hin ausgerichtet halten. Von ihrer Beziehung her sind beide Partner dazu aufgefordert sich ganz und eigentlich für ihre Beziehung zu entschließen, das heißt ihre Paarbeziehung ganz und eigentlich zu führen und sich zu bemühen, sich immer mehr echt und unmittelbar zu verstehen, also immer mehr zu lieben. Die Bedeutung der Sexualität liegt darin, dass sie faktisch „Ergriffenheit“ und „Erwartung“ und damit die Verliebtheit, eine freudige Neugierde, also Vorfreude erzeugt. Die Sexualität gibt also einen ganz großen Anstoß dafür, dass das Dasein sich der mühsamen Arbeit unterzieht, seine eigentliche Entschlossenheit ständig aufrecht zu erhalten, sich ständig um den Anderen zu bemühen, seine Interessen, Wünsche, Gefühle, Empfindlichkeiten und Schwächen zu verstehen und ebenso wichtig zu nehmen wie die eigenen. In dieser Entschlossenheit darf das Dasein nichts als selbstverständlich voraussetzen. Das eben Beschriebene entspricht dem, was Balint (Seite 127, Die Urformen der Liebe) als genitale Identifizierung bezeichnet. Hieraus entwickelt sich dann immer mehr die Liebe, die Sexualität aber ist und bleibt ein biologischer Vorgang und ist ontologisch im Bereich des Zuhandenen anzusiedeln, während die Liebe sich in einem Prozess entwickelt und ontologisch im Bereich des Daseinsmäßigen liegt und zur Existenzialität gehört. Auch in der Psychoanalyse wird die Sexualität als vorhandener Trieb betrachtet, während Liebe als dem Bereich der Objektbeziehungen zugehörig angesehen wird. Im Orgasmus findet nun etwas höchst Seltsames und Bemerkenswertes statt: die Frau erlebt im Orgasmus eine Hingabe wie im Tod, während der Mann im Orgasmus auf die „primitivste Stufe der Objektbeziehung“ (siehe Balint Seite 128 unten) regrediert, das heißt auf die ursprünglichste Stufe der Ergriffenheit, wie sie zu Beginn der Individualität, seiner ursprünglichen Unverfügbarkeit vorherrscht. Im Orgasmus läuft die Frau also vor zum Tod und der Mann bringt sich zurück auf den Anfang seiner Existenz, auf seine Geworfenheit. Was beim Orgasmus des Mannes geschieht, ist bei Balint ganz gut beschrieben, während der Orgasmus der Frau zum Beispiel im Mythos von Persephone und Hades als Tod dargestellt wird. Auch der keltische Mythos vom Harlekin deutet den Tod als ultimativen Orgasmus der Frau (s. McClelland, David C.: The Harlequin Complex, 2006). Man könnte es auch so formulieren: Der Mann gibt sich im Orgasmus durch das Sich-Zurückbringen auf den Anfang seiner Individualität hin, während die Frau durch das Vorlaufen zum Tod sich im Orgasmus ihrer Sterblichkeit hingibt. Indem sich beides zusammenfügt, kann ein neues Dasein entstehen. Diese Darstellung befindet sich wohl gemerkt ganz und gar auf der ontologischen Ebene. Außerdem muss ich meine Ausführungen insofern relativieren, als dass es zwar eine typisch männliche bzw. weibliche Art der Hingabe im Orgasmus gibt wie oben beschrieben, aber da wir jeweils beides haben, sowohl männliche wie weibliche Anteile, kann es beim einzelnen zu beiden Formen der Hingabe kommen, sodass sowohl Mann als auch Frau jeweils verschiedene Arten der Hingabe bei verschiedenen Orgasmen jeweils erleben können.

Gegen Heideggers Konzeption der vorlaufenden Entschlossenheit gibt es folgende Einwände (Marion Heinz in Rentsch Seite 178):

1. Diese Konzeption erweise sich bei genauerem Hinsehen als die Ontologisierung eines pathetisch-heroischen Ideals des Einzelkämpfers, an nichts gebunden, zu nichts verpflichtet und sich der Möglichkeit des eigenen Todes aussetzend trägt er dem männlichen Bedürfnis nach Härte und Schwere Rechnung. In diesem fragwürdigen Heroismus und Solipsismus sei Heidegger in naiver Weise blind gegenüber den eigenen Bedingtheiten.

Diesem Mangel habe ich dadurch abgeholfen, dass ich genau eben diese Bedingtheiten im Sich-Zurückbringen auf den unhintergehbaren Anfang des Daseins als Übernahme der Verantwortung für sein Dasein in die Konzeption der Entschlossenheit mit aufgenommen habe. Wie schon erwähnt ist das Sich-Zurückbringen zum Anfang hin eigentlich nicht nötig, da mit dem Vorlaufen zum Tode alles, was davor liegt, schon mit erschlossen ist. An diesem Einwand aber wird deutlich, dass meine Ausführungen insofern wichtig sind, als dass sie einem Missverstehen Heideggers entgegenwirken.

2. Es sei dem Belieben des einzelnen, seiner Willkür anheimgestellt, wozu er sich entschließe. Es fehle an Maßstäben für die Gestaltung des Existierens, so dass im Rahmen der Fundamentalontologie keine Ethik zu begründen sei. Dem entspreche, dass das Sein der Anderen für das eigentliche Existieren belanglos sei. Heideggers politische Verstrickung in den Nationalsozialismus sei daher nicht eine bloß biografisch zu erklärende Verfehlung, sondern Folge einer Philosophie, die sich aller Maßstäbe des Guten und Gerechten entledigt habe.

Wie das Beispiel meiner bisherigen Ausführungen zeigt, lässt sich Heideggers Philosophie durchaus so ergänzen, dass das Sein der Anderen für das eigentliche Existieren durchaus eine wichtige Rolle spielt (zum Beispiel in der Offenheit auch für die Befindlichkeit der Anderen), und dass sich auch allein aus der Offenheit für die jeweilige Befindlichkeit des Daseins selbst durchaus Maßstäbe für die Gestaltung des Existierens herleiten lassen, wodurch sich eine Ethik der Liebe begründen lässt. Heideggers Aufforderung zu Selbstbestimmtheit und Freiheit lässt sich deswegen so gut mit der Aufforderung zur Liebe kombinieren, weil Liebe selbst Freiheit und Selbstbestimmtheit unabdingbar fordert. Ohne Freiheit gibt es keine Liebe, aber ohne Liebe wird Freiheit zur Freiheit von wenigen und zur Unterdrückung von vielen. Ohne die Freiheit als die Unverfügbarkeit, die sich in der Individualität offenbart, echt und unmittelbar zu verstehen und sie damit auch allen Anderen zuzugestehen, kann es keine Liebe geben, und ohne Liebe, also echtes und unmittelbares Verstehen insbesondere der Unverfügbarkeit der Anderen, wird die auf diese Weise unecht verstandene Individualität des Daseins dazu führen, dass das Dasein versucht, Andere sich verfügbar zu machen, also sie auszubeuten und zu unterdrücken.

Bei der folgenden methodischen Charakterisierung der existenzialen Analytik folge ich wieder Heidegger ab Seite 310 und ergänze seine Ausführungen wieder entsprechend. Mit der sich zurückbringenden und vorlaufenden Entschlossenheit hat die hermeneutische Situation, die für die Auslegung des Seinssinnes der Sorge benötigt wird, die geforderte Ursprünglichkeit (Ganzheit und Eigentlichkeit) erhalten. Hinsichtlich seines eigentlichen Ganzseinkönnens ist das Dasein ursprünglich in die Vor-Habe gestellt; die leitende Vor-Sicht, die Idee der Existenz, hat durch die Klärung des eigensten Seinkönnens und der eigensten Bedingtheit ihre Bestimmtheit gewonnen; mit der konkret ausgearbeiteten Seinsstruktur des Daseins ist seine ontologische Eigenart gegenüber allem Vorhandenen so deutlich geworden, dass der Vor-Griff auf die Existenzialität des Daseins eine genügende Gliederung besitzt, um die ausdrückliche Ausarbeitung der Existenzialien, also ihre Auslegung, sicher zu leiten.

Es erfordert harte Arbeit (Heidegger verwendet Ausdrücke wie „abringen“, „bemächtigen“ und „Gewaltsamkeit“), wenn die Interpretation sich das Sein des Daseins gegen dessen eigene Verdeckungstendenz erobert. Dies zeigen die Analysen von Sorge, Geworfenheit, Tod, Gewissen, Schuld und Entschlossenheit, Buße, Wiedergutmachung und Selbstreinerhaltung, sowie von Liebe als echtes und unmittelbares Verstehen des Worumwillens und als Bereitschaft, die eigene Existenz hinzugeben für das Sein überhaupt. Die Sorge, die sich anfänglich und zumeist im Zustand der naiven Sorge bzw. Ergriffenheit und Erwartung befindet und so das Sein des Daseins verdeckt, weil in diesem Zustand das Dasein sich selbst ontologisch das Fernste ist, entwickelt sich bei der Auseinandersetzung mit der in Ergriffenheit und Erwartung enthaltenen Täuschung, die im Umgang mit der Welt, also beim In-der-Welt-sein immer wieder zu Enttäuschungen führt, bis sie eigentlich bzw. echt und unmittelbar befindlich verstanden ist, immer mehr in Richtung ihrer Eigentlichkeit bzw. Liebe, wobei diese Auseinandersetzung nur dann eigentlich ist, wenn sich das Dasein aufgrund der Abscheu eines uneigentlichen Seins sich zurückbringend und vorlaufend entschließt, sein Schuldigsein anzunehmen, bzw. zu immer mehr Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz, das heißt zu entsprechender Umkehr als Einkehr (Leid, Reue und Buße), Rückkehr (Wut, Wiedergutmachungsbereitschaft und Verzeihung) und Vorkehr gegen eine Wiederkehr der Abkehr (Angst, Selbstreinerhaltung und Befreiung), aufgrund des dadurch wachsenden echten und unmittelbaren Verstehens des Worumwillens des eigenen Seins und des der Anderen, und damit des Seins überhaupt. Durch diese Art der Auseinandersetzung, bei der das Dasein immer verständiger mit seinen Unzulänglichkeiten, seinem Festhalten umgeht, entsteht immer mehr Harmonie in der Struktur der Selbstbedeutsamkeit der Seinsmöglichkeiten, also des Selbstentwurfs des Daseins, und mit allem innerweltlich begegnendem Seienden. Die vollkommene derartige Harmonie ist Liebe und Erfüllung, also Wahrheit (siehe Kapitel 8), zu der sich die Sorge so entwickelt. Dann ist das Dasein sich selbst ontologisch das Nächste. Wenn das Dasein sich nicht auf die oben beschriebene Art und Weise mit seinem Dasein auseinandersetzt, so wird es früher oder später sich von ihm selbst abkehren, das heißt entfernen, also nur noch uneigentlich existieren mit der Gefahr, dass die Disharmonie in der Struktur seiner Seinsmöglichkeiten immer größer wird, so dass es entweder immer mehr psychische Störungen entwickelt und/oder es von Anderen immer mehr beherrscht wird („feindliche Übernahme“, die Herrschaft des Man).

Jede Interpretation hat den Charakter der Gewaltsamkeit, der Aufforderung und Ermahnung, das heißt jede Interpretation ist Protreptik, und jede Protreptik ist eine Interpretation. Von daher ist zu fordern, dass die hier vorgenommenen Interpretationen nicht willkürlich, sondern geregelt und geleitet sind, es muss eine Evidenz der phänomenalen Angemessenheit für ihre „Befunde“ geben. Da es dem Dasein um sein Sein geht, interpretiert es sich selbst, so dass man als erste Regel angeben kann, dass die Interpretation des Daseins von dieser ontischen Selbstauslegung ausgehen muss. Dies trifft auf die bisherige Analytik des Daseins zu und nimmt ihr dadurch schon etwas von einer Beliebigkeit. Als weitere Regel für eine phänomenale Angemessenheit ist von einer Interpretation zu verlangen, dass sie in ihrer Art und Weise nicht ihrem Anliegen widerspricht. Das Anliegen der bisherigen Analysen Heideggers ist es, das Dasein zu mehr Freiheit und Selbstbestimmtheit zu führen. Die von der existenzialen Interpretation geforderte Eigentlichkeit will niemals einen Machtanspruch über existenzielle Möglichkeiten und Verbindlichkeiten übernehmen, sie will das Dasein nur zu einer Stellungnahme provozieren, so dass auch diese Regel erfüllt ist. Auch bei meiner ergänzenden Aufforderung, immer mehr Harmonie, Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz und Liebe zu entwickeln, möchte ich ein liebevolles Verständnis dafür zum Ausdruck bringen, dass dies harte Arbeit bedeutet und es nur allzu verständlich ist, wenn wir Menschen Pausen machen, um wieder Kraft zu schöpfen und einen erneuten Anlauf nehmen. Meine Aufforderung soll eine Mut machende Aufmunterung sein, eine Einladung mit der Aussicht, in der Liebe Glück und Erfüllung zu finden und so große Freude zu erleben.

Neben diesen beiden Regeln nimmt Heideggers Analytik nur noch die Idee von Existenz überhaupt als Leitfaden bzw. als Voraussetzung in Anspruch. „Die formale Anzeige der Existenzidee war geleitet von dem im Dasein selbst liegenden Seinsverständnis. Ohne jede ontologische Durchsichtigkeit enthüllt es doch: das Seiende, das wir Dasein nennen, bin ich je selbst und zwar als Seinkönnen, dem es darum geht, dieses Seiende zu sein. Das Dasein versteht sich, obgleich ohne zureichende ontologische Bestimmtheit, als In-der-Welt-sein.“ (Seite 313, ebenda) Dies ist so allgemein und unverbindlich gehalten, dass es lediglich eine formale Struktur des Selbstverständnisses des Daseins darstellt. Hieraus entwickelte Heidegger die Definition der Sorge, die ich dann noch in die beiden Momente Ergriffenheit und Erwartung differenziert habe. Und indem ich Heideggers Überlegungen vom Arbeitsbereich auf die innere Struktur von Gemeinschaften übertragen habe, entwickelte sich aus der Existenzidee das Konzept von Harmonie und schließlich die Utopie von bzw. die allgemeingültige Sehnsucht nach Liebe, worum es der Existenz sinnvollerweise gehen muss, da sie Erfüllung anstrebt. Die Definition der Sorgestruktur führte zu einer ersten ontologischen Unterscheidung von Existenz und Realität. „Die Substanz des Menschen ist die Existenz.“ (Seite 314, ebenda)

„Aber selbst diese formale und existenziell unverbindliche Existenzidee birgt doch schon einen bestimmten, wenn auch gehobenen ontologischen „Gehalt“ in sich, der ebenso wie die dagegen abgegrenzte Idee von Realität eine Idee von Sein überhaupt „voraussetzt“. Nur in deren Horizont kann sich die Unterscheidung zwischen Existenz und Realität vollziehen. Beide meinen doch Sein.“ (Seite 314, ebenda) Somit haben wir hier einen zweiten hermeneutischen Zirkel, in dem sich die Fundamentalontologie Heideggers bewegt. Hier argumentiert Heidegger ähnlich wie beim Zirkel des Verstehens, dass bei der existenzialen Analytik ein solcher Zirkel notwendig ist. Zum einen beweist die existenziale Analytik überhaupt nicht nach den Regeln der „Konsequenzlogik“, zum anderen ist die Vermeidung dieses Zirkels die Beseitigung der Grundstruktur der Sorge: in der Ergriffenheit ist das Dasein in seiner Bedingtheit sich selbst hinterher, so dass es eine vorontologische Idee von Realität hat (Vor-Habe); in der Erwartung ist das Dasein in seinen Möglichkeiten sich vorweg, so dass es eine vorontologische Idee von Existenz hat (Vor-Sicht); damit hat es insgesamt in der Rede von Realität und Existenz eine vorontologische Idee von Sein überhaupt (Vor-Griff), sonst könnte es Realität und Existenz nicht unterscheiden. Durch diese in doppelter Weise reflexive Grundstruktur der Sorge in ihren beiden Momenten der Ergriffenheit und der Erwartung erschließt sich das Dasein als In-der-Welt-sein in entsprechenden Zirkeln seine Realität als Vor-Habe, seine Existenz als Vor-Sicht und seine Rede davon als Vor-Griff. Durch die Auslegung der Rede bringt es seine Existenz und seine Realität ausdrücklich in die verstehende Sicht und eignet sich so sein Verständnis davon an. Da die existenziale Analytik bei der Frage nach dem Sein das Dasein nach seinem Sein befragt, muss sie, um die Antwort des Daseins nachvollziehen zu können, dem Dasein in seinen Zirkeln folgen. Die Prozesse des Verstehens als Grundart des Seins des Daseins sind zirkulär, und zwar sowohl beim Verstehen der Bedingungen als auch beim Verstehen der Möglichkeiten. Um diese Prozesse zu verstehen, muss die existenziale Analytik den Zirkeln folgen und sie konsequent auslegen bzw. interpretieren. Daher kann die existenziale Analytik im konsequenten Auslegen diese Zirkel nicht vermeiden. Deswegen verwendet Heidegger auch im Zusammenhang mit der existenzialen Analytik nicht den Begriff „beweisen“ sondern stattdessen Begriffe wie „aufweisen“, „auslegen“, „zeigen“, „anzeigen“ oder „interpretieren“, denn meines Erachtens ist „beweisen“ ein Begriff aus der „Konsequenzlogik“.

Heidegger benennt die Existenzialität, die Faktizität und die Verfallenheit als konstitutive Momente der Sorge. In meiner Begrifflichkeit entspricht die Existenzialität der Erwartung von Möglichkeiten, die Faktizität der Ergriffenheit vom faktisch Begegnenden und Verfallenheit der Täuschung aufgrund der faktischen Nichtigkeit der erwarteten Möglichkeiten. Die Verfallenheit kann nur durch die früher oder später eintretende Enttäuschung aufgehoben werden, sofern sich das Dasein dann nicht von dieser und ihm selbst abkehrt. Wenn das Dasein sich nicht von ihm selbst abkehrt, wenn es also auf den Gewissensruf hört, der es zu seinem eigensten Seinkönnen aufruft, und aufgrund der Abscheu eines uneigentlichen Seins sowohl sich zurückbringend als auch vorlaufend entschlossen ist, dann kehrt es zu sich selbst zurück bzw. reumütig und Leid annehmend ein (Reue als Begreifen der faktischen Schuld), kehrt harmoniesuchend und Wut annehmend zurück (Wiedergutmachungsbereitschaft und Verzeihlichkeit) und trifft um Selbstreinerhaltung bemüht und Angst annehmend Vorkehrungen, um eine Wiederkehr der Verfallenheit bzw. der Täuschung zu vermeiden bzw. sich immer wieder davon zu befreien, indem es sich immer wieder neu entschließt zu Einkehr, Rückkehr und Vorkehr gegen eine Wiederkehr faktischer Schuld und/oder einer Abkehr. Insgesamt kehrt es also alle Befindlichkeiten auch die von Anderen annehmend bußfertig um (Buße als Sinnesänderung, der geänderte Sinn besteht aus mehr Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz). Mit der Einheit dieser konstitutiven Momente der Sorge war eine erste ontologische Umgrenzung der Ganzheit des Strukturganzen des Daseins ermöglicht. Die Sorgestruktur wurde auf die existenziale Formel gebracht: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt) als Aufgrund-von-Erwartungen-ein-Seinkönnen-Entwerfen, Sich-hinterher-noch-sein-in-(der-Welt) als Ergriffen-sein-und-Bedingungen-Verstehen, Anwesend-gerade-sein-in-(der-Welt) als in der Rede Sich-dabei-eventuell-Täuschungen-erkennen-lassen, und Sich-einlassend-sein-bei-in-(der-Welt) als Ergreifen-von- bzw. Sich-Auseinandersetzen-mit-(innerweltlich-begegnendem-Seienden) und dem Umgehen mit eventuellen Enttäuschungen (Akzeptieren und sich ausdrücklich Aneignen oder Abkehr im Festhalten an Täuschungen). Da das Dasein sich selbst das Fernste ist, entdeckt es die eigenen Nichtigkeiten erst über faktische Nichtigkeiten von erwarteten Möglichkeiten (also über Enttäuschungen) beim Ergreifen von … bzw. Sich-Auseinandersetzen mit … und seiner Ergriffenheit von innerweltlich begegnendem Seienden. In der sich zurückbringenden Entschlossenheit entdeckt es immer mehr die Bedingtheit seiner eigenen Unzulänglichkeiten, der Nichtigkeit seiner Vollkommenheit bzw. sein Schuldigseinkönnen und die entsprechende Verantwortlichkeit dafür bis zu seinem Tod. In der vorlaufenden Entschlossenheit entdeckt es seine Sterblichkeit, das Sein zum Tode bzw. die schlechthinnige Nichtigkeit, sowie Sinn und Bedeutung von allen Nichtigkeiten davor bis einschließlich der Geworfenheit.

„Die Gliederung der Ganzheit des Strukturganzen ist noch reicher und damit die existenziale Frage nach der Einheit dieser Ganzheit noch dringlicher geworden.“ (Seite 317 ebenda) Diese Einheit der Ganzheit, die jetzt gesucht wird, ist Voraussetzung dafür, dass das Dasein nach dem Sinn seines Seins gefragt werden kann, nach einem Rahmen, in dem das bisher durch das Dasein (also von uns) vom Sein Erschlossene dann erneut begrifflich erfasst werden sollte. Ich folge hier der Argumentation von Heidegger (ab Seite 317 unten) mit geringfügigen Modifikationen, die aus der Analyse von Gemeinschaften entstanden sind:

Das Dasein kann nur so in den oben aufgeführten Weisen und Möglichkeiten seines Seins existieren, dass es dieses Sein selbst ist, dass jeweils ich dieses Seiende bin. Das „Ich“ bzw. das „Selbst“ scheint die Ganzheit des Strukturganzen „zusammenzuhalten“. Bei der Frage nach dem Wer des Daseins, also das konkrete daseinsmäßig Seiende, zeigte sich, dass das Dasein zunächst und zumeist nicht es selbst, sondern im Man-selbst oder im Rollendreieck Opfer-Täter-Helfer verloren ist. Dies sind existenzielle Modifikationen des eigentlichen Selbst. Die Frage nach der ontologischen Verfassung der Selbstheit blieb unbeantwortet. Da der tragende Grund des Daseins (also seine Substanz) die Existenz ist, müssen Ichheit und Selbstheit existenzial begriffen werden. Die Sorge wurde durch die Existenzialität konstituiert und ist daher ontologisch nicht aus der Realität abzuleiten oder mit Kategorien der Realität aufzubauen. Da es dem Dasein um es selbst geht und hieraus die Sorge abgeleitet wurde, birgt die Sorge schon das Phänomen des Selbst in sich. Damit verschärft sich das Problem der ontologischen Bestimmung der Selbstheit des Daseins zur Frage nach dem existenzialen „Zusammenhang“ zwischen Sorge und Selbstheit.

„Die Selbstheit ist existenzial nur abzulesen am eigentlichen Selbstseinkönnen, das heißt an der Eigentlichkeit des Seins des Daseins als Sorge. Aus ihr erhält die Ständigkeit des Selbst als vermeintliche Beharrlichkeit des Subjektum seine Aufklärung. Das Phänomen des eigentlichen Seinkönnens öffnet aber auch den Blick für die Ständigkeit des Selbst in dem Sinn des Standgewonnenhabens. Die Ständigkeit des Selbst im Doppelsinne der beständigen Standfestigkeit ist die eigentliche Gegenmöglichkeit zur Unselbst-ständigkeit des unentschlossenen Verfallens“ (Seite 322 ebenda) bzw. des unentschlossenen oder versessenen Verharrens in der Täuschung. Die Selbst-Ständigkeit bedeutet existenzial nichts anderes als die sich zurückbringende und vorlaufende Entschlossenheit, deren ontologische Struktur die Existenzialität der Selbstheit des Selbst enthüllt. Von der Geworfenheit bis zum Tod, also seitdem und solange es ist, ist das Dasein es selbst. Auch wenn es in der Abkehr von ihm selbst ein ständiges Unselbst in der Unselbst-Ständigkeit ist, so kann es dies doch nur deshalb sein, weil es es selbst ist. Wenn das Dasein ständig es selbst ist, also ohne Abkehr von ihm selbst, dann ist es in der Selbst-Ständigkeit.

Das Dasein ist eigentlich selbst in der ursprünglichen Vereinzelung der verschwiegenen, für die Angst nach Heidegger bzw. bei mir für alle Befindlichkeiten (Abscheu, Leid, Wut und Angst), nicht nur die eigenen, sondern auch die der Anderen in seiner Gemeinschaft, offenen und bereiten Entschlossenheit, die auch die durch die Vorfreude erschlossene Bereitschaft umfasst, lieben zu lernen. „Das eigentliche Selbstsein sagt als schweigendes gerade nicht „Ich-Ich“ wie das Man-selbst sondern „ist“ in der Verschwiegenheit das geworfene Seiende, als welches es eigentlich sein kann.“ (Seite 322 f. ebenda) In der Verschwiegenheit ist die Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Existenz zu erkennen, also ebenfalls die Liebe. Im eigentlichen Selbstsein betont das Dasein weder seine Subjektivität noch seine Individualität, sondern es ist in der Liebe, und seine Beziehung zum Sein überhaupt ist wahr, das wahre Leben mit der Sorge, also Ergriffenheit und Erwartung, als Liebe und Erfüllung.

Die Seinsganzheit des Daseins wurde als Sorge bestimmt. Die Interpretation des Sinnes der Sorge klärt das Phänomen der Selbstheit, denn die vollbegriffene Sorgestruktur schließt dieses Phänomen mit ein. Mit der Klärung der Selbstheit kann dann die existenziale Frage nach der Einheit der Ganzheit der Sorgestruktur positiv beantwortet werden. Daher muss jetzt der Sinn der Sorge ausgelegt werden.

Sinn ist das, „worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält, ohne dass es selbst ausdrücklich und thematisch in den Blick kommt.“ (Seite 324 ebenda) Sinn bedeutet das Woher der primären Bedingungen und das Woraufhin des primären Entwurfs, aus dem her etwas als das, was es ist, in seinen Bedingtheiten und seinen Möglichkeiten und damit in der Einheit seiner Ganzheit begriffen werden kann. Mit dem Woher und dem Woraufhin gibt der Sinn entsprechende Richtungen vor, indem der Sinn die Verstandenheit des Woher und des Woraufhin, des Bedingt-Seins (individuelle Vergänglichkeit) und des Entworfenen (vergängliche Individualität) ermöglicht. Wir haben es hier wieder einmal mit dem hermeneutischen Zirkel des Verstehens zu tun: Wenn Seiendes, als Sein im Vorhinein erschlossen, in seinem Sein zugänglich wird, das heißt wenn es verständlich wird in seinem Woher und seinem Woraufhin, dann sagen wir, dieses Seiende „hat Sinn“, und erst dann „hat“ „eigentlich“ sein Sein Sinn. Erst das Verstehen von Sein „gibt“ den Sinn. Das Verstehen des Seins, dessen Woher und Woraufhin durch die Frage nach dem Sinn des Seins eines Seienden zum Thema gemacht wird, liegt allem Sein von Seiendem zugrunde.

Das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein erschlossen, und zwar eigentlich oder uneigentlich hinsichtlich seiner Existenz. Existenz ist das Sein, zu dem sich das Dasein auf verschiedene Weisen verhalten kann und in irgendeiner Weise immer verhält. Der Sinn dieses Seins ist der Sinn der Sorge, und er ermöglicht die Sorge in ihrer Konstitution. Damit macht der Sinn der Sorge ursprünglich das Sein des Bedingtseins und des Seinkönnens aus. Das sich verstehende Dasein selbst „gibt“ den Seinssinn des Daseins. Was bedingt und was ermöglicht das Sein des Daseins und damit dessen faktische Existenz?

Beginn des Übersehens der Räumlichkeit Bearbeiten

Faktische Existenz bedeutet Entwerfen und handelndes Umsetzen des Entworfenen, wobei Heidegger Letzteres, wie mir scheint, übersehen hat. Das Umsetzen des Entworfenen bedeutet ontologisch, dass das Dasein sich auch real bzw. wirksam, wie ich es genannt habe, auf die Situation, auf das erschlossene Da einlässt. Die faktische Entfaltung seiner Wirksamkeit ist ontologisch betrachtet räumlich im Sinne der Räumlichkeit des Daseins auf der ontologischen Ebene aufgrund seiner Ergriffenheit. Diesen räumlichen Aspekt der faktischen Existenz hat Heidegger wohl übersehen. Ansonsten folge ich wieder Heidegger (Seite 325 f., ebenda) mit entsprechenden Ergänzungen von mir:

Was das eigentliche Ganzsein des Daseins hinsichtlich der Einheit seines gegliederten Strukturganzen ermöglicht, ist formal existenzial gefasst die sich-zurückbringende und vorlaufende Entschlossenheit. Dafür notwendige Bedingungen sind zum einen, „dass das Dasein überhaupt in seiner eigensten Möglichkeit auf sich zukommen kann und die Möglichkeit in diesem Sich-auf-sich-zukommenlassen als Möglichkeit aushält, das heißt existiert.“ (Seite 325, ebenda) Damit macht das Vorlaufen das Dasein „eigentlich zukünftig, so zwar, dass das Vorlaufen selbst nur möglich ist, sofern das Dasein als Seiendes überhaupt schon immer auf sich zukommt, das heißt in seinem Sein überhaupt zukünftig ist.“ (ebenda) Zukunft in diesem Sinne ist nicht etwas, was noch nicht wirklich geworden ist und noch sein wird, sondern was als Möglichkeit auf das Dasein zukommt. Die zweite notwendige Bedingung ergibt sich für Heidegger aus dem Verständnis des wesenhaften Schuldigseins des Daseins. Dieselbe Bedingung könnte man auch aus dem Sich-zurückbringen herleiten, denn die sich-zurückbringende Entschlossenheit beinhaltet ja auch dieses Verstehen des Schuldigseinkönnens. In diesem Verstehen enthalten ist auch das Akzeptieren und Übernehmen der Verantwortung für das Sein, die Übernahme der Geworfenheit, also „das Dasein in dem, wie es je schon war, eigentlich sein“ (ebenda). Das ist die Bedingtheit des Daseins, dass es immer auch schon gewesen ist, ohne die es auch nicht „zukünftig auf sich selbst so zukommen [kann], dass es zurück-kommt“ (Seite 326, ebenda). „Die Gewesenheit entspringt in gewisser Weise der Zukunft“ (ebenda), aber in gewisser Weise entspringt auch die Zukunft der Gewesenheit, indem gewisse Möglichkeiten nur aufgrund bestimmter Bedingtheiten auf das Dasein zukommen können. Als dritte Bedingung für die Ermöglichung des eigentlichen Ganzseins des Daseins hinsichtlich der Einheit seines gegliederten Strukturganzen kommt nach Heidegger nun dazu, dass das Dasein auch gegenwärtig sein muss, also nicht nur zukünftig und gewesen: „Die sich-zurückbringende und vorlaufende Entschlossenheit erschließt die jeweilige Situation des Da …“ (ebenda) im „handelnde[n] Begegnenlassen des umweltlich Anwesenden … [, was] nur möglich [ist] in einem Gegenwärtigen dieses Seienden“ (ebenda). Damit „die Entschlossenheit sein [kann], was sie ist: das unverstellte Begegnenlassen dessen, was sie handelnd ergreift“ (ebenda), muss das Dasein zum einen gegenwärtig sein, aber es muss auch – und das hat Heidegger hier übersehen – seine Wirksamkeit entfalten, um überhaupt zu handeln.

Der entscheidende Fehler Bearbeiten

Das bedeutet, das Dasein muss auch räumlich sein. Die Räumlichkeit spielt aber nicht nur in der Situation, im erschlossenen Da, eine Rolle, das Dasein ist ja auch schon vor einer bestimmten Situation seinen Weg gegangen, so dass die Gewesenheit kombiniert mit der Räumlichkeit die Vergangenheit ergibt, und auch was die Zukunft betrifft, so ergeben sich hier zusammen mit der Räumlichkeit nicht nur die Möglichkeiten, wie das Dasein sich auf sich zukommen lässt, sondern auch die faktisch entfaltete Wirksamkeit seiner selbst, die das Dasein auf sich zukommen lässt, zum Beispiel, wenn es auf seinem Entwicklungsweg (räumlich!) in der Auseinandersetzung mit der Welt etwas geübt und trainiert hat und so neue Fähigkeiten, Wirkungen zu entfalten, sich angeeignet hat, die es auf sich zukommen lassen kann. Somit haben wir im Unterschied zu Heidegger statt drei insgesamt vier notwendige Bedingungen, die das eigentliche Ganzsein des Daseins hinsichtlich der Einheit seines gegliederten Strukturganzen ermöglichen: das Dasein muss zukünftig, gewesen, gegenwärtig und räumlich, das heißt es muss in diesem Sinne zeitlich und räumlich sein, also zusammen genommen prozesshaft. Alle vier Bedingungen, Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart und Räumlichkeit hängen miteinander zusammen, das heißt ohne eine der vier Bedingungen gibt es auch nicht die drei anderen, so dass wir schließlich von einer einzigen Bedingung sprechen können, nämlich von der Prozesshaftigkeit. Statt Zeitlichkeit bei Heidegger habe ich nun die Prozesshaftigkeit als notwendige Bedingung für die sich-zurückbringende und vorlaufende Entschlossenheit, die das eigentliche Ganzsein ermöglicht. Anstelle von Zeitlichkeit bei Heidegger werde ich von nun an immer den Begriff der Prozesshaftigkeit verwenden, falls die Zeitlichkeit allein nicht mehr ausreicht. Ist diese Bedingung aber auch hinreichend? Ich will ja nicht denselben Fehler wie Heidegger machen und etwas Wichtiges übersehen. Außerdem muss noch auf die Frage eingegangen werden, ob die Prozesshaftigkeit auch das uneigentliche Ganzsein des Daseins ermöglicht. Letzteres wird in Kapitel 10 beantwortet.

Bevor ich Ersteres (ob die Prozesshaftigkeit eine hinreichende Bedingung ist) weiter verfolge, will ich eine mögliche Erklärung dafür anführen, dass Heidegger das Räumliche weggelassen und die Zeitlichkeit überbetont hat. Ich habe diesen Gedankengang teilweise aus Steffen (2005) entnommen. Dort wird die These vertreten, „dass er [Heidegger] Kant unbedingt zu einem Vorgänger seines eigenen Fragens und seiner Fundamentalontologie machen will“ (Steffen, 2005, Seite 13). Deswegen „lernen wir aus Heideggers Kantinterpretation zwar einiges über Heideggers philosophischen Ansatz und seine Stellung zur philosophischen Tradition, aber wenig über Kant“ (Steffen, 2005, Seite 69). Ich folge hier Steffen (2005) ab Seite 23 ff.: Bei Kant soll die Zeit als Form des inneren Sinnes einen Vorrang vor dem Raum als Form des äußeren Sinnes haben, weil sie die universale reine Anschauung sei. Als Begründung bezieht sich Heidegger vor allem auf das sogenannte Schematismuskapitel der „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant, wobei Heidegger die Einbildungskraft zur Wurzel des ganzen Erkenntnisvermögens macht, sie gebe uns „im „Schema-Bild“ eine „Versinnlichung von Begriffen“, die die Bedingungen der Möglichkeit für alle empirische Betrachtung und gedankliche Verarbeitung von Gegenständen ist“ (Steffen, 2005, Seite 27). Schemata sind bei Kant „transzendentale Zeitbestimmungen“. Somit ist Erkenntnis bzw. Heideggers befindliches Verstehen rein zeitlich. Dem halte ich entgegen, dass Kraft (auch die Einbildungskraft) immer eine Richtung hat und daher räumlich ist, was sich darin zeigt, dass die Einbildungskraft einen Eindruck macht, da sie Ausdruck von etwas ist – das sind alles räumliche Begriffe. Die reine Zeitlichkeit von Heideggers Sein und Zeit ist meines Erachtens die subjektivistische Verunreinigung überhaupt, denn dadurch wird nur der „innere Sinn“ des Subjekts gesehen und der Austausch durch die ausdrückliche Aneignung in der Auslegung des hermeneutischen Zirkels übersehen. Das Dasein kann sich nur und erst in der und durch die Auslegung mit sich selbst und mit Anderen austauschen, verständigen und mitteilen. Dies ist ein wichtiger Teil des Entwicklungsprozesses des Daseins, der nur prozesshaft und weder rein zeitlich noch rein räumlich aufgezeigt werden kann. Zeitlichkeit und Räumlichkeit gründen ursprünglich in der Prozesshaftigkeit.

Die Grundbedingung aller Erfahrung liegt nach Heidegger in der Befindlichkeit, die das Sein des Daseins erschließt, und im befindlichen Verstehen. Sie sind das Apriori, das mit der Geworfenheit und der Individualität dem Dasein gegeben und nicht-reflexiv ist. Ich würde es noch schärfer fassen und die These aufstellen, dass die Grundbedingung aller Erfahrung in der Ergriffenheit des Daseins und seiner impliziten Erwartung, also in der ursprünglichen Sorge liegt. Bei Kant sind Erkennen und bleibendes Wissen nur möglich in der Verbindung von sinnlicher Anschauung und dem Begrifflichen des Verstandes. Kant versucht hier objektiv im Sinne von allgemeingültig zu bleiben, er übergeht aber dabei die allem Erkennen vorgängige Gestimmtheit des Daseins, die vorontologische Befindlichkeit bzw. Ergriffenheit des Daseins, die zwar als ontische Gestimmtheit absolut individuell und nicht allgemeingültig, ontologisch als Befindlichkeit bzw. Ergriffenheit des Daseins jedoch wieder objektiv im Sinne von Kant ist, denn jeder Mensch ist immer auf die eine oder andere Weise gestimmt. Zusammen mit der ausdrücklichen Aneignung in der Auslegung des hermeneutischen Zirkels hat das Dasein so betrachtet zwei voneinander relativ unabhängige Erinnerungssysteme für seine Erfahrungen: ein nicht-willkürliches, „das implizit, in erster Linie perzeptiv, nicht-deklarativ und nicht-reflexiv ist“ (Fonagy et al., 2008, Seite 49), und auf der Ergriffenheit des Daseins beruht, und ein autobiografisches, das auf der expliziten Auslegung des hermeneutischen Zirkels des befindlichen Verstehens beruht und aus den entsprechenden expliziten Selbstentwürfen des Daseins besteht. Ich folge jetzt Fonagy et al. (2008, Seite 49): Mithilfe des nicht-willkürlichen Systems macht das Dasein impliziten Gebrauch früherer Erfahrungen. Das in diesem System enthaltene Wissen „wird nur durch Aktion zugänglich [… und] manifestiert sich, sobald das Individuum sich in der betreffenden Fertigkeit übt und Handlungen ausführt, in die dieses Wissen eingebettet ist“ (Fonagy et al., 2008, Seite 49). Es ist das ursprünglichere System, dessen Inhalte durch den hermeneutischen Zirkel des Verstehens in das autobiografische System überführt werden können, ohne im ursprünglichen System gelöscht zu werden. Die wissenschaftlichen Ergebnisse, die Fonagy et al. hier zitieren, unterstützen also die Annahmen Heideggers, insbesondere auch die, dass das Dasein nur durch die Praxis befindlich verstehen kann. Die Praxis ist aber nie rein zeitlich, sondern immer auch räumlich und damit prozesshaft.

In der Traumaforschung, bei der zunehmend neurobiologische Forschungsergebnisse berücksichtigt werden (z.B. Jacobs, de Jong, 2007, Seite 15 ff.), hat man deutliche Hinweise darauf gefunden, dass jede Situation zum einen über die Amygdalla, zum andern über die Hippocampusformation im Gehirn jeweils weiterverarbeitet und in unterschiedlichen Bereichen des Cortex gespeichert wird. Später können dann über die Amygdalla implizite, emotionale Erinnerungen daran aktiviert und „wiedererlebt“ und über die Hippocampusformation explizite Erinnerungen daran „wiedererinnert“ werden (Jacobs, de Jong, 2007, Abb. 2, Seite 19). Dabei wird die Hippocampusformation nur dann aktiviert, wenn die entsprechende Erfahrung explizit erinnert wird. In diesem Fall kann die Erregung der Amygdalla beruhigt werden, wobei dies über cortikale Strukturen vermittelt wird, dort also, wo die Hippocampusformation die entsprechenden Inhalte abgespeichert hat. In der Situation selbst wird bei einer zu starken Erregung der Amygdalla die Hippocampusformation blockiert, sodass die Erfahrung nicht explizit gespeichert wird, sondern nur implizit über die Amygdalla in den cortikalen Bereichen, auf die die Amygdalla Zugriff hat. Die Erinnerung ist in diesem Fall nur dann zugänglich, wenn etwas geschieht, was die Amygdalla aktiviert, sodass die betreffende Erfahrung „wiedererlebt“ wird. Solange eine Erfahrung also noch nicht über die Hippocampusformation weiterverarbeitet wurde, ist sie nicht explizit zugänglich, die betreffende Person bekommt z.B. Wortfindungsstörungen, wenn sie explizit darüber berichten soll. In diesem Fall erlebt sie die Situation erneut und kann sie nur dann weiterverarbeiten, wenn die Erregung in der Amygdalla nicht zu hoch ist. An dem, wie das Dasein seine Erfahrungen verarbeitet, wird erkennbar, wie das Dasein seine Erfahrungen „macht“ und wie es sich daran dann in seinen Handlungen orientiert. Wenn die Ergriffenheit von der Situation und ihren Momenten zu stark, also die Erregung zu hoch ist, kann es zu keinem befindlichen Verstehen kommen, sodass bei einer folgenden Erinnerung die sogenannte Affektregulierung bzw. die Regulierung seiner Befindlichkeit nicht stattfinden kann. Das befindliche Verstehen ist also eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass das Dasein seine Befindlichkeit regulieren und sich beruhigen kann. Das Dasein kann diese Regulierung umso besser bewältigen, je mehr es die Situation befindlich versteht. Es muss also irgendwie zu einer Beruhigung kommen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, der durch eine zu große Erregung selbst bei späterem Erinnern aufrecht erhalten wird.

Dies geschieht in der Kindheit durch die primäre Bezugsperson, in der Regel die Mutter, die einerseits das Dasein befindlich versteht, andererseits aber selbst eine entsprechende Ruhe ausstrahlt, so dass sich die überhöhte Erregung des Daseins soweit beruhigt, dass es die Situation befindlich verstehen kann, zuerst nonverbal begreifend, später auch verbal sich ausdrücklich aneignend in der Auslegung. Erst mit der Auslegung ist der hermeneutische Zirkel des Verstehens abgeschlossen, so dass das Dasein bis dahin die direkte Unterstützung seiner Mutter zur Beruhigung braucht. Der Zustand des befindlichen Verstehens einschließlich seines ausdrücklichen Sich-Aneignens ist also charakterisiert durch eine relative Entspannung verbunden mit der Konzentration auf die zu verstehende Befindlichkeit. Dieser Zustand von Entspannung und Konzentration wird auch Trance genannt und in der Hypnosetherapie therapeutisch genutzt. Der Zeitpunkt, wenn das Dasein selbst sich das Verstandene in der Auslegung aneignen kann, ist der Abschluss der sozialen Geburt. Dann erkennt das Dasein aufgrund eigener Auslegungen, dass seine Ergriffenheit und Erwartung verschieden ist von der seiner Mutter. Im siebten Jahrhundert v. Chr. gab es nach einem Bericht von Herodot in Ägypten einen Versuch mit Waisenkindern von Pharao Psammetich, um die ursprüngliche Sprache der Menschheit herauszufinden (ein ähnlicher Versuch wird Friedrich II von Hohenstaufen zugeschrieben, allerdings von einem politischen Gegner, so dass diese Zuschreibung äußerst zweifelhaft ist), bei dem alle Waisenkinder starben. Wahrscheinlich erzeugte die mangelnde Affektregulierung durch die Pflegerinnen, die ja nicht mit den Kindern sprechen durften, einen derart hohen emotionalen Stress der Kinder, dass sie daran starben. So würde ich jedenfalls das grausige Ende dieser Kinder aufgrund der oben angeführten neurobiologischen Erkenntnisse interpretieren.

Als grundlegende Bedingung aller Erfahrung, so möchte ich Heidegger radikalisieren (noch weiter zur Wurzel vordringen), ergibt sich somit die Regulierung der Befindlichkeit mithilfe der Beziehung des Daseins zu seiner primären Bezugsperson. Damit liegt das Transzendentale bzw. das Apriori der Erfahrung und Erkenntnis im möglichst echten und unmittelbaren Verstehen, also in einer möglichst echten und unmittelbaren Verständigung zwischen dem Dasein und seiner primären Bezugsperson, also in einer Vorform von und möglichst großen Annäherung an Liebe. Ein ausreichendes Maß an Liebe von einem Anderen ist die grundlegende Bedingung aller Erfahrung und Erkenntnis des Daseins.

Wenn wir die Prozesshaftigkeit und die darin enthaltenen vier Bedingungen für die sich zurückbringende und vorlaufende Entschlossenheit, also die Seinsganzheit des Daseins als Sorge, genauer analysieren, so ergibt sich für die ersten drei, die auch Heidegger (ab Seite 327 ebenda) untersucht, dass die dadurch sich ergebende Zeitlichkeit eine durch Möglichkeiten und Bedingtheiten aufgespannte und dadurch sozusagen „verräumlichte“ Art von Zeit ist. Etwas Ähnliches findet man übrigens in der Quantenphysik, wenn dort die Zeit-Variable t auch mit der „Imaginär“-Zahl i multipliziert wird und dadurch ebenfalls die Zeit wie ein Raum mathematisch aufgespannt wird, sodass Superpositionen, also Überlagerungen, von verschiedenen Möglichkeiten eines Systemzustands dargestellt werden können. Die vierte Bedingung, die daseinsmäßige Räumlichkeit, ist dagegen das an- und abschwellend akzentuierte und ausdrückliche Sich-Einlassen des Daseins auf diese bedingten Möglichkeiten, sodass sich hier ein sozusagen „verzeitlichter“ Raum ergibt. In der Quantenphysik entspricht das einer Wellenfunktion, die die Zustandsgleichung des Systems (z.B. die Schrödinger-Gleichung) löst. Über die Räumlichkeit kommt also der später noch zu analysierende Rhythmus ins Spiel.

Um die Untersuchung der vier Bedingungen für die Seinsganzheit des Daseins als Sorge konkret auszuarbeiten, betrachten wir nochmals, was das Sein des Daseins als Sorge besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt), Sich-hinterher-noch-sein-in-(der-Welt), Anwesend-im-gerade-sein-in-(der-Welt) und Sich-einlassend-sein-bei-in-(der-Welt).

„Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft [… und] meint nicht […] „Noch-nicht-jetzt – aber später“ [… sonst] wäre mit der Zeitlichkeit [bei mir Prozesshaftigkeit] der Sorge gesagt, sie sei etwas, das [...] „noch nicht“ […] ist[, aber später einmal so] „in der Zeit“ vorkommt und abläuft. […] Das Sein eines Seienden vom Charakter des Daseins würde zu einem Vorhandenen. […] Das […] „vorweg“ zeigt die Zukunft an, als welche sie überhaupt erst ermöglicht, dass das Dasein so sein kann, [dass es auf sich zukommt (daher Zu-Kunft, „Kunft“ kommt von „kommen“),] dass es ihm um sein Seinkönnen geht.“ (Seite 327 ebenda) Die Zukunft entrückt das Dasein in den Bereich oder an den Horizont seiner Möglichkeiten, sie erschließt das Dasein auf seine Existenzialität hin, dass es um seinetwillen existiert, also auf das „Umwillen seiner selbst“, wie Heidegger es nennt: „Das in der Zukunft gründende Sichentwerfen auf das „Umwillen seiner selbst“ ist ein Wesenscharakter der Existenzialität. Ihr primärer Sinn ist die Zukunft.“ (Seite 327 ebenda) Die folgenden Abschnitte sind dem vorangegangenen nach Heidegger analog formuliert:

Das Sich-hinterher gründet in der Gewesenheit und meint nicht „Nicht-mehr-jetzt – aber früher“, sonst wäre mit der Prozesshaftigkeit der Sorge gesagt, sie sei etwas, das „nicht mehr“ ist, sondern früher einmal so „in der Zeit“ vorkam. Das Sein eines Seienden vom Charakter des Daseins würde zu einem Vorhandenen. Das „Hinterher“ zeigt die Herkunft an, als welche sie überhaupt erst bedingt, dass das Dasein so ist, dass es von seiner Bedingtheit herkommt (eigentlich müsste die Gewesenheit Her-Kunft heißen). Die Gewesenheit entrückt das Dasein in den Bereich oder an den Horizont seiner Bedingtheiten einschließlich seiner Geworfenheit, sie erschließt das Dasein auf seine Faktizität hin, dass es vor sich selbst geworfen bzw. dass es mit ihm an sich selbst ist, also auf das „Wovor oder Woran seiner selbst“, wie Heidegger es nennt (Seite 365 ebenda): Das in der Gewesenheit bzw. Herkunft gründende Bedingt-Sein des „Wovor oder Woran seiner selbst“ ist ein Wesenscharakter der Faktizität. Ihr primärer Sinn ist die Gewesenheit bzw. die Herkunft.

Das Anwesend gründet in der Gegenwart und meint nicht „Jetzt-gerade – sonst nicht unbedingt“, sonst wäre mit der Prozesshaftigkeit der Sorge gesagt, sie sei etwas, das „jetzt gerade“ ist und sonst nicht unbedingt „in der Zeit“ vorkommt. Das Sein eines Seienden vom Charakter des Daseins würde zu einem Vorhandenen. Das „Anwesend“ zeigt die Ankunft an, bei der das Dasein gehalten ist in der Bedingtheit der Herkunft und den Möglichkeiten der Zukunft, damit es auf diese Art desto eigentlicher im „Augenblick“ ankommt, und zwar faktisch und existenzial, um seiner selbst zu begreifen, wer es gerade ist als Seinsweise (eigentlich müsste die Gegenwart An-Kunft heißen). Die Gegenwart entrückt das Dasein in den Bereich oder an den Horizont seiner momentanen Situation, sie erschließt das Dasein auf das Verhältnis seiner Faktizität mit seiner Existenzialität hin, damit es dieses begreifen und sich von Täuschungen befreien kann, also auf das „Um-zu seiner selbst“, wie Heidegger es nennt (Seite 365 ebenda): Das in der Gegenwart bzw. Ankunft gründende bedingte Sichentwerfen auf das bzw. entwerfende Bedingt-Sein des „Um-zu seiner selbst“ ist ein Wesenscharakter des Spannungsverhältnisses von Faktizität und Existenzialität, durch das es zu Täuschungen und Enttäuschungen kommen kann, und ein Wesenscharakter des Begreifens dieser Spannung in der Rede. Ihr primärer Sinn ist die Gegenwart bzw. die Ankunft.

Das Folgende betrifft die vierte Bedingung, die bei Heidegger nicht vorkommt:

Das Sich-einlassend gründet in der Räumlichkeit und meint die daseinsmäßige Räumlichkeit, sonst wäre mit der Räumlichkeit der Sorge gesagt, sie sei etwas, das „hier, da oder dort“ ist und einfach so „im Raum“ vorkommt. Das Sein eines Seienden vom Charakter des Daseins würde zu einem Vorhandenen. Das „Sich-einlassend“ zeigt an, dass etwas dabei herauskommen kann, wenn das Dasein sich entsprechend entschlossen einlässt, sodass es in der erschlossenen Situation eine Auskunft darüber erhält, auf welche bestimmte von ihm wählbare Weise es „da“ ist, war oder sein kann (eigentlich müsste die Räumlichkeit Aus-Kunft heißen). Die Räumlichkeit entrückt das Dasein in den Bereich oder an den Horizont seines faktischen Umgangs mit der Welt in seiner Beziehung zu seinem Sein und dem Sein überhaupt, sie erschließt das Dasein auf seinen Ausdruck und dessen entsprechenden Eindruck beim begegnenden Seienden hin, dass und wie beides jeweils ist, also auf das „Dass-und-Wie seiner Selbstentfaltung“, also auf die konkrete Entwicklung seiner Wahrheit seines menschlichen Lebens hin („An ihren Früchten [ihrer Taten] sollt ihr sie erkennen.“, Matthäus 7, 16). Dabei wird nochmals deutlich, dass Auskunft eine treffende Bezeichnung für die Räumlichkeit ist. Das in der Räumlichkeit bzw. Auskunft gründende Sichentwerfen auf das „Dass-und-Wie seiner Selbstentfaltung“ ist ein Wesenscharakter des Umgangs mit der Täuschung (Festhalten oder Loslassen) bzw. Enttäuschung (Annehmen oder Sich-Abkehren). Sein primärer Sinn ist die Räumlichkeit bzw. die Auskunft.

Zukunft, Herkunft, Ankunft und Auskunft, wie die Elemente der Prozesshaftigkeit auch genannt werden könnten, zeigen die phänomenalen Charaktere des „Auf-sich-zu“, „Zurück-auf-sich“, „Bei-sich-an“ und „An-sich-heran und Aus-sich-heraus“ und offenbaren die Prozesshaftigkeit als „das ursprüngliche »Außer-sich« an und für sich selbst“ (Seite 328 f. ebenda). Analog zu Heidegger nenne ich daher Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart und Räumlichkeit die Ekstasen der Prozesshaftigkeit. „Sie [die Prozesshaftigkeit] ist nicht vordem ein Seiendes, das erst aus sich heraustritt, sondern ihr Wesen ist Zeitigung [bei mir Prozessentfaltung] in der Einheit der Ekstasen“ (Seite 329 ebenda). „Die Ekstasen sind nicht einfach Entrückungen zu… Vielmehr gehört zur Ekstase ein „Wohin“ der Entrückung. Dieses Wohin der Ekstase nennen wir das horizontale Schema.“ (Seite 365 ebenda) Die entsprechenden Schemata dieser Ekstasen, „woraufhin das faktisch existierende Seiende wesenhaft erschlossen ist“ (Seite 365 ebenda), sind „Umwillen seiner“ (Zukunft), „Wovor/Woran“ (Gewesenheit, Herkunft), „Um-zu“ (Gegenwart, Ankunft) und „Dass-und-Wie“ (Räumlichkeit, Auskunft). Insgesamt entrückt die Prozesshaftigkeit das Dasein in seinen vier Ekstasen in den Bereich oder an den Horizont seiner gesamten Sorge bzw. seines ganzen In-der-Welt-seins, woraufhin es insgesamt erschlossen ist.

Die horizontalen Schemata umgrenzen einen Raum, in den das Dasein durch die vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit entrückt ist. So betrachtet haben wir – frei nach Jaucourt (Rhythme, in Diderot et d´Alembert, 1756, Seite 267, linke Kolumne): „[...] um etwas Substanzielles zu sagen, der Rhythmus ist nichts anderes als ein durch bestimmte Gesetze begrenzter Raum.“ – einen Rhythmus im Prozess des Daseins, dessen Form durch die horizontalen Schemata vorgegeben ist, und dessen Dynamik angezeigt ist durch die jeweiligen Entrückungen. Von je weiter entfernt das Dasein „Auf-sich-zu“, „Zurück-auf-sich“, „Bei-sich-an“ und „An-sich-heran und Aus-sich-heraus“ kommen kann, je mehr es also an die Grenzen seines Seins geht, desto dynamischer, also kraftvoller, kann dieser Rhythmus sein. Auf das Thema Rhythmus komme ich noch einmal ausführlicher in den Kapiteln 12 und 14 zu sprechen.

Ich folge wieder Heidegger (ab Seite 328 ebenda) mit entsprechenden Abwandlungen: Die Prozesshaftigkeit ermöglicht also die eigentliche Einheit von Existenzialität, Faktizität, Täuschung und dem Umgang mit Täuschungen und konstituiert so ursprünglich die eigentliche Ganzheit der Sorgestruktur, die genauso wenig zusammengestückt ist wie die Prozesshaftigkeit, deren vier Ekstasen Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart und Räumlichkeit wie oben ausgeführt voneinander abhängig sind und so ein Ganzes bilden. Damit ist nun gezeigt, dass die Prozesshaftigkeit auch eine hinreichende Bedingung für das eigentliche Ganzsein des Daseins hinsichtlich der Einheit seines gegliederten Strukturganzen ist. Durch diese Interpretation des Sinnes der Sorge als eigentliche Prozesshaftigkeit ist auch das Phänomen der Selbstheit als eigentliche Ständigkeit des Selbst geklärt.

Ich möchte nun den Begriff der Prozesshaftigkeit verallgemeinern auf alles Seiende. Zunächst ist es erst einmal wichtig, den Begriff Prozess zu klären. Ein Prozess eines Seienden ist eine Veränderung dieses Seienden, bei dem dieses Seiende trotz der Veränderung es selbst bleibt, was es ja, wie in der vorausgegangenen Passage zum Selbst aufgezeigt wurde, für das Dasein aufgrund seiner Sorge gibt, seitdem und solange es ist. Die Veränderung eines Seienden ist ein Ereignis dieses Seienden, die Veränderung ereignet sich. Prozesshaftigkeit nun ist das Phänomen, dass ein Seiendes prozesshaft ist, das heißt dass es sich verändert und doch es selbst bleibt. Das Sein dieses Seienden ist sein Gesamtprozess, seitdem und solange es ist. Jeder Prozess ist in Teilprozesse aufteilbar, wobei ein Teilprozess mindestens ein Ereignis von Veränderung dieses Seienden enthalten muss. Diese Definitionen werfen nun einige Fragen auf: was ist ein Ereignis und was ist eine Veränderung, bei der ein Seiendes es selbst bleibt? Bei einer derartigen Veränderung ändern sich nur die Charaktere dieses Seienden, also seine Existenziale bzw. seine Kategoriale, je nachdem, ob es daseinsmäßig ist oder nicht. Im Wort Ereignis steckt „eigen“, was von „Augen“ kommt, so dass ein Ereignis etwas ist, was wir bzw. das Dasein mit eigenen Augen wahrnehmen, das heißt entdecken kann. Damit ist klar, dass alles daseinsmäßig Seiende prozesshaft ist. Wie aber ist es mit nichtdaseinsmäßig Seiendem? Solches Seiende „bekommt“ seine Prozesshaftigkeit nur vom Dasein, genauso wie auch nur das Dasein Sinn „geben“ kann. Ohne das Dasein „gibt“ es kein Ereignis, das ja auch nur vom Dasein „mit eigenen Augen“ entdeckt werden kann, also keine Veränderungen und damit keinen Prozess. Damit ein Seiendes prozesshaft ist, muss es vom Dasein nicht nur als Seiendes, sondern auch in seinem Sein entdeckt sein.

Bei dieser allgemeinen Definition von Prozesshaftigkeit und Prozess habe ich das Ereignis definiert als Geschehen, welches vom Dasein mit „eigenen Augen“, also mit seinen Sinnen, wahrgenommen werden kann. Damit ist ein Ereignis ein Phänomen im vulgären Sinn nach Heidegger (siehe Paragraph 7 von „Sein und Zeit“), und die Bezogenheit der Ereignisse eines Prozesses aufeinander ist dadurch gegeben, dass das betreffende Seiende, dessen Prozess beobachtet wird, während dieses Prozesses dasselbe bleibt. Da Heidegger wie Husserl davon ausgeht, dass das Dasein niemals einfach so etwas wahrnimmt, sondern schon bei allem Wahrnehmen intentional ist und unreflektiert eine bestimmte Sinnhaftigkeit unterstellt, sind wir bei der modernen Phänomenologie, die mit Husserl ihren Anfang genommen hat.

Einschub: Der Begriff der Phänomenologie in Sein und Zeit Bearbeiten

Im Paragraph 7 von „Sein und Zeit“ (Seite 27 ff.) legt Heidegger seine Form der Phänomenologie wie folgt dar: Vom Griechischen abgeleitet bedeutet Phänomen das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare. Darin liegt auch der Schein als die privative Modifikation von Phänomen. Weiterhin hat der Begriff Phänomen auch die Bedeutung von Erscheinung angenommen im Sinne des Sichmeldens, wobei Phänomen das meinen kann, was sich meldet, aber nicht zeigt, oder das, was sich als Meldendes zeigt. In ihrer privativen Modifikation kann eine Erscheinung auch zum bloßen Schein bzw. zu einer bloßen Erscheinung werden. Solange unbestimmt bleibt, welches Seiende oder welcher Seinscharakter von welchem Seienden angesprochen ist, ist der Phänomenbegriff nur formal. Seine vulgäre Bedeutung erhält der Begriff, wenn man fordert, dass das betreffende Phänomen durch empirische Anschauung bzw. durch die sinnliche Wahrnehmung zugänglich ist. Damit ist jedes Ereignis und jeder Prozess wie von mir gerade definiert ein solches Phänomen. Als nächstes behandelt Heidegger das zweite griechische Wort in Phänomenologie, nämlich Logos. Logos als Rede macht etwas offenbar, indem es dieses aufweisend als etwas sehen lässt. Hier liegt also das apophantische (hinweisende) Als der Aussage vor. Als Sehenlassen kann es wahr oder falsch sein. Dieser Wahrheitsbegriff hat nichts mit einer Übereinstimmung zu tun, sondern bezeichnet lediglich, ob das Seiende, wovon die Rede ist, aus der Verborgenheit herausgenommen und damit entdeckbar wird, oder ob es verdeckt und als etwas ausgegeben wird, was es nicht ist. In diesem Sinne ist das immer wahr, was als einfachste Seinsbestimmungen des Seienden als solchem mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Dieses Wahrnehmen kann nie verdecken, es kann höchstens ein Nicht-Wahrnehmen, ein Ignorieren, sein. Daher hat also erst der Logos, der über das rein sinnliche Wahrnehmen hinausgeht, indem er aufweisend etwas als etwas wahrnehmen lässt, die Möglichkeit des Verdeckens. Auf diese Weise verdeutlicht Heidegger die primäre Funktion des Logos. Zusammengenommen besagt Phänomenologie damit: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.“ (Ebenda, Seite 34) „»Phänomenologie« nennt weder den Gegenstand ihrer Forschungen, noch charakterisiert der Titel deren Sachhaltigkeit.“ (Ebenda) Phänomenologie als Wissenschaft von den Phänomenen bedeutet daher, dass jede Erörterung ihrer Gegenstände „in direkter Aufweisung und direkter Ausweisung abgehandelt werden muss“ (ebenda, Seite 35). Die Logik der Phänomenologie ist also keine Konsequenz-Logik. Bis jetzt ist Phänomenologie aber nur in ihrer formalen Bedeutung gekennzeichnet. Heidegger führt nun an, dass das, „was in einem ausgezeichneten Sinn »Phänomen« genannt werden muss, [… das ist,] was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, dass es seinen Sinn und Grund ausmacht [im Sinne von Wahrheit des Seins]“ (ebenda). Damit ist Heidegger bei dem Sein des Seienden. „Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich. Der phänomenologische Begriff von Phänomenen meint als das Sichzeigende das Sein des Seienden, seinen Sinn, seine Modifikationen und Derivate.“ (Ebenda) „»Hinter« den Phänomenen der Phänomenologie steht wesenhaft nichts anderes, wohl aber kann das, was Phänomen werden soll, verborgen sein.“ (Ebenda, Seite 36) Damit die Phänomenologie vom Seienden zu dessen Sein kommt, bedarf es „zuvor einer rechten Beibringung des Seienden selbst“ (ebenda, Seite 37). Dies ist die Methode der Deskription der Phänomenologie. Mit dem Sein des Seienden hat die Phänomenologie den wissenschaftlichen Anspruch der Apriorität und, das Fundament für alle anderen Wissenschaften zu sein.

Einschub: Hermeneutik Bearbeiten

Wie entwickelt sich nun die Fähigkeit des Daseins, in diesem Sinne phänomenologisch zu sein und »hinter« die Phänomene im vulgären Sinne zu kommen? Fonagy et al. (2008, Seite 212 ff.) unterscheiden fünf verschiedene Ebenen, auf denen ein Kind nach und nach die eigenen und die Handlungen der anderen „zu verstehen lernt: die physische, die soziale, die teleologische, die intentionale und die repräsentationale Ebene.“ (Fonagy et al., 2008, Seite 212) Physisch bedeutet, dass das Kind versteht, dass es selbst oder andere mit physischer Kraft Veränderungen in der angrenzenden Umwelt herbeiführt. Auf der sozialen Ebene versteht es, dass seine eigenen und die Aktionen der anderen Verhaltensreaktionen und Emotionsäußerungen bei den jeweiligen Interaktionspartnern und auch bei ihm selbst beeinflussen. Indem das Kind ab acht oder neun Monaten Handlungen von ihren Resultaten unterscheiden und sie als Mittel verstehen kann, um bestimmte weitere Handlungen begehen zu können, versteht es die teleologische Ebene. Dies wird in der Literatur auch häufig als die sozio-kognitive Neunmonatsrevolution bezeichnet. Hier beginnt die räumliche Auffassungsgabe von bestimmten Zusammenhängen die Entwicklung des Verstehens immer mehr zu fördern. Wenn das Kind dann teilweise schon im zweiten Lebensjahr begreift, dass Aktionen bei ihm selbst oder auch bei anderen „auf vorgängigen intentionalen mentalen Zuständen, beispielsweise Wünschen, beruhen“ (Fonagy et al., 2008, Seite 213), haben sie die intentionale Ebene verstanden. Bis zu dieser Ebene des Verstehens können auch Tiere wie zum Beispiel Schimpansen in ihrer Entwicklung gelangen. Ab dieser Ebene des Verstehens von Handlungen nach Fonagy et al. spielt die Sprachentwicklung eine entscheidende Rolle, indem sie dem kindlichen Entwicklungsprozess einen enorm starken Schub gibt, und gerade bei der Sprache kann man das Phänomen des Sprechens vom dazugehörigen Sinn überhaupt nicht trennen. Hier kann es dann auch zu vielen Täuschungen und Missverständnissen kommen, wenn verschiedene daseinsmäßig Seiende unterschiedliche Sinnrichtungen unterstellen. Andererseits kann die prozesshafte Analyse sprachlicher Aussagen des Daseins das Verständnis des In-der-Welt-Seins erheblich vertiefen, d.h. es erheblich echter und unmittelbarer in seinem Worumwillen verständlich machen, sodass die Entwicklung zur Liebe auch dadurch gefördert werden kann. Hier besteht also ein Anknüpfungspunkt zur analytischen Philosophie. Die repräsentationale Ebene schließlich ist erreicht, wenn das Kind mit etwa vier Jahren versteht, dass Handlungen auch auf zeitlich überdauernden mentalen Zuständen beruhen können, wie zum Beispiel Überzeugungen oder bestimmten Vorlieben. Erst mit dieser Ebene, die übrigens von keinem Tier erreicht wird, ist das Dasein ein geschichtliches Wesen und kann zeitliche Zusammenhänge verstehen. Während bei den ersten beiden Ebenen lediglich Kausalzusammenhänge eine Rolle spielen, die allein mit einer Konsequenz-Logik zu verstehen sind, beginnt die Psycho-Logik erst mit der intentionalen Ebene und markiert hier die Grenze der Konsequenz-Logik, die ohne die Annahme von Zielen und Absichten, also ohne die Annahme, dass Aktionen einen Sinn haben, Handlungen erklären will. Mit der Annahme eines Sinns bzw. eines verdeckten Motivs können Aktionen dann immer besser verstanden werden. Als geschichtliches Wesen ist das Dasein damit immer auslegend, interpretierend und deutend und somit einerseits kritisch, andererseits aber auch verstehend der Welt gegenüber.

Mit diesem kritischen Hermeneutikbegriff befinden wir uns bestens in der Kontinuität der hermeneutischen Tradition und sind ebenfalls bei der Unterscheidung von Dilthey zwischen Natur- und Geisteswissenschaften: Erstere wollen erklären, Letztere verstehen. Auch ein Prozess, der aus aufeinander bezogenen Ereignissen besteht, wird nur verständlich, wenn man einen Sinn dieser Bezogenheit insgesamt unterstellt. Diese Sinnhaftigkeit ist die Intentionalität des Bewusstseins bei Husserl. Wenn man demselben Prozess unterschiedliche Sinnrichtungen unterlegt, so ist es nicht mehr derselbe Prozess. Das ist das, was bei Heidegger die unterschiedlichen Seinsweisen sind, wenn jemand zum Beispiel einmal in der Seinsweise als professioneller Koch ein Menü herstellt oder in der Seinsweise eines liebenden Mannes, der seine Geliebte verwöhnen will. Ein Phänomen und der dazugehörige Sinn, den das Dasein diesem Phänomen gibt, können somit nicht voneinander getrennt werden, ohne dass Verwirrung entsteht. Von daher müssen auch die Welt als Phänomen und die Weltlichkeit des Daseins, durch die es dem Phänomen Welt einen Sinn gibt, immer zusammen betrachtet werden, und daher auch die Welt und das Dasein als In-der-Welt-sein. Der Sinn ist dann jeweils das, was sich dem Dasein mit der oben erwähnten repräsentationalen Ebene erschließt und damit entdeckt werden kann. Mit dieser Erschlossenheit hat das Dasein schon ein gewisses Vorverständnis des Seins nach Heidegger, welches dann durch hermeneutische Zirkel immer weiter vertieft werden kann, sodass Täuschungen nach und nach erkannt und beseitigt werden können. Indem Heidegger von einem Vorverständnis des Daseins von jedem in der Welt begegnenden Seienden ausgeht und den hermeneutischen Zirkel als Methode eingeführt hat, das Wesen dieses Seienden zu verstehen, umgeht er die Schwierigkeiten, die sich bei Husserls transzendentaler eidetischer Reduktion ergeben. Nach Heidegger ist Phänomenologie Hermeneutik, denn „der methodische Sinn der phänomenologischen Deskription ist Auslegung.“ (Ebenda, Seite 37)

Hermeneutik ist bei Dilthey die Auslegung der Lebenswirklichkeit in der Zeit, also in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In seiner Psychologie, die er als Geisteswissenschaft versteht, präzisiert er die Form, wie er die Lebenswirklichkeit erfassen will, anhand der Begriffe Erleben, Ausdruck und Verstehen: „Die Menschheit wäre, aufgefasst in Wahrnehmung und Erkennen, für uns eine physische Tatsache, und wäre als solche nur dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugänglich. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften entsteht sie aber nur, sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden.“ (Dilthey, 2006, Seite 87) Dies ist die Art und Weise, wie ein Kind in den ersten vier bis fünf Lebensjahren sein Verständnis von der Welt aufbaut, wobei es auf die Hilfe seiner Mutter angewiesen ist, indem diese ihr Kind so echt und unmittelbar wie möglich versteht, also liebt, und dieses Verständnis seines Ausdrucks markiert wiederspiegelt (siehe Fonagy et al., 2008, Seite 182 ff.). Ab der sozialen Geburt kann das Dasein auch auf andere Art und Weise sich das Verständnis des Seins aneignen: Das Dasein ist von etwas ergriffen (Erleben) und holt sich dann geleitet von seiner Befindlichkeit aus der Gewesenheit etwas wieder (Übertragung, Vor-Habe), woraufhin sein Verstehen des Gewesenen ihm zukünftige Möglichkeiten seines Seinkönnens eröffnet (Vor-Sicht), und durch beides kann es die gegenwärtige Situation besser begreifen (Vor-Griff) und sich dann für einen bestimmten Ausdruck in einer ausdrücklichen Auslegung des Ganzen entscheiden und sich dadurch das Begriffene aneignen, indem es die Wirkung seines Ausdrucks wahrnimmt und dann versteht. So betrachtet schiebt Heidegger zwischen das Erleben und den Ausdruck bei Dilthey die Zeitlichkeit, vergisst aber dabei die Bedeutung des nachfolgenden Ausdrucks und des Verstehens von Reaktionen auf seinen Ausdruck, insgesamt also die Bedeutung der Auskunft, die das Dasein dadurch über sich und die Welt bekommen kann (nach dem Motto: Probieren geht über Studieren), und des Austauschs, der nur durch Hinzunahme der Ekstase der Räumlichkeit (also nicht nur zeitlich, sondern insgesamt prozesshaft) analysiert werden kann. Im Übrigen verwendet und braucht das Dasein die von Dilthey beschriebene Herangehensweise ohne die Zeitlichkeit nach wie vor und insbesondere dann, wenn es sich in einem ihm unbekannten Bereich Wissen und Verständnis aufbauen will. Erst wenn es Wiederholungen gibt, also Möglichkeiten der Übertragung, dann kommt die Zeitlichkeit ins Spiel, dann erst kann das Dasein eine Rhythmik entwerfen. Diesem Gedankengang des Wissensaufbaus ist allerdings entgegenzuhalten, dass das Dasein, nachdem es in der sozialen Geburt die Zeitlichkeit und die Möglichkeit der Übertragung entdeckt hat, davon möglicherweise nicht mehr lassen will, da es seine Orientierung in der Welt erheblich erleichtert, und höchstens in absoluten Ausnahmesituationen ohne Übertragung handelt. Zunächst und zumeist überträgt es von seinen Erfahrungen etwas auf die Gegenwart, auch wenn es für die momentane Situation nicht angemessen ist. Unter Umständen ist es aber auch so, dass das Dasein, nachdem ihm Zeitlichkeit und Übertragung erschlossen sind, gar nichts mehr ohne zu übertragen tun kann, auch wenn es das gar nicht will oder noch nicht einmal bemerkt. Die einzige Chance, nicht der Uneigentlichkeit zu verfallen, besteht dann darin, so achtsam wie möglich zu übertragen. Wenn man die Konzentration betrachtet, die ein Meditierender aufbringen muss, um meditieren zu können, so kann man daran ermessen, dass es für das Dasein wohl nur bis zu einem gewissen Grad möglich ist, sich jeglicher Übertragung zu enthalten, und dass es dazu einiger Übung in und Konzentration auf Achtsamkeit bedarf. Dies ist auch die Problematik von Husserls Methode der Epoché, der Ausschaltung der Generalthesis der natürlichen Einstellung.

Heidegger versucht an dieser Stelle hinter die Motive zu kommen, weswegen es dem Dasein so schwer fällt, ohne Uneigentlichkeit (und unachtsame Übertragung) sich dem Sein zu überlassen und es so echt und unmittelbar zu verstehen, und er kommt dabei als Motiv dafür auf die Flucht vor sich selbst, d.h. auf die Befindlichkeit der Angst, zunächst und zumeist in ihrer uneigentlichen Form als Furcht. Entsprechend gilt dies auch für alle anderen uneigentlichen Befindlichkeiten, die sich aus Furcht, Zorn, Trauer, Ekel und Spaß zusammensetzen, d.h. letztlich gilt dies für die Verlorenheit des Daseins an die Welt, eine Verlorenheit, die sich immer wieder meldet in Form von Zuständen der Unheimlichkeit, Verzweiflung, Trostlosigkeit, Elend oder Ablenkung, wenn es sich aus der Welt heraus und nicht aus seinem In-der-Welt-sein heraus versteht. Letzten Endes kann es auch gar nicht um die Ausschaltung von Einstellungen gehen, sondern nur um die Ausschaltung von uneigentlichen Einstellungen, denn wenn das Dasein nur noch eigentliche Einstellungen hat, dann versteht es sich selbst echt und unmittelbar in seinem Worumwillen, das heißt es liebt sich selbst und damit auch alle Anderen, die ihm in der Welt begegnen, sodass seine Einstellungen bzw. seine Übertragungen so achtsam sind, dass sie echt und unmittelbar sind und das Dasein keinerlei Täuschungen unterliegt.

Prozesshaftigkeit statt Zeitlichkeit Bearbeiten

Ab hier soll zur Zeitlichkeit von Heidegger immer auch die Räumlichkeit hinzugenommen werden und die Zeitlichkeit durch die Prozesshaftigkeit ersetzt werden. Bis zum Ende dieses Kapitels wird nun die Prozesshaftigkeit immer näher beleuchtet und mit Heideggers Gedanken über die Zeitlichkeit verglichen, die bisher schon behandelt worden sind.

Wenn wir nun etwas tiefer gehen als Heidegger und uns fragen, wodurch sich ein Phänomen denn zeigt, so stoßen wir auf die Wirkung, die das, was sich da zeigt, auf uns hat. Diese Wirkung aber ist etwas, was dieses einzelne sich Zeigende nicht allein hat, sondern nur im Zusammenhang mit allen anderen Phänomenen, die auf dieses sich Zeigende eine Wirkung haben bzw. mit denen sich eine Wechselwirkung ergibt. Ein bei normalem Tageslicht rot erscheinender Gegenstand sieht zum Beispiel in 40 m Wassertiefe eher grau aus, es sei denn er wird von einer Unterwasserlampe angestrahlt. Dieser Aspekt des Zusammenhangs des sich Zeigenden mit anderen Phänomenen betrifft die Überlagerung von verschiedenen Wirkungen und ist daher ein räumlicher. Weiterhin gibt es sich Zeigendes, das zu verschiedenen Zeiten verschiedene Wirkungen haben kann, entweder weil etwas anderes eine Zeitlang darauf eingewirkt und es dadurch verändert hat, oder weil es selbst von sich aus bestimmte Wirkungen mehr oder weniger entfaltet wie zum Beispiel Lebendiges. Insgesamt ist also der Kontext des betreffenden Phänomens, sei er räumlich oder zeitlich, genauso entscheidend für die Wirkung, die es auf uns hat, wie das sich Zeigende selbst.

Außerdem ist noch etwas Weiteres wichtig, nämlich wie wir die Wirkung, die das betreffende Phänomen, welches sich uns in einem bestimmten Zusammenhang zeigt, empfinden. In welcher Weise ändert diese Wirkung unsere Befindlichkeit? Und damit nicht genug, denn da es uns als Dasein um unsere Existenz geht und auch um unsere Seinsweise, insgesamt also um das Dass und Wie unseres Seins, werden wir als dessen Ausdruck bestimmte Möglichkeiten unseres Seinkönnens in Abhängigkeit von unserer Befindlichkeit, also unserem Bedingt-Sein, ergreifen, d.h. das Gesamtgeschehen entsprechend auslegen und unser begriffenes befindliches Verstehen so ausdrücken, dass nach Möglichkeit unsere Erwartungen erfüllt werden, worumwillen wir existieren. Das also, was wir als wahr von etwas sich Zeigendem nehmen, hängt nicht nur von dessen eigentlicher Wechselwirkung im Zusammenhang des ganzen Kontextes ab, sondern letztendlich auch vom Sein unseres Daseins, um das es uns geht. Die einzelnen Etappen des Wahr-Nehmens zeigen sich also in solcher Reihenfolge: als erstes zeigt sich etwas, hat im Zusammenhang eines bestimmten Kontextes eine bestimmte Wechselwirkung mit uns, die als zweites unsere Befindlichkeit verändert, so dass wir als drittes aufgrund des Worumwillens unserer Existenz diese Veränderung unserer Befindlichkeit annehmen und uns verstehen auf bestimmte Möglichkeiten unseres Seinkönnens, was wir dann als viertes aufgrund von Befindlichkeit und Verständnis zusammenhängend als etwas begreifen, was wir brauchen und wollen, und dann als fünftes uns dazu entschließen, dies ausdrücklich auszulegen. Das verstehende Aufnehmen der entsprechenden Konsequenzen dieses Ausdrucks, zum Beispiel ob erwartet oder unerwartet, ist das Aneignen des Verstandenen als Bestätigung oder Enttäuschung, als erwartet oder überraschend und rundet als sechstes das Wahr-Nehmen ab. Wenn wir beim Wahr-Nehmen zur Wahrheit kommen wollen, uns sozusagen an deren Spur heften, also in diesem Sinne wahrhaftig sein wollen, so stellt sich unsere Wahrhaftigkeit oder ihr Gegenteil auf der ersten Stufe dieses Prozesses des Wahr-Nehmens als sich Offenhalten oder sich Zurückziehen gegenüber dem Zeigen eines Phänomens dar (physische Ebene bei Fonagy et al., 2008, Seite 212), auf der zweiten Stufe als Annehmen und Zulassen von unseren Empfindungen und denen Anderer oder sich davor Verschließen (soziale Ebene), auf der dritten Stufe als In-Betracht-Ziehen von angemessenem oder nicht angemessenem Seinkönnen (teleologische Ebene), auf der vierten Stufe als achtsames oder unachtsames Übertragen, Begreifen bzw. Deuten von etwas möglich Gewesenem als ein möglicherweise angemessenes Seinkönnen, um in der Gegenwart etwas zu erreichen, was wir brauchen und wollen (intentionale Ebene), auf der fünften Stufe als Entschlossenheit oder Unentschlossenheit, das Begriffene ausdrücklich auszulegen oder auslegend auszudrücken auf eine bestimmte Art und Weise, und auf der sechsten Stufe als Bereitschaft, sich neu zu entschließen, falls die bisherige Entschlossenheit sich als auf einer Täuschung beruhend herausgestellt hat, oder Versessenheit, Verleugnung bzw. Abkehr von uns selbst. Die fünfte und sechste Stufe fasst Heidegger auch als die eigentliche Entschlossenheit zusammen (repräsentationale Ebene). Damit ist diese letzte Stufe der Wahrhaftigkeit, die nur daseinsmäßig Seiende erreichen können, die entscheidende, die zur Wahrheit und damit zur Liebe führt, da sie zur Einhaltung der Wahrhaftigkeit auf allen anderen Stufen anhält. So betrachtet ist die Wahrhaftigkeit auch nichts anderes als das ständige Sich-Bemühen um Eigentlichkeit bzw. um Kongruenz zwischen unserer Weltlichkeit und den gemachten Erfahrungen in der Begegnung mit der Welt. Durch Wahrhaftigkeit entwickelt sich die Beziehung des Daseins zu seinem Sein und zum Sein überhaupt immer mehr dahingehend, dass das Dasein das Sein immer echter und unmittelbarer versteht. Dadurch wird diese Beziehung immer mehr zum wahren menschlichen Leben, wobei sich das Dasein immer mehr zur Liebe hin entwickelt.

Wenn wir diese fünf Ebenen von Fonagy et al. anhand der fünf Grundbefindlichkeiten von Freude, Wut, Angst, Leid und Abscheu analysieren und der jeweiligen Ebene eine primäre Befindlichkeit zuordnen wollen, so scheint mir zu der physischen Ebene am besten die Freude zu passen, die ein kleines Kind beispielsweise empfindet, wenn es sich als physischer Akteur erlebt, der in seiner angrenzenden Umwelt immer mehr Veränderungen bewirken kann. Sobald dann aber etwas zurückwirkt und es selbst beeinflusst, was von ihm selbst ungewollt war, kann seine Befindlichkeit in Wut umschlagen, so dass mir diese Befindlichkeit als primäre für die soziale Ebene am geeignetsten vorkommt. Wenn es erkennt, dass Handlungen sowohl zu positiven, als auch zu negativen Ergebnissen führen können, wird die Angst am wichtigsten, da sie zu entsprechend intelligentem Verhalten führt, so dass ich darin die primäre Befindlichkeit für die teleologische Ebene sehe. Sobald das Kind auf der intentionalen Ebene Wünsche erkennen kann, kann es auch die Getrenntheit vom Gewünschten wahrnehmen und damit Leid empfinden, so dass dies die primäre Befindlichkeit für die intentionale Ebene ist. Sobald es sich dann eingestehen muss, dass es seinen Entschlüssen und Vorsätzen nicht treu geblieben ist, wird es sich dafür schämen und Abscheu empfinden, so dass diese Befindlichkeit die primäre für die repräsentationale Ebene ist. Abscheu und dessen uneigentlicher Modus des Ekels sind übrigens Befindlichkeiten, die nur daseinsmäßig Seiende empfinden können. Entsprechend können auch nur diese ihre Seinsweise wählen, was aber im äußeren Verhalten dieser Seienden nicht direkt wahrnehmbar ist. Die physische Ebene entspricht also der Prozesshaftigkeit allgemein und dem Entwicklungsprozess (im Griechischen bedeutet Physis nicht nur Beschaffenheit, sondern bei Heraklit und Empedokles auch Eigenwüchsigkeit, siehe Buchheim, 1994, Seite 93 und 152), worüber sich ein Kind primär freut, die soziale Ebene der prozesshaften Ekstase der Gewesenheit, dem „Wovor oder Woran seiner selbst“, woran das Dasein ausgeliefert ist und worüber es zunächst wütend ist, die teleologische Ebene der Ekstase der Zukunft, dem „Umwillen seiner selbst“, worumwillen es zunächst ängstlich ist, die intentionale Ebene der Ekstase der Gegenwart, dem „Um-zu seiner begriffenen Bedürfnisse und Wünsche selbst“, wegen deren Nicht-Erfüllung es zunächst traurig ist, und die repräsentationale Ebene der Ekstase der Räumlichkeit, dem „Dass-und-Wie seiner selbst“, wobei es sich wegen seiner Unzulänglichkeiten, seinem Schuldigseinkönnen, zunächst schämt und sich verabscheut. Zu werden wie die Kinder, bedeutet daher auch, sich wieder über den eigenen Entwicklungsprozess, das eigene menschliche Leben und die eigene Beziehung zum Sein überhaupt zu freuen. Der Gründer der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb, Dr. Walter Lechler, pflegte immer zu sagen: „Wir sind von unserer Biologie her darauf angelegt, in der Freude zu leben. Da dies aber nicht immer möglich ist, sollten wir wenigstens in der Vorfreude leben.“ Da Heidegger sich bei seiner Analyse hauptsächlich mit der Angst beschäftigt, könnte ein weiterer Untertitel dieser Arbeit auch lauten: „Warum es nicht nur um Angst, sondern auch um Wut, Leid, Abscheu und vor allem um Freude geht.“

Kommen wir nun zu den Folgerungen und Erweiterungen dieser Ausführungen, um die Verträglichkeit beider Definitionen der Prozesshaftigkeit zu zeigen: Die Prozesshaftigkeit eines Seienden ist die bedingte Möglichkeit des Heraustretens von aufeinander bezogenen Ereignissen dieses Seienden in einer bestimmten oder unbestimmten, wählbaren oder nicht wählbaren Abfolge, bei denen dieses Seiende in seinem Sein einerseits jeweils verändert wird, andererseits aber trotzdem ständig es selbst ist und bleibt. Das Gesamt aller Ereignisse eines Prozesses, die in der Entfaltung dieses Prozesses auf ein bestimmtes Ereignis dieses Seienden folgen können, die also auf das Seiende des Prozesses nach diesem Ereignis als Möglichkeit noch zukommen können, soll Zukunft dieses Ereignisses genannt werden, und das Gesamt aller Ereignisse dieses Prozesses, von denen im Ablauf dieses Prozesses dieses bestimmte Ereignis dieses Seienden her kommen kann, die also vor diesem Ereignis gewesen sind, soll Gewesenheit oder Herkunft dieses Ereignisses genannt werden. Das Heraustreten des Ereignisses selbst, welches gegenüber seiner Zukunft vor und gegenüber seiner Gewesenheit bzw. Herkunft nach deren Heraustreten heraustritt, soll Gegenwart oder Ankunft dieses Ereignisses heißen. Die Prozesshaftigkeit eines Seienden offenbart sich somit als Ekstatikon, als bedingte Möglichkeit des Heraustretens, mit seinen bisherigen Ekstasen oder Entrückungen Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart bzw. Herkunft und Ankunft.

Die Veränderungsereignisse sind noch auf eine andere Art als zeitlich aufeinander bezogen, sie wirken wechselseitig aufeinander ein, überlagern sich und treten so auf räumliche Art und Weise heraus, so dass sich dadurch die Ekstase der Räumlichkeit als Ekstase der Wechselwirkungen ergibt. So betrachtet ist das Vernachlässigen der Räumlichkeit die subjektivistische Verunreinigung von Heideggers „Sein und Zeit“, weil dadurch die Wechselwirkungen des In-der-Welt-Seins übersehen worden sind. In Kapitel 2 habe ich für daseinsmäßig Seiendes den Begriff der Wirksamkeit als mögliche Entfaltung einer Wirkung des betreffenden Seienden eingeführt. Je nachdem, ob und inwieweit das Dasein eine Wirkung selbst entfaltet, desto mehr oder weniger oder auch gar nicht lässt es sich ein und beeinflusst seinen Entwicklungsprozess. Es entfaltet somit eine mehr oder weniger große Räumlichkeit, in die das Dasein während seiner Entwicklung heraustritt bzw. entrückt ist. Dies beschreibt die vierte Ekstase, die ich Räumlichkeit genannt habe, weil das Dasein mit seinem Dass-und-Wie der Entfaltung, des Beeinflussens und des Sich-Einlassens seine Räumlichkeit selbst erschließt und entdeckt und mit diesem Dass-und-Wie selbst Akzente in seiner Entwicklung setzt und ihr Ausdruck gibt. Damit umfasst auch diese allgemeinere Definition der Prozesshaftigkeit des Daseins nicht nur seine Zeitlichkeit sondern auch seine Räumlichkeit.

Wenn Zeit sich als Intervall zwischen Ereignissen und Raum sich als Reichweite von Wirkungen bestimmt, dann hat der Raum drei Dimensionen, die Räumlichkeit aber nur eine Ekstase, während die Zeit eine Dimension, die Zeitlichkeit aber drei Ekstasen hat. Beim berechnenden Denken benutzt das Dasein drei Dimensionen für den Raum und eine für die Zeit, während es beim besinnlichen Denken, also dem befindlichen Verstehen, in drei Ekstasen der Zeitlichkeit und in eine der Räumlichkeit entrückt wird. Nichtdaseinsmäßig Seiendes hat einfach seine Wirkungen, woraus sich ebenfalls eine Räumlichkeit ergibt, nämlich seine Wechselwirkung mit der Ergriffenheit des Daseins von diesem Seienden. Solange das Dasein auf dieses Seiende konzentriert, also von ihm ergriffen, ist, ist dessen Zeitlichkeit die gerade definierte Zeit als Intervall zwischen Ereignissen und dessen Räumlichkeit der Raum als Reichweite von Wirkungen. Dies ist eine ganz andere Art der Räumlichkeit wie beim Dasein und sie ist vom Dasein abhängig, da es ja die Wirkungen dieses Seienden entdecken können muss. Der Unterschied liegt darin begründet, dass das Dasein seine gesamte eigene Entwicklung beeinflussen kann, während der gesamte Prozess eines nichtdaseinsmäßig Seienden nicht direkt von dem betreffenden Seienden selbst beeinflusst werden kann. Damit ein Seiendes seinen Gesamtprozess direkt beeinflussen kann, muss es ihm um sein gesamtes eigenes Sein gehen, es muss also daseinsmäßig sein. Bei Lebendigem, also Tieren und Pflanzen, ist es vermutlich so, dass es solchem Seienden jeweils nur um Teilprozesse oder Episoden seines gesamten Seins geht, aber niemals um seinen Gesamtprozess. Fonagy et al. (2008, Seite 252) berichten von Ergebnissen, dass es erst Kindern ab einem Alter von 4-5 Jahren möglich ist, ein autobiografisches Selbst zu entwickeln, also mehr als ihr gegenwärtiges eigenes Sein zu betrachten. Von Schimpansen aber weiß man, dass ihre Entwicklung auf der Stufe eines dreijährigen Kindes etwa stehen bleibt. Bei gewissen Teilprozessen von Lebendigem kann es daher mit dem Dasein zu einer wechselseitigen Ergriffenheit kommen, zum Beispiel wenn ein Hund sein Frauchen oder Herrchen begrüßt und beide sich darüber freuen.

Wie ist das nun mit Anderen in einer Gemeinschaft? Solange das Dasein Anderen im Handwerklichen begegnet, bewegen sich alle in Raum und Zeit, beides jeweils gemeinsam verabredet und damit öffentlich. Im Sozialen, wenn das Dasein Anderen empathisch, also sich in sie hineinversetzend, begegnet, spielt die Prozesshaftigkeit als Entwicklungsmöglichkeit die primäre Rolle.

Um das eigentliche Ganzsein des Daseins hinsichtlich der Einheit seines gegliederten Strukturganzen auch aus dieser Definition der Prozesshaftigkeit zu bekommen, „holen“ wir es aus der Prozesshaftigkeit, der wiederum schon eine Idee des Selbst zu Grunde liegt, da der Prozess eines Seienden eine Veränderung dieses Seienden ist, bei dem dieses Seiende eigentlich ständig es selbst bleibt. Das Phänomen der Selbstheit und der eigentlichen Ständigkeit des Selbst ist schon durch die erste Definition der Prozesshaftigkeit geklärt. Dieser Sinn macht ursprünglich (also ganz und eigentlich) das Sein des Bedingtseins und des Seinkönnens aus. Das sich echt und unmittelbar in seinem Worumwillen verstehende Dasein, also das sich liebende Dasein, gibt den Seinssinn des Daseins und damit der Sorge. Um es vorwegzunehmen: Der Entwicklungsprozess des Daseins zur Liebe bedingt und ermöglicht das eigentliche Sein des Daseins und damit dessen faktische Existenz, da er die Spannung zwischen Faktizität und Existenzialität auflöst. Je echter und eigentlicher das Dasein seine Existenz versteht, also je liebender das Dasein ist, desto beständiger die Standfestigkeit des Selbst und desto größer seine Hingabebereitschaft (siehe unten).

Wir haben also bei beiden Definitionen der Prozesshaftigkeit in Bezug auf daseinsmäßig Seiendes dieselben vier Ekstasen Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart und Räumlichkeit (bzw. Zukunft, Herkunft, Ankunft und Auskunft). Da alles Seiende in seinem Sein endlich ist, ist es immer prozesshaft, sobald sein Sein vom Dasein entdeckt ist, denn wenn es dem Dasein begegnet, ändert sich stets der Charakter der tatsächlichen oder faktischen Wechselwirkungen dieses Seienden, je nach dem, ob es daseinsmäßig ist oder nicht, sodass wir hier schon ein Ereignis haben. Dabei möchte ich zwei Arten von Prozessen unterscheiden: jeder Prozess eines daseinsmäßig Seienden, also ein Prozess eines Seienden, dem es um seine Existenz, also um seinen Gesamtprozess geht, soll Entwicklung oder Entwicklungsprozess heißen, und der Prozess eines nichtdaseinsmäßig Seienden soll Vorgang genannt werden. Das Dasein mit seiner Sorge ist also immer prozesshaft, und die eigentliche Einheit der Sorgestruktur und damit der eigentliche Sinn der Sorge und des Seins des Daseins, seiner Existenz, ist Entwicklung, da wir gezeigt haben, dass die Prozesshaftigkeit eine hinreichende Bedingung ist für die Ermöglichung des eigentlichen Ganzseins des Daseins hinsichtlich der Einheit seines gegliederten Strukturganzen. Jede Entwicklung hat ihre Richtung, die sich aus dem Woher und dem Woraufhin ergibt. Die Entwicklung eines daseinsmäßig Seienden wird von diesem Seienden selbst beeinflusst, indem es die Möglichkeiten seines Seinkönnens entsprechend aktiv auswählt, sodass bestimmte Veränderungen sich ereignen und andere nicht. Mit der Prozesshaftigkeit, die die Zeitlichkeit umfasst, lässt sich auch sehr einfach der vulgäre Zeitbegriff herleiten, der aus dem Vorgang der Erdbewegung um sich selbst und um die Sonne gewonnen wurde, dann aber von diesem Vorgang abgekoppelt und durch Zeitmessung abstrahiert wurde. Dadurch wird auch deutlich, weswegen sich Heidegger bei dem Begriff der Zeitlichkeit gegen den vulgären Zeitbegriff so wehren muss, denn der vulgäre Zeitbegriff stammt aus einem Vorgang, das heißt er hat ursprünglich mit nichtdaseinsmäßig Seiendem zu tun und ist damit auf das Dasein gar nicht anwendbar. Den vulgären abstrakten Zeitbegriff hat das Dasein gegeben, er ist nicht ursprünglich in der Welt vorhanden, sondern vom Dasein durch Messung entworfen und in seiner Weltlichkeit integriert. Der vulgäre Zeitbegriff, der in Kapitel 12 genauer analysiert wird, hat nur dadurch seine Bedeutung. Er ist zum Beispiel in der Arbeitswelt wichtig, damit die Vorgänge dort aufeinander abgestimmt werden können.

Das Wesen der Prozesshaftigkeit ist Prozessentfaltung, die Umsetzung eines Prozesses in der Einheit seiner Ekstasen. Logischerweise ist Prozesshaftigkeit nichts Seiendes, aber es gibt Prozesshaftigkeit. Die Dauer des Gesamtprozesses, also des Seins eines Seienden bzw. Anfang und Ende dieses Prozesses bestimmen sich aus dem ersten und dem letzten Ereignis, in dem dieses Seiende existiert bzw. vorhanden ist. Zeit als Dauer bestimmt sich ja als Intervall zwischen Ereignissen. Da alles Seiende in seinem Sein endlich ist, ist auch jeder Prozess endlich. Weil auch der vulgäre Zeitbegriff auf einem endlichen Prozess beruht, denn aus der Physik wissen wir, dass unser Sonnensystem einen Anfang hatte und definitiv auch ein Ende haben wird, ist das allgemeine Verständnis des vulgären Zeitbegriffs als endlose Jetzt-Folge erst in seiner Loslösung von diesem Vorgang angemessen. Dadurch wird aber die ursprüngliche Prozesshaftigkeit nivelliert, das heißt es gibt keine Ekstasen in dem Sinne, dass zum Beispiel der Anfang oder das Ende unseres Sonnensystems als besonderes Ereignis der Gewesenheit oder der Zukunft heraustritt.

Mit den Ekstasen, also den Entrückungen in Ereignisse oder dem Heraustreten von Ereignissen, Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart und Räumlichkeit hat es auch noch folgende Bewandtnis: im Sein des Daseins, also in seinem Gesamtprozess ist das Dasein jeweils von etwas ergriffen, von sich selbst oder von etwas innerweltlich Begegnendem, und interessiert sich dafür, um die Situation, die Erschlossenheit seines Da, und das, was es erwarten kann, befindlich zu verstehen. Damit tritt die Räumlichkeit heraus und das Dasein wird in sie entrückt, weil Ergriffenheit ontologische Nähe und Sich-Einlassen bedeutet, und die Situation als erschlossenes Da mit der daseinsmäßigen Räumlichkeit zu tun hat. Dabei bringt sich das Dasein zurück in die Gewesenheit, so dass die Ereignisse der Gewesenheit heraustreten und das Dasein entrückt ist in frühere Veränderungen, kommt dann „von hinten“ her und macht sich seine Bedingungen deutlich (Vor-Habe), läuft vor in die Zukunft, sodass mögliche zukünftige Ereignisse heraustreten und das Dasein in mögliche Veränderungen entrückt ist, kommt „von vorne“ auf sich zu und zeigt ihm seine Möglichkeiten auf (Vor-Sicht), hält sich das Dasein in der Vor-Habe und Vor-Sicht, sodass die augenblickliche Veränderung heraustritt und das Dasein in sie entrückt ist und die augenblickliche Situation in der vorgreifenden Gliederung der Verständlichkeit, also in der Rede, begreift (Vor-Griff), und tritt die Räumlichkeit heraus und entrückt das Dasein dahin, dass es nur die Wahl hat, „wie“ es sich einlassen will beim Auslegen dieses Vor-Griffs, das heißt, „wie“ ausdrücklich es die Rede von der augenblicklichen Situation in die verstehende Sicht bringen und sich aneignen will im (hermeneutischen Zirkel-) Prozess. Das Dasein lässt sich in jedem Fall ein, es kann sich nicht nicht-einlassen, außer es existiert nicht. Somit hat es nur die Wahl, wie es sich einlässt. Daher heißt das Schema der Räumlichkeit „Dass-und-Wie“ und nicht „Ob-und-Wie“. In der Räumlichkeit ist das Dasein teils beeindruckt und ergriffen, teils selbst akzentuierend, also beeindruckend, und damit ausdrücklich, das heißt das entsprechende Moment des In-Seins ist die Auslegung der Rede, die Ausdrucksweise, das Wie des Ausdrucks. Hierin zeigt sich, wie ich später noch ausführen werde, der in der Ekstase der Räumlichkeit hervortretende Austausch in der Beziehung zwischen dem Dasein und dem Sein, und dort ist ja auch der Ort der Wahrheit, und nicht im Urteil, welches nur einen Teil des Austauschs ausmacht. So lässt sich der Zirkel des Verstehens prozesshaft darstellen und in den vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit analysieren. Bei einem Vorgang gibt es diese Art der Räumlichkeit nicht bzw. in eingeschränktem Maß nur für lebendig Seiendes in Bezug auf einzelne Teilprozesse oder Episoden seines gesamten Seins.

So wie die Rede in ihrer vorgreifenden Gliederung eine hermeneutische, also auslegende, Als-Struktur hat, so hat die Auslegung der Rede als Ausdrucksweise eine Dass-und-Wie-Struktur, die räumlich ist, wobei hier die daseinsmäßige Räumlichkeit gemeint ist. Die Auslegung entpuppt sich so als Ausdruck der ursprünglichen apriorischen Einbildungskraft, die ihre Richtung von der jeweiligen Ergriffenheit und Erwartung, also von der Sorge erhält. Die Einbildungskraft ist die Kraft, die nötig ist, um Faktizität und Existenzialität, Bedingtheit und Möglichkeit, Gewesenheit und Zukunft zusammenzuhalten, und die dadurch die Rede ermöglicht. Die Räumlichkeit der Auslegung der Rede wird auch in der Alltagssprache deutlich, wenn es heißt, jemand drücke sich lang und breit aus oder zu hoch, oder, was er sage, habe einen tieferen Sinn. Die ausgedrückte Ergriffenheit von etwas Seiendem, die in der ausgedrückten Erwartung als Auslegung der interpretierend gegliederten Rede von diesem Seienden enthalten ist, gibt an, wie nah oder fern sich das Dasein diesem Seienden gegenüber fühlt bzw. wie nah oder fern bezüglich der daseinsmäßigen Räumlichkeit es dem Dasein ist.

Die Prozesshaftigkeit der eigentlichen Sorge wird auch dadurch ersichtlich, dass der Gewissensruf und das Hören des Daseins auf ihn einen Entwicklungsteilprozess auslöst, die Umkehr (Sinnesänderung, meines Erachtens das entscheidende Veränderungsereignis) als Rückkehr (Veränderungsereignis der Wiedergutmachung und des Verzeihens), Vorkehr (Veränderungsereignis der Befreiung von der Wiederkehr einer ähnlichen Täuschung und von der Wiederkehr der Abkehr von sich selbst bzw. der ständige Vorsatz des Daseins, sich nicht von ihm selbst abzukehren) und Einkehr (Veränderungsereignis des Begreifens der Täuschung). In der eigentlichen Umsetzung des Erkennens und Begreifens der Täuschung erfolgt dann die Umkehr, die Sinnesänderung, deren Eindruck auf das Sein sich bewähren muss. Diese Beschreibung dieses Entwicklungsteilprozesses eigentlichen Verstehens in der eigentlichen Sorge als Entschlossenheit lässt sich auch als hermeneutischer Zirkelprozess interpretieren: wenn das Dasein auf den Gewissensruf hört und sich entschließt, sich nicht seinem Schuldigseinkönnen bzw. seinen Unzulänglichkeiten zu überlassen, weil es das verabscheut (Bereitschaft, Abscheu anzunehmen), bringt es sein Sein in der sich zurückbringenden Entschlossenheit bzw. der Wiedergutmachungsbereitschaft (Bereitschaft, Wut anzunehmen) in die Vor-Habe, in der vorlaufenden Entschlossenheit bzw. der Reinerhaltungsbereitschaft (Bereitschaft, Angst anzunehmen) in die Vor-Sicht. Entschlossen begreift es dann gehalten in Vor-Habe und Vor-Sicht die augenblickliche Situation in der gegliederten Rede von der Einkehr bzw. in der Reuebereitschaft (Bereitschaft, Leid anzunehmen) und erhält so den Vor-Griff. Im weiteren Entwicklungsprozess muss sich dann das durch die Auslegung des Vor-Griffs gewonnene neue Verständnis, die ausdrückliche Sinnesänderung (Räumlichkeit), die Umkehr, entsprechend bewähren und als Vorkehr mit neu gewonnener Habe, Sicht und neugewonnenem Griff die weitere Entwicklung des Daseins schützen und fördern. Die Zukunft des Daseins spielt nach Heidegger insofern eine besondere Rolle, als dass sie der Gegenwart und der Gewesenheit erst ihre Bedeutung gibt (siehe oben die Geschichte mit dem Bauern und dem Pferd oder der Ausspruch: „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.“). Daher verleiht erst die Zukunft dem Sein des Daseins eine Richtung bzw. einen Sinn. Genau genommen gilt dies nur für die eigentliche Zukunft, die durch das entschlossene Vorlaufen bis zum Sein im Tode bestimmt ist. Die uneigentliche Zukunft, wenn das Dasein in der Täuschung verharrt und sich so von ihm selbst abkehrt, hat weder echten Sinn noch echte Richtung und kann daher der Gegenwart oder der Gewesenheit keine echte Bedeutung geben.

Bis jetzt habe ich Heideggers Einstellung zum Vorrang der eigentlichen Zukunft dargestellt. Wenn wir uns nun daran erinnern, dass die eigentliche Zukunft gekennzeichnet ist durch die vorlaufende Entschlossenheit, die wiederum im Hören-Wollen des Gewissensrufes bzw. in der Abscheu vor dem Sich-gehen-lassen gründet, so müssen wir den Gewissensruf einmal näher betrachten. Das Hören des Gewissensrufes wird durch die Bereitschaft, also durch die entsprechende Einlassung des Daseins, ihn hören zu wollen, zum eigentlichen Ereignis, das heißt zum Ereignis, in welchem sich das Dasein in seinem Sein verändert und bereit ist, eigentlich zu werden, indem es die Abscheu gegenüber einem Festhalten an der Täuschung, es brauche nicht auf den Gewissensruf zu hören, echt und unmittelbar befindlich versteht. Als eigentliches Ereignis durch das Hören-Wollen gründet das Hören des Gewissensrufes primär in der eigentlichen Räumlichkeit (das ist die Entschlossenheit), in die das Dasein so entrückt ist. Hören-Wollen ist also primär räumlich, genauso wie die Befindlichkeit der Abscheu das Dasein primär in die Ekstase der Räumlichkeit entrückt. Das Hören-Wollen ist die Bereitschaft des Daseins zur Umkehr, es ist eine Bereitschaft zur Hingabe seines Seins an das, woraus der Gewissensruf erfolgt, also an sein eigentlichstes Sein bzw. an das Sein überhaupt. Mit dieser Hingabebereitschaft entwickelt das Dasein sich immer mehr zur Selbstliebe und damit auch zur Liebe hin. Mit dem Hören-Wollen des Gewissensrufes ist das Dasein in die eigentliche Räumlichkeit entrückt und hat sein räumliches, also entfaltetes In-der-Welt-sein dahin gebracht, verstehen zu wollen, eigentlich und echt sein zu wollen, lieben lernen zu wollen. Wenn dann das Dasein sich entschlossen zurückbringt auf den Anfang, dann wird es in die eigentliche Gewesenheit entrückt und hat mit der Übernahme seiner Verantwortung für seine Geworfenheit und für sein In-der-Welt-sein die nötige Vor-Habe, um umkehren zu können. Wenn nun das Dasein entschlossen vorläuft zum Ende, dann wird es in die eigentliche Zukunft entrückt und hat die nötige Vor-Sicht für die Umkehr, so dass es seine augenblickliche Situation in die eigentliche Gegenwart entrückt durch das mit der Rede entschlossene Sich-Halten in der Vor-Habe und Vor-Sicht, also durch die Einkehr, derart als Vor-Griff begreifen kann, dass es seine Bedeutung und seinen Sinn in seiner Räumlichkeit erkennen und in einer ausdrücklichen Ausgelegtheit eine Sinnesänderung vollziehen und damit umkehren kann. In der eigentlichen Räumlichkeit, welche die anderen drei Ekstasen der Prozesshaftigkeit bündelt, vollzieht das Dasein also die Umkehr, das heißt, die Auslegung des Vor-Griffs im hermeneutischen Zirkelprozess. Diese Umkehr muss sich in der weiteren Entwicklung bewähren, was dann weitere Zirkelprozesse auslösen kann, je nachdem, ob die Umkehr sich bewährt oder nicht. Ich frage nun, was hat hier den Vorrang, die eigentliche Gewesenheit, die eigentliche Zukunft, die eigentliche Gegenwart oder die eigentliche Räumlichkeit, also das Sich-Einlassen auf die und das ausdrückliche Auslegen der Situation? Was hat mehr Bedeutung für die Entwicklung zur Eigentlichkeit und zur Liebe, die Entschlossenheit, die Vor-Habe, die Vor-Sicht, der Vor-Griff oder die Auslegung des Vor-Griffs im hermeneutischen Zirkelprozess? Da die Räumlichkeit in jedem dieser Schritte als Entschlossenheit und Sich-Einlassen und zum Schluss als konsequente ausdrückliche Auslegung die vorrangige Rolle spielt, damit es auch wirklich zur Umkehr kommt, hat meines Erachtens die eigentliche Räumlichkeit als entschlossenes Sich-Einlassen den Vorrang. Dieser Vorrang wird meines Erachtens auch in dem bekannten Goethe-Zitat am Ende von Faust II bestätigt: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Auf diesem Hintergrund lässt sich auch das Zitat von Meister Eckart (siehe oben) alternativ interpretieren: Wenn Leid mit einem Pferd assoziiert wird, hat dies eine leibliche und damit räumliche Komponente. Reittiere wie Pferd oder Esel sind nämlich häufig Symbole für das Leibliche. Wenn zum Beispiel in der Bibel Jesus auf einem Esel in Jerusalem einreitet, dann wird dies meist so interpretiert, dass Jesus in einem menschlichen Körper (Esel) in die Welt (Jerusalem) gekommen ist. In der Symbolik von Leid als Pferd treten also die Ekstasen der Gegenwart und der Räumlichkeit hervor, das Dasein wird in die augenblickliche Entschlossenheit entrückt und gelangt so zur Vollkommenheit, zur Liebe.

Mit der vierten Ekstase der Prozesshaftigkeit, der Räumlichkeit, der als Moment des In-Seins die Auslegung der Rede entspricht, verleiht das Dasein seinem Verständnis von sich selbst und der Welt Ausdruck, das heißt es stellt zwischen sich und die tatsächliche Welt seine Weltlichkeit, also seinen Entwurf und sein Entwerfen von der Welt, und zwischen sich selbst und der Entfaltung seiner Wirkungen, genauer seiner Wechselwirkungen mit der Welt, seinen Selbstentwurf, der aus der oben schon erwähnten Struktur aller seiner Seinsmöglichkeiten besteht, also seiner Selbstbedeutsamkeit, und ein entsprechendes Sich-selbst-Entwerfen. Was sind denn die Seinsmöglichkeiten dieser Selbststruktur, das heißt, was ist ihr Wesen? Das Dasein entwirft ja nicht ständig völlig neue Seinsmöglichkeiten, sondern es hat aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen sich eine Art Fundus von Seinsmöglichkeiten sozusagen angeeignet, und nur, wenn es dort nichts Passendes findet, entwirft es eine neue Seinsmöglichkeit, wobei es dazu auf der ontisch-existenziellen Ebene auch zu Lernen und Üben kommen kann.

Es sei hier noch einmal ausdrücklich betont, dass die Selbstbedeutsamkeit als Struktur des Selbstentwurfs des Daseins je nach der tatsächlichen Situation, also dem jeweils erschlossenen Da des Daseins, faktisch sehr unterschiedliche Modi annehmen kann. Je nach Modus der Befindlichkeit des Daseins in einer Situation ist das Verstehen in einem entsprechenden Modus und damit auch die Selbstbedeutsamkeit. Die verschiedenen Elemente der Selbstbedeutsamkeit sind in einer bestimmten Situation aufgrund der Ergriffenheit und Erwartung des Daseins, also der Sorge, bildlich gesprochen „mit Energie besetzt“, das heißt sie erscheinen dem Dasein aufgrund seiner Sorge als besser oder schlechter geeignet, dem Dasein dazu zu verhelfen, dass seine Erwartung erfüllt wird. Die Elemente des Selbstentwurfs werden also in Abhängigkeit von Situation und Sorge bewertet, und darauf beruht diese dynamische Struktur der Selbstbedeutsamkeit. Je weniger die Elemente des Selbstentwurfs in Abhängigkeit von der Situation bewertet werden, das heißt je weniger sich der Modus der Sorge in Abhängigkeit von der Situation ändert, desto starrer und weniger dynamisch ist die Struktur bzw. Hierarchie der Selbstbedeutsamkeit. Je unflexibler die Struktur der Selbstbedeutsamkeit ist, desto uneigentlicher ist das Verstehen des Daseins. Wenn das Dasein echt und eigentlich verstehen kann, dann ist die Struktur der Selbstbedeutsamkeit auf der ontologischen Ebene so flexibel, dass man dort kaum noch von Struktur reden kann, so dynamisch ist sie. Am Anfang einer Entwicklung ist das auch so. Deshalb ist die biblische Aufforderung, so zu werden wie die Kinder, die Aufforderung, seine Selbstbedeutsamkeit so dynamisch wie möglich zu halten und damit eigentlich zu verstehen.

Selbstbewusstheit Bearbeiten

Es gibt jedoch noch eine weitere Struktur der Seinsmöglichkeiten des Daseins, dieses Mal unabhängig von der jeweiligen Situation, die ich Selbstbewusstheit nennen möchte: das Dasein kreiert jeweils bestimmte Seinsmöglichkeiten auf ein und derselben Hierarchieebene und reichert sie dann im Laufe seines Entwicklungsprozesses jeweils mit dazu passenden Unter-Seinsmöglichkeiten an, die wiederum mit Unter-Seinsmöglichkeiten angereichert werden usw., sodass eine relativ komplexe Struktur seines Selbstentwurfs entsteht, die dem Dasein aber eine bessere Übersicht und damit schnellere Entscheidungen ermöglicht, wie es auf der ontischen Ebene seinen Vollzug gestalten möchte und kann. Was bedeutet hier passend? Passend bedeutet hier, dass eine untere Seinsmöglichkeit eine Differenzierung der oberen Seinsmöglichkeit ist. Neben dieser unteren Seinsmöglichkeit gibt es auf der gleichen Hierarchieebene noch alternative Differenzierungen. Je weiter oben eine Seinsmöglichkeit in einem Strang dieser Hierarchie steht, desto früher hat das Dasein sie in seinem Entwicklungsprozess entworfen. Wenn das Dasein ein sehr einschneidendes Erlebnis macht, das heißt, wenn sich eine entsprechend große und eindrückliche Veränderung ereignet, z.B. ein traumatisches Ereignis, dann entwirft es in der Folge eine Seinsmöglichkeit, die entsprechend der Schwere der Belastung des Daseins, eine höhere Position in der Hierarchie erhält, bei einem echten Trauma wahrscheinlich auf der höchsten Stufe. Eine neu entworfene Seinsmöglichkeit erhält so ihren Platz auf einer entsprechenden Stufe der Hierarchie je nach Eindrücklichkeit der vorangegangenen Veränderung und dort unter eine Seinsmöglichkeit, von der sie eine Differenzierung ist, und falls so eine Seinsmöglichkeit nicht vorhanden ist, dann gibt es eben dafür keine übergeordnete Seinsmöglichkeit. Anschließend können dann darunter neue Differenzierungen dieser Seinsmöglichkeit als Unter-Seinsmöglichkeiten entworfen werden.

Es gibt daher zwei Ordnungskriterien, durch die die Struktur der Selbstbewusstheit entsteht: das eine ist, in welchem Entwicklungsstadium ein Seinkönnen entworfen wurde, und das andere, wie befindlich schwerwiegend, wie stark aufregend, das den Entwurf auslösende Ereignis gewesen ist. Nun ist ja jedes Seinkönnen durch befindliches Verstehen entworfen worden, das heißt, mit jedem Seinkönnen ist eine bestimmte Befindlichkeit bzw. auf der ontischen Ebene eine Gestimmtheit verknüpft. Je nachdem, wie stark die Ergriffenheit des Daseins durch das den Entwurf auslösende Ereignis gewesen ist, so stark ist die Erregung der Gestimmtheit, die dementsprechend entworfenen Seinkönnen jeweils entspricht. In früheren Entwicklungsstadien des Daseins ist seine Ergriffenheit stärker als in späteren und bei schwerwiegenderen Ereignissen ebenfalls stärker als bei anderen. Je höher in der Hierarchie ein Seinkönnen sich etabliert hat, desto stärker ist dieser affektive Anteil. Wenn in einer bestimmten Situation das Dasein einen bestimmten Grad von Erregtheit aufweist, dann sucht es zuerst auf der entsprechenden Hierarchieebene der Selbstbewusstheit nach einer Möglichkeit des Seinkönnens. Je größer der Grad der Erregtheit, also je höher die Hierarchieebene, desto weniger Möglichkeiten muss das Dasein durchsuchen und desto weniger ausgeprägt sind die Differenzierungen dieser Möglichkeiten. Dadurch kann das Dasein entsprechend schneller reagieren, wenn auch weniger differenziert, also schablonenhafter, je größer seine Erregtheit ist, so dass diese Strategie des Daseins sich als äußerst sinnvoll erweist und faktisch auch so angetroffen wird. Ich möchte dies die Dynamik der Selbstbewusstheit nennen. Je echter und eigentlicher das Dasein sich versteht, also je mehr es sich selbst liebt, desto mehr ist dem Dasein seine Selbstbewusstheit klar und durchsichtig, da es in seiner Beziehung zum Sein immer mehr in der Wahrheit und im Einklang mit seinem eigensten Selbst ist. Anstelle der ursprünglichen Ergriffenheit und Erregtheit gestaltet dann die Liebe immer mehr die Selbstbewusstheit, und die Dynamik der Selbstbewusstheit ist immer mehr die Dynamik der Liebe, der sich das Dasein immer mehr hingibt.

Wenn man diese Betrachtungen weiter fortführt, so eröffnen sich zwei Wege: das eine ist die Verfolgung der dynamisch-ökonomischen Aspekte des Selbstentwurfs, die sich aus der Dynamik der Selbstbewusstheit ergeben, einem Kräftespiel, bei dem das Dasein nicht unbedingt grenzenlose Kräfte besitzt, also eine gewisse Ökonomie einhalten muss. Insofern beeinflusst die Selbstbewusstheit die Selbstbedeutsamkeit in verschiedenen Situationen entsprechend unterschiedlich. In manchen Situationen kann es sogar zu Konflikten in der Struktur der Selbstbedeutsamkeit kommen, sodass das Dasein sich schwer oder gar nicht entscheiden kann, welche Möglichkeit seines Seinkönnens es wählen soll. Das andere sind Aspekte der Entstehung des Selbstentwurfs vermittelt durch die Selbstbewusstheit, da die hierarchischen Schichten, das so Geschichtete des Selbstentwurfs des Daseins, wie bei einem senkrechten Schnitt in die Erde, der die Erdgeschichte enthüllt, Aufschlüsse über die Entwicklungsgeschichte des Daseins liefert. Es kann sich so beispielsweise eine Geschichte der Täuschungen und Enttäuschungen ergeben. Die Selbstbewusstheit lässt das Dasein also seine Bedingtheit, seine Unzulänglichkeiten und seine Geworfenheit immer besser befindlich verstehen und akzeptieren.

Das Kräftespiel tritt primär in den Ekstasen von Gegenwart, Zukunft und Räumlichkeit hervor, während die Ökonomie, das Haushalten mit den Kräften, also die Wahl, wie weit sich das Dasein einlassen will, kann und soll, je nachdem, wie sich die Kräfte des Daseins bisher entwickelt haben, primär das Dasein in die Ekstasen der Räumlichkeit, Gewesenheit und Gegenwart entrückt. Das Geschichtete bzw. die Geschichte der Selbstbewusstheit führt zur Ekstase der Gewesenheit. Die Ökonomie fordert zudem noch, dass eine möglichst große Harmonie innerhalb des Selbstentwurfs besteht. Die perfekte Harmonie wird dadurch erreicht, dass das Dasein das eigene Sein ständig echt und achtsam (eigentlich bzw. unmittelbar) versteht, also seine Entwicklung zur Liebe vollendet. Wenn dieses Entwicklungsziel erreicht ist, kann das Dasein sich bedingungslos der Dynamik seiner Selbstbewusstheit hingeben, das heißt der Dynamik seines eigensten Selbst bzw. seiner Liebe (siehe oben), denn dann herrscht in allen Situationen Harmonie unter den Elementen seines Selbstentwurfs und auf der ontischen Ebene eine verständige und harmonische Wahl der auf die Situation zugeschnittenen Struktur der Selbstbedeutsamkeit.

Angesichts eines Ereignisses hat das Dasein zuerst nur ein vorläufiges Verständnis der Bedeutsamkeit des Ereignisses und der entstandenen Situation, zu der es bestimmte Möglichkeiten seines Seinkönnens aus seinem Selbstentwurf auswählt. Das Dasein muss sich dann entscheiden, wie sehr es sich auf die Situation und entsprechend auf die Struktur seines Selbstentwurfs einlassen will. Dies ist eine Sache der Sorge und hängt von deren Momenten ab, insbesondere von der Größe der Erwartungen und von der Stärke der Ergriffenheit, also dem Erregungsniveau der Befindlichkeit des Daseins und der Intensität seines Interesses. Dabei kann es passieren, dass das Dasein bei seinem Selbstentwurf an eine Grenze stößt, an der die formalen Anzeigen – ein Seinkönnen ist ja eine formale Anzeige, durch die die ontische Ebene der konkreten Verhaltensweisen nur charakterisiert aber nicht definiert ist – keine befriedigende Auswahl der Möglichkeiten seines Seinkönnens liefern, sodass ein Seinkönnen, also eine entsprechend differenzierte Charakterisierung auf der entsprechenden Hierarchie-Ebene erst entworfen werden muss. Wenn das Dasein kein neues Seinkönnen entwirft, sprechen wir von einer Übertragung, denn es überträgt ja dann ein schon früher entworfenes Seinkönnen auf die jeweilige Situation. Je mehr sich das Dasein auf die Situation einlässt, desto achtsamer ist es, und desto genauer charakterisiert es sein Seinkönnen und versteht seine Befindlichkeit. Räumlichkeit als Sich-Einlassen ist daher umso eigentlicher, je achtsamer die Entschlossenheit oder je entschlossener die Achtsamkeit ist. Entsprechend ist die Übertragung in der Regel (aber nicht immer) umso uneigentlichere Räumlichkeit, je höher in der Hierarchie des Selbstbewusstseins das in der Übertragung gewählte Seinkönnen sich befindet. Je höher aber das Erregungsniveau des Daseins ist in einer Situation, desto weniger achtsam und desto weniger differenziert ist es in der Auswahl seines Seinkönnens. Je weniger stark ergriffen von der Welt bzw. je geringer die Erwartung an die Welt ist, desto engagierter und achtsamer kann das Dasein sich selbst gegenüber sein und daher achtsamer und eigentlicher ein Seinkönnen unmittelbarer und echter auf die Situation bezogen auswählen. Umgekehrt kann aber eine entsprechend starke Entschlossenheit einer derartigen Ergriffenheit und Erregtheit so entgegenwirken, dass das Dasein achtsamer wird.

Achtsamkeit Bearbeiten

Liegt Eigentlichkeit, das heißt eigentliches Verstehen, also nur dann vor, wenn das Dasein für jede Situation immer wieder neu ein Seinkönnen entwirft und so ganz auf Übertragung verzichtet? Wenn das Dasein ganz auf Übertragung verzichtet, wenn es also die Struktur seines Selbstentwurfs nicht nutzt, dann bedeutet dies ökonomisch betrachtet einen großen Aufwand an Kraft und Energie. Vielleicht haben wir aber bei dieser Frage das Problem falsch angegangen. Vielleicht kann das Dasein seinen Selbstentwurf doch nutzen, sich dabei aber so intensiv wie möglich auf die Situation einlassen, also so achtsam wie möglich sein, damit das Verstehen so weit wie möglich nur aus der Situation heraus geschieht, wobei das Dasein immer auch auf Echtheit seines Verstehens achten muss. Wenn eine frühere Situation dieselbe Bedeutsamkeit für das Dasein hat, und das Dasein in diesem Verständnis echt und unmittelbar ist, dann entspringt eine entsprechende Übertragung einem echten und unmittelbaren Verständnis. Wenn auf diesem Weg, der zugegebenermaßen sehr mühsam ist, das Dasein unter Wahrung der Echtheit seines Verstehens immer mehr Eigentlichkeit erreicht, dann liebt es sich selbst, da es so immer mehr echtes und eigentliches Verstehen erreicht. In diesem Sinne wäre dann eine möglichst achtsame Übertragung der Weg zur Liebe, wobei das Dasein dadurch die Echtheit seines Verstehens wahrt, dass es bei Enttäuschungen den oben beschriebenen Prozess von Umkehr als Einkehr, Rückkehr und Vorkehr gegen eine Wiederkehr durchläuft und sich nicht von ihm selbst abkehrt. So hält sich das Dasein in der ständigen Bereitschaft, seinen Selbstentwurf zu ändern bzw. entsprechend neu zu gestalten, so dass seine achtsamen Übertragungen zu immer echterem und eigentlicherem Verstehen werden.

In der Achtsamkeit implizit enthalten ist, dass das Dasein in seinem Verstehen als Verstehen der Möglichkeiten seines Seinkönnens sich dieser Möglichkeiten nicht nur funktional gewahr ist, sondern auch reflexiv, das heißt, dass es versteht, dass es entwirft und Entwürfe hat und dass dies auch bei Anderen der Fall ist. Mit der Selbstbewusstheit hat das Dasein zusätzlich ein Verständnis seiner Geschichte, also ein autobiografisches Sich-seiner-selbst-Gewahrsein. Damit bekommt das Entwicklungskonzept des Selbst von Fonagy et al. (2008, Seite 136), dass das Gewahrsein eines Kindes erst funktional, dann reflexiv und schließlich autobiografisch wird, eine philosophische Fundierung.

Ich möchte noch einmal genauer auf die Selbstbedeutsamkeit und ihre Dynamik je nach Situation eingehen. Das Dasein entwirft seine Seinsmöglichkeiten in der Auseinandersetzung mit der Welt und mit den Gemeinschaften, in denen das Dasein Mitglied ist. Dieser Selbstentwurf hat, wie oben ausgeführt, dieselbe Struktur wie eine Gemeinschaft. Konflikte in der Selbstbedeutsamkeit des Daseins entstehen immer in einer Gemeinschaft, in der das Dasein Mitglied ist, und sie entstehen jeweils bei den Versuchen, die Aufgaben, die sich in der Gemeinschaft stellen, zu bewältigen. Wenn die Aufgaben das Verhältnis zur Außenwelt der Gemeinschaft betreffen, dann sind dies sogenannte Sachkonflikte, handelt es sich dagegen um die Atmosphäre innerhalb der Gemeinschaft, dann sind dies entweder sogenannte Interessenkonflikte oder sogenannte persönliche Konflikte. Bei einem wie auch immer gearteten Konflikt innerhalb einer Gemeinschaft, in der das Dasein Mitglied ist, muss das Dasein früher oder später Position beziehen, wenn der Konflikt nicht schon vorher in der Gemeinschaft gelöst wurde, und dieser Entscheidungsdruck kann dann einen entsprechenden Konflikt in seiner Selbststruktur auslösen. Für das Dasein ist es dann sicherlich am besten, wenn es die Konflikte innerhalb seiner Gemeinschaft lösen kann, dann lösen sich auch die Konflikte in seiner Selbstbedeutsamkeit. Es kann aber auch für sich allein einen Konflikt dort lösen und zu einer solchen Seinsweise finden, dass der betreffende Konflikt innerhalb seiner Gemeinschaft für das Dasein nicht mehr „heiß“ wird. Je mehr Konflikte das Dasein lösen kann, desto harmonischer ist seine Selbstbedeutsamkeit in immer mehr Situationen, desto besser kann sich das Dasein in allen möglichen Situationen für eine bestimmte Seinsweise entscheiden, und desto mehr ist diese Entscheidung durch die Situation bestimmt und nicht durch das Ausbalancieren irgendwelcher Konflikte in der Selbstbedeutsamkeit des Daseins. Das Dasein wird also dadurch in seinem Verständnis immer eigentlicher, und wenn es auch noch echt ist, dann kommt das Dasein so immer mehr zur Selbstliebe und damit auch zur Liebe. Da Eigentlichkeit und Echtheit des Verständnisses nur zusammen erreicht werden können, wie oben aufgeführt, entwickelt sich das Dasein immer mehr zur Liebe, je mehr Konflikte es löst und dabei echt oder eigentlich im Verständnis bleibt.

Zunächst und zumeist lässt sich das Dasein nicht besonders achtsam auf eine Situation ein. Dann ist das Dasein im Modus der Uneigentlichkeit. Je achtsamer jedoch das Dasein wird, desto eigentlicher versteht es sich. Auf Seite 146 in „Sein und Zeit“ beschreibt Heidegger die Begriffe Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit so: wenn sich das Dasein aus seiner Welt her versteht, dann ist dieses Verstehen uneigentlich. Wenn sich das Verstehen aber primär in das Worumwillen wirft, wenn das Verstehen aus dem eigenen Selbst als solchem entspringt, dann ist es eigentlich. Bei geringerer Achtsamkeit geht das Dasein von der jeweiligen Situation derart aus, dass es sie aus der Erinnerung an eine gewesene heraus versteht, wobei es weniger darauf achtet, ob beide Situationen dieselbe Bedeutsamkeit haben für es selbst, das Verstehen entspringt also weniger aus dem eigenen Selbst als solchem, sondern das Dasein versteht sich mehr aus einer gewesenen Welt her, das Verstehen ist also uneigentlicher. Bei großer Achtsamkeit entspringt das Entwerfen des Seinkönnens, also das Verstehen des Daseins deutlich mehr aus ihm selbst, weil es mehr auf die Bedeutsamkeiten der gewesenen und momentanen Situationen für es selbst achtet, es versteht sich selbst also deutlich unmittelbarer aus der Situation, dem erschlossenen eigenen Da, also aus dem eigenen Selbst, das heißt, es ist eigentlicher. Übertragung ohne Achtsamkeit ist also meist uneigentlich, wobei Eigentlichkeit ein Extremzustand ist, den das Dasein kaum, wenn überhaupt, erreicht. Die Eigentlichkeit des Verstehens hat also viel mit der Ekstase der Räumlichkeit, mit dem Sich-einlassen auf die bzw. Sich-entfalten in der Situation zu tun, wenn dies mit der echt und unmittelbar verstandenen Bedeutsamkeit der Situation für es selbst verbunden ist. Dass Eigentlichkeit ein räumlicher Begriff ist, habe ich übrigens schon in Kapitel 2 aufgezeigt. Je eigentlicher das Dasein, desto größer die Ergriffenheit von ihm selbst, also die ontologisch verstandene Nähe zu sich selbst. Räumlichkeit ist die primäre Ekstase der Eigentlichkeit. Eigentlichkeit ist aber nicht nur ein räumlicher Begriff, denn für das eigentliche Verständnis der Situation muss die Räumlichkeit der Situation mit ihrer Bedeutsamkeit verbunden sein, und die erschließt sich dem Dasein durch seine früheren, also gewesenen Erfahrungen, wenn wir Kongruenz von Erfahrung und Weltlichkeit voraussetzen. Diese Erfahrungen waren aber nur möglich dadurch, dass das Dasein damals ein Seinkönnen entworfen hat, also in die Zukunft entrückt war, und dies im damals momentanen Handeln durchgeführt hat. Um die Rolle der Bedeutsamkeit noch einmal herauszustellen, ist anzuführen, dass das Dasein mit der Bedeutsamkeit Aufschluss über die momentane Situation erhält, sodass es sein Seinkönnen überhaupt entwerfen kann. Damit ist die gesamte Zeitlichkeit ebenfalls relevant für das eigentliche Verstehen und damit also die Prozesshaftigkeit insgesamt, sodass wir hiermit das eigentliche Verstehen prozesshaft analysiert haben.

Je achtsamer das Dasein aus seinem Selbstentwurf heraus überträgt oder je mehr es unmittelbar aus der Situation heraus sein Seinkönnen neu entwirft, desto eigentlicher versteht es sich in seinem Worumwillen. Da der Selbstentwurf des Daseins in der Kindheit noch relativ klein ist, entwirft es in diesem Entwicklungsabschnitt viel häufiger neu und damit meist unmittelbarer auf die Situation bezogen als später. Auf diesem Hintergrund bedeutet das Bibelzitat „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ (Math. 18,3), dass das Dasein nur durch immer mehr echtes und unmittelbares Verstehen seine Sorge in Liebe transformieren kann. Parallel dazu wird im Zen-Buddhismus die rechte Haltung eines Zen-Buddhisten als die Haltung eines Anfängers beschrieben.

Aus diesen Überlegungen lässt sich nun genauer herleiten, in welchem Verhältnis der Modus der Uneigentlichkeit zur Verfallenheit bzw. zur Herrschaft des Man steht: im Selbstentwurf hat das Dasein von den Gemeinschaften, deren Mitglied es früher in seinem Entwicklungsprozess gewesen ist, einiges an Seinkönnen aufgenommen, sein Selbstentwurf hat vieles vom Seinkönnen des Man, sodass es zunächst und zumeist unachtsam überträgt und damit uneigentlich ist, weil es so im Sinne Heideggers unter der Herrschaft des Man steht bzw. sich im Zustand der Verfallenheit befindet. Aber das Dasein hat auch seine eigenen Weisen der Uneigentlichkeit, die vom Man unabhängig sind. Je stärker z.B. die in einer Situation ausgelösten Stimmungen oder Affekte des Daseins sind, desto höherrangig in der Struktur der Selbstbewusstheit sind die Weisen des in der Übertragung aus dem Selbstentwurf gewählten Seinkönnens, desto geringer ist also die Achtsamkeit, da ein intensiveres Sich-Einlassen mehr Kraft kostet, die vom höheren Erregungsniveau jedoch absorbiert wird. Je höher aber in der Hierarchie, desto kindlicher ist das entsprechend gewählte Seinkönnen in der Regel. Das Man ist aber durchschnittlich und nicht unbedingt kindlich. Auch die oben allgemein charakterisierten Seinsweisen des Rollen-Dreiecks Opfer-Täter-Helfer passen nicht immer zum Man. Die Herrschaft des Man bei Heidegger entspricht der kulturellen Massen-Übertragung, während der Modus der Uneigentlichkeit vermutlich genauso häufig in der individuellen und unachtsamen Übertragung zu finden ist, die zunächst und zumeist mit der kulturellen Massen-Übertragung übereinstimmt. Von der Eigentlichkeit ist deutlich die Echtheit zu unterscheiden (Seite 146 ebenda): eine Übertragung beispielsweise kann ziemlich uneigentlich und durchaus echt sein, das heißt, das Dasein unterliegt keiner Täuschung, und auch in sehr achtsamem Verstehen kann sich das Dasein täuschen (wenn es z.B. ein neues Seinkönnen entwirft), das heißt, in großer Achtsamkeit kann sich das Dasein trotzdem unecht verstehen. Zur Achtsamkeit muss eben noch die Erfahrung bzw. die Weisheit hinzukommen, damit das Dasein sich in seinem Verstehen nicht täuscht und somit das Verstehen echt ist. Andererseits, wenn das Dasein achtsam bleibt, vermeidet es jegliche Inkongruenz zwischen Weltlichkeit und Welt, integriert also seine Erfahrungen und erlangt so in seinem Entwicklungsprozess automatisch immer mehr Weisheit. Was das Verhältnis von Eigentlichkeit und Echtheit betrifft, siehe oben: Echtheit und Eigentlichkeit des Verstehens können im Laufe der Entwicklung des Daseins nur zusammen erreicht werden.

Die Bedeutung der vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit in ihrer Eigentlichkeit Bearbeiten

Wenn das Dasein seine Weltlichkeit, deren Struktur die Bedeutsamkeit ist, in der Räumlichkeit mehr oder weniger akzentuiert oder ausdrücklich zwischen sich und Andere (daseinsmäßig Seiende) stellt, so verändert es für diese Anderen erschließbar und entdeckbar seine Wirkung auf diese, es gibt oder entzieht auf diese Weise etwas von seiner sich entfaltenden bzw. entfalteten Wirkung, ontologisch betrachtet also von sich selbst. So gesehen hat die Begegnung mit Anderen immer ein Wie des Ausdrucks und ist damit Mitteilung. Allein dadurch, dass das Dasein einem Anderen begegnet, teilt es sich schon mit, das heißt, in der Begegnung kann es sich dem Anderen nicht nicht mitteilen. Auch hier steht bei der prozesshaften Analyse die Ekstase der Räumlichkeit im Vordergrund.

Die vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit, Gegenwart, Gewesenheit, Zukunft und Räumlichkeit, erweisen sich auch als offene Horizonte des hermeneutischen Zirkelprozesses des eigentlichen Verstehens: in der Offenheit der Gewesenheit gewinnt das Dasein eine Vor-Habe von …, in der Offenheit der Zukunft eine Vor-Sicht von …, in der Offenheit der Gegenwart begreift das Dasein gehalten in Gewesenheit und Zukunft die augenblickliche Situation und erhält so mit deren vorgreifender Bestimmung, also mit der Rede davon, einen Vor-Griff von …, und in der Offenheit der Räumlichkeit wird durch das Auslegen des Vor-Griffs der hermeneutische Zirkelprozess auf dieser (ersten) Ebene durchgeführt. Die Prozesshaftigkeit des Daseins ist somit in vier Ekstasen herausgetreten bzw. hat das Dasein in sie entrückt. Jede der vier Entrückungen des Daseins ist insofern offen, als dass Vor-Habe, Vor-Sicht und Vor-Griff jeweils entschlossen neu zu entdecken sind und die jeweilige entschlossene Auslegung neu durchzuführen ist. Durch die Horizontstruktur sind die Ekstasen als begrenzte, bestimmte Weisen, nämlich als Horizonte des Offenseins gekennzeichnet, aber nur durch Entschlossenheit, also Sich-Einlassen, das ist die Offenhaltung der eigentlichen Räumlichkeit, kann das Dasein die Horizonte der anderen Ekstasen offen halten und etwas darin erschließen bzw. entdecken. Wenn man die begrenzte, bestimmte Weise einer Ekstase als ihr horizontales Schema bezeichnet, so erkennt man in der Gewesenheit mit der Vor-Habe (Faktizität) das „Wovor/Woran“, in der Zukunft mit der Vor-Sicht (Existenzialität) das „Umwillen seiner“, in der Gegenwart mit dem Vor-Griff (die Verschränkung von Faktizität und Existenzialität) das „Um-zu“ und in der Räumlichkeit mit dem Auslegen des Vor-Griffs (das Umgehen mit der möglichen Enttäuschung, zum Beispiel die Verfallenheit) das „Dass-und-Wie“ als Bestimmung des entsprechenden Schemas (siehe oben). Wenn das Dass-und-Wie offen gehalten, also die Enttäuschung ausgehalten und so dem Verfallen entgegengewirkt wird, dann können auch die anderen Schemata offen gehalten werden.

Das größte Manko bei Heideggers „Sein und Zeit“ scheint mir zu sein, dass er der Räumlichkeit „zu wenig Raum“ gegeben hat. Sie ist, wie oben von mir beschrieben, eine Ekstase, in die das Dasein genauso entrückt ist wie in Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart. Sie ist die Ekstase, die dem Dasein und Anderen Auskunft über seine jeweilige Seinsweise und damit immer mehr über sein Sein gibt. Später erkennt Heidegger die Wichtigkeit des Sich-Einlassens, was ich als die eigentliche Räumlichkeit charakterisiert habe, und äußert: „Vielmehr bedeutet das Existieren als Da-Sein das Offenhalten eines Bereiches aus Vernehmen-können der Bedeutsamkeit der Gegebenheiten, die sich ihm aus seiner Gelichtetheit her zusprechen.“ (Zollikoner Seminare, Seite 4) Dabei ist „Bereich“ meines Erachtens als räumlicher Begriff zu sehen, und das Vernehmen-können der Bedeutsamkeit sehe ich als Auslegen-können dessen, was die Gegebenheiten zusprechen, das heißt als Auslegen-können von Rede, was, wie oben dargelegt, ebenfalls ein primär räumlicher Begriff ist. Vernehmen ist wie Hören-Wollen ebenfalls ein räumlicher Begriff, wie oben beim Gewissen-Hören ausgeführt: Wenn das Dasein hören oder vernehmen kann, ist es damit unausweichlich vor die Wahl, wohlgemerkt nicht die Entscheidung, gestellt, sich zu entschließen oder nicht, das zu vernehmende oder zu hörende hören oder vernehmen zu wollen, und Entschlossenheit und seine Privation sind räumlich. Der Begriff Gelichtetheit ist ebenfalls räumlich: wenn etwas gelichtet ist, dann ist Platz für Licht gemacht, ein Raum geöffnet worden.

Wenn das Dasein sich nun einlässt, dann räumt es sich Platz ein, ergreift und besorgt sich Raum als Reichweite seiner entfalteten Wirkung, und es gibt sich hin, es gibt seine Existenz in diesen Raum hin-ein. Diese Art von Hingabe ist auch eine Vor-Form von Selbstliebe, die sich dahin entwickeln kann. Andererseits kann das Dasein einem Anderen (daseinsmäßig Seienden), der ihm begegnet, einen Platz bei sich einräumen, von seinem Raum ihm hingeben, etwas von seiner Existenz hingeben für den Anderen, und diese Vor-Form von Fremdliebe kann sich ebenfalls entsprechend entwickeln. Dieser freie und offene Umgang mit der Räumlichkeit ist das Offenhalten dieses Horizontes, wodurch dieser immer mehr erweitert wird, je mehr Platz das Dasein Anderen einräumt. Wir haben es hier also mit dem bemerkenswerten Phänomen zu tun, dass Teilen in diesem Falle Vermehren bedeutet.

Das Offenhalten des Horizontes der Räumlichkeit ist also auch gleichzeitig ein Sich-Offenhalten des Daseins für eine Entwicklung zur Liebe. Das Schema des Dass-und-Wie bekommt somit eine besondere Bedeutung: Die Konstitution des Daseins als der jeweilige Vollzug, also sein Geschick, ist nicht so wichtig wie seine Seinsweise, wie sein Dass-und-Wie, nämlich ob diese Weise verständnisvoller und liebevoller ist und sich darin immer weiter entwickelt oder nicht. Der Macht des Schicksals oder Geschicks kann das Dasein nur auf die Weise entkommen, dass es sich zur Liebe hin entwickelt. Wenn das Dasein sich seinem Schicksal gegenüber machtlos fühlt und dann nur nach dem „Warum“ oder „Wozu“ fragt (Gewesenheit und Zukunft), dann verstrickt es sich in der Regel immer mehr und fühlt sich zunehmend hilflos und ausgeliefert. Wenn das Dasein aber auch nach dem „Dass-und-Wie“ fragt (Räumlichkeit), dann kann es sich seine Konstitution begreiflich machen und neue Seinsweisen entwerfen. In der Gestalttherapie von Fritz Pearls fragt der Therapeut deshalb in der Regel vor allem nach dem Was und Wie. Dadurch holt er sein Gegenüber aus dem Opfer-Täter-Helfer-Dreieck heraus und führt es in die Position des verantwortungsbewussten Erwachsenen. In der Auslegung der Rede und auch in der Auslegung der Unterredung mit Anderen (daseinsmäßig Seienden) mit dem Schema des Dass-und-Wie sammelt das Dasein immer mehr Erfahrungen und bereichert und entwickelt so immer mehr seine Weltlichkeit und seine Gemeinschaftlichkeit und insbesondere die Möglichkeiten seines Seinkönnens, also seinen Selbstentwurf. In der Psychoanalyse wird dies Stärkung des Ich genannt (zum Beispiel Balint ab Seite 202) und gilt mit als das wichtigste Ziel in der Therapie: „Die Bewusstmachung des Unbewussten ist eben nur der eine Aspekt der analytischen Kur, der andere Aspekt hingegen ist die Stärkung des Ichs.“ (Balint, Seite 211) Ersteres ist das befindliche Verstehen und dessen Auslegung, Letzteres entsteht durch einen Entwicklungsprozess des Daseins, bei dem es durch Erfahrungen, das sind Begegnungen mit innerweltlich Seiendem, befindlich versteht, also zum einen Möglichkeiten seines Seinkönnens entwirft, zum anderen seine Bedingtheit annimmt und so lernt, zu ertragen, auszuhalten oder ein Seinkönnen zur Entfaltung zu bringen. Dies sind Übersetzungen von Balints Äußerungen zum Begriff des Lernens auf Seite 205 (Balint, 1988) in die Terminologie von Heidegger. Hier wird deutlich, dass gerade die von Heidegger nicht erwähnte Form des Verstehens, die des Annehmens der Bedingtheit des Daseins, auch therapeutisch eine große Rolle spielt. Allerdings wird später klar, dass die Befindlichkeit als Sich-zurückbringen dasselbe wie die von mir aufgeführte Form des Verstehens ist.

Betrachten wir noch einmal Zeit (als Intervall zwischen Ereignissen) und Raum (als Reichweite von Wirkungen) genauer: Die Zeit eines Seienden ist gleichursprünglich mit dem Raum dieses Seienden die Basis aller Prozesse dieses Seienden in ihrer Entfaltung, ihrem Procedere, ihrem Vorgehen, ihrem Sich-Umsetzen, ihrer Verwirklichung und gründet gleichursprünglich mit dem Sein des entsprechenden Seienden in dessen Prozesshaftigkeit. Prozesshaftigkeit schlechthin ist wesenhaft das Heraustreten, Auftreten, Hervorkommen, Vorkommen, Sich-Ereignen von Veränderungen des Seins schlechthin. Das Sein überhaupt ändert sich ohne Ende und ohne Anfang, und die Zeit und der Raum schlechthin sind unendlich. Dagegen sind das Sein eines Seienden, seine Zeit und sein Raum jeweils endlich. Da Prozess bzw. Ereignis immer Veränderung beinhaltet, gilt: Sein, Zeit und Raum gründen gleichursprünglich im Prozess bzw. im Ereignis (als kleinstem Teilprozess) schlechthin. Interessant ist in dieser Hinsicht ein Zitat des Physikers Stephen Hawking aus seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“ (1988, deutsch 1991) in Kapitel 8: „… wenn das Universum wirklich völlig in sich selbst abgeschlossen ist, wenn es wirklich keine Grenze und keinen Rand hat, dann hätte es auch weder einen Anfang noch ein Ende; es würde einfach sein.“ Nach dem no boundary proposal, welches er zusammen mit dem Physiker Hartle entwickelt hat, hat das Universum keine Grenze und keinen Rand. Man kann sich das so veranschaulichen, dass eine Kugelfläche weder Grenze noch Rand hat, und dass dieses Phänomen dann vom Drei- ins Vier-Dimensionale zu übertragen ist, was natürlich nicht mehr vorstellbar ist.

Die Besonderheiten menschlichen Daseins Bearbeiten

Die eigentliche Zukunft des Daseins, die den Sinn bzw. die Richtung der vorlaufenden Entschlossenheit ergibt, enthüllt sich somit selbst als endliche. Auf der einen Seite kommt also auf das Dasein nichts mehr zu, was sich nach seinem Tod ereignet. Das heißt aber auf der anderen Seite nicht, dass sich das Dasein in jedem Fall um nichts weiter mehr kümmert, was nach seinem Tode passiert, nach dem Motto: „Nach mir die Sintflut.“ Wie oben schon festgestellt, geht es nämlich dem Dasein um das Sein schlechthin, und das hat kein Ende. Damit hat das Dasein eine besondere Beziehung zum Sein überhaupt, die ich das Leben des Daseins genannt habe: Je mehr das Dasein in seiner Entwicklung die Liebe erreicht, also insbesondere das echte und unmittelbare Verstehen des Seins überhaupt, desto mehr ist seine Beziehung zum Sein überhaupt, also sein Leben, die Wahrheit bzw. das wahre Leben, und die Wahrheit, das wahre Leben hat – ebenso wie das Sein überhaupt – kein Ende. Wenn das Dasein die Liebe erreicht und somit seine Beziehung zum Sein überhaupt die Wahrheit ist, dann hat diese Beziehung, also das wahre Leben des Daseins, kein Ende. Diese Beziehung bzw. sein wahres Leben (die Wahrheit) ist Liebe und Erfüllung zugleich.

Der Sinn des Seins des Daseins ist der Sinn seiner Sorge (Ergriffenheit, Erwartung, Täuschung und dem Umgang damit) und gleichzeitig auch der Sinn der eigentlichen Zukunft. Diese zielt in ihrer vorlaufenden Entschlossenheit auf immer mehr echtes und unmittelbares Verstehen hin und damit auf Liebe. Ontologisch ausgedrückt ist der eigentliche Prozess des Daseins eine Entwicklung zur Liebe. Der Sinn des Seins des Daseins und der Sinn der Sorge des Daseins ist jeweils die Prozesshaftigkeit, ein Rahmen, in dem die Entwicklung von Liebe möglich und zu der das Dasein liebevoll berufen und eingeladen ist.

Oben wurde Leben charakterisiert als Beziehung zum Sein überhaupt. Dies habe ich genauer als menschliches Leben bezeichnet. In Kapitel 2 wurde für lebendig Seiendes die notwendige Bedingung herausgearbeitet, dass es eine unmittelbare Wirkung auf sein eigenes Sein hat. Wir können daher sagen, dass nichtdaseinsmäßig Lebendiges irgendeine Beziehung, und zwar eine episodenhafte, zu seinem eigenen Sein hat, so dass es ihm niemals um sein gesamtes Sein geht, während das Dasein eine derartige Beziehung zu seinem Sein hat, dass es ihm um dieses Sein insgesamt und sogar um das Sein überhaupt geht, wie wir oben gezeigt haben. Leben eines Seienden, das lebendig aber nichtdaseinsmäßig ist, ist also eine nur episodenhafte Beziehung zum eigenen Sein. Phänomenologisch wird dies auch von Fonagy et al. (2008) unterstützt, die auf Seite 244 schreiben: „Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der teleologische Standpunkt nicht nur bei normal entwickelten, neun Monate alten menschlichen Säuglingen vorhanden ist, sondern auch bei nichtmenschlichen Primaten und bei Kindern mit Autismus. Sowohl den Primaten als auch den autistischen Kindern scheint jedoch der mentalistische intentionale Blickwinkel zu fehlen, der wahrscheinlich eine zusätzliche menschenspezifische Anpassungsleistung darstellt, die auftauchte, um uns das Verstehen anderer Psychen und die Kommunikation mit ihnen zu ermöglichen.“ Teleologischer Standpunkt meint hier, dass wir Menschen bei konkreten Handlungen bestimmte Ziele unterstellen, wenn dies für uns einen Sinn ergibt. Beim mentalistischen intentionalen Blickwinkel kommt noch hinzu, dass wir unabhängig von Handlungen einem andern eine Handlungsprädispositon zusprechen. Wenn jemand nach einem Marmeladenglas greift, nehmen wir an, dass er jetzt gerne davon essen möchte. Das ist der teleologische Standpunkt. Wenn wir jedoch annehmen, dass der Betreffende, ohne dass er etwas tut, im allgemeinen gerne Marmelade isst, weil wir ihn öfter dabei beobachtet haben oder weil er uns das direkt erklärt hat, dann haben wir einen mentalistischen intentionalen Blickwinkel. Tiere können also durchaus einen teleologischen Standpunkt einnehmen und so Episoden ihres eigenen Seins oder des eines anderen Seienden befindlich verstehen, z.B. den Teilprozess einer konkreten Handlung, aber ihnen fehlt der mentalistische intentionale Blickwinkel, und dieser ist eine notwendige Voraussetzung dafür, das gesamte Sein eines Seienden, auch das eigene, zu verstehen. Fonagy et al. (2008) führen auf Seite 253 Belege auf, dass es erst ab etwa vier Jahren ein sogenanntes „autobiografisches Selbst“ gibt, davor nur ein „gegenwärtiges Selbst“. Nichtmenschliche Primaten, autistische Kinder und Kinder mit etwa zwei Jahren erkennen sich zwar selbst im Spiegel (wenn man ihnen zum Beispiel einen roten Punkt auf die Stirn malt und sie sich dann im Spiegel sehen, versuchen sie, ihn wegzuwischen), aber erst vierjährige Kinder haben eine zeitlich zusammenhängende Vorstellung von sich selbst: wenn man sie nämlich filmt, während man ihnen heimlich einen Sticker auf die Haare klebt und ihnen drei Minuten später den Film zeigt, entfernen sie den Sticker, wenn sie ihn im Film entdecken. Dreijährige tun das noch nicht, und auf die Frage, wo sich der Sticker befinde, antworten sie nicht in der ersten Person. Sie verstehen aber die Entsprechung zwischen dem Film und der Realität, denn wenn sie beobachten, dass ein Gegenstand in der Filmaufzeichnung versteckt wird, können sie ihn anschließend erfolgreich lokalisieren. Die Fähigkeit des Daseins, das gesamte eigene Sein zu entdecken, wird also frühestens mit vier Jahren erreicht, und diese Fähigkeit gibt es nicht bei anderem Seienden. Menschliches Leben ist die Beziehung des Daseins zu seinem gesamten eigenen Sein, um das es ihm ja geht, und zum Sein überhaupt oder schlechthin. Diese Beziehung kann sich zu Liebe und Erfüllung, also zu Wahrheit und zum wahren menschlichen Leben entwickeln.

Eine gewisse Hingabebereitschaft des eigenen Seins, wovon wir aufgezeigt haben, dass es eine Vorform der Liebe ist, die sich zur Liebe hin entwickeln kann, gibt es nicht nur beim Dasein, sondern auch episodenhaft im Tierreich, und zwar unter Gatten, für die eigene Brut und für die eigene Gemeinschaft, deren Mitglied ein Tier ist. Somit finden wir auch hier Vorformen der Liebe, sodass man mit Gerald Hüther (2010) von einer Evolution der Liebe sprechen kann. Damit ist die folgende Behauptung, die das bisher Gesagte über den Seinssinn und die Liebe zusammenfasst, auf eine noch breitere phänomenale Basis gestellt: Der Sinn des Seins überhaupt ist die Prozesshaftigkeit, in der die Entwicklung von und zur Liebe entfaltet und umgesetzt werden kann und bis zu einem gewissen Grad schon umgesetzt worden ist. Das Dasein ist zur Vollendung dieser Entwicklung liebevoll aufgerufen und eingeladen.

Was sind nun die Besonderheiten von Entwicklungsprozessen innerhalb einer Gemeinschaft im Sozialen? Wie oben schon festgestellt, spielt hier die Prozesshaftigkeit als Entwicklungsmöglichkeit aufgrund der gegenseitigen Empathie die primäre Rolle. Die Umsetzung eines Entwicklungsprozesses, seine räumliche Akzentuierung, beinhaltet einen gewissen Rhythmus, eine Taktung, einen Takt, der von den einzelnen Teilprozessen und deren Bezogenheit aufeinander abhängig ist. Takt kommt ja von lateinisch „tangere“, „berühren“. Damit ein Prozess harmonisch abläuft, ist seine Taktung wichtig. Entsprechend ist es innerhalb einer Gemeinschaft wichtig, dass deren Mitglieder sich aufeinander abstimmen, ihre jeweilige Entwicklung, und füreinander ein Taktgefühl entwickeln und so immer achtsamer miteinander umgehen. Ein derartiges Taktgefühl braucht das Dasein auch für sich selbst bzw. für die innere Harmonie seiner Selbstbedeutsamkeit, also seines Selbstentwurfs. Ich denke, es kommt nicht von ungefähr, dass Tanzen und Schwimmen als die gesündesten Sportarten gelten, denn dabei sind Rhythmus und Taktgefühl besonders wichtig. So bewährt sich auch bei diesen Phänomenen die Bedeutung von Harmonie und Taktgefühl. Auf das Thema Rhythmus komme ich noch weiter unten in Kapitel 12, um den Begriff genauer zu definieren, und in Kapitel 14 zur Vertiefung des Verständnisses von Rhythmus.

Heidegger hat zwar behauptet, dass die Zeitlichkeit als notwendige Bedingung und Ermöglichung des Seins des Daseins und damit dessen faktischer Existenz auch hinreichend ist, aber er konnte diese Behauptung nicht belegen: „die Analyse der zeitlichen Konstitution der Rede und die Explikation der zeitlichen Charaktere der Sprachgebilde [kann] erst in Angriff genommen werden, wenn das Problem des grundsätzlichen Zusammenhangs von Sein und Wahrheit aus der Problematik der Zeitlichkeit aufgerollt ist“ (Seite 349 ebenda). Den Paragraph 70 (Die Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit, Seite 367 ff. ebenda) hat Heidegger selbst schon in seinem Vortrag „Zeit und Sein“ als unhaltbar zurückgewiesen. Wenn das Dasein das Sein überhaupt echt und unmittelbar versteht, dann ist seine Beziehung zum Sein überhaupt, also sein menschliches Leben die Wahrheit. Diese wird dadurch erreicht, dass das Dasein die momentane Situation in ihrer Bedeutsamkeit für es selbst (also eigentlich!) echt und unmittelbar versteht und ausdrücklich umsetzt (siehe oben die prozesshafte Analyse des eigentlichen Verstehens einer Situation). Wenn man dies aus der Problematik der Prozesshaftigkeit aufrollt, so tritt in der Situation die Ekstase der Räumlichkeit hervor und in deren Bedeutsamkeit für das Dasein selbst die Ekstasen der Gewesenheit, weil gewesene Erfahrungen die Bedeutsamkeit konstituieren, der Zukunft, weil das Dasein durch den Aufschluss, den die Bedeutsamkeit gibt, ein Seinkönnen entwerfen kann, der Gegenwart, weil das Dasein dieses Seinkönnen in seiner Bedeutsamkeit nur im Augenblick echt und unmittelbar begreifen kann, und erneut der Räumlichkeit, weil das Dasein nur so das in seiner Bedeutsamkeit Begriffene ausdrücklich umsetzen kann. Alle vier Ekstasen und damit die Prozesshaftigkeit insgesamt sind dabei im eigentlichen Modus. Mit der dabei vom Dasein ausgeübten achtsamen und eigentlichen Übertragung der Bedeutsamkeit von einer Situation auf eine andere, die Bedeutsamkeit der einen Situation als entsprechende Bedeutsamkeit der anderen (hermeneutische Als-Struktur), ergibt sich die prozesshafte Konstitution der Rede als eigentliche Rede mit der Gegenwart als primären Sinn bzw. primärer Ekstase und die entsprechende Explikation der prozesshaften Charaktere der Sprachgebilde auf der ontischen Ebene.

Bisherige Kritik an Sein und Zeit und die Prozesshaftigkeit als Antwort darauf Bearbeiten

Es bleibt nun noch zu diskutieren, inwieweit es mir tatsächlich gelungen ist, die Prozesshaftigkeit als das primäre Regulativ der möglichen Einheit aller wesenhaften existenzialen Strukturen des Daseins zu erweisen.

Nach Marion Heinz in Rentsch (2007) ist bei Heidegger „kritisiert worden, dass eine Inkongruenz zwischen Zeitlichkeits- und Sorgemomenten besteht derart, dass die Rede als dritte Weise der Erschlossenheit im Gefüge der Zeitlichkeit keinen Ort habe“ (ebenda, Seite 190). Mit der Prozesshaftigkeit bei mir trifft diese Kritik nicht mehr zu, denn bei der Prozesshaftigkeit gibt es noch ein viertes Moment, nämlich die Räumlichkeit. Den Sorgemomenten Verstehen, Befindlichkeit und Rede sind jeweils die Ekstasen der Prozesshaftigkeit Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart zugeordnet, und der Auslegung der Rede als Besorgen bzw. Ergreifen oder als Umgang mit Enttäuschungen die Räumlichkeit. Die Rede als vorgreifende Gliederung ist die Voraussetzung des Ergreifens, denn ohne einen Begriff von etwas zu haben, ohne zu begreifen, kann ich es nicht ergreifen. Wie oben dargestellt, konstituiert sich die Rede aus der Übertragung der Bedeutsamkeit von einer Situation auf eine andere. Die Auslegung der Rede mit ihrem Schema des Dass-und-Wie nimmt insofern eine besondere Stellung unter den Sorgemomenten ein, als dass sie die anderen drei Momente vereint und bündelt und damit die ganze Weltlichkeit und Gemeinschaftlichkeit. Auf die anderen beiden Kritikpunkte bei Marion Heinz kann ich hier noch nicht eingehen, da die entsprechenden Passagen bei Heidegger von mir noch nicht dargestellt und diskutiert wurden. Zum einen geht es dabei um die Vielheit der Modi des faktischen Existierens des Daseins (Furcht, Zorn, Trauer, Ekel, Spaß und Angst, Wut, Leid, Abscheu, Freude und jeweils verschiedene Mischungen) im Verhältnis zur Einheit der Sorge, und wie die zeitliche Ermöglichung dieser Modi zu denken sei, zum anderen geht es um das strittige Verhältnis von Verfallen und Sein-bei bzw. von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Letzteres könnte dann beantwortet werden, wenn wir bei den vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit jeweils ihren uneigentlichen und ihren eigentlichen Modus aufgezeigt haben, was weiter unten in den nächsten Kapiteln geschehen wird.

Weiteres Vorgehen Bearbeiten

Heidegger meint auf Seite 331 ebenda, die Interpretation der Sorge als Zeitlichkeit (bei mir Prozesshaftigkeit) könne nicht auf die bisher gewonnene schmale Basis beschränkt bleiben, die These, der Sinn des Daseins ist die Prozesshaftigkeit (bei Heidegger Zeitlichkeit), müsse sich bewähren am konkreten Bestand der herausgestellten Grundverfassung dieses Seienden. Dadurch kommt das Phänomen der Prozesshaftigkeit selbst hinsichtlich der Grundmöglichkeiten der Prozessentfaltung erst in den Blick. Die Nachweisung der Möglichkeit der Seinsverfassung des Daseins auf dem Grunde der Zeitlichkeit nennt Heidegger vorläufig die zeitliche Interpretation. Ich möchte es entsprechend die prozesshafte Interpretation nennen. Wenn diese bei der Grundverfassung des Daseins gelingt, insbesondere bei seiner Uneigentlichkeit, die bis jetzt noch nicht prozesshaft analysiert wurde, ist die Prozesshaftigkeit als Ermöglichung des Seins des Daseins und damit dessen faktischer Existenz aufgezeigt. Außerdem wurde schon oben erwähnt, dass in dem Sinn des Seins des Daseins das bisher von diesem Sein Erschlossene begrifflich erneut erfasst werden sollte.

Die nächste Aufgabe ist es daher, die Uneigentlichkeit des Daseins in ihrer spezifischen Prozesshaftigkeit sichtbar zu machen. Es geht dabei zum einen um die durchschnittliche Seinsart des Daseins, um die Alltäglichkeit, zum anderen um die Seinsarten Opfer, Täter, Helfer in dem schon oben beschriebenen Rollendreieck und andere Formen der Uneigentlichkeit, allgemein eben das Festhalten an Täuschungen. Dass die Prozesshaftigkeit sich „an allen wesentlichen Strukturen der Grundverfassung des Daseins bewähren“ soll, meint Heidegger, führe „nicht zu einem äußerlichen schematischen Wiederdurchlaufen der vollzogenen Analysen“ in derselben Reihenfolge. „Der anders gerichtete Gang der zeitlichen [bei mir prozesshaften] Analyse soll den Zusammenhang der früheren Betrachtungen deutlicher machen und die Zufälligkeit und scheinbare Willkür aufheben. Über diese methodischen Notwendigkeiten hinaus machen sich jedoch in dem Phänomen selbst liegende Motive geltend, die zu einer anderen Gliederung der wiederholenden Analyse zwingen.“ (Seite 332 ebenda) Die prozesshafte Interpretation der Selbst-Ständigkeit und Unselbst-Ständigkeit verschafft einen ursprünglichen Einblick in die Struktur der Umsetzung der Prozesshaftigkeit, die sich als die Geschichtlichkeit des Daseins enthüllt. Mit derart gefestigtem Blick auf die ursprüngliche Zeit und den ursprünglichen Raum bzw. auf die Zeit und den Raum schlechthin (siehe oben) soll dann die alltägliche Zeit- und Raumerfahrung aufgedeckt werden. Dies geschieht mit der Zeit- und Raumbestimmtheit des innerweltlichen Seienden, die Heidegger Innerzeitigkeit nennt, und die bei mir Innerprozesshaftigkeit heißt. Die Ausarbeitung der Prozesshaftigkeit des Daseins als Alltäglichkeit, Geschichtlichkeit und Innerprozesshaftigkeit gibt erst den rücksichtslosen Einblick in die Verwicklungen einer ursprünglichen Ontologie des Daseins. Schließlich gibt Heidegger noch einen Ausblick auf den dritten Teil von Sein und Zeit, der aber nie geschrieben wurde, und in dem nach einer zuvor hinreichend erhellten Idee von Sein überhaupt die existenzial-prozesshafte Analyse des Daseins erneut wiederholt werden soll im Rahmen der grundsätzlichen Diskussion des Seinsbegriffes.

Eine hinreichend erhellte Idee von Sein überhaupt könnte im Folgenden liegen: Das Thema der eigentlichen Entwicklung des Daseins, also des eigentlichen Seins des Daseins, das heißt seiner eigentlichen Existenz wurde ontologisch als Liebe bezeichnet. Liebe war einerseits das echte und unmittelbare Verständnis von Sein überhaupt, erreicht über das echte und unmittelbare Verständnis des Seins des Daseins in seinem Worumwillen (Selbstliebe) und des Seins eines jeden Anderen in seinem Worumwillen, der dem Dasein begegnet (Fremdliebe). Andererseits war Liebe auch die Bereitschaft, die eigene Existenz hinzugeben für das Sein überhaupt (Hingabebereitschaft), hinzugeben in der Gelassenheit einerseits, das hinzunehmen, was unabänderlich ist (zum Beispiel den Tod), und hinzugeben mit dem Mut andererseits, das entschlossen voranzutreiben, was erreichbar ist in der Beziehung zum Sein überhaupt. Für diese Art der Hingabebereitschaft braucht das Dasein die Weisheit bzw. das Wissen darum, was unabänderlich und was erreichbar ist in der Beziehung zum Sein überhaupt. Diese Weisheit ist dem Dasein dann zueigen, wenn es das Sein überhaupt echt und unmittelbar versteht. Dann ist die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt die Wahrheit, also Liebe und Erfüllung, und diese Beziehung hat kein Ende, sie ist das wahre Leben . Damit ist aufgezeigt, dass beide Umschreibungen von Liebe dasselbe meinen. Nun entzieht sich das Sein überhaupt immer wieder dem Verständnis des Daseins, wenn das Dasein sich täuscht und dadurch Enttäuschungen erlebt. Die einzige Art und Weise, wie das Dasein mit der durch die Enttäuschung entstehenden immer größer werdenden Anspannung schließlich umgehen kann, ohne sich von sich selbst und damit auch vom Sein überhaupt abzukehren, besteht in der Hingabe, dem Sich-Hingeben an das Ziehen des Seins überhaupt in dessen Sich-Entziehen. Aber Hingabebereitschaft, wenn sie die ganze Existenz des Daseins umfasst, war ja wie oben ausgeführt die Liebe. Wir haben hier übrigens dasselbe Schema wie bei der beziehungsmäßigen Umsetzung der Sexualität in einer Paar-Gemeinschaft: die sich steigernde Anspannung entspricht der Spannung der Vorlust, die sich entlädt in der Hingabe des Orgasmus, der sogenannten Endlust (vgl. Balint, Eros und Aphrodite, in Balint, Die Urformen der Liebe, Seite 69 ff.). Die Hingabe an das Ziehen des Seins überhaupt enthüllt sich als die Offenheit dem Sich-Entziehen und damit dem Geheimnis des Seins überhaupt gegenüber. Diese Hingabe, die das Dasein hin zur Liebe entwickeln kann, kennzeichnet die eigentliche Räumlichkeit, das entschlossene Sich-Einlassen des Daseins. Die Weisheit, die das Dasein für die Hingabebereitschaft seiner Existenz benötigt, ist zugleich die Liebe zur Weisheit, die Philosophie. Ob die Philosophie, verstanden in diesem Sinne, eine hinreichend erhellte Idee des Seins überhaupt bietet, kann sich nur in einer wiederholten existenzial-prozesshaften Analyse des Daseins im Rahmen der grundsätzlichen Diskussion des Seinsbegriffes anhand der oben erwähnten Vorform der Liebe zeigen, nämlich der Hingabe des Daseins an das Sich-Entziehende und der zugleich aktiven Suche des Daseins nach dem Geheimnis des Seins überhaupt. Hier haben wir wieder das Phänomen der Trance, Entspannung und Konzentration, nämlich die entspannt-vertrauensvolle Hingabe an die geheimnisvolle Eigendynamik des Seins und die konzentrierte Suche nach dessen Geheimnissen. Diese Suche des Daseins besteht in dem entschlossenen Sich-Annähern (aggredi) an die Liebe im hermeneutischen Zirkelprozess des Verstehens. Deswegen möchte ich diesen Prozess den Weg zur Liebe nennen.

Vielleicht ahnt der Leser bereits, worauf ich mit den hier und weiter oben umschriebenen Begriffen von Weg, Wahrheit und Leben hinaus will. Im Johannes-Evangelium, Kapitel 14, Vers 6 heißt es: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Wenn wir statt „Ich bin“ sagen „Das Sein des Daseins ist es“ und statt „Vater“ „Sein überhaupt“, dann heißt die Auslegung dieses Verses: „Das Sein des Daseins ist es, den Weg zur Liebe zu gehen, damit seine Beziehung zum Sein überhaupt Liebe und Erfüllung und damit die Wahrheit und das wahre Leben ohne Ende ist; niemand kann ein echtes und unmittelbares Verständnis vom Sein überhaupt bekommen, denn durch ein Sein seines Daseins auf dem Weg zur Liebe.“

Prozesshaftigkeit und Alltäglichkeit (§§ 67 bis 71) Bearbeiten

Zu Anfang des Paragraphen 67 macht Heidegger klar, dass die bisher zugänglich gemachte Mannigfaltigkeit der Phänomene von der ursprünglichen Ganzheit der Daseinsverfassung gefordert werde. „Der ontologische Ursprung des Seins des Daseins ist nicht „geringer“ als das, was ihm entspringt, sondern er überragt es vorgängig an Mächtigkeit, und alles „Entspringen“ im ontologischen Felde ist Degeneration. Das ontologische Vordringen zum „Ursprung“ kommt nicht zu ontischen Selbstverständlichkeiten für den „gemeinen Verstand“, sondern ihm öffnet sich gerade die Fragwürdigkeit alles Selbstverständlichen.“ (Seite 334 ebenda) Auch hier wieder eine klare Absage an die traditionelle Ontologie, die ja dem ontologischen Ursprung des Seins des Daseins – dass das Dasein von seinem Ursprung her entwerfend ist, also apriorisch die Fähigkeit besitzt, Ontologien zu entwerfen – „entspringt“ und von daher nur als Degeneration bezeichnet werden kann. „Entspringt“ ist hier in doppelter Bedeutung gemeint: einerseits in dem Sinn, dass die traditionelle Ontologie vom ontologischen Ursprung des Seins des Daseins kommt und ihm so entspringt, andererseits aber auch in dem Sinn, dass die traditionelle Ontologie dem Ursprung entspringt und sich somit davon abkehrt, dass das Sein des Daseins ontologisch ist und ständig neue Ontologien entwerfen kann. Daher ist jede Ontologie für sich genommen unangemessen und aufgesetzt. Das Ursprüngliche, also das, was jeder Ontologie zu Grunde liegt, ist nämlich die Tatsache, dass das Dasein ontologisch ist, also Ontologien entwirft. Das Dasein kann sich aber befreien von der Versessenheit einer einzigen Ontologie und kreativ seine Möglichkeiten entwerfen und entfalten, indem sich ihm die Fragwürdigkeit der in der Regel als selbstverständlich hingenommenen jeweiligen (gerade modernen) Ontologie eröffnet. Das entspricht auch Heideggers eigenem späterem Einwand (siehe Thomä in Rentsch, 2007, Seite 283 f.) gegen seinen Ausdruck Fundamentalontologie, die in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden bzw. darauf aufbauen müsse.

Im Folgenden werde ich wieder Heidegger referieren mit entsprechenden Umformulierungen (zum Beispiel prozesshaft statt zeitlich), die sich aus meinen Änderungen und Erweiterungen und bestimmten Auslegungen von „Sein und Zeit“ ergeben. Meine Abwandlungen sind jeweils kursiv gesetzt.

Das Sein des Daseins, um das es ihm geht, ist seine Existenz, die ihm dadurch erschlossen ist. Aus der Analyse der Erschlossenheit, also aus dem hermeneutischen Zirkel, bestehend aus Befindlichkeit, Verstehen, Rede und Auslegung, ergab sich die Umgrenzung der Sorge als Ergriffenheit, Erwartung, Täuschung und Umgang damit (Verfallen beim Festhalten an Täuschungen). Damit war eine vorläufige Interpretation der Grundverfassung des Daseins erreicht, nämlich des In-der-Welt-seins. Diese Interpretation soll nun durch die prozesshafte Analyse vertieft werden, um die Prozesshaftigkeit des In-der-Welt-seins zu bestimmen. Die darin enthaltene Umgrenzung der spezifisch prozesshaften Problematik der Weltlichkeit und des Selbstentwurfs muss sich bewähren durch die Charakteristik des zunächst und zumeist alltäglichen In-der-Welt-seins, des verfallenden umsichtigen Besorgens bzw. Ergreifens, dessen Prozesshaftigkeit die Modifikation der Umsicht zum rein hinsehenden Vernehmen ist und dem darin gründenden theoretischen Erkennen, d.h. Heidegger fasst die Naturwissenschaften als die Grundlage des Arbeitsbereiches auf. Wenn man die Umsicht der Naturwissenschaften modifiziert, also praktisch anwendet, dann ist man im Arbeitsbereich, der durch die Naturwissenschaften umsichtig optimiert ist. Insgesamt enthüllt sich so eine Umsetzungsmöglichkeit der Prozesshaftigkeit, in der die Uneigentlichkeit des Daseins ontologisch gründet. Damit stellt sich die Frage, wie der prozesshafte Sinn des bisher ständig gebrauchten „Zunächst und Zumeist“ verstanden werden soll. Dabei soll dann deutlich gemacht werden, dass und inwiefern die bis dahin erreichte Klärung der Alltäglichkeit ungenügend ist, zumindest die bei Heidegger. Bei meiner Erweiterung durch die vierte Ekstase der Räumlichkeit reicht die dadurch vertiefte Klärung der Alltäglichkeit meines Erachtens aus.

Kommen wir also nun zuerst zur prozesshaften Analyse der Sorge, deren prozesshafter Sinn bis jetzt nur grob umrissen wurde, deren Strukturmomente in der Reihenfolge Verstehen, Befindlichkeit, Festhalten an Täuschungen (Verfallen) und der Rede nun prozesshaft interpretiert werden sollen. Zusätzlich zu Heidegger gehört für mich noch die Auslegung als wichtiges Strukturmoment der Sorge dazu. Sie ist allerdings teilweise im Verfallen enthalten, wenn das Dasein eine Enttäuschung so auslegt, dass sie sie entweder ignoriert oder annimmt, also an der Täuschung festhält (Verfallen) oder nicht. Die jeweilige prozesshafte Konstitution dieser Momente führt jeweils auf die eine Prozesshaftigkeit zurück, wodurch die mögliche Struktureinheit der Sorge verbürgt ist. Dadurch dass ich oben die Prozesshaftigkeit des Zirkels des Verstehens anhand der eigentlichen Modi der vier Ekstasen aufgezeigt habe, ist die Prozesshaftigkeit der eigentlichen Erschlossenheit schon deutlich gemacht.

Verstehen besagt nach Heidegger „entwerfend-sein zu einem Seinkönnen, worumwillen je das Dasein existiert“ (Seite 336 ebenda) und zusätzlich nach meiner Auffassung akzeptierend-sein gegenüber einem Bedingt-sein, das dem Dasein jeweils überantwortet ist bzw. wofür das Dasein teilweise selbst verantwortlich ist, insofern es Entscheidungen getroffen hat, die dieses Bedingt-sein beeinflusst haben. Verstehend weiß das Dasein irgendwie, woran es mit ihm selbst ist, was sich in seinem Selbstentwurf zeigt mit seiner Selbstbedeutsamkeit als Struktur. Es hält sich damit in einer existenziellen Möglichkeit und in einer existenziellen Verantwortung seiner Bedingtheit. Da das Dasein sich selbst prinzipiell erschlossen ist, gibt es kein Nicht-Verstehen, sondern nur ein Nicht-Wissen als Fragwürdigkeit oder ein Nicht-Wissen-Wollen als Abkehr von ihm selbst. Dem Entwerfend-sein liegt die Zukunft zu Grunde als Auf-sich-zukommen aus dem jeweiligen Seinkönnen. Im Entwerfen erfasst das Dasein die entworfene Möglichkeit primär nicht theoretisch, sondern wirft sich in sein Seinkönnen als Möglichkeit. Verstehend ist das Dasein seine Möglichkeiten seines Seinkönnens bzw. sein Selbstentwurf und seine Selbstbedeutsamkeit. Dem Akzeptierend-sein liegt die Gewesenheit zu Grunde als Hinter-sich-herkommen aus dem jeweiligen Bedingt-sein heraus. Im Akzeptieren erfasst das Dasein die Bedingungen, vor die es geworfen ist, primär nicht rein theoretisch, sondern übernimmt sie direkt in seine Verantwortung als Bedingtheit. In der Selbstbedeutsamkeit ist diese Verantwortung insofern enthalten, als dass das Dasein die möglichen Konsequenzen, die es aus seinen vergangenen Erfahrungen erschließen kann, bei der Strukturierung seines Selbstentwurfs berücksichtigt. Als ursprüngliches und eigentliches Existieren auf der ontologischen Ebene ergab sich die Entschlossenheit im Vorlaufen und Sich-Zurückbringen. Der Entschlossenheit lag die eigentliche Räumlichkeit, das entschlossene Sich-Einlassen des Daseins zu Grunde. Zunächst und zumeist bleibt das Dasein unentschlossen, also in seinem eigensten Seinkönnen verschlossen. Dies bedeutet, dass sich die Prozesshaftigkeit nicht ständig aus der eigentlichen Zukunft, der eigentlichen Gewesenheit und der eigentlichen Räumlichkeit umsetzt. Diese Unständigkeit heißt jedoch nicht, dass es der Prozesshaftigkeit manchmal an Zukunft, Gewesenheit und Räumlichkeit fehlt, sondern nur dass die Umsetzung dieser drei Ekstasen wandelbar ist. Zunächst und zumeist lässt sich das Dasein wenig auf die jeweilige Situation ein, es ist zwar wegen seiner Sorge faktisch ständig sich-vorweg und sich-hinterher, aber unständig vorlaufend und sich zurückbringend. Je mehr sich das Dasein einlässt, je mehr das Dasein seine eigentliche Räumlichkeit aus der uneigentlichen gewinnt, desto mehr gewinnt es die eigentliche Zukunft und die eigentliche Gewesenheit aus der jeweils uneigentlichen.

Hieraus folgt schon einmal, dass der uneigentliche Modus der Umsetzung dieser drei Ekstasen (Gewesenheit, Zukunft und Räumlichkeit) ursprünglicher ist als der eigentliche. Auf der existenziellen Ebene besteht die Uneigentlichkeit vor der Eigentlichkeit, und nur so macht das Festhalten an der Täuschung als Vermeidung der Enttäuschung einen Sinn. Für die Ekstase der Gegenwart ist also dasselbe zu erwarten wie für die drei anderen Ekstasen der Prozesshaftigkeit, und dies wird auch gleich aufgezeigt. Der Vorrang der Eigentlichkeit auf der Ebene der Prozesshaftigkeit bei gleichzeitiger Vorgängigkeit der Uneigentlichkeit auf der Ebene der Umsetzung wird so verstehbar.

Die Umsetzung der eigentlichen Zukunft und der eigentlichen Gewesenheit ist das entschlossene Vorlaufen bzw. das Sich-Zurückbringen. Die Umsetzung der uneigentlichen Zukunft besteht darin, dass das Dasein nicht von sich selbst sondern von dem ergriffen ist, was ihm in der Welt begegnet, bzw. von dem, was es in der Welt an und von begegnendem Seienden erwartet. Das Dasein ist sich nicht seiner selbst gewärtig, sondern nur ergreifend oder besorgend seiner gewärtig aus dem, was das Besorgte oder Ergriffene ergibt oder versagt. Die Umsetzung der uneigentlichen Zukunft ist also ein Warten-auf-die-Welt. Heidegger nennt dies abkürzend gewärtig sein. Die Umsetzung der uneigentlichen Gewesenheit besteht darin, dass das Dasein sein Sein der Welt überantwortet und so vergisst, dass es ihm selbst überantwortet ist. Die Umsetzung der uneigentlichen Gewesenheit ist also das Selbstvergessen, die Welt bedingt scheinbar seine Seinsweise und nicht es selbst, wohl gemerkt die Seinsweise und nicht den existenziellen Vollzug, das Geschick. Aufgrund dieses Vergessens behält das Dasein das umweltlich begegnende Seiende anstelle des eigenen Selbst. Abkürzend kennzeichnet Heidegger die uneigentliche Gewesenheit mit dem Begriff Behalten. Die Umsetzung der eigentlichen Räumlichkeit war das hingebend Sich-einlassen oder die Entschlossenheit, die Umsetzung der uneigentlichen Räumlichkeit ist das Sich-von-sich-selbst-abkehren bzw. das Sich-von-anderem-Seienden-ergreifen-lassen (kurz Ergreifenlassen) entweder als Unentschlossenheit oder als Versessenheit. Versessenheit ist eine Art uneigentliche Entschlossenheit, ein Ergreifenlassen, bei dem das Dasein sich aber nicht frei hält, diese Entschlossenheit zurückzunehmen, wenn das Dasein die enttäuschende Erfahrung macht, dass dieser Entschlossenheit eine Täuschung zu Grunde liegt. Somit ist Versessenheit kein eigentliches Sich-Einlassen auf die jeweilige Situation, und die Unentschlossenheit ist überhaupt kein Sich-Einlassen, so dass beides kein Sich-Aufhalten in der jeweiligen Situation ist. Insgesamt ist das Dasein in der Aufenthaltslosigkeit (aus der Unheimlichkeit, Verzweiflung, Trostlosigkeit und Elend folgt), wenn es sich von sich selbst abgekehrt hat, so dass ich diesen Ausdruck für die uneigentliche Räumlichkeit verwenden will. Versessenheit ist anfänglich meistens noch nicht unecht (also ohne akute Täuschung), sie wird es aber früher oder später, so dass sie in eine Art Wahn mündet. Daher entspricht sie in etwa der paranoid-schizoiden Position bei Melanie Klein und die Unentschlossenheit der dazu alternativen depressiven Position (M. Klein, 1945 und 1946, zitiert nach Fonagy et al., 2008, Seite 36 und 201). Versessenheit ist die „Annahme, dass Überzeugung Wissen sei, [und das] bildet die Grundlage des Wahns und kennzeichnet die paranoid-schizoide Position“ (Britton, 1995, Seite 22, zitiert nach Fonagy et al., 2008, Seite 265). Versessenheit entspricht nicht dem Äquivalenz-Modus des Seins (siehe Seite 45) wegen des entscheidenden Unterschieds, dass ein Kleinkind bei verändertem Augenschein seine Überzeugung sofort ändert und seine frühere leugnet, während das Dasein in der Versessenheit seine Überzeugung nicht ändert und den veränderten Augenschein leugnet und nicht wahrhaben will – das ist ja gerade das Wahnhafte. Versessenheit ist aber ein Derivat des früheren Äquivalenz-Modus des Seins: wenn dieser nicht in den Als-ob-Modus des Seins integriert wurde, wenn also frühere und damit auch entsprechend einschlägige spätere Erfahrungen nicht in die Weltlichkeit eingeordnet wurden und werden, dann besteht Inkongruenz zwischen der Weltlichkeit des Daseins und seinen Erfahrungen und ein Festhalten an Täuschungen, d.h. das Dasein ist uneigentlich und im Zustand der Verfallenheit. Dieses Festhalten ist dann Versessenheit.

Die beiden Arten des Verstehens sind zwar primär zukünftig bzw. gewesenhaft, aber sie wären nicht umsetzbar im Prozess des Daseins, wenn sie nicht prozesshaft, also auch gleichursprünglich durch die jeweils anderen Ekstasen der Prozesshaftigkeit bestimmt wären. Für die Räumlichkeit stimmt das auf jeden Fall, denn sie bestimmt den Grad der Eigentlichkeit des jeweiligen Verstehens. Wie die Ekstase der Gegenwart die beiden Arten des uneigentlichen Verstehens mitbestimmt, ist eigentlich klar. Das uneigentliche Verstehen sowohl als Entwerfend-sein als auch als Akzeptierend-sein wird mitkonstituiert durch ein uneigentliches Sein-bei, das heißt das Dasein ist nicht bei dem Ereignis, bei dem es sich selbst entwickelt, also bei seinem eigenen Entwicklungsprozess. Dieses augenblickliche Ereignis nennt Heidegger Augenblick und bezeichnet damit die eigentliche Gegenwart. Die Umsetzung der eigentlichen Gegenwart bzw. des Augenblicks ist ein entschlossenes Sich-halten des Daseins in dem Augenblick, in dem es sich selbst entwickelt. Durch diesen Entschluss erschließt sich das Dasein die Situation, also sein „Da“. Diese Entschlossenheit ist dieselbe wie bei der eigentlichen Zukunft und der eigentlichen Gewesenheit. Aufgrund der Definition von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart (siehe Seite 137) kann man auch sagen, dass die eigentliche Gegenwart durch die Entschlossenheit, also die Umsetzung der eigentlichen Räumlichkeit, und die eigentliche Zukunft und Gewesenheit gehalten wird im Augenblick des Ereignisses der eigenen Veränderung. Die uneigentliche Gegenwart nennt Heidegger abkürzend und formal das Gegenwärtigen, womit er immer das uneigentliche, augenblicklose Sein-bei meint, obwohl jede Gegenwart gegenwärtigend ist. Auch für den uneigentlichen Modus der Umsetzung der Gegenwart gilt, dass er ursprünglicher ist als der eigentliche, was ja zu erwarten war.

Uneigentliches Verstehen als Entwerfend-sein wird also umgesetzt im Entwicklungsprozess als augenblickloses, unentschlossenes oder versessenes Sein-bei im Warten-auf-die-Welt. Das Dasein vergisst sich dabei selbst, so dass das uneigentliche Verstehen mitbestimmt ist durch die Selbstvergessenheit, also durch die uneigentliche Gewesenheit. Dabei ist das Dasein aufenthaltlos, also in der uneigentlichen Räumlichkeit. Entsprechend wird uneigentliches Verstehen als Akzeptierend-sein im Entwicklungsprozess umgesetzt als augenblickloses, unentschlossenes oder versessenes Sein-bei in der Selbstvergessenheit. Aufgrund seiner selbstvergessenen Unentschlossenheit oder Versessenheit kann das Dasein nicht entschlossen vorlaufen, sondern wartet auf die Welt, das heißt auch diese Art des uneigentlichen Verstehens ist mitbestimmt durch die uneigentliche Zukunft. Dabei ist das Dasein ebenfalls aufenthaltlos, also in der uneigentlichen Räumlichkeit. Die eigentliche Gewesenheit, das entschlossene Sich-Zurückbringen bezeichnet Heidegger auch als Wieder-Holen, er nennt das eigentliche Gewesen-sein die Wiederholung (Seite 339 ebenda), wobei man präziser achtsame Wiederholung bzw. Übertragung sagen müsste, denn unachtsames Wiederholen ist uneigentlich. Ich interpretiere das entschlossene Sich-Zurückbringen auch so, dass das Dasein sich dabei nicht nur Möglichkeiten seines Seinkönnens, die es in früheren Situationen gewählt oder nicht gewählt hat, achtsam wieder holt bzw. achtsam überträgt, sondern auch seine Verantwortlichkeit in Form der Achtsamkeit. Beides hat es zunächst und zumeist vergessen.

Was die Befindlichkeit betrifft, so stellt Heidegger zum einen fest, dass sie in der Geworfenheit gründet und ihr primär die Gewesenheit zu Grunde liegt (beides jeweils Seite 340 ebenda). Letzteres bedeutet, dass die Befindlichkeit primär in der Gewesenheit prozesshaft umgesetzt wird. Des Weiteren heißt es, „der existenziale Grundcharakter der Stimmung [also die Befindlichkeit] ist ein Zurückbringen auf ... Dieses stellt die Gewesenheit nicht erst her, sondern die Befindlichkeit offenbart für die existenziale Analyse je einen Modus der Gewesenheit.“ (Seite 340 ebenda) Damit ist die Befindlichkeit dasselbe wie das Verstehen des Bedingt-Seins des Daseins, also die zweite Art des Verstehens, die bei Heidegger nicht weiter verfolgt worden ist. Das Akzeptieren und die Übernahme der Verantwortung für sein Sein, insbesondere sein Geworfen-sein, ist das eigentliche Verstehen dieser Art, während das Verantwortlich-machen der Welt für die Seinsweise des Daseins (nicht des Vollzugs oder des Geschicks) das uneigentliche Verstehen dieser Art darstellt. Das Dasein hat bei Letzterem sich selbst und seine Möglichkeiten vergessen, es hat sich von ihm selbst abgekehrt. Dies stimmt auch mit den beschriebenen grundlegenden Modi der eigentlichen Befindlichkeit (Angst, Wut, Leid, Abscheu und Freude) und denen der uneigentlichen Befindlichkeit (Furcht, Zorn, Trauer, Ekel und Spaß) überein. Im Fall der uneigentlichen Befindlichkeit macht das Dasein die Welt verantwortlich für seine Befindlichkeit, denn ohne das Bedrohliche, Schädlich-gewesene, Nicht-anwesend-Seiende, Abstoßende und Amüsierende, also innerweltlich Begegnendes, gäbe es nicht die entsprechenden (uneigentlichen) Befindlichkeiten Furcht, Zorn, Trauer, Ekel und Spaß. Die uneigentliche Befindlichkeit ist also das zunächst und zumeist sich dem in der Welt begegnenden Seienden zuwendende und sich von ihm selbst abkehrende, sich selbst vergessende Sich-erwartungsvoll-abhängig-machen-von-der-Welt. Damit liegt im Selbst-Vergessen die uneigentliche Gewesenheit, im Erwartungsvoll-sich-abhängig-machen die uneigentliche Zukunft, in seinem Sich-Zuwenden zur Welt und im Sich-Abkehren von ihm selbst und damit auch von seiner augenblicklichen Situation und Veränderung, was auch Aufenthaltslosigkeit bedeutet, die uneigentliche Räumlichkeit und die uneigentliche Gegenwart. Entsprechend ist im Fall der eigentlichen Befindlichkeit das Dasein in seiner Existenz sich selbst überantwortet, denn das Wovor der Angst, das Worüber der Wut, des Leids, der Abscheu und der Freude gründet in seiner eigensten Existenz. Die eigentliche Befindlichkeit bringt das Dasein zurück auf seine ursprüngliche Geworfenheit. Sie ist das Annehmen der Überantwortetheit des Daseins in seiner Geworfenheit. Somit ist die Prozesshaftigkeit der Befindlichkeit schon geklärt, denn das Akzeptieren und Annehmen der Überantwortung des Daseins in seiner Geworfenheit ist das oben schon abgehandelte eigentliche Verstehen der zweiten Art. Im Verstehen der Angst ist das Dasein in die Ekstase der Zukunft entrückt oder ihrer gewahr, im Verstehen der Wut in die Ekstase der Gewesenheit, im Verstehen des Leids in die Ekstase der Gegenwart und im Verstehen der Abscheu in die Ekstase der Räumlichkeit. Wenn die eigentliche Befindlichkeit das Dasein zurück auf seine ursprüngliche Geworfenheit bringt, dann verweist das eigentliche Verstehen dieser Befindlichkeit das Dasein auf seine Prozesshaftigkeit. Im Verstehen der Freude erkennt das Dasein, dass die eigentliche Prozesshaftigkeit auf Erfüllung ausgerichtet ist und damit auf Liebe. Somit ist Eigentlichkeit die auf Liebe hin ausgerichtete Prozesshaftigkeit.

Bei seiner zeitlichen Analyse beschränkt sich Heidegger auf die Phänomene der Furcht und der Angst (Seite 341 ff., ebenda). Hätte er auch die des Ekels und der Abscheu analysiert, wäre ihm schnell klar geworden, dass er mit der Zeitlichkeit allein nicht den Grund dessen hat, was sie und wie sie existenziell „bedeuten“ (vgl. Seite 341 oben, ebenda). Dies gelingt nur, wie oben gezeigt, auf dem Grunde der Prozesshaftigkeit. Wie in Kapitel 5 schon erwähnt, wird in der Ergriffenheit durch das Sein-bei in der Welt die Befindlichkeit des Seins sichtbar, das heißt, die Befindlichkeit zeigt sich faktisch zuerst in der plötzlichen Überraschung oder dem bleibenden Interesse oder im Desinteresse als privativer Form, also in irgendeiner Art von mehr oder weniger großer, teils auch schwankender Erregtheit, um dann bei erfüllter Erwartung einen positiven Modus von Spaß (uneigentlich) oder Freude (eigentlich) oder bei Enttäuschung einen aversiven Modus von Furcht, Zorn, Trauer oder Ekel (uneigentlich) oder Angst, Wut, Leid oder Abscheu (eigentlich) anzunehmen, wobei die Modi auch mehr oder weniger rasch wechseln und/oder sich vermischen können.

In der Befindlichkeit erschließt sich dem Dasein sein Bedingt-sein, und je eigentlicher das Dasein ist, desto mehr übernimmt es dafür die Verantwortung, desto entschlossener bringt es sich zurück zu seinem Sein vom Anfang her. In der Entschlossenheit als hingebendes Sich-Einlassen ist das Dasein in die Ekstase der eigentlichen Räumlichkeit entrückt, d.h. es setzt sich entschlossen damit auseinander, wie sehr es sich angezogen oder abgestoßen fühlt von seinem In-der-Welt-sein. In dieser Auseinandersetzung beschäftigt es sich mit dem in der Befindlichkeit enthaltenen Maß an Abscheu. Je uneigentlicher das Dasein aber ist, desto weniger lässt es sich auf sein In-der-Welt-sein ein und macht irgendetwas in der Welt begegnendes Seiendes für seinen unter Umständen in der Befindlichkeit enthaltenen Ekel verantwortlich. Im entschlossenen Sich-Zurückbringen ist das Dasein in die Ekstase der eigentlichen Gewesenheit entrückt, d.h. es setzt sich entschlossen damit auseinander, wie sehr es sich geschädigt oder bevorzugt fühlt durch sein bisheriges In-der-Welt-sein. In dieser Auseinandersetzung beschäftigt es sich mit dem in der Befindlichkeit enthaltenen Maß an Wut. Je uneigentlicher das Dasein aber ist, desto weniger lässt es sich auf sein In-der-Welt-sein ein und macht irgendetwas in der Welt begegnendes Seiendes für seinen unter Umständen in der Befindlichkeit enthaltenen Zorn verantwortlich. Im entschlossenen Vorlaufen zum Tod ist das Dasein in die Ekstase der eigentlichen Zukunft entrückt, d.h. es setzt sich entschlossen damit auseinander, wie sehr es sich bedroht oder sicher geschützt fühlt durch sein In-der-Welt-sein. In dieser Auseinandersetzung beschäftigt es sich mit dem in der Befindlichkeit enthaltenen Maß an Angst. Je uneigentlicher das Dasein aber ist, desto weniger lässt es sich auf sein In-der-Welt-sein ein und macht irgendetwas in der Welt begegnendes Seiendes für seine eventuell in der Befindlichkeit enthaltenen Furcht verantwortlich. Im entschlossenen Sich-halten im Augenblick ist das Dasein in die Ekstase der eigentlichen Gegenwart entrückt, d.h. es setzt sich entschlossen damit auseinander, wie sehr es sich getrennt fühlt von einem erfüllten In-der-Welt-sein. In dieser Auseinandersetzung beschäftigt es sich mit dem in der Befindlichkeit enthaltenen Maß an Leid. Je uneigentlicher das Dasein aber ist, desto weniger lässt es sich auf sein In-der-Welt-sein ein und macht irgendetwas in der Welt begegnendes Seiendes für seine eventuell in der Befindlichkeit enthaltenen Trauer verantwortlich. Wenn die der Befindlichkeit zu Grunde liegende Stimmung positiv getönt ist aufgrund einer erfüllten Erwartung, dann setzt sich das Dasein umso entschlossener damit auseinander, wie sehr es sich erfüllt und voller Freude fühlt von seinem In-der-Welt-sein, je eigentlicher es ist. Dabei entwickelt sich die Freude immer mehr hin zu Liebe. Je uneigentlicher das Dasein aber ist, desto weniger lässt es sich auf sein In-der-Welt-sein ein und macht irgendetwas in der Welt begegnendes Seiendes oder sich selbst als Seiendes, was angeblich für sich selbst und nicht in der Welt ist, für seinen in der Befindlichkeit enthaltenen Spaß verantwortlich und macht sich so von diesem Amüsierenden abhängig. Die vier aversiven Modi der Befindlichkeit entrücken das Dasein jeweils in die vier jeweils uneigentlichen bzw. eigentlichen Ekstasen der Prozesshaftigkeit, und Freude und Spaß weisen auf Liebe und ihr uneigentliches Pendent, die Abhängigkeit, hin. Wir haben daher zusammen mit der befindlichen Erregtheit und den auf Abhängigkeit hin ausgerichteten uneigentlichen und den auf Liebe hin ausgerichteten eigentlichen Ekstasen der Prozesshaftigkeit eine philosophische Grundlage einer psychologischen Theorie der Stimmungen, Affekte und Emotionen, denn jede Befindlichkeit kann so wie oben mithilfe der fünf Grundbefindlichkeiten Angst, Wut, Leid, Abscheu und Freude vollständig analysiert werden.

Heidegger hat ja zur Bewährung der existenzialen Interpretation des Daseins als Sorge die Cura-Fabel des Hyginus als vorontologisches Zeugnis angeführt (ebenda, Seite 197). Entsprechend möchte ich ein solches Zeugnis zur Bewährung der existenzialen Interpretation des Sinnes des Seins als Prozesshaftigkeit herbeibringen: Nach der Vier-Wurzel-Lehre von Empedokles entsteht alles Sein aus den vier „Elementen“ Erde, Luft, Feuer und Wasser (Thomas Buchheim, 1994, Seite 145 ff.). Erde entspricht dabei symbolisch der Ekstase der Gewesenheit und auf der Ebene der Befindlichkeit dem Modus der Wut, denn die Gewesenheit ist etwas fest Geformtes wie die Erde, und Wut wird oft auch als etwas Massives bezeichnet. Luft ist entsprechend der Ekstase der Zukunft zugeordnet und auf der Ebene der Befindlichkeit dem Modus der Angst. Luftnot macht Angst und die Form von Luft und Zukunft sind ähnlich leicht veränderbar. Feuer ist parallel zur Ekstase der Gegenwart und auf der Ebene der Befindlichkeit zum Modus des Leids, denn Feuer ist so flüchtig wie die Gegenwart und kann so heiß brennen wie das Leid. Wasser schließlich passt symbolisch zur Ekstase der Räumlichkeit und auf der Ebene der Befindlichkeit zum Modus der Abscheu. Wasser sucht sich seinen Weg, dringt in alle Räume ein und breitet sich überall aus, das sind alles räumliche Attribute, und es kann kristallklar oder abscheulich trüb oder beschämend schmutzig sein. (Damit lässt sich das oben erwähnte Zitat von Rumi (siehe oben) wie folgt interpretieren: Statt in der Suche nach Wasser in der Aufenthaltlosigkeit, der uneigentlichen Räumlichkeit, zu sein, ist es besser durstig zu werden und so zu spüren, wo man ist, sodass man in der eigentlichen Räumlichkeit, in der Entschlossenheit, ist. Dann kann das Wasser von unten und oben hervorsprudeln, und das Dasein kommt nach Hause in die Liebe.) Die Quintessenz, der Äther nach Aristoteles, entspricht dann dem gesamten Entwicklungsprozess des Daseins und auf der Ebene der Befindlichkeit dem Modus der Freude. Die einzigartige Kraft des Äthers ist es nach Aristoteles, Leben einzuhauchen, so wie auch Freude belebt und den Entwicklungsprozess des Daseins, dessen Beziehung zum Sein, also sein Leben, bereichert und fördert in Richtung Liebe und Erfüllung. Bei Empedokles sind die vier Elemente als Wurzeln aufgefasst, die als solche sie selbst bleiben, wobei aber das, was aus ihnen erwächst, sich mischt in Verflechtungen, die durch Liebe festgehalten werden. Diese Vorstellung passt sowohl auf die vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit und den Prozess, der aus ihnen erwächst, als auch auf die diesen entsprechenden vier Grundbefindlichkeiten Wut, Angst, Leid und Abscheu, aus denen sich Stimmungen entwickeln und sich ineinander verflechten, die in der Vorfreude auf Erfüllung in der Eigentlichkeit gehalten werden. In der wahren Beziehung des Daseins zum Sein, also in der Liebe, ist das, was durch die vier Ekstasen im jeweiligen eigentlichen Modus entstanden ist, in der Prozesshaftigkeit zusammengehalten durch die Liebe. Wenn das Dasein aber, bevor es sich in seinem Worumwillen echt und unmittelbar versteht, wieder uneigentlicher wird, indem es an einer Täuschung festhält, dann entsteht ein Konflikt, und es verfällt das, was sich bisher gemeinsam an Verständnis entwickelt und vereint hat, so wie bei Empedokles im Streit das, was sich aus den vier Wurzeln entwickelt hat, sich zurückbildet und die Wurzeln „von entzweiter Gestalt“ (Thomas Buchheim, 1994, Seite 148) sind. Die vier Wurzeln und entsprechend die vier Ekstasen und die entsprechenden Grundbefindlichkeiten befinden sich dann in einem uneigentlichen Modus, und anstelle der Freude gibt es höchstens noch den Spaß zur Ablenkung von der entstandenen Misere.

Zur schematischen Übersicht über die verschiedenen Zusammenhänge eine illustrierende Tabelle (Eigenes kursiv):

Prozesshaftigkeit Entwicklungsebene Primäre Befindlichkeit Empedokles Eigentlichkeit Uneigentlichkeit
Gesamte Entwicklung physische Freude Äther (Aristoteles) Entwicklung hin zu Liebe und Erfüllung Regression in Richtung Abhängigkeit und/oder Kontrollzwang
Gewesenheit, Herkunft soziale Wut Erde Vorlaufen zum Ende Warten-auf, Sich-Abhängig-machen, Kontrolle-über
Zukunft teleologische Angst Luft Sich-Zurückbringen zum Anfang, Wieder-holen, achtsame Übertragung Selbstvergessenheit
Gegenwart, Ankunft intentionale Leid Feuer Augenblicklichkeit Gegenwärtigkeit, Entspringen, Augenblicklosigkeit
Räumlichkeit, Auskunft repräsentationale Scham, Abscheu Wasser Entschlossenheit Aufenthaltlosigkeit

Bei den bisher untersuchten konstitutiven Strukturmomenten der Sorge gab es jeweils für das betreffende Phänomen eine primäre Ekstase, bei den beiden Arten des Verstehens jeweils die Zukunft und die Gewesenheit und bei der Befindlichkeit, die der zweiten Art des Verstehens bei mir entspricht, entsprechend auch die Gewesenheit. Bei der prozesshaften Interpretation spielte aber immer auch die ganze Prozesshaftigkeit, also alle vier Ekstasen, eine Rolle. Beim dritten Strukturmoment der Sorge, bei der Täuschung und dem Festhalten daran, also der Abkehr von der Enttäuschung und damit vom Dasein selbst, Heidegger nennt es das Verfallen, ergibt sich nach Heidegger als existenzialer Sinn bzw. als primäre Ekstase die Gegenwart. Die Enttäuschung, von der sich das Dasein abkehrt, ist immer in der Gegenwart, es ist das Ereignis, bei dem sich das Dasein ändert (die Täuschung entdeckt), von dieser Änderung aber nichts wissen will. Das Dasein vermeidet den Augenblick, es ist augenblicklos unentschlossen oder versessen von sich selbst abgekehrt und lässt sich so leicht von etwas anderem Seienden ergreifen, zu dem es dann ergriffene Nähe empfindet. Darin und in der Abkehr von sich selbst zeigt sich somit auch die Uneigentlichkeit der Räumlichkeit, die Aufenthaltslosigkeit. Im Unterschied zu Heidegger bin ich daher der Meinung, dass die primäre Ekstase der Verfallenheit bzw. der Abkehr von der Enttäuschung die Räumlichkeit ist, das Dass-und-Wie des Umgangs mit der Enttäuschung.

Auffallend bei Heidegger ist hier, dass es bei diesem Strukturmoment der Sorge nur einen uneigentlichen Modus gibt, und keinen eigentlichen. Der eigentliche Modus ist das Annehmen der Enttäuschung durch entschlossene Umkehr als Einkehr, Rückkehr und Vorkehr gegen die Wiederkehr von Schuld und/oder Abkehr von sich selbst wie oben in Kapitel 8 beschrieben, wodurch das Dasein immer mehr Erfahrungen sammelt, seine Weltlichkeit und die dazugehörige Struktur der Bedeutsamkeit sowie seinen Selbstentwurf und die dazugehörige Struktur der Selbstbedeutsamkeit immer mehr erweitert und sein Verständnis immer echter und eigentlicher wird, so dass sich Ergriffenheit und Erwartung als Einheit immer mehr zu Liebe und Erfüllung entwickeln.

Daher erscheint es mir passender, dieses konstitutive Strukturmoment der Sorge Umgang mit Enttäuschung zu nennen mit dem uneigentlichen Modus des Verfallens und Festhaltens an der Täuschung und dem eigentlichen Modus des Annehmens der Enttäuschung. Die Prozesshaftigkeit des eigentlichen Modus und die Rolle der vier Ekstasen ist oben schon beschrieben in Kapitel 9. Die primäre Ekstase ist für mich natürlich auch hier die Räumlichkeit, nämlich die Entschlossenheit, mit der das Dasein die faktische Umkehr bzw. das Annehmen der Enttäuschung endgültig vollzieht. Beim uneigentlichen Modus des Verfallens bzw. des Vermeidens der Enttäuschung und des Festhaltens an der Täuschung stellen sich dem Dasein zwei Aufgaben: Aufgrund der Täuschung werden auf der existenziellen Ebene „Erwartungen“ nicht erfüllt, so dass die Gestimmtheit des Daseins immer kritischer wird und damit auch der existenziale Grundcharakter dieser Stimmung, nämlich die Befindlichkeit. Um den Modus des Verfallens aufrecht zu erhalten und sich weiterhin von der Enttäuschung abzukehren, muss das Dasein die Verantwortlichkeit für seine kritische Gestimmtheit auf die Welt bzw. auf innerweltlich Begegnendes verschieben, das heißt das Dasein ist in der Selbstvergessenheit, so dass hier die uneigentliche Gewesenheit hervortritt bzw. prozesshaft umgesetzt ist. Das Dasein gibt sich damit den scheinbar gerechtfertigten Anspruch, von der Welt erst einmal beruhigt zu werden oder sich selbst etwas Beruhigendes ergreifen zu dürfen. Da das Dasein die Ruhe nicht in sich selbst sucht, ist dieses gewärtigende Sein-bei als Warten-auf die uneigentliche Zukunft. Das augenblickliche Ereignis der Veränderung ist die Enttäuschung, und mit seinem Festhalten an der Täuschung kehrt sich das Dasein von der Enttäuschung und damit vom eigentlichen Augenblick ab, sodass es diesen verpasst, es ist sozusagen augenblicklos und damit in der uneigentlichen Gegenwart. Das Prozesshafte des Daseins wird primär in der uneigentlichen Räumlichkeit umgesetzt, das Dasein lenkt sich ab von ihm selbst durch dieses uneigentliche Ergreifen, Besorgen oder Erwarten, es ist, wie Heidegger es nennt, ohne Aufenthalt, so dass dies ein weiterer Grund ist, die uneigentliche Räumlichkeit auch Aufenthaltlosigkeit zu nennen. Neben dem befindlichen Sein-bei der Beruhigung ist noch etwas anderes vom Dasein zu beachten, damit es die Enttäuschung vermeiden kann: Es muss sich in seinem weiteren Seinkönnen so entwerfen, dass es nicht noch weitere Erfahrungen auf der existenziellen Ebene in der Welt macht, bei denen die beunruhigende Nicht-Erfüllung von „Erwartungen“ aufgrund der Täuschung sich wiederholt. Dies ist dem Dasein deswegen möglich, weil ihm die Täuschung als Täuschung erschlossen ist, auch wenn es sie sich selbst durch die Abkehr von sich selbst verschlossen hat. Durch die entsprechende Einschränkung seiner Möglichkeiten seines Seinkönnens ist auch der Horizont seiner Zukunft eingeschränkt bzw. nicht mehr offen, also uneigentlich. Seine Beziehung zur Welt und zu seinem In-der-Welt-sein ist Kontrolle, so dass man die uneigentliche Zukunft deshalb Warten-Auf mit Kontrolle-Über nennen könnte. Damit das Dasein in derartige Möglichkeiten seines Seinkönnens, bei denen die beunruhigende Nicht-Erfüllung von „Erwartungen“ aufgrund der Täuschung sich wiederholt, nicht hineingerät, muss es diesen in der Gegenwart entspringen, das heißt die uneigentliche Gegenwart ist ein Entspringen. Die beiden Strukturmomente der Sorge, nämlich Ergriffenheit und Erwartung wandeln sich bei dem uneigentlichen Modus des Verfallens um in Wunsch nach Beruhigung und Erwartung von Kontrolle. Dies wird prozesshaft umgesetzt in der uneigentlichen Räumlichkeit als primärer Ekstase, und die uneigentliche Räumlichkeit als aufenthaltlose Unentschlossenheit oder Versessenheit zeigt sich so als sich ablenkende Aufenthaltlosigkeit oder auch aufenthaltloses Sich-Ablenken des Daseins. Die Sorge als Wunsch nach Beruhigung und Erwartung von Kontrolle ist dann in einem Modus von Sucht bzw. Abhängigkeit und Kontrollzwang, was ich schon oben als die uneigentliche Liebe bezeichnet habe. In der Uneigentlichkeit ist die Sorge Sucht und Abhängigkeit, in der Eigentlichkeit aber Liebe. Damit ist auch die Prozesshaftigkeit des Umgangs mit der Enttäuschung sowohl in ihrem uneigentlichen als auch in ihrem eigentlichen Modus gezeigt und die jeweilige Rolle der vier Ekstasen bei der prozesshaften Umsetzung geklärt. Auch hier ist klar, dass der uneigentliche Modus der Umsetzung der Prozesshaftigkeit des Daseins ursprünglicher ist, direkt nach der Geworfenheit sind Beruhigung und Kontrolle das einzig Wichtige für das Dasein, man spricht ja auch beim Säugling vom Stillen, und das Schreien, das Nicht-still-sein, ist seine einzige Kontrolle, und wenn sie versagt, dann stirbt der Säugling, weil er nicht mehr versorgt wird. Als Baby befindet sich das Dasein in einer ursprünglichen Abhängigkeit. So betrachtet fällt das Dasein im Verfallen entwicklungsmäßig allmählich zurück auf die Stufe eines Säuglings, wenn es nicht vorher umkehrt. Als Baby ist das Dasein im Zustand der Angewiesenheit, die sich entwickeln kann zu Abhängigkeit, wenn die Mutter es nicht ausreichend echt und unmittelbar versteht, also ausreichend liebt, oder zu immer mehr Liebe. Auf diese Weise zeigt sich die Verfallenheit an das Man als Derivat der Mutter-Kind-Beziehung, das Dasein regrediert in eine symbiotischen Beziehung zum Man, wobei die ursprüngliche Beziehung zur Mutter umso weniger als symbiotisch bezeichnet werden kann, je echter und unmittelbarer die Mutter ihr Kind versteht, also je mehr sie ihr Kind wirklich liebt. In der Psychoanalyse wird diese Verfallenheit als regressive Tendenz der depressiven Objektsuche bezeichnet, worin sich also die Enttäuschung zeigt und so dem Dasein hinterher läuft, auch wenn es sich davon abgekehrt hat. Insofern ist es nicht nur das Man, welches das Dasein beherrschen will, sondern das Verfallen geht ursprünglich vom Dasein aus, welches darin eine vermeintliche Obhut durch das Man sucht und sich in der Folge mit dem Man in einer Abhängigkeit verstrickt, weil es ihm Macht über sich gegeben hat. Aus der Ergriffenheit von Beruhigung und der Erwartung von Reaktionen der Mutter erst entwickelt sich die Sorge des Daseins in seiner Angewiesenheit auf die Mutter immer mehr hin zu ihrem eigentlichen Modus, nämlich zu Liebe und Erfüllung, solange es sich nicht aufgrund einer Enttäuschung von ihm selbst abkehrt. Dabei wird die Sorge schon wesentlich eigentlicher, wenn das Dasein am Ende der sozialen Geburt seine bisherigen Erfahrungen des Äquivalenz-Modus des Seins in den Als-ob-Modus aufnehmen und integrieren kann, so dass aus der anfänglich von der Mutter übernommenen Weltlichkeit immer mehr seine eigene wird.

Bleibt noch die Rede als viertes konstitutives Strukturmoment der Sorge, deren primäre Ekstase sowohl nach meiner, als auch nach Heideggers Meinung die Gegenwart ist. So, wie die eigentliche Gegenwart gehalten ist zwischen der eigentlichen Zukunft und der eigentlichen Gewesenheit, so ist die eigentliche Rede des Daseins als die vorgreifende Gliederung der eigentlichen Verständlichkeit gehalten zwischen dem eigentlichen Verstehen seines möglichen Seinkönnens einschließlich seines Todes und der eigentlichen Befindlichkeit bzw. dem eigentlichen Verstehen und Akzeptieren des Bedingt-Seins des Daseins einschließlich seiner Geworfenheit. Damit ist die Rede die vorgreifende Gliederung der Bedeutsamkeit der momentanen Situation, des momentan erschlossenen „Da“, sodass hier primär die Ekstase der eigentlichen Gegenwart, aber im „Da“ auch die der eigentlichen Räumlichkeit hervortreten. Die Bedeutsamkeit ergibt sich aus dem Sich-Zurückbringen auf frühere Erfahrungen, welche die Weltlichkeit konstituiert haben, deren Struktur die Bedeutsamkeit ist, sodass hier die Ekstase der eigentlichen Gewesenheit als achtsame Übertragung hervortritt, und die Bedeutsamkeit gibt Aufschluss darüber, welche Seinsmöglichkeiten das Dasein entwerfen kann, also wohin das Dasein entschlossen vorlaufen kann, was der Ekstase der eigentlichen Zukunft entspricht. Die eigentliche Rede löst die Spannung zwischen Faktizität und Existenzialität, indem sie Faktisches durch achtsame Übertragung als etwas Existenziales deutet, also Bedingtheiten der Situation begrifflich in Möglichkeiten in der Situation überführt und das bedingte Seinkönnen des Daseins so begreiflich macht. Wenn die Rede der momentanen Situation entspringt (sie also verlässt) und damit entrückt ist in die uneigentliche Gegenwart und Räumlichkeit, wird sie zum Gerede. Dann sind ihre Begriffe aus der uneigentlichen Gewesenheit (unachtsame zweideutige Übertragung) und der uneigentlichen Zukunft (unbedeutende oder neugierig-begehrliche Möglichkeiten), das heißt sie behalten nur das innerweltlich Begegnende als Zweideutiges und sind nur dessen gewärtig, was das uneigentliche, unbedeutende oder neugierig-begehrliche Besorgen in der Zukunft betrifft. Daher ist die Rede, ob eigentlich oder uneigentlich, an ihr selbst prozesshaft.

Im hermeneutischen Zirkelprozess ergab hier die Befindlichkeit die Vor-Habe, das Verstehen des möglichen Seinkönnens die Vor-Sicht und die Rede den Vor-Griff. Jetzt fehlt nur noch die Auslegung. Meines Erachtens entspricht die Auslegung dem Strukturmoment der Sorge, welches ich oben Umgang mit der Enttäuschung genannt habe, und was bei Heidegger das Verfallen ist. Bei der eigentlichen Auslegung der Enttäuschung nimmt das Dasein sie an, bei der uneigentlichen jedoch kehrt es sich von der Enttäuschung und damit von ihm selbst ab, so dass sich der Prozess des Verfallens vollzieht. Mit der oben aufgezeigten Prozesshaftigkeit des Umgangs mit der Enttäuschung ist damit auch die Prozesshaftigkeit der Auslegung der Enttäuschung geklärt mit der Räumlichkeit als primärer Ekstase. Statt zu einer Enttäuschung kann es aber auch zu einer Erfüllung kommen. Die uneigentliche Auslegung davon besteht darin, dass das Dasein dabei von etwas innerweltlich Begegnendem ergriffen ist. Dies kann es entweder unentschlossen hinnehmen oder versessen „Ich-Ich“-sagend als eigensten Erfolg verbuchen. In beiden Fällen zeigt sich darin die uneigentliche Räumlichkeit. Seine Befindlichkeit dabei ist der Spaß (uneigentlich), und das Dasein erwartet immer noch mehr Spaß, sodass darin jeweils die uneigentliche Gewesenheit und Zukunft ersichtlich werden. Mit der Ergriffenheit von dementsprechenden innerweltlich Begegnenden entspringt das Dasein dem eigentlichen Augenblick und lässt darin die uneigentliche Gegenwart deutlich werden. Die eigentliche Auslegung der Erfüllung besteht darin, dass das Dasein dabei seine Ergriffenheit von seinem augenblicklichen In-der-Welt-sein ausdrückt. In der damit verbundenen Entschlossenheit als verschwiegenes Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein ist das Dasein offen für seine Freude und die der Anderen über sein In-der-Welt-sein und der damit verbundenen Beziehung zum Sein überhaupt, indem es auch bescheiden seine Dankbarkeit über sein Erfüllt-sein ausdrückt. In der Entschlossenheit zeigt sich die eigentliche Räumlichkeit, im Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein die eigentliche Zukunft, im Offen-sein für die eigentliche Befindlichkeit der Freude (seiner eigenen wie der der Anderen) die eigentliche Gewesenheit und in der dankbaren Ergriffenheit von seinem augenblicklichen In-der-Welt-sein die eigentliche Gegenwart.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal genauer auf die Auslegung eingehen, die als ausdrückliche Aneignung der befindlichen Verständlichkeit ein meines Erachtens besonderes Strukturmoment der Sorge konstituiert. Deren primäre Ekstase ist die Räumlichkeit, da der Ausdruck als das Dass-und-Wie das horizontale Schema der Räumlichkeit ist, der den Horizont der Räumlichkeit offen hält. Daher liegt meines Erachtens im Ausdruck ein großes Potenzial an Kreativität bzw. Gestaltungsmöglichkeit. Mit der eigentlichen Auslegung kann das Dasein seine Befindlichkeit und sein Verstehen neu gestalten und in diesem Sinne erschaffen. Innerhalb einer Gemeinschaft kann das Dasein mit seinem Ausdruck bei Anderen einen Eindruck machen und auf diese Weise Kontakt (Berührung) herstellen, ebenfalls ein kreativer Akt. Mit der eigentlichen Auslegung als Ausdruck von ihm selbst ist das Dasein schöpferisch, sowohl was das eigene, als auch anderes Sein betrifft, das heißt es ist schöpferisch in Bezug auf das Sein überhaupt. Wie kreativ eine Auslegung sein kann, mag folgende Aufzählung verdeutlichen: sie kann zum Beispiel pessimistisch oder optimistisch, weitschweifig oder pointiert sein, nur etwas nachahmen oder den persönlichen Stil ausdrücken, ernst oder humorvoll sein. Die Offenheit des Horizonts der Räumlichkeit ist die gestaltende Kreativität. Ein uneigentlicher Ausdruck ist ein falscher, gespielter oder fehlender Ausdruck, das Dasein ist dabei aufenthaltlos, selbstvergessen, dem Augenblick, der realen Situation entspringend, und in der Abhängigkeit und einem Warten-Auf versucht es unter Umständen, Andere durch Manipulation zu kontrollieren, zum Beispiel durch das Springen im Rollendreieck Opfer-Täter-Helfer.

Die Räumlichkeit ist zwar nur eine der vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit, aber sie nimmt insofern eine besondere Stellung ein, als dass in ihr die Offenheit und Eigentlichkeit der anderen drei Ekstasen gründen: je offener die Ekstase der Räumlichkeit ist, das heißt je mehr das Dasein sich einlässt und entschlossen und kreativ ist und damit sich selbst gestaltend kreiert, desto offener sind auch die anderen drei Ekstasen und desto eigentlicher ist das Dasein. Die Ekstase der Räumlichkeit begründet so die ekstatische Einheit der eigentlichen Prozesshaftigkeit. Nur wenn das Dasein „An-sich-heran“ geht, kann es „Auf-sich-zu“, „Zurück-auf-sich“, „Bei-sich-an“ und „Aus-sich-heraus“ kommen. Ursprünglich geht die Mutter an das Dasein als Baby heran, bis es nach der sozialen Geburt selbst „An-sich-heran“ gehen kann. Nur in der Räumlichkeit also zeigt sich die „inhärente Intersubjektivität“, wie sie von Fonagy et al. (2008, Seite 293) erwähnt wird. Andererseits aber kommt das Dasein gar nicht „An-sich-heran“ oder „Aus-sich-heraus“, wenn es nicht „Auf-sich-zu“, „Zurück-auf-sich“ und „Bei-sich-an“ kommt. Zeitlichkeit und Räumlichkeit sind daher gleichursprünglich.

Die eigentliche Auslegung ist die ausdrückliche Entschlossenheit des Daseins, bei der das Dasein sich ständig frei hält für eine Zurücknahme, um sich immer wieder neu zu entschließen, bei der das Dasein also auch ständig offen ist für den Austausch, das Annehmen von Reaktionen auf seinen Ausdruck, und die uneigentliche Auslegung ist entweder die ausdrückliche Unentschlossenheit des Daseins oder eine ausdrückliche Entschlossenheit, bei der das Dasein aus welchen Gründen auch immer nicht bereit ist, diese Entschlossenheit zurückzunehmen, sich also verschließt vor möglichen Reaktionen und Konsequenzen auf seine Unentschlossenheit oder Entschlossenheit. Letzteres ist dann die ausdrückliche Versessenheit. Beiden Arten der uneigentlichen Auslegung ist gemeinsam, dass das Dasein jeweils nicht bereit ist, sich richtig auf die Situation, also sein erschlossenes Da, mit allen Konsequenzen einzulassen, es hat daher auch keinen Aufenthalt und ist aufenthaltlos, das heißt die primäre Ekstase ist die uneigentliche Räumlichkeit. Bei der ausdrücklichen Unentschlossenheit ist das Dasein auf jeden Fall uneigentlich, und wenn das Dasein nicht bereit ist eine ausdrückliche Entschlossenheit zurückzunehmen, dann ist es nicht in der Lage, alle Erfahrungen, die es in der Welt macht, in seiner Weltlichkeit zu integrieren, das heißt es besteht eine Inkongruenz, so dass wie oben beschrieben das Dasein immer uneigentlicher wird. Beim uneigentlichen Auslegen lenkt sich das Dasein also ab und entspringt der Gegenwart, es wartet abhängig von der Welt auf die Welt, vergisst sich selbst und hat kein Zuhause, keinen Aufenthalt. Die prozesshafte Umsetzung ist also eine uneigentliche. Diese Umsetzung ist auch die ursprüngliche, und je eigentlicher die Auslegung wird, desto eigentlicher wird auch das Dasein.

Somit ist die prozesshafte Analyse der Sorge mit ihren vier konstitutiven Strukturmomenten Verstehen, Befindlichkeit, Rede und Auslegung/Austausch erfolgreich abgeschlossen. Diesen Strukturmomenten entsprachen als primäre Ekstasen die Zukunft, die Gewesenheit, die Gegenwart und die Räumlichkeit. Im Laufe des Entwicklungsprozesses des Daseins entwickelt sich die Sorge aus den beiden Momenten Ergriffenheit von Beruhigung und der Erwartung von Kontrollieren-Können als Abhängigkeit, dem ursprünglichen und uneigentlichen Modus von Ergriffenheit und Erwartung, also der Sorge, immer mehr in Richtung Liebe und Erfüllung, dem eigentlichen Modus der Sorge. Die prozesshafte Analyse der Sorge erbrachte somit ein sehr wichtiges Ergebnis, den ursprünglichen und uneigentlichen Modus der Sorge als Abhängigkeit und Kontrollezwang und den eigentlichen als Liebe.

Vorläufiges Resümee Bearbeiten

Was bringt nun das Dasein dazu, diese Entwicklung einzuschlagen, was gibt ihm diese Stärke, wodurch erlangt es immer mehr Verständnis seiner Existenz? Zum einen liegt dies sicherlich im Dasein selbst, da es ihm um seine Existenz geht, zum anderen aber auch an den Erfahrungen, die es in der Welt macht, und hier insbesondere an der gegenseitigen Verständigung mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaften, denen es als Mitglied angehört (Familie, Schule, Gesellschaft usw.). Das dem Dasein entgegengebrachte Verständnis von anderen, also die Sorge als Vorform der Liebe, solange die Sorge noch nicht vollkommen eigentlich ist, ist sicherlich das Wichtigste für die Entwicklung des Daseins zu immer mehr Verständnis seiner Existenz, insbesondere zu Beginn seiner Entwicklung. Je mehr Verständnis das Dasein auf diese Weise vom Sein überhaupt gewinnt, desto mehr entwickelt sich seine Sorge und damit sein In-der-Welt-sein insgesamt hin zu kreativ-gestaltender Liebe und Erfüllung, also dem eigentlichen Modus der Sorge. Je weiter dieser Prozess voranschreitet, desto mehr kann das Dasein loslassen und sich umsichtig, das heißt offen für das Verstehen, hin- und hinein-geben, desto mehr Angst kann es aushalten bzw. desto weniger Angst hat es dann beim umsichtigen Loslassen und seiner umsichtigen Selbsthingabe, da es immer mehr auf seine gestaltende Schöpferkraft vertrauen kann. Je mehr das Dasein das Sein überhaupt echt und eigentlich versteht, desto mehr kann es sich auf die Welt umsichtig einlassen und sich umsichtig hingeben, wodurch es wieder mehr Verständnis vom Sein überhaupt bekommen kann. Sich immer wieder und immer mehr auf die Welt umsichtig einzulassen, ohne sich von seinem Sein abzukehren, bringt das Dasein auf dem Entwicklungsprozess zu kreativer Liebe und Erfüllung immer weiter voran.

Was bedeutet es, sich von seinem Sein nicht abzukehren? Einerseits heißt dies, dass das Dasein sich in der Entschlossenheit hält, Irrtümer durch Umkehr als Einkehr und Wiedergutmachung auszugleichen, aber auch Vorkehrungen zu treffen, dass es nicht immer wieder zu ähnlichen Irrtümern mit der Gefahr einer Abkehr kommt. Dazu ist es wichtig, dass das Dasein sich selbst genügend Raum und Zeit gibt, seine Erfahrungen zu verarbeiten und sich immer wieder neu zu organisieren und zu erschaffen. Dies bedeutet auch, dass es keinen Schöpfergott gibt, der am Anfang alles erschaffen hat, denn die Schöpfung findet ständig und überall statt. Sie ist auch notwendig, damit nicht alles nach und nach verfällt. Kreativität ist somit eine wichtige Eigenschaft der Prozesshaftigkeit, die in der eigentlichen Auslegung „ausdrücklich“ zu Tage kommt.

Das Dasein braucht in einem bestimmten Rhythmus Ruhe und Abstand von der Welt. In seinem Entwicklungsprozess ist es daher wichtig, den für das Dasein angemessenen Rhythmus zu finden zwischen Phasen, in denen es sich so weit wie möglich auf die Welt umsichtig einlässt, und Phasen, in denen es sich Ruhe und Abstand von der Welt in der Privatheit sucht. In der westlichen Kultur haben wir vor allen Dingen Ersteres gelernt, während sich die östliche Kultur wesentlich stärker mit Letzterem auseinandergesetzt hat. Beides und auch der angemessene Rhythmus sind wichtig für diesen kreativen Entwicklungsprozess hin zu Liebe und Erfüllung (siehe Kapitel 15).

Der Entwicklungsprozess insgesamt, also die ekstatische Prozesshaftigkeit führt das Dasein aus der uneigentlichen Sorge, dem Ausgerichtet-sein auf Beruhigung und Kontrolle, heraus in den eigentlichen Modus seiner Existenz, nämlich hin zu kreativer Liebe und Erfüllung. Dies ist die Einheit aller wesenhaften existenzialen Strukturen des Daseins, auch wenn das Dasein Liebe und Erfüllung nicht unbedingt am Ende seiner Existenz erreicht hat. Das Sein, um das es dem Dasein geht, seine Existenz, beginnt seinen Entwicklungsprozess im ursprünglichen und uneigentlichen Modus, gekennzeichnet durch Ergriffenheit und Erwartung, die jeweils ausgerichtet sind auf Beruhigung und Kontrolle, und entwickelt sich dann so lange in Richtung Liebe und Erfüllung, wie es sich von ihm selbst nicht abkehrt. Dabei ist der Umgang mit Enttäuschungen, also die Auslegung, der kritische Punkt, an welchem sich das Dasein von ihm selbst abkehren kann. Man könnte auch sagen, das Dasein konvergiere gegen Liebe und Erfüllung, solange es sich nicht aufgrund einer Enttäuschung von ihm selbst abkehrt. Sobald es sich von ihm selbst abkehrt, konvergiert das Dasein gegen seinen ursprünglichen und uneigentlichen Modus, bis es durch Umkehr als Einkehr, Rückkehr und Vorkehr gegenüber einer erneuten Abkehr die Enttäuschung überwunden hat und wieder gegen Liebe und Erfüllung konvergiert. Man könnte auch sagen, das Dasein oszilliere zwischen diesen beiden Extremen der uneigentlichen Sorge und Liebe und Erfüllung hin und her. Die ganze Mannigfaltigkeit von Phänomenen, die auch gefordert werden muss, damit das Dasein diese gewaltige Entwicklung vollziehen kann, wird durch die prozesshafte Analyse geeint. Damit ist die ekstatische Prozesshaftigkeit das primäre Regulativ der Einheit aller wesenhaften existenzialen Strukturen des Daseins, und die beiden anderen Einwände (siehe Kapitel 9) von Marion Heinz in Rentsch (2007) sollen nun beantwortet werden.

Für den oben skizzierten Entwicklungsprozess waren drei Dinge wichtig, die jetzt noch einmal genauer prozesshaft analysiert werden sollen:

  • sich umsichtig auf die Welt einzulassen bzw. das umsichtige Besorgen, wie Heidegger es nennt,
  • Ruhe und Abstand von der Welt, was ja immer noch ein besorgendes Sein ist, also eine Modifikation des umsichtigen Besorgens,
  • und der angemessene Rhythmus, in welchem sich die beiden Modi des umsichtigen Besorgens abwechseln sollten.

Insgesamt geht es dabei also um die prozesshafte Analyse des In-der-Welt-seins und um die Frage nach dem Grunde der möglichen Einheit dieser gegliederten Struktur. Wie viel Freiheit braucht das Dasein und wie viel Freiheit kann es in der Welt haben, kann es überhaupt einen angemessenen Rhythmus finden, um auf seinem Entwicklungsprozess zu Liebe und Erfüllung vorankommen zu können?

Ich werde hierbei nicht nur das umsichtige Besorgen und theoretische Entdecken von innerweltlich Vorhandenem prozesshaft analysieren und das prozesshafte Problem der Transzendenz des Daseins thematisieren, sondern auch das umsichtige Zutunhaben mit Anderen, das „nur“ hinsehende Entdecken der Sozialwissenschaften und die Transzendenz der Gemeinschaft unter dem Blickwinkel der Prozesshaftigkeit analysieren.

Begriffsklärung: Transzendenz Bearbeiten

Die generelle Bedeutung von Transzendenz ist ja das Überschreiten oder das Übersteigen, also die Begegnung des Daseins mit Seiendem in der Welt (das In-der-Welt-sein), von dem ausgehend Kant das Transzendente als das bestimmt, was über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht in den Bereich rein gedanklicher Konstrukte, die empirisch nicht belegbar sind. Im Gegensatz dazu ist das Transzendentale das, was Begegnung und Erfahrung bedingt und überhaupt erst möglich macht. Transzendent ist zum Beispiel, was mit uns nach dem Tod geschieht, und transzendental, was wir mit in dieses unser Leben bringen oder auch was uns für dieses unser Leben mitgegeben wurde, alles Apriorische. Bei Heidegger zeigt sich das Transzendente in diesem Sinne beim Tod als Grenze, auf die das Dasein zu- und die es dann überschreitet und hinter der sich der Bereich des Transzendenten, des die Erfahrung Überschreitenden, befindet. In der Vorbedingung des Daseins, nämlich in seinem Geworfensein in die Welt als Vorbedingung seines In-der-Welt-Seins, erkennen wir das Transzendentale, das Überschrittene, wobei sich bei Heidegger die Transzendenz nicht nur auf Erfahrung bezieht wie bei Kant, sondern auf die ganze Existenz des Daseins. Da das Geworfensein in die Welt der Beginn des Seins des Daseins in der Welt ist, zeigt sich die Transzendenz bei Heidegger im Unterschied vom Sein des Daseins, von seiner Existenz, und dem Dasein selbst, also in der ontologischen Differenz, und da es dem Dasein um seine Existenz geht, geht es ihm auch um sein Selbst, als welches es in die Welt geworfen wurde, und darum, was ihm sein Selbst und seine Individualität ermöglicht hat, seine Unteilbarkeit und seine Unverfügbarkeit, nämlich das Sein überhaupt. Das Selbst erreicht es aber nur über die Welt, sodass der ganze Prozess der Transzendenz als Hinschreiten zum Transzendentalen (Sich-zurückbringen zum Anfang) und Hinschreiten bis zum Transzendenten (Vorlaufen zum Tod) das In-der-Welt-sein ist. Steffen nennt daher Heideggers Transzendenz eine „geschlossen-zirkuläre Transzendenz“ und die von Kant eine „offen-lineare Transzendenz“ (Steffen, 2005, Seite 79). Heidegger schreibt auch: „Das faktische Dasein kommt […] verstehend […] zurück auf das […] begegnende Seiende. Das verstehende Zurückkommen auf… ist der existenziale Sinn des gegenwärtigen Begegnenlassens von Seiendem, das deswegen innerweltliches genannt wird.“ (Seite 366 ebenda) Dies verdeutlicht die geschlossenen-zirkuläre Transzendenz von Heidegger. „Das „Transzendenzproblem“ kann nicht auf die Frage gebracht werden: wie kommt ein Subjekt hinaus zu einem Objekt, wobei die Gesamtheit der Objekte mit der Idee der Welt identifiziert wird.“ (Seite 366 ebenda) Letzteres wäre nämlich eine offen-lineare Transzendenz. Wenn das Sein des Daseins in der Prozesshaftigkeit gründet, „dann muss diese das In-der-Welt-sein und somit die Transzendenz des Daseins ermöglichen, die ihrerseits das besorgende […] Sein bei innerweltlichem Seienden trägt.“ (ebenda, Seite 364)

Transzendenz des Daseins als In-der-Welt-sein ist bei Heidegger nun das, was zwischen dem Dasein und dem Horizont, also der Grenze, von dem, was das Dasein befindlich versteht, nicht nur vermittelt, sondern diesen Horizont bzw. diese Grenze immer mehr erweitert. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die Zeitlichkeit mit ihren drei Horizonten etwas Raumhaftes hat, in denen das Dasein sich frei bewegen kann wie in einem Raum, während die Ekstase der Räumlichkeit eine ähnliche Eigenart hat wie die Zeit, die nicht rückwärts läuft, denn der Horizont bzw. die Grenze der Räumlichkeit ist das Wie-weit-sich-einlassen des Daseins, bei dem das Dasein es auch nicht mehr rückgängig machen kann, dass und wie es sich eingelassen hat. Transzendenz ist nichts Statisches und kann daher nur prozesshaft analysiert werden. Transzendenz als Prozess kennzeichnet daher die stetige Erweiterung des befindlichen Verständnisses des Daseins als In-der-Welt-sein. Dies ist genau dann möglich, wenn die Horizonte der vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit offen sind. Die zentrale Frage bezüglich der Transzendenz ist somit die nach der Möglichkeit des entschlossenen Sich-Einlassens des Daseins auf Welt bzw. Gemeinschaft ohne Abkehr von ihm selbst und damit gleichursprünglich nach der Möglichkeit der Bewegungsfreiheit des Daseins in den drei zeitlichen Ekstasen.

An dieser Stelle wird das methodische Vorgehen Heideggers deutlich: Solange die Einheit des Daseins bzw. des In-der-Welt-seins nicht geklärt war, was erst jetzt durch die Prozesshaftigkeit aufgezeigt werden konnte, blieb er auf der Ebene der Ontologie. Wie er selbst schreibt, hatte er die „Absicht, das Phänomen [des In-der-Welt-seins] vor den selbstverständlichsten und daher verhängnisvollsten Zersplitterungstendenzen zu schützen“ (Seite 351 ebenda). Deswegen habe er auch nur das besorgende Sein beim innerweltlich Zuhandenen eingehender interpretiert. Wenn Heidegger sich nun dem Problem der Transzendenz zuwendet, dann wird aus seiner Fundamentalontologie eine Transzendentalphilosophie (diese Feststellung traf ich schon, bevor ich Steffen, 2005, las, und fühle mich durch seine Ausführungen bestätigt). Dieser Wechsel war von vorneherein intendiert und erscheint mir auch logisch, denn ohne Transzendenz, also die stetige Erweiterung des befindlichen Verstehens in immer tiefer gehenden hermeneutischen Zirkelprozessen, kann die Frage nach dem Sein gar nicht gestellt werden, und umgekehrt fördert die Beschäftigung mit der Seinsfrage das befindliche Verstehen.

Die Transzendenz, die Heidegger betrachtet, scheint mir vor allem das Zeug, wie er es nennt, in der Welt zu betreffen. Wie ist es aber mit Anderen, wie kann das Dasein Anderen begegnen? Gibt es überhaupt eine Basis für Verständigung und Mitteilung untereinander? Welche konkrete Basis gibt es überhaupt, dass das Dasein einen Anderen lieben kann? Diese Fragen will ich klären, nachdem ich das umsichtige Besorgen prozesshaft analysiert habe, weil ich dann die nötige Konkretion herausgearbeitet habe, wie und wo so eine Basis gefunden werden kann.

Umsichtiges Besorgen (bzw. Ergreifen) hält sich nie bei einem einzelnen Zeug auf, es bleibt immer orientiert auf einen Zeugzusammenhang. Die Seinsart des Zuhandenen wird dadurch angezeigt, dass es mit etwas bei etwas sein Bewenden hat. Besorgen ist „verstehendes Entwerfen von Bewandtnis“ (Seite 353 ebenda) bzw. ein Bewendenlassen. „Wenn das Bewendenlassen die existenziale Struktur des Besorgens ausmacht, dieses aber als Sein bei... zur wesenhaften Verfassung der Sorge gehört, und wenn diese ihrerseits in der Zeitlichkeit [bei mir Prozesshaftigkeit] gründet, dann muss die existenziale Bedingung der Möglichkeit des Bewendenlassens in einem Modus der Zeitigung der Zeitlichkeit [bei mir Umsetzung der Prozesshaftigkeit] gesucht werden.“ (Seite 353 ebenda) Was Heidegger dann weiter analysiert, ist ein uneigentliches Besorgen, bei dem das Dasein sich selbst vergisst (uneigentliche Gewesenheit) und nur bei dem Womit des Bewendens des Zuhandenen ist (nur das behält), bei dem es nur des Wobeis des Bewendens, also des Wozus des Besorgens, gewärtig ist (uneigentliche Zukunft), bei dem es im Bewendenlassen augenblicklos-unentschlossen und dem Augenblick entspringend abgelenkt ist von sich selbst (uneigentliche Gegenwart), und bei dem es sich selbst versessen oder unentschlossen nicht richtig auf seine eigene Situation und sein Besorgen einlässt (uneigentliche Räumlichkeit), also nicht richtig für sich selbst sorgt und daher aufenthaltlos ist, sich zum Beispiel übernimmt. In die eigentliche Form des Besorgens wechselt das Dasein erst dann, wenn sich eine Störung ereignet und das Bewendenlassen nicht mehr funktioniert. Dann sieht das Dasein sich gezwungen, sich mehr auf seine eigene Situation und sein Besorgen einzulassen, auf die „Früchte seines Tuns“, an denen es sich selbst erkennen kann, auf seine Wahrheit, so dass die Räumlichkeit eigentlicher wird. Das Dasein muss entschlossener handeln, mehr auf sich selbst und den Augenblick konzentriert sein, so dass die Gegenwart eigentlicher wird. Es wird unter Umständen aus der Gewesenheit frühere Erfahrungen mit sich selbst wieder (hervor-)holen, so dass die Gewesenheit eigentlicher wird, und es wird die eigene zukünftige Betroffenheit, die Konsequenz der erlebten Störung, mehr entwerfend verstehen, so dass auch die Zukunft eigentlicher wird. Mit der Uneigentlichkeit dieses einen Besorgens muss das Dasein noch nicht insgesamt im Modus der Verfallenheit sein, denn das Dasein befindet sich meist in mehrerer Hinsicht im Besorgen (Multitasking) und gerät nur dann in die Gefahr, zu verfallen, wenn es mit der Störung, das ist ja eine Enttäuschung, so umgeht, sie also so auslegt, dass es sich von sich selbst abkehrt. Rentsch (2007) kritisiert auf Seite 217 Heideggers zeitliche Analyse des Besorgens: er bezeichnet sie als Existenzialpragmatik, bei der indirekt immer auch von der lebendigen, menschlichen Hand die Rede sei, die menschliche Leiblichkeit aber in den Analysen ausgeklammert werde. Über die Ekstase der Räumlichkeit ist die Leiblichkeit des Daseins immer mit einbezogen, auch wenn ich hierauf bis jetzt noch nicht explizit eingegangen bin. Man könnte auch sagen, auf der ontologischen Ebene ist die Leiblichkeit in der Räumlichkeit enthalten.

Wie sieht nun das Besorgen innerhalb einer Gemeinschaft aus? Dabei geht es um den Umgang miteinander, wobei es hier nicht um einzelne Situationen geht, sondern um die Atmosphäre, die innerhalb der Gemeinschaft herrscht, und die durch jede Einzelaktion, also jede einzelne Interaktion zwischen den Mitgliedern mitgestaltet wird. Wir haben es hier also auch mit einem Ganzen zu tun, mit dem es seine Bewandtnis hat, die im Besorgen verstehend entworfen wird. Auch hier gibt es Störungen, die sich durch Spannungen bzw. durch Disharmonien äußern, wodurch das Dasein zu mehr Achtsamkeit und Eigentlichkeit aufgefordert ist. Ansonsten kommt die prozesshafte Analyse auf diesem Gebiet zu denselben Ergebnissen wie oben.

Beim Besorgen gibt es auch so etwas wie Routine, ein bisher zu wenig beachtetes Phänomen, nämlich die Unwillkürlichkeit im Unterschied zur Willkürlichkeit. Wie bei Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit haben wir es auch hier mit einer Art kontinuierlicher Dimension zu tun, d.h. so wie das Dasein mehr oder weniger eigentlich, so kann es auch mehr oder weniger unwillkürlich sein, wobei beide Dimensionen voneinander unabhängig sind. Das Besorgen des Daseins kann ganz entschlossen (je entschlossener desto eigentlicher) unwillkürlich sein, zum Beispiel in der Meditation, in der Selbsthypnose oder in der Versenkung im Gebet. Es kann aber auch ganz willkürlich unentschlossen (je unentschlossener desto uneigentlicher) sein, wenn das Dasein zum Beispiel keinen Sinn mehr in seinem Sein sieht, kapituliert und sich apathisch allem überlässt. Je mehr das Dasein auf sich selbst konzentriert ist, desto eigentlicher ist das jeweilige Besorgen, und je weniger konzentriert auf sich selbst, desto uneigentlicher. Dabei kann es sich jeweils mehr willentlich einlassen oder sich mehr bedingungslos überlassen, jeweils entweder eigentlicher mehr auf das bzw. dem eigenen Selbst oder uneigentlicher mehr auf etwas anderes oder jemand Anderen bzw. etwas anderem oder jemand Anderem.

Was ergibt nun die prozesshafte Analyse von Unwillkürlichkeit und Willkürlichkeit? In der Ekstase der Räumlichkeit, also dem Dass-und-Wie, stellt sich das unwillkürliche Besorgen als eine Selbstaufgabe bzw. Kapitulation (uneigentlich) oder gelassen Sich-Fügen und Sich-Hingeben (eigentlich) an den Fluss der Ereignisse dar, also an die Eigendynamik der Prozesshaftigkeit bzw. des Seins des Daseins als solche, während das willkürliche Besorgen versucht, eine möglichst große aktive Kontrolle über sein Sein auszuüben als Zweckrationalität (uneigentlich) oder als Selbst-Engagement und Entschlossenheit (eigentlich). Bei der Routine (unwillkürlich), wenn das Dasein aufgrund einer achtsamen Übertragung, also eines echten und unmittelbaren Verständnisses (eigentlich) oder aufgrund einer unachtsamen Übertragung (uneigentlich) entrückt in die eigentliche oder uneigentliche Gewesenheit der Ansicht ist, dass es genug Kontrolle hat, versucht es nicht zusätzlich noch, eine aktive Kontrolle auszuüben. Es überlässt sich in der Ekstase der Gegenwart seinem Tun (uneigentlich) oder gibt sich ihm selbst im Augenblick hin (eigentlich). Das Wozu des unwillkürlichen Besorgens, also die Ekstase der Zukunft, ist entweder mehr verschlossen in der Resignation (mehr uneigentlich) oder mehr entdeckt im Vertrauen (mehr eigentlich) auf die Eigendynamik des eigensten Seins des Daseins, also Selbstvertrauen. Das willkürliche Besorgen bezüglich der Ekstase der Zukunft ist das aktive Planen. Bezüglich der Ekstase der Gewesenheit beruhen das Unwillkürlich- und das Willkürlich-Sein entweder mehr auf Selbstvergessenheit (uneigentlicher) oder auf der mit seinen Erfahrungen kongruenten Selbstbewusstheit (eigentlicher), der Struktur seiner Selbstentwürfe, die ihm seine bisherige Entwicklungsgeschichte, seine Bedingtheit und seine Geworfenheit, verständlich macht.

Was für eine Bewandtnis hat es denn mit dem unwillkürlichen Besorgen? Ganz allgemein ausgedrückt dient es zum einen der Ökonomie, das Dasein kann sich entweder regenerieren wie zum Beispiel beim Schlaf, schafft sich also mehr Freiraum für sich selbst (mehr eigentlich), oder es kann sich gleichzeitig mit etwas anderem intensiver beschäftigen als sonst (mehr uneigentlich). Neben der Ökonomie kann es mit dem unwillkürlichen Besorgen zusätzlich die mehr eigentliche Bewandtnis haben, dass das Dasein sich dabei mit sich selbst begegnen lässt und somit sich selbst immer mehr entdecken kann. Es gibt nämlich Prozesse, bestimmte Prozeduren bzw. Handlungsweisen des Daseins, die unwillkürlich sind, die das Dasein weder verstanden noch begriffen hat und die das Dasein nur im Handlungsvollzug, im unwillkürlichen Besorgen, durch Selbstbeobachtung oder durch Mitteilungen darüber von Anderen entdecken kann, da sie ihm erschlossen sind. Diese Prozesse kann man auch als die zwar erschlossenen, aber noch nicht entdeckten Bereiche der Eigendynamik des eigensten Seins bezeichnen. Bezüglich der Ekstase der Gegenwart ist das mehr eigentliche unwillkürliche Besorgen mehr Selbsterfahrung, mehr gehalten in Selbstvertrauen (eigentliche Zukunft) und mit seinen Erfahrungen kongruenten Selbstbewusstheit (eigentliche Gewesenheit). Das Bewendenlassen des unwillkürlichen Besorgens ist der Aspekt der Ekstase der Gegenwart, wobei das Dasein mehr auf sich selbst konzentriert sein kann bei der Selbsterfahrung, also eigentlicher ist, oder bei Ablenkung von ihm selbst mehr bei innerweltlich Begegnendem, also uneigentlicher. Weil es dem Dasein um seine Existenz geht, interessiert es sich dafür, was es mit seinem Unwillkürlich-Sein für eine Bewandtnis hat, und entdeckt so, dass es auch ohne Verständnis und Entdeckung des Erschlossenen existieren kann. Wenn das Dasein seine Selbstwahl angenommen hat, ist es davon ergriffen, die im Unwillkürlich-Sein verborgener Eigendynamik seines Seins zu entdecken.

Obwohl meine Ausdrucksweise in diesem Abschnitt teilweise den Eindruck vermittelt, Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit seien separate Phänomene, so möchte ich an dieser Stelle doch noch einmal deutlich machen, dass Willkürlichkeit eine graduelle Modifikation der Unwillkürlichkeit ist, das heißt es handelt sich um ein Kontinuum mit mehr oder weniger Willkürlichkeit oder Unwillkürlichkeit. Wenn man beispielsweise das Atmen betrachtet, so ist dies beim Schlafen ganz unwillkürlich, bei einer Atemübung ganz willkürlich und im normalen Alltag irgendwo dazwischen.

In welchem Zusammenhang ist nun das Phänomen der Unwillkürlichkeit wichtig für unsere Analyse der Entwicklung der Sorge, die zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, also der Abkehr von sich selbst und der Entwicklung hin zu Liebe und Erfüllung oszilliert? Je mehr das Dasein in den Modus der Unwillkürlichkeit kommt, desto mehr überlässt es sich oder gibt sich der Eigendynamik seiner Existenz hin und entdeckt sich immer mehr. Eine weitere Bedeutung für den Entwicklungsprozess des Daseins liegt darin, dass es auf diese Weise den oben schon erwähnten Abstand von der Welt bekommt, also sich selbst genügend Raum und Zeit gibt, seine Erfahrungen zu verarbeiten, das heißt sich auszulegen. Das ist die notwendige Regeneration, oder besser Rekreation, damit das Dasein schöpferisch sein kann und nicht erschöpft wird und sich deswegen von ihm selbst abkehrt. Wenn es dann im Modus der Unwillkürlichkeit immer mehr von der Eigendynamik seiner Existenz unmittelbar befindlich versteht, versteht es unmittelbar etwas von seinem Sein, was ihm sonst nicht zugänglich ist und kann so die Entwicklung zu Liebe und Erfüllung wesentlich besser vorantreiben. Was ist aber die Eigendynamik des eigenen Seins anderes als der Entwicklungsprozess der Befindlichkeit des Daseins, wenn das Dasein sich von dem in der Welt begegnenden Seienden, das seine Befindlichkeit beeinflusst hat, weitgehend zurückgezogen hat und sich entsprechend nur ihm selbst begegnen lässt, zum Teil auch deshalb, um die Erfahrungen mit dem, was ihm in der Welt begegnet ist, zu verarbeiten, also besser befindlich zu verstehen?! Damit kann das Dasein sein Sein und sich selbst bzw. sein Selbst immer wieder finden, nachdem es sich entschlossen eingelassen hat auf die Welt ohne Abkehr von ihm selbst. Da die Befindlichkeit prozesshaft ist, gründet somit das Sein des Daseins in der Prozesshaftigkeit, sodass diese das In-der-Welt-sein und somit die Transzendenz des Daseins ermöglicht. In der Psychotherapie, vor allem in der Psychoanalyse und in der Hypnotherapie, werden daher solche unwillkürlichen Prozesse gerne zu therapeutischen Zwecken benutzt: in der Psychoanalyse zum Beispiel bei der Traumanalyse und bei der freien Assoziation, und in der Hypnotherapie ist ja der hypnotische Zustand selbst so ein Unwillkürlich-Sein, welches dann zu den verschiedensten therapeutischen Zwecken genutzt werden kann.

Somit ergibt sich: An seinem Anfang ist das Dasein nur in der Seinsweise des Unwillkürlich-Seins, in der es der Eigendynamik seines Seins überlassen ist, und in seiner Beziehung zur Mutter lernt es, diese Seinsweise befindlich zu verstehen und sich selbst in seinem Worumwillen zu entwerfen. Wenn es dann schließlich ab einem Alter von etwa vier Jahren seine Existenz und die Realität der Welt selbstständig ohne die Mutter integrieren kann in einem ersten Gesamtverständnis seines In-der-Welt-seins, dann überlässt es sich im Spiel mit seiner Weltlichkeit (siehe Fonagy et al., 2008, Seite 258 ff., wobei dort der Begriff Realität statt Weltlichkeit verwendet wird) immer wieder der Eigendynamik seines Seins und kann im befindlichen Verstehen der damit verbundenen Seinsweise des Unwillkürlich-Seins immer mehr von dem, was ihm bereits erschlossen ist, selbst und ohne seine Mutter entdecken. Ein ähnlicher Prozess des Entdeckens findet dann auch in der psychotherapeutischen Situation statt, wenn der Therapeut (wie früher in der Kindheit die Familie) einen geschützten Rahmen schaffen kann, in dem ein derartiges Spielen mit und Verändern der Weltlichkeit wie in der Kindheit wieder stattfinden kann. Die herkömmliche Betonung bei der Mutter-Kind-Dyade und beim therapeutischen Prozess wird so davon, dass die Mutter bzw. der Therapeut die Weltlichkeit des Daseins (des Kindes bzw. des Patienten) versteht, darauf verschoben, dass das Dasein die Weltlichkeit der Mutter bzw. des Therapeuten verstehen lernt, wie sie bzw. er das Dasein (das Kind bzw. den Patienten) in seinem Worumwillen versteht. Gemeinsames gegenseitiges Verstehen und damit eine inhärente Intersubjektivität ist der neue Standpunkt der entwicklungspsychologischen und psychotherapeutischen Forschung (siehe Fonagy et al., 2008, Seite 293).

Eine Lösungsmöglichkeit des Transzendenzproblems Bearbeiten

Was wäre nun, wenn die Eigendynamik des Seins, um das es dem Dasein geht, also seiner Existenz, dieselbe ist wie die der Existenz von allen Anderen (daseinsmäßigen Seienden)? Dann wäre das Problem der Transzendenz der Welt und auch innerhalb einer Gemeinschaft gelöst, denn mit dieser Eigendynamik gäbe es eine gemeinsame Basis für ständige Erweiterungen des Verständnisses der Welt bzw. der Gemeinschaft, weil das Dasein sich darüber mit allen Anderen verständigen könnte. Die Unterredung bzw. Verständigung hätte dann die nötige Basis, also das zwischen dem Dasein und seinem Verständnishorizont von Welt bzw. Gemeinschaft Vermittelnde, damit sich das Dasein zusammen mit allen Anderen ein gemeinsames und echtes Verständnis der Welt erarbeiten bzw. auslegen, also diese Basis ständig erweitern kann. Genau das ist ja die Transzendenz von Welt bzw. Gemeinschaft, sodass das Dasein den Anderen erkennen, verstehen und schließlich lieben kann, sodass wir auch hier von einer inhärenten Intersubjektivität sprechen können, auf die sich das Dasein ohne Abkehr von ihm selbst genau dann einlassen kann, wenn der Andere es ausreichend echt und unmittelbar versteht wie in der idealen Mutter-Kind-Beziehung. Die Echtheit ist im Laufe des Verständigungsprozesses, also des Erarbeitens bzw. Ausdrückens dieses Verständnisses, dadurch und genau dann gewährleistet, wenn das Dasein sich bei dabei auftretenden Enttäuschungen nicht von sich selbst abkehrt, also auf Eigentlichkeit achtet. Wenn es die fragliche Einheitlichkeit der Eigendynamik bei allen daseinsmäßig Seienden überhaupt nicht gibt, dann gibt es auch keine gemeinsame Basis für das Dasein und die Anderen, das heißt eine Unterredung bzw. Verständigung wäre gar nicht möglich. Wie wir oben schon festgestellt haben, geht es dem Dasein nicht nur um die eigene Existenz, sondern auch um das Sein überhaupt. Im Modus der Unwillkürlichkeit überlässt sich das Dasein auch der Eigendynamik des Seins überhaupt, und kann diese dadurch ebenfalls immer mehr befindlich verstehen. Damit überlässt sich das Dasein, je unwillkürlicher es im Besorgen ohne Abkehr von ihm selbst ist, immer mehr dem Sich-Entziehenden und dem Geheimnis des Seins überhaupt, das heißt es gibt sich dem immer mehr hin (siehe Ende Kapitel 9). Somit haben wir in dieser Hingabe, die im mehr eigentlichen und unwillkürlichen Besorgen ohne Abkehr von ihm selbst enthalten ist, doch eine gemeinsame Basis gefunden, ohne aufzeigen zu müssen, ob diese Eigendynamik aller möglichen Existenzen dieselbe ist. Sie ist zumindest teilweise dieselbe, und zwar in dem Teil, in welchem sie mit der Eigendynamik des Seins überhaupt übereinstimmt. Ganz praktisch finden wir zum Beispiel diese Übereinstimmung auf der Ebene der Stimmungen, ontologisch also bei der Befindlichkeit. Auch wenn die Anlässe ganz verschieden sein können (im Grunde ist es die Angst vor dem Tod oder der Überantwortung, die Abscheu, die Wut oder das Leid über den Tod oder die Geworfenheit oder die Freude an der Existenz überhaupt), die Eigendynamik der Angst beispielsweise ist bei allen daseinsmäßig Seienden dieselbe. Entsprechendes gilt für die anderen eigentlichen Modi der Befindlichkeit, wie sie oben von mir dargestellt wurden. Auf dieser Basis konnten Menschen sich schon immer verständigen und gegenseitig verstehen, so wie sie sich selbst verstehen konnten. Auch unter schwierigsten Bedingungen kann ein Psychotherapeut so früher oder später seine Klienten erreichen. Auf dieser Basis funktionieren auch Gruppentherapie und Selbsthilfegruppen. Da das Dasein über die Befindlichkeit sein ganzes In-der-Welt-sein entdecken kann von der Geworfenheit bis zum Tod, ist die Basis für eine Verständigung zwischen verschiedenen daseinsmäßig Seienden ausreichend groß, so dass damit das Problem der Transzendenz im Zwischenmenschlichen durch die Eigendynamik der Prozesshaftigkeit und die Möglichkeit der Verständigung ganz konkret und praktisch gelöst ist, wenn das Dasein und Andere sich gegenseitig und jeweils selbst ausreichend echt und unmittelbar verstehen. Dem unwillkürlichen Besorgen und dem damit verbundenen befindlichen Verstehen kommt daher eine besondere Bedeutung zu, wenn das Dasein sich dabei nicht von ihm selbst abkehrt, also bei entsprechender eigentlicher Auslegung: es ist sozusagen der Königsweg zu kreativer Liebe und Erfüllung, und es ist auch die Brücke zu allen Anderen (daseinsmäßig Seienden). Einem derartigen Besorgen und Verstehen kommt bezüglich der Ekstase der Räumlichkeit ein immer tiefer gehendes Sich-Einlassen durch die eigentliche Auslegung zu. Mit dem unwillkürlichen Sich-Einlassen des Daseins auf die Eigendynamik des Seins überhaupt ohne Abkehr von ihm selbst ist auch eine Möglichkeit des Daseins gezeigt, sich entschlossen auf Welt und Gemeinschaft einzulassen ohne Abkehr von ihm selbst.

Nun haben wir auch das Rüstzeug, um aufzeigen zu können, dass das echte und unmittelbare Verstehen des Daseins von ihm selbst in seinem Worumwillen und von Anderen in deren Worumwillen äquivalent ist, wie oben in Kapitel 5 schon angekündigt wurde. Das Dasein versteht sich selbst und Andere im jeweiligen Worumwillen über die jeweiligen eigentlichen Befindlichkeiten. Jede eigentliche Befindlichkeit ist immer eine Mischung von dem, was aus den vier eigentlichen Modi Angst, Wut, Leid und Abscheu erwächst und durch die Freude so gehalten wird, dass die Befindlichkeit nicht uneigentlich wird. Wenn das Dasein diese fünf Modi bei sich selbst echt und unmittelbar versteht, dann versteht es sie auch echt und unmittelbar bei Anderen, und umgekehrt, wenn es diese bei einem Anderen echt und unmittelbar versteht, dann versteht es sie auch echt und unmittelbar bei sich selbst. Somit ist die Äquivalenz des echten und unmittelbaren Verstehens des Daseins von ihm selbst und von Anderen im jeweiligen Worumwillen gezeigt.

Wie es zu Wissenschaft kommt Bearbeiten

Kommen wir nun dazu, wie sich das Dasein zusammen mit Anderen auf dieser Verständigungsbasis, der inhärenten Intersubjektivität, ein gemeinsames und echtes Verständnis der Welt erarbeiten bzw. nach und nach auslegen kann, d.h. wie es zu Wissenschaft kommen kann. Nach Heidegger entsteht Wissenschaft auf der ontologischen Ebene durch Störungen im praktischen Vollzug des umsichtigen Besorgens. Durch die Störung schlägt das Seinsverständnis des innerweltlich Seienden um, und damit auch das Entwerfen der Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins. Die Situation bzw. das Da des Daseins hat sich geändert und damit auch das Dort bzw. der Platz des betreffenden Seienden. Das Dasein und dieses Seiende befinden sich plötzlich in einer anderen Welt. Heidegger bezeichnet dies als eine „Entschränkung der Umwelt“ und zugleich eine „Umgrenzung der „Region“ des Vorhandenen“ (Seite 362 ebenda). Bei der so entstehenden Wissenschaft konstituiert sich deren führendes Seinsverständnis durch eine entsprechende grundbegriffliche Ausarbeitung und legt damit folgendes fest:

  • „die Leitfäden der Methoden,
  • die Struktur der Begrifflichkeit,
  • die zugehörige Möglichkeit von Wahrheit und Gewissheit,
  • die Begründungs- und Beweisart,
  • der Modus der Verbindlichkeit
  • und die Art der Mitteilung“ (Seite 362 f. ebenda, dort aber nicht als Liste).

Das Ganze dieses wissenschaftlichen Entwerfens nennt Heidegger die Thematisierung. Die Konstitution von Wissenschaft ist somit klargestellt, was mir noch fehlt, ist aber die Entstehungsgeschichte: wie und wodurch entsteht denn eine solche grundbegriffliche Ausarbeitung und wie entsteht überhaupt so etwas wie ein führendes Seinsverständnis? Wissenschaft ist niemals etwas von einem allein. Wenn Störungen im umsichtigen Besorgen dadurch, dass sie Anderen ausdrücklich mitgeteilt werden, ein allgemeineres Interesse wecken, so entsteht eine Interessengemeinschaft. Diese Gemeinschaft erarbeitet sich durch Unterredung bzw. Verständigung untereinander ein Seinsverständnis, welches von allen Beteiligten akzeptiert wird und somit das gemeinsame Besorgen dieser Gemeinschaft führt. Dabei muss sich die Gemeinschaft auch auf gewisse Grundbegriffe festlegen und sie ausarbeiten. Das gemeinsame Interesse dieser Gemeinschaft ist es, Lösungen der Probleme zu finden, die durch die Störungen im umsichtigen Besorgen entstanden sind. So betrachtet ist es eine Art von Selbsthilfegruppe. Wissenschaft ist also nur möglich aufgrund der Verständigung untereinander, und dies war die Transzendenz als Überschreiten der Grenzen zwischen allen daseinsmäßig Seienden. Insofern kann man auch sagen, dass die Transzendenz im Zwischenmenschlichen die Voraussetzung der Wissenschaft ist, die Voraussetzung dafür, dass ein Interesse überhaupt thematisiert werden kann und daraus eine Wissenschaft entsteht. Die kritische Analyse Heideggers zeigt auf der einen Seite, dass die Naturwissenschaften nur eine reduktionistische Sonderpraxis des Besorgens ist, bei der Seiendes jeweils aus seiner Bewandtnisganzheit herausgelöst, wahrnehmbar bzw. messbar gemacht und somit nivelliert wird, das heißt es ist kein privilegierter Zugang mit mehr Objektivität als beim umsichtigen Besorgen. Weiterhin wird auch klar, dass das Primat der Wahrnehmung nicht aufrechtzuerhalten ist, denn Wahrnehmung ist schon immer umsichtig und daher vorprädikativ, das heißt Erkenntnis und Wissenschaft gründen nicht in der Wahrnehmung sondern in dem vorprädikativ schon erschlossenen Sinn durch den praktischen Umgang mit Seiendem in einem Bewandtniszusammenhang. Meines Erachtens wird diese Kritik der Besonderheit der Wissenschaft nicht ganz gerecht: einerseits hat Heidegger recht, wenn er von einer Reduktion des umsichtigen Besorgens spricht, andererseits aber entstehen wesentlich mehr Möglichkeiten des Seinkönnens, denn viele Augen sehen mehr als nur zwei.

Meiner Meinung nach aber gibt es auf der ontologischen Ebene noch eine weitere Entstehungsmöglichkeit für Wissenschaft, die nicht auf derartigen Störungen beruht: diese Möglichkeit liegt in der Notwendigkeit des Daseins, Ruhe und Abstand zur Welt zu gewinnen, um sich zu regenerieren. Indem das Dasein durch Ruhe und Abstand zur Welt sich immer unwillkürlicher im Besorgen werden lässt, versteht es immer mehr die Eigendynamik des Seins. Dadurch kann dann durch kreatives und eigentliches Auslegen das Seinsverständnis der eigenen Existenz umschlagen, und damit auch das Entwerfen der Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins. Die Situation bzw. das Da des Daseins hat sich geändert, etwas Neues wurde erschaffen. Das Dasein befindet sich plötzlich in einer anderen Welt, auch dies eine „Entschränkung der Umwelt“ und zugleich eine „Umgrenzung der „Region“ des Daseins“. Wenn das wachsende Verständnis der Eigendynamik des Seins beim unwillkürlichen Besorgen dadurch, dass dieses Verständnis Anderen ausdrücklich mitgeteilt wird und auf diese Weise einen entsprechenden Eindruck macht, ein allgemeineres Interesse weckt, so entsteht eine Interessengemeinschaft. Diese Gemeinschaft erarbeitet sich durch Unterredung bzw. Verständigung untereinander ein Seinsverständnis des Seins, welches von allen Beteiligten akzeptiert wird und somit das gemeinsame Besorgen dieser Gemeinschaft führt. Dabei muss sich die Gemeinschaft auch auf gewisse Grundbegriffe festlegen und sie ausarbeiten. Das gemeinsame Interesse dieser Gemeinschaft ist die Erweiterung ihres Verständnisses des Seins. Daraus sind dann wahrscheinlich eher die Geisteswissenschaften und letzten Endes auch die Philosophie als die grundlegende Geisteswissenschaft entstanden, während die Störungen vermutlich mehr die Naturwissenschaften begründet haben. Die Sozialwissenschaften dürften dagegen eine Art Mittelstellung innehaben, denn ihre Themen sind teilweise durch Störungen im zwischenmenschlichen Umgang, teilweise aber auch durch wachsendes Verständnis des Seins entstanden.

Erneute Betrachtung des Transzendenzproblems Bearbeiten

Bezüglich des Transzendenzproblems kann ich nun zusammenfassen, dass es zunächst zurückgeführt werden konnte auf die Frage nach der Möglichkeit des entschlossenen Sich-Einlassens des Daseins auf Welt bzw. Gemeinschaft ohne Abkehr von ihm selbst. Bezüglich Gemeinschaft war dies gleichbedeutend damit, dass das Dasein und Andere sich gegenseitig und jeweils selbst ausreichend echt und unmittelbar verstehen. Unter der Voraussetzung der Transzendenz im Zwischenmenschlichen ließ sich das Transzendenzproblem insgesamt durch die Entstehung der Wissenschaften lösen. Damit ist die Menschheit zur Lösung des Transzendenzproblems liebevoll aufgefordert, sich gegenseitig und jeweils selbst weitestgehend echt und unmittelbar zu verstehen, d.h. genügend zu lieben. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, die eigenen Kinder von Anfang an genügend zu lieben. Wenn das Dasein sich nicht von ihm selbst abkehrt, dann versteht es sich in seinem Worumwillen mit der Zeit immer echter und unmittelbarer, da sich sein Verstehen mit jeder Erfahrung weiter entwickelt in Richtung eines echten und unmittelbaren Verständnisses, also in Richtung Liebe. In der Mutter-Kind-Beziehung entwickelt sich in der inhärenten Intersubjektivität das gegenseitige Verstehen im jeweiligen Worumwillen ebenfalls immer weiter in Richtung eines echten und unmittelbaren gegenseitigen Verständnisses, also in Richtung gegenseitiger Liebe, wenn beide sich weder von sich selbst noch vom anderen jeweils abkehren. Insofern kann man also die Protreptik an die Menschheit abmildern und braucht für die Lösung des Transzendenzproblems nur noch liebevoll dazu aufzufordern, dass niemand sich von sich selbst oder von irgendeinem anderen ihm begegnenden Menschen abkehren sollte. Um an dieser Stelle gleich einem Missverständnis vorzubeugen, wenn das Dasein sich nicht von einem Anderen abkehrt, also ihm zugewandt bleibt, bedeutet das nicht, dass es nicht auch auf Abstand zu ihm gehen kann, wenn das Mitsein mit ihm ein In-der-Welt-sein ist, was beim Dasein Angst, Wut, Leid oder Abscheu auslöst. In der Zugewandtheit bleibt das Dasein aber dem Anderen gegenüber offen für daseinsmäßige Nähe und kann seinen Abstand verringern, wenn das Mitsein mit ihm sich entsprechend geändert hat, wenn also die eigene und/oder die Seinsweise des Anderen jeweils eine andere ist.

Bei Heidegger ergeben sich die Wissenschaften auf der Grundlage der Transzendenz bzw. der Verständigungsmöglichkeiten der Wissenschaftler in ihrer jeweiligen Gemeinschaft, wobei dann jeweils ein bestimmtes Seinsverständnis erarbeitet wird, aber die Wissenschaften brauchen noch eine andere Art von Transzendenz, bei der alle verschiedenen Verständnisse des Seins integriert werden, was nach Heideggers Meinung wohl von einer Art Dachorganisation der Wissenschaftsgemeinschaften geleistet werden sollte. Dies ist traditionellerweise die Gemeinschaft der Philosophen, und Heidegger warnt vor der Gefahr, dass die Naturwissenschaften sich absondern. Da Wissenschaft aber aus der Gemeinschaft entstanden ist, sollte diese Basis nicht entmündigt werden, indem sie von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen wird, was Forschungsziele und Anwendungen betrifft. Eine derartige Entmündigung aller Nicht-Wissenschaftler halte ich für die eigentliche Gefahr in diesem Bereich, denn die Transzendenz hängt von der Gemeinschaft aller Menschen ab, das ist die Basis, wie oben aufgezeigt.

Die Alltäglichkeit des Daseins, in der sich das Dasein „zunächst und zumeist“ aufhält, „in den Tag hineinlebt“, in der ein Tag wie der andere ist, was „ontisch so bekannt ist, dass wir dessen nicht einmal achten, birgt existenzial-ontologisch Rätsel über Rätsel in sich.“ (Seite 371 ebenda) Wenn ich den gesamten Entwicklungsprozess des Daseins betrachte, der zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit oszilliert, dann befindet sich die Alltäglichkeit des Daseins irgendwo in der Mitte dazwischen, allerdings meist mit der etwas stärkeren Entwicklungstendenz zur Uneigentlichkeit hin. Trotzdem bestehen auch gute Möglichkeiten, dass das Dasein sich in Richtung Eigentlichkeit entwickelt. Die Alltäglichkeit des Daseins scheint mir eine Art Schwebezustand zu sein, der auf seine Weise ontologisch bestätigt, dass das Dasein zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, also Abkehr von und Hinkehr zu Liebe und Erfüllung hin und her tendiert und sich zunächst und zumeist zwischen diesen beiden Alternativen nicht entscheiden kann. Das existenzial-ontologisch so Rätselhafte ist dieses Hin und Her, also das jeweilige ausdrückliche Auslegen einer Enttäuschung als Belastung, bei der sich das Dasein von ihm selbst abkehrt, oder als Herausforderung, bei der es sich entschlossen zu Liebe und Erfüllung hinkehrt.

Prozesshaftigkeit und Geschichtlichkeit (§§ 72 bis 77) Bearbeiten

Am Anfang des Paragraphen 72 äußert Heidegger ein „schweres Bedenken“ (Seite 372 ebenda): Das Daseinsganze habe außer dem Tod noch ein anderes „Ende“, die „Geburt“. Ich muss an dieser Stelle mein Vorgehen beschreiben, dass ich beim Durcharbeiten von „Sein und Zeit“ mir jedes Kapitel einzeln vorgenommen habe und dann sofort meine Gedanken dazu niedergeschrieben habe. Von daher war es für mich logisch, als Heidegger das Vorlaufen zum Tode anführte, um das ganze Dasein in die Vor-Habe zu bringen, dass zur Ganzheit auch ein Sich-Zurückbringen zum Anfang gehört. Allerdings führt der Tod auf den Anfang zurück, weil er schon von Anfang an als Möglichkeit existiert. Das Dasein ist von Anfang an in das Sein zum Tode, seine Sterblichkeit, geworfen. Ein „Zurückbringen auf...“ erwähnt Heidegger aber erst auf Seite 340, als er die Zeitlichkeit der Befindlichkeit diskutiert. Er muss also diesen Punkt die ganze Zeit schon im Auge gehabt haben, hat ihn aber erst jetzt eingeführt, um das Thema Geschichtlichkeit abzuhandeln. Am Anfang steht ja die Geworfenheit mit dem Aspekt der grundlegenden Unzulänglichkeiten, also des ursprünglichen Schuldigseinkönnens, und dem der grundlegenden Möglichkeiten des Daseins, die im Laufe des Prozesses des Daseins sich entwickeln bzw. zur Geltung kommen können. Das Ganze habe ich mit dem Begriff der Individualität gekennzeichnet. Individualität als Unteilbarkeit und Unverfügbarkeit meint das Dasein nicht als Subjekt, sondern als In-der-Welt-sein, das heißt bei dem Entwicklungsprozess des Daseins, der ja auch ein Entwicklungsprozess seines In-der-Welt-seins ist, hängen die Möglichkeiten und Unzulänglichkeiten immer auch mit der Welt zusammen. Außerdem ändert sich jeweils auch die Welt, teilweise durch das und abhängig vom Dasein, teilweise aber auch unabhängig von ihm. Im Unterschied zum Dasein, das bei allen Veränderungen auch an ihm selbst es selbst bleibt, kann die Welt eine andere werden, bleibt also nicht unbedingt sie selbst. Da es der Welt nicht um ihr eigenes Sein geht, hat sie in diesem Sinn auch kein Selbst. Dies ist auch ein wichtiger Unterschied zu Gemeinschaften, da es einer Gemeinschaft sehr wohl um ihr eigenes Sein geht, seitdem und solange sie jeweils ist. Da sie von der Struktur her dem Dasein entspricht, gilt für sie dasselbe hinsichtlich des Selbst und der Prozesshaftigkeit wie für das Dasein. So betrachtet ist eine Gemeinschaft wie ein daseinsmäßig Seiendes. Von daher kann eine Gemeinschaft sie selbst bleiben, auch wenn sie sich selbst an sich selbst verändert.

Die Geworfenheit ist also das nichtige Grundsein von Nichtigkeiten und Möglichkeiten, und der Tod ist die schlechthinnige Nichtigkeit aller Nichtigkeiten und Möglichkeiten, und dazwischen gibt es Möglichkeiten und Nichtigkeiten (Enttäuschungen und Unzulänglichkeiten). Dies ist der Zusammenhang des gesamten Prozesses des Daseins als In-der-Welt-sein, dass das Dasein Sorge ist, also Ergriffenheit und Erwartung, und diese Sorge ist ständig, also immer wieder, konfrontiert mit Nichtigkeiten und Möglichkeiten, bis diese im Tod schlechthin nichtig sind. Die eigentliche Sorge zielt auf die Entwicklung von Liebe und Erfüllung, während die uneigentliche abdriftet in Richtung Beruhigung und Kontrolle. So oszilliert die Entwicklung des Daseins zwischen diesen beiden Extremen. Diesen Prozess als „spezifische Bewegtheit des erstreckten Sicherstreckens“ nennt Heidegger „das Geschehen des Daseins“ (Seite 375 ebenda). Geschehen bei Heidegger ist also der Entwicklungsprozess, wie er von mir oben beschrieben wurde. Seine Struktur konstituiert sich in den vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit, der Zukunft, der Gewesenheit, der Gegenwart und der Räumlichkeit. Der Entwicklungsprozess bzw. das Geschehen schlägt sich nieder in der Selbstbewusstheit des Daseins (neben der Selbstbedeutsamkeit die andere oben erwähnte Struktur des Selbstentwurfs des Daseins). Deren hierarchische Schichten bilden sozusagen eine genetische Struktur des Geschehens, so dass aus „dem Geschichte“ (den Schichten) des Selbstentwurfs die Geschichte des Geschehens ablesbar wird.

Der Übergang von einer Schicht des Selbstentwurfs zur anderen bedeutet eine plötzliche Veränderung (Schicht und Englisch Shift sind wortverwandt, und Shift kann plötzliche Änderung bedeuten), so dass an der entsprechenden Stelle des Geschehens eine bedeutsame Änderung, die auf einer Störung oder der Schaffung von etwas Neuem beruhen kann, erkennbar wird. Wie oben bei der Analyse der Entstehung von Wissenschaft ausgeführt, kann sich hieraus ein Thema entwickeln, und die Wissenschaft der Historie entsteht bzw. ist zumindest teilweise vermutlich so entstanden. Hierbei gehen allerdings das Geschichtliche und die Geschichtlichkeit über die Grenzen des Entwicklungsprozesses des Daseins weit hinter dessen Anfang zurück, so wie Ergriffenheit und Erwartung als befindliches Interesse des Daseins auch über den eigenen Tod hinausgehen kann. Die Geschichtlichkeit bei Heidegger aber ist die Prozesshaftigkeit bei mir, und das Geschichtliche ist das Prozesshafte.

Das vulgäre Verständnis (wie Heidegger es nennt) der Geschichte betrachtet das Geschehen nicht als Entwicklungsprozess von daseinsmäßig Gewesenen oder auch Dagewesenen, wie Heidegger sie nennt, sondern als Vorgang, das heißt als Prozess von nichtdaseinsmäßig Gewesenem. Das kommt natürlich von dem alten und überholten cartesianische Weltbild. Was beim Entwicklungsprozess die Wiederholung aus der Gewesenheit ist, die als eigentliche Gewesenheit vom Dasein nicht vergessen ist, sondern deren Möglichkeiten wieder hervorgeholt werden können als augenblickliches und zukünftiges Seinkönnen, ist beim vulgären Verständnis der Geschichte als mögliche Übertragung zunächst und zumeist vergessen. Die Möglichkeiten, die sich das Dasein aus der Gewesenheit holt, können auch Weisen des Seinkönnens sein, die das Dasein oder Dagewesene damals nicht gewählt haben, sondern nur hätte wählen können.

Beim Geschichtlichen bzw. Prozesshaften des In-der-Welt-seins ist natürlich der Entwicklungsprozess des Daseins primär und das Weltgeschichtliche bzw. Weltprozesshafte sekundär. Was sich weltgeschichtlich verändert im Laufe des Prozesses des Daseins ist meistens irreversibel und vergangen, das Dasein selbst hat keinerlei Möglichkeiten, daran selbst und direkt etwas zu ändern. Es hat nur Möglichkeiten, sich selbst zu ändern, das heißt andere Seinsweisen zu wählen und dadurch zum Beispiel das Entwerfen und die Wahl Anderer zu beeinflussen.

Heidegger will sich nun in Paragraphen 74 des vollen Begriffes der Geworfenheit als Grundbestimmtheit der Sorge versichern. Das entschlossene Sich-Zurückbringen zum Anfang bzw. zur Geworfenheit hin erschließt dem Dasein alle faktischen Möglichkeiten seines Existierens, die dem Dasein jemals zur Verfügung stehen können, aus dem Erbe, das es als geworfenes übernimmt. Zugleich übernimmt es natürlich auch alle Nichtigkeiten, das sind alle Unzulänglichkeiten, also faktische Möglichkeiten des Existierens, die dem Dasein niemals zur Verfügung stehen können, also Nichtigkeiten. Beide Arten des Übernehmens bergen ein Sich-überliefern in sich. Hierbei gibt es eine prozesshafte Dynamik: was Möglichkeit und was Nichtigkeit ist, kann sich im Laufe des Entwicklungsprozesses immer wieder ändern. Teilweise hängt dies von den Vorgängen in der Welt ab, teilweise von Entscheidungen des Daseins (zum Beispiel wie stark sich das Dasein in bestimmten Situationen angestrengt, interessiert und engagiert und sich auf diese Weise neue Möglichkeiten angeeignet, erlernt oder antrainiert hat – es betrifft also die Ekstase der Räumlichkeit) und teilweise auch vom Zusammenspiel von beidem. Bei diesem Erbe gibt es je nach Situation (auch hier ist es wichtig, die Dynamik des Geschehens zu beachten) Möglichkeiten uneigentlichen Existierens, die es auszutreiben gilt, da es dem Dasein ja um sein Sein und daher um es selbst geht. Diese Möglichkeiten uneigentlichen Existierens, die durchaus in anderen Situationen Möglichkeiten des eigentlichen Existierens sein können, gehören in solchen Augenblicken zu den Nichtigkeiten, denn wenn das Dasein sie in seiner Entschlossenheit ergreift, und Entschlossenheit bedeutet ja das uneingeschränkte Sich-Einlassen auf sich selbst, also das Streben nach Eigentlichkeit, dann täuscht es sich, da dieses Ergreifen zu Uneigentlichkeit führt, so dass es früher oder später zu einer Enttäuschung kommen muss. Jede Enttäuschung ist eine Nichtigkeit und ist damit im Vorlaufen in den Tod als der schlechthinnigen Nichtigkeit stets enthalten. Das entschlossene Vorlaufen in den Tod treibt so diese momentanen Nichtigkeiten nach und nach aus und „bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals.“ (Seite 384 ebenda) Mit Schicksal bezeichnet Heidegger „das in der eigentlichen Entschlossenheit liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten Möglichkeit überliefert.“ (ebenda) Schicksal ist also der eigentliche gesamte Entwicklungsprozess des Daseins mit der eigentlichen Zukunft (entschlossenes Vorlaufen zum Tod), der eigentlichen Gewesenheit (entschlossenes Wiederholen dagewesener Möglichkeiten, wobei das Dasein jetzt die Antwort hat, weshalb es damals eine bestimmte Möglichkeit gewählt hat oder nicht und weshalb es jetzt dieselbe oder eine andere Möglichkeit wählt, also achtsam und verantwortlich wählt), der eigentlichen Gegenwart (augenblicklich-entschlossenes Sein-bei) und der eigentlichen Räumlichkeit (ständig entschlossenes Sich-Einlassen bzw. Sich-Aufhalten überhaupt in der Einheit der eigentlichen drei zeitlichen Ekstasen).

In der eigentlichen Prozesshaftigkeit, also schicksalhaft „in der sich überliefernden Entschlossenheit existierend, ist das Dasein als In-der-Welt-sein für das „Entgegenkommen“ der „glücklichen“ Umstände und die Grausamkeit der Zufälle erschlossen.“ (Seite 384 ebenda) Unabhängig davon, ob das Dasein sein Schicksal wählt oder nicht, wird es durch das Zusammenstoßen von Umständen und Begebenheiten umgetrieben, in der Unentschlossenheit sogar noch stärker als in der Entschlossenheit (ebenda). Für das entschlossene Dasein gibt es meines Erachtens auch keine „grausamen Zufälle“, sondern nur Herausforderungen, in der Ständigkeit der Entschlossenheit zu bleiben, die immer wieder frei ist für ihre Rücknahme und das Ergreifen einer neuen Entschlossenheit. Indem es so die „Ohnmacht der Überlassenheit an es selbst“ (ebenda) übernimmt, können ihm die Zufälle der erschlossenen Situation nicht die Sicht nehmen, das Dasein bleibt auf diese Weise und in diesem Sinne „hellsichtig“, wie Heidegger es auf Seite 384 nennt. In der Ständigkeit der Entschlossenheit überwindet das Dasein meines Erachtens sozusagen drei Hindernisse, die es davon abhalten könnten, immer eigentlicher zu werden und schließlich zu Liebe und Erfüllung zu kommen: In der Entschlossenheit ist das Dasein bereit für seine eigentliche Befindlichkeit (insbesondere Angst, Wut, Leid und Abscheu, aber auch Freude, wenn es Fortschritte in Richtung Liebe und Erfüllung wahrnimmt), es überwindet also die Abkehr von seiner eigentlichen Befindlichkeit als Abkehr von ihm selbst. In der Ständigkeit der Entschlossenheit überwindet es die Versessenheit als Abkehr von ihm selbst, und in der Annahme seiner Ohnmacht überwindet es die Gefahr des verständnislosen Missbrauchs der eigenen Übermacht seiner endlichen Freiheit (zum Beispiel nach dem Motto: „Nach mir die Sintflut!“), die es entdeckt, wenn es vorlaufend den Tod in sich mächtig werden lässt. Damit kann nur noch der Tod selbst die Entwicklung zu Liebe und Erfüllung beenden. Dies entspricht übrigens in etwa den vier „Feinden“ Furcht, Sicherheit, Macht und Alter auf dem „Weg des Herzens“ in Carlos Castaneda (1976).

Da es dem Dasein nicht nur um die eigene Existenz, sondern auch um das Sein überhaupt geht, geht es ihm auch um das Schicksal aller daseinsmäßig Seienden, Gewesenen und Zukünftig-Seienden. In der ständigen Entschlossenheit übernimmt das Dasein das überlieferte Erbe und gibt das, was sich daraus in seinem Entwicklungsprozess bis zum Tode ergibt, überliefernd weiter an zukünftig daseins¬mäßig Seiende. Insofern ist das Dasein prozesshaft bzw. geschichtlich über seine eigene Existenz hinaus, und zwar hinaus über beide „Enden“ seines Daseins, über seine Konzeption und über seinen Tod. Der Entwicklungsprozess des Daseins ist immer auch integriert im Entwicklungsprozess der Gemeinschaften, in denen das Dasein Mitglied ist. Diese Integration, in „Sein und Zeit“ das Mitgeschehen, nennt Heidegger auch Geschick. Schicken wird hier in einer zweifachen Bedeutung verwendet: sich in etwas schicken bedeutet etwas annehmen und übernehmen (Geworfenheit), und schicken ist geben, ohne dass der Geber selbst anwesend ist (Weitergeben an zukünftig daseinsmäßig Seiende). Das Dasein übernimmt annehmend sein Geschick, welches ihm zum Teil von Dagewesenen gegeben wurde, die schon lange nicht mehr existieren, und es gibt sein Geschick weiter, auch wenn es selbst nicht mehr anwesend ist oder nicht mehr existiert.

Nachdem Heidegger die eigentliche Geschichtlichkeit, also in meiner Terminologie die eigentliche Prozesshaftigkeit, betrachtet hat, wendet er sich nun im Paragraphen 75 der uneigentlichen Geschichtlichkeit des Daseins zu. Diese war nach meiner Analyse gekennzeichnet durch die uneigentliche Zukunft (Warten-auf-die-Welt, Abhängigkeit bzw. Sucht oder Kontrollzwang), die uneigentliche Gewesenheit (Selbstvergessen), die uneigentliche Gegenwart (augenblickloses Sein-bei) und die uneigentliche Räumlichkeit (unentschlossenes oder Sich-nicht-Einlassen oder Versessenheit, insgesamt also Aufenthaltslosigkeit). Neben dieser uneigentlichen Geschichtlichkeit, gibt es noch die Verwechslung der Geschichtlichkeit des Daseins mit der Weltgeschichtlichkeit, deren Unterschiedlichkeit darin besteht, dass die Geschichtlichkeit des Daseins eine Gewesenheit als Ekstase besitzt, aus der das Dasein sich Möglichkeiten des Seinkönnens hervorholen und wählen kann, während die Weltgeschichte als entsprechende Ekstase die Vorgängigkeit aufweist, die irreversibel ist und nicht mehr wiederholt werden kann. Zunächst und zumeist aber versteht das faktische Dasein seine Geschichte weltgeschichtlich, sodass seine Geschichtlichkeit uneigentlich ist, wie am Anfang dieses Absatzes geschildert, denn in der als irreversibel aufgefassten Gewesenheit, die auf diese Weise mit der Vorgängigkeit verwechselt wird, gibt es kein Wieder-Holen, das heißt diese Gewesenheit ist uneigentlich. Weiterhin ist das Dasein nur auf die Welt konzentriert, auf die es in solcher Weise wartet, selbstvergessen, augenblicklos und aufenthaltslos.

Da das Sein des Daseins grundsätzlich prozesshaft bzw. geschichtlich ist, „bleibt offenbar jede faktische Wissenschaft diesem Geschehen verhaftet.“ (Seite 392 ebenda) Die „historische Erschließung von Geschichte ist an ihr selbst […] ihrer ontologischen Struktur nach in der Geschichtlichkeit des Daseins verwurzelt.“ (Ebenda) Diesen existenzialen Ursprung der Historie aus der Geschichtlichkeit des Daseins aufzuhellen, „bedeutet methodisch: die Idee der Historie aus der Geschichtlichkeit des Daseins ontologisch entwerfen.“ (Seite 393 ebenda) Wie oben dargestellt, konstituiert sich Wissenschaft primär durch die Thematisierung, wobei die verschiedenen Themen einer Wissenschaft sich aus Störungen des umsichtigen Besorgens oder aus einem wachsenden Verständnis der Eigendynamik des Seins überhaupt beim unwillkürlichen Besorgen entwickeln. Die historische Thematisierung der Geschichte ist nur möglich, wenn der Weg zur Gewesenheit offen ist, das heißt wenn das Dasein in der Ekstase der Gewesenheit offen ist und daher die Erfahrungen von früher Dagewesenen durch achtsame Übertragung für sich nutzbar machen kann. Der mögliche Forschungsgegenstand der historischen Thematisierung muss die Seinsart von dagewesenem Dasein haben. Erst mit derartigen Forschungsgegenständen ist dann auch Welt-Geschichte, weil Dasein immer auch In-der-Welt-sein ist. Eine Wissenschaft die sich nur mit der Geschichte der Welt beschäftigt, ist dann keine Historie sondern zum Beispiel Geologie (Erdgeschichte), Biologie (Evolution), Physik (Entstehung des Weltalls), Chemie (Entstehung bestimmter chemischer Verbindungen wie zum Beispiel Diamanten) usw., die sich unter anderem mit Vorgängen in der Welt befassen.

Da Heidegger der eigentlichen Zukunft den Vorrang gibt, kommt er zu dem Schluss, dass die historische Erschließung aus der Zukunft prozesshaft bzw. geschichtlich umgesetzt wird. Damit die Zukunft der historischen Erschließung gesichert und damit eigentlich ist, wird die Geschichte als Wissenschaft, also die Historie, etwa eine Generation (30 Jahre) vor der Gegenwart beendet. Nach meinen Überlegungen weiter oben ist die eigentliche Räumlichkeit gleichursprünglich mit der Zeitlichkeit, und auch damit kann man das Ende der Historie 30 Jahre vor der Gegenwart begründen: das Dasein kann sich dann unvoreingenommener, das heißt mit weniger Vorurteilen und Täuschungen, mit den entsprechenden Themen beschäftigen und sich offen genug darauf einlassen. Der Historie geht es ja nicht nur um die reinen Fakten des Geschehenen, sondern mindestens genauso sehr um die Möglichkeiten, die von den Dagewesenen nicht ergriffen wurden.

Nietzsche soll nach Heidegger bezüglich „Nutzen und Nachteil von Historie für das Leben“ drei Arten von Historie unterschieden haben: „die monumentalische, antiquarische und kritische“ (Seite 396 ebenda). Die eigentliche Historie gründet in der eigentlichen Geschichtlichkeit, welche die mögliche Einheit aller drei Arten von Historie fundiert. Ich referiere hier kurz Heideggers Argumente dazu: entschlossen auf sich zukommend, ist das Dasein wiederholend offen für die „monumentalen“ Möglichkeiten menschlicher Existenz, und in der wiederholenden Aneignung des Möglichen liegt die Möglichkeit der verehrenden (und damit antiquarischen) Bewahrung der dagewesenen Existenz. Indem das Dasein diese verehrte und monumentale Möglichkeit menschlicher Existenz für den gegenwärtigen Augenblick begreift, kritisiert es möglicherweise nicht nur die vergangene, sondern auch die gegenwärtige Situation in einer ausdrücklichen Auslegung des Begriffenen. Die antiquarische Art von Historie als verehrende Bewahrung bringt meines Erachtens die historische Thematik in die Vor-Habe, die monumentalische als Aneignung von Möglichkeiten bringt sie in die Vor-Sicht, das kritische Sich-Halten in beiden Arten bestimmt die augenblickliche Thematik vorgreifend und bringt sie so in den Vor-Griff, so dass ihre konsequente und ausdrückliche Auslegung als kritische Auseinandersetzung mit der augenblicklichen Situation dann der eigentliche Nutzen der Historie ist. Diese Art der Bestimmung historischer Wahrheit, die von der Politik zunächst und zumeist nicht beachtet wird, sieht Heidegger in den Forschungen von Dilthey und legt dies im Paragraphen 77 dar.

Prozesshaftigkeit und Innerprozesshaftigkeit (§§ 78 bis 83) Bearbeiten

Was bei Heidegger die Zeitlichkeit ist, ist ja bei mir die Prozesshaftigkeit, und der Begriff Prozess umfasst verschiedene andere Begriffe wie zum Beispiel Bewegung, Wachstum, Geschichte, Entwicklung, Vorgang und Werden. Dabei spielen Raum und Zeit eine wichtige Rolle, denn Seiendes begegnet dem Dasein „in“ beidem. Daher müssen Räumlichkeit und Zeitlichkeit, die zusammen die Prozesshaftigkeit ergeben, bzw. Raum und Zeit, worin sich jeweils ein Prozess abspielt, grundsätzlich analysiert werden. Elementar ist hier das „Faktum, dass das Dasein schon vor aller thematischen Forschung „mit der Zeit rechnet“ und sich nach ihr richtet.“ (Seite 404 ebenda) Entsprechendes lässt sich auch vom Raum sagen, das Dasein berechnet ihn und richtet sich danach, z.B. wieviel Platz es hat für.... Heidegger betrachtet nun dieses Berechnen, welches wie alles Verhalten des Daseins aus dessen Sein, das heißt aus der Prozesshaftigkeit interpretiert werden soll. Wie setzt das Dasein in seiner Prozesshaftigkeit ein Verhalten um, welches sich in der Weise zu Raum und Zeit, also zu den sich dort abspielenden Prozessen verhält, dass es dem Rechnung trägt. Die bisherige Charakteristik der Prozesshaftigkeit ist daher grundsätzlich lückenhaft, weil zur Prozesshaftigkeit selbst so etwas wie der Weltprozess im strengen Sinne des existenzial-prozesshaften Begriffes von Welt gehört. Ich habe zwar schon die Unterscheidung getroffen zwischen Entwicklung als Prozess von daseinsmäßig Seiendem und Vorgang als Prozess von nichtdaseinsmäßig Seiendem, aber der Gesamtprozess der Welt in Raum und Zeit wurde in meine Betrachtungen ebenfalls noch nicht mit einbezogen. Das raum- und zeitbesorgende Dasein versteht Raum und Zeit im Horizont des nächsten Seinsverständnisses als irgendwie vorhanden und ignoriert dabei den Unterschied zwischen Entwicklung und Vorgang, also zwischen daseinsmäßig und nichtdaseinsmäßig. Dies ist eine Art, wie es die ursprüngliche Zeit und den ursprünglichen Raum und damit auch die ursprüngliche Prozesshaftigkeit bzw. das ursprüngliche Sein nivelliert.

Im vulgären Verständnis von Raum und Zeit und damit von Prozess findet Heidegger „ein merkwürdiges Schwanken, ob der Zeit [bzw. dem Raum oder dem Prozess] ein „subjektiver“ oder „objektiver“ Charakter zugesprochen werden soll.“ (Seite 405 ebenda) Das liegt meines Erachtens daran, dass manche Prozesse vom Dasein als von ihm selbst und direkt gesteuert verstanden werden und manche nicht. Meiner Meinung nach ist hier ein wichtiges Charakteristikum der Prozesshaftigkeit eines Seienden angesprochen, nämlich unter welchen Umständen hat das Dasein wieviel befindlich verstehenden Einfluss auf den Prozess dieses Seienden, und wie wird dies vom Dasein selbst verstanden und ausgelegt.

Das Dasein als In-der-Welt-sein muss sich in der Welt orientieren, um sich auf sein Seinkönnen hin zu entwerfen. Orientieren bedeutet hier zweierlei: Räumliche und zeitliche Orientierung. Um sich zeitlich in der Welt zu orientieren, hat das Dasein ursprünglich den Lauf der Sonne benutzt, insbesondere den Sonnenaufgang, wovon auch das Wort orientieren abgeleitet ist. Der Orient ist der Osten, also die Himmelsrichtung, in der die Sonne aufgeht. Wenn das Dasein auf diese Weise eine ausgezeichnete Richtung definiert hat, dann kann es den gesamten Raum der Welt aufspannen und sich entsprechend darin zurechtfinden.

Nun ist es ja so, dass das Dasein nicht alle über seine Sinne erfassten Daten bzw. Wahrnehmungen verarbeiten kann. Das Dasein nimmt immer wesentlich mehr über seine Sinne auf, als es ausdrücklich verarbeitet und verarbeiten kann, was zum Beispiel Experimente zur subliminalen Wahrnehmung zeigen. Unsere Wahrnehmung, also die ausdrückliche Verarbeitung des von unseren Sinnesorganen Erfassten, muss daher selektiv sein. Der Menge aller ausgewählten Daten gibt das Dasein, das wir ja jeweils selbst sind, einen Sinn und konstruiert damit den Rest. Der Sinn ist ein Rahmen, in dem das Dasein die ausgewählten Daten auslegen kann, um angetrieben von Ergriffenheit und Erwartung, also von Sorge, Möglichkeiten seines Seinkönnens zu entwerfen. Wie ganz am Anfang schon festgestellt ist das Dasein so betrachtet ontologisch. Wie sieht nun dieser Rahmen aus? Die Grundlage oder bildlich gesprochen die Unterseite des Rahmens ist der Grad, wie sehr sich das Dasein auf die jeweilige Situation einlässt, es ist also der Horizont der Ekstase der Räumlichkeit. Das Nächste oder bildlich gesprochen die linke Seite des Rahmens sind die früheren Erfahrungen des Daseins in ähnlichen Situationen, die Vor-Habe, also der Horizont der Ekstase der Gewesenheit. Die rechte Seite des Rahmens entspricht den Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins, der Vor-Sicht und damit dem Horizont der Ekstase der Zukunft, und die Oberseite des Rahmens, welche die Vor-Habe und die Vor-Sicht miteinander verbindet und von beiden gehalten wird, so dass das Dasein vor-sichtig sein Vor-Haben gliedern kann und so einen Vor-Griff erhält, dem Horizont der Ekstase der Gegenwart. In diesem Rahmen eignet sich das Dasein sein befindliches Verständnis an, das in der Auslegung ausgedrückt und in der Sprache ausgesprochen ist, so dass sich damit die Unterseite des Rahmen, nämlich der Horizont der Räumlichkeit, erneuern kann und somit eine Erneuerung des gesamten Rahmens in Gang setzt, aber nur dann, wenn die Horizonte offen sind. Wenn der Rahmen und damit die Horizonte der vier Ekstasen offen sind, dann erfasst dieser Rahmen und damit das Dasein immer mehr vom Sein überhaupt, und das Verständnis des Daseins wird immer echter und unmittelbarer, sodass das Dasein sich somit hin zu kreativer Liebe und Erfüllung entwickelt. Ist der Rahmen dagegen aufgrund einer Enttäuschung so fest geschlossen, dass das Dasein ihn nicht öffnen will oder kann, dann kann das Dasein neue Erfahrungen nicht mehr erfassen, es entsteht Inkongruenz, das Dasein wird immer uneigentlicher und die Entwicklung des Daseins geht so lange in Richtung Beruhigung und Kontrolle, also in die extreme Uneigentlichkeit, bis das Dasein den Rahmen und die Horizonte wieder öffnet. Es scheint mir eine Eigenart dieses Rahmens zu sein, dass, wenn er sich an irgendeiner Stelle öffnet, ein Prozess beginnt, der damit endet, dass der Rahmen überall offen ist, wenn dieser Prozess nicht durch irgendetwas, in der Regel eine Enttäuschung bzw. deren uneigentliche Auslegung, wieder gestoppt wird.

Wenn das Dasein mehr beim innerweltlich begegnenden Seienden ist, dann spricht es sich als In-der-Welt-sein und als Sein bei diesem Seienden ständig im Ansprechen und Besprechen des Besorgten selbst aus. Dabei sagt es mehr oder weniger implizit „dann, wenn…“, „damals, als…“ oder „jetzt, da…“. Diese scheinbar selbstverständliche Bezugsstruktur nennt Heidegger die Datierbarkeit (Seite 407 ebenda). Auf diese Weise werden Zeitpunkte oder Zeiträume datiert, und das im „jetzt“ angesprochene Ausgelegte nennt Heidegger „Zeit“. Dazu passt auch die oben in Kapitel 9 gegebene Definition von Zeit als Intervall zwischen zwei Ereignissen, denn die beiden Ereignisse sind Datierungen im Sinne von Heidegger. Entsprechend auf den Raum bezogen sagt das Dasein mehr oder weniger implizit „hier, wo…“ und „dort, wo…“, und lässt dabei eine Bezugsstruktur erkennen, die ich Verortbarkeit nennen möchte. Auf diese Weise werden Raumpunkte oder Plätze verortet, und das im „hier“ angesprochene Ausgelegte nenne ich „Raum“. Auch dazu passt die oben in Kapitel 9 gegebene Definition von Raum als Reichweite von Wirkungen, denn dadurch werden ebenfalls Raumpunkte oder Plätze verortet. Mit der Datier- und Verortbarkeit ist die Bezugsstruktur der Nachvollziehbarkeit eines Prozesses gegeben. Auf diese Weise werden Ereignisse oder Teilprozesse nachvollzogen, und das im „jetzt“ und „hier“ angesprochene Ausgelegte nenne ich „Prozess“. Diese Definition von Prozess entspricht der von Kapitel 9 als zeitlich und räumlich aufeinander bezogene Ereignisse. Damit ist die in Kapitel 9 gegebene allgemeine Definition der Prozesshaftigkeit und des Prozesses wie auch von Raum und Zeit das, was sowohl die daseinsmäßige als auch die nichtdaseinsmäßige Zeitlichkeit und Räumlichkeit umfasst. Insofern werden dadurch sowohl das In-der-Welt-sein als auch der Weltprozess charakterisiert. Allerdings erkennt das Dasein anfänglich noch nicht die ekstatische Bezogenheit der Ereignisse wie in Kapitel 9 dargestellt. Dem Dasein ist die Prozesshaftigkeit zunächst und zumeist nur in der besorgenden Ausgelegtheit als ein Früher oder Später bzw. Hier und Da bekannt. Das auslegende Aussprechen der „jetzt“, „dann“, „damals“ und „hier“ oder „dort“ ist die ursprünglichste Zeit-, Raum- und Prozessangabe. Mit der Struktur der Nachvollziehbarkeit hat jedes „jetzt“, „dann“, „damals“ und „hier“ oder „dort“ jeweils eine Gespanntheit bzw. Erstrecktheit von wechselnder Spannweite.

Je mehr das Dasein gewärtigend im Besorgten aufgeht und sich vergisst, also je uneigentlicher es ist, desto mehr bleibt auch seine Zeit, die es sich „lässt“, durch diese Weise des „Lassens“ verdeckt. Diese Zusammenhanglosigkeit der gelöcherten Zeit ist keine Zerstückelung, sondern ein Modus der jeweils schon erschlossenen, ekstatisch erstreckten Prozesshaftigkeit. Auch im Räumlichen gibt es ein ähnliches Phänomen, was in der Psychopathologie übrigens sowohl bezüglich der Zeit als auch bezüglich des Raumes als Dissoziation bezeichnet wird. Wir sind zum Beispiel an einem bestimmten Ort und wissen nicht, wie wir dorthin gekommen sind. Auch hier liegt keine Zerstückelung des Raums vor, sondern ein Modus der ekstatisch erstreckten Prozesshaftigkeit.

Das Vorkommen von Dissoziationen, ob zeitlich oder räumlich, ist als Modus der ekstatisch erstreckten Prozesshaftigkeit ein Zeichen von Uneigentlichkeit bzw. Unentschlossenheit. Indem das Dasein sich vielgeschäftig an das Besorgte verliert, verliert es in dieser Unentschlossenheit seine Zeit und seinen Raum, und es verliert auch bestimmte Abläufe in seinem Entwicklungsprozess, die es dann nicht mehr nachvollziehen kann. In der Entschlossenheit verliert das Dasein weder Zeit noch Raum noch bestimmte Abläufe in seinem Entwicklungsprozess, denn die Prozesshaftigkeit der Entschlossenheit hat bezüglich ihrer Gegenwart den Charakter des Augenblicks. Der Augenblick hat selbst nicht die Führung, sondern ist im entschlossenen Sich-Zurückbringen und Vorlaufen gehalten, so dass die augenblickliche Existenz umgesetzt ist als schicksalhaft ganze Erstrecktheit im Sinne der Ständigkeit des Selbst. Auf diese Weise hat das Dasein ständig seine Zeit und seinen Raum für das, was die Situation von ihm verlangt. Es ist auf alle notwendigen Abläufe in seinem Entwicklungsprozess vorbereitet. Dem Entschlossenen kann das Erschlossene niemals so begegnen, dass er daran unentschlossen seine Zeit oder seinen Raum verlieren oder auf bestimmte Abläufe nicht vorbereitet sein könnte. „Das faktisch geworfene Dasein kann sich nur Zeit [bei mir Abläufe seines Entwicklungsprozesses] „nehmen“ und solche verlieren, weil ihm als ekstatisch erstreckter Zeitlichkeit [bei mir Prozesshaftigkeit] mit der in dieser gründenden Erschlossenheit des Da eine „Zeit“ [bei mir ein endlicher Entwicklungsprozess] beschieden ist.“ (Seite 410 ebenda)

In Gemeinschaften muss sich das Dasein mit den Anderen verständigen hinsichtlich der ausgelegten und ausdrücklich datierten Zeit, die damit eine veröffentlichte Zeit ist. Entsprechendes gilt auch für den ausgelegten und ausdrücklich verorteten Raum, der damit ein veröffentlichter Raum ist. Diese Verständigung kann zum Beispiel durch einen gegebenen Rhythmus und dazu vorgegebene Bewegungen erreicht werden, wie dies etwa beim Tanzen, beim Rudern mit mehreren in einem Boot oder bei bestimmten anderen Arbeiten, bei denen es auf eine Koordination von mehreren Personen ankommt. Bei anderen gemeinschaftlichen Aktionen, etwa beim Hausbau mit verschiedenen Gewerken, kann es auch darauf ankommen, dass die veröffentlichte Zeit, wann ein Gewerk begonnen werden kann und wann es fertig gestellt sein muss, und der veröffentlichte Raum zum Beispiel durch eine Bauzeichnung möglichst exakt bestimmt sind, so dass unter den Mitgliedern der Gemeinschaft eine möglichst große Eindeutigkeit erreicht wird. Hierzu sind dann entsprechend genaue Messungen und Berechnungen nötig.

Im Paragraphen 80 will Heidegger nun den phänomenalen Charakter der öffentlichen Zeit schärfer bestimmen, was ich entsprechend für den öffentlichen Raum nachvollziehen möchte. Da zur Existenz die verstehende ausdrückliche Auslegung gehört, haben sich im Besorgen auch schon Raum und Zeit veröffentlicht. Man richtet sich danach, so dass beides irgendwie für jeden vorfindlich sein muss. Weil das Dasein wesensmäßig als geworfenes auf Andere angewiesen ist, legt es seine Zeit und seinen Raum in der Weise einer Zeitrechnung und der Berechnung des Raumes besorgend aus. Darin wird die eigentliche Veröffentlichung von Raum und Zeit umgesetzt, „so dass gesagt werden muss: die Geworfenheit des Daseins ist der Grund dafür, dass es öffentlich Zeit [und Raum] „gibt“.“ (Seite 412 ebenda) Das existenzial-ontologisch Entscheidende der Berechnung von Raum und Zeit darf nicht in der Quantifizierung von Raum und Zeit gesehen, sondern muss ursprünglicher aus der Prozesshaftigkeit des mit Raum und Zeit rechnenden Daseins begriffen werden.

Die „öffentliche Zeit“ und der „öffentliche Raum“ erweisen sich als die Zeit und der Raum, „worin“ innerweltlich Seiendes begegnet. Wir sollten daher dieses innerweltlich Seiende innerprozesshaftes nennen. Die Interpretation der Innerprozesshaftigkeit soll nun einen ursprünglicheren Einblick in das Wesen der „öffentlichen Zeit“ und des „öffentlichen Raumes“ verschaffen, und es ermöglichen, ihr „Sein“ zu umgrenzen.

Heidegger führt nun aus, wie die Sonne die im Besorgen ausgelegte Zeit datiert und wie aus dieser Datierung das „natürlichste“ Zeitmaß erwächst, nämlich der Tag. Entsprechend ergeben sich aus dem Lauf der Sonne die vier Himmelsrichtungen, und aus der Schrittzahl ein natürliches Entfernungsmaß, welches dann später auf den Urmeter normiert wurde. Durch die Schwerkraft ist dann auch oben und unten öffentlich entdeckt. „ … mit der Zeitlichkeit [bei mir Prozesshaftigkeit] des geworfenen, der „Welt“ überlassenen, sich Zeit [und Raum] gebenden Daseins ist auch schon so etwas wie „Uhr“ [und Himmelsrichtungen, Oben und Unten und Metermaß] entdeckt, das heißt ein Zuhandenes, das in seiner regelmäßigen Wiederkehr [bzw. räumlichen Ständigkeit] im gewärtigenden Gegenwärtigen [aufenthaltlos] zugänglich geworden ist.“ (Seite 413 ebenda) Das geworfene Sein-bei gründet in der Prozesshaftigkeit, die der Grund ist für Uhr, Himmelsrichtungen, Oben und Unten und Metermaß. Der begegnende Sonnenlauf, das begegnende Phänomen, dass Dinge nach unten fallen, das begegnende Phänomen der Schritte beim Laufen ermöglichen und fordern gleichzeitig als entdecktes Ausgelegtes die Datierung und Verortung aus diesem öffentlich umweltlich Zuhandenen.

Einschub: Rhythmik Bearbeiten

Bei der tagtäglichen, regelmäßigen Wiederkehr übersieht Heidegger in „Sein und Zeit“ eine meines Erachtens ganz wichtige Eigenart von Zeit und Prozess, nämlich den Rhythmus als kontinuierliche Periodizität des Zeit- und Prozessablaufs – man spricht auch vom „Puls der Zeit“. Rhythmus ist eine räumlich-zeitliche, also prozesshafte Ausdrucks- und Wirkungsweise mit der besonderen Eigenart der Periodizität. Vom Wort her bedeutet Rhythmus Gleichmaß und Fließen, also eine kontinuierlich und gleichmäßig ähnlich oder identisch wiederkehrende Gestalt (im Sinne von Ehrenfels, s. Weinhandl, 1960), die ich Rhythmus-Gestalt nennen möchte. „Gestalt“ ist etwas, was das Dasein entfalten, was aber von ihm in der Welt auch erst entdeckt werden kann. Insofern ist ein Rhythmus genauso wie eine Wirkung beim Dasein wählbar, also existenzial, bei nichtdaseinsmäßig Seiendem aber nicht wählbar, also kategorial. Beim Dasein ist Rhythmus eine kreative Form der Auslegung, mit der es sich oder Anderen etwas eindrücklich an- bzw. zueignet. Etymologisch wird Rhythmus meistens hergeleitet aus dem indogermanischen Wort „ri“, „die Zahl“, „der Verlauf“, woher auch die griechischen Wörter „arithmos“ für „Zahl“ und „rhein“ für „fließen“ kommen, sowie das Wort „Ritual“ als Handeln nach einer vorgegebenen, sich ähnlich oder identisch wiederholenden Ordnung. Die poetische Form Rhysmôs von Rhythmus wird im Griechischen auch in der Bedeutung von Charakter verwendet (im Deutschen sagen wir auch: „wie jemand tickt“). Typischerweise „entdeckt“ (ohne zu registrieren, dass es eigentlich entwirft bzw. gestaltet) das Dasein die Rhythmik, genauso wie Zeit, Raum und Prozess, zunächst und zumeist bei anderem innerweltlich begegnenden Seienden und erst danach auch an sich selbst, zum Beispiel erst den Tagesrhythmus Hell-Dunkel und dann erst den Wach-Schlaf-Rhythmus. So wie seine Wirkung kann das Dasein seine Rhythmen teils selbst beeinflussen, teils wird es selbst davon beeinflusst. In seiner Existenz zeigen sich viele verschiedene Rhythmen: zum Beispiel Herzrhythmus, Atemrhythmus, Wach-Schlaf-Rhythmus und die sogenannten Bio-Rhythmen. Diese Rhythmen des Daseins gehören zu seiner Leiblichkeit, also zur Räumlichkeit. Weil Rhythmus Ausdruck ist und damit als primäre Ekstase die Räumlichkeit hat, ist er eben auch Körperbezug und weist auf einen Umstand hin, den Nietzsche nie müde wurde zu betonen, nämlich die Abhängigkeit des Denkens vom Leibe, von der physiologischen Reizbarkeit und Empfänglichkeit dessen, der denkt. „Plenus venter non studet libenter“, „ein voller Bauch studiert nicht gern“, oder „Liebe geht durch den Magen“ – das sind Alltagsweisheiten, die auf denselben Zusammenhang hinweisen. Die folgenden beiden Zitate mögen die Bedeutung von Rhythmus unterstreichen: „Der Rhythmus ist die Architektur des Seins, ist die innere Dynamik, die ihm Form gibt, ist das Wellensystem, welches das Sein Anderen entgegensendet, ist der eine Ausdruck der Lebenskraft.“ (Léopold Sédar Senghor, 1967) „Alle ganzzahligen Gesetze der Spektrallinien und der Atomistik fließen letzten Endes aus der Quantentheorie. Sie ist das geheimnisvolle Organon, auf dem die Natur die Spektralmusik spielt und nach dessen Rhythmus sie den Bau der Atome und der Kerne regelt.“ (Arnold Sommerfeld, 1978, Vorwort der 1. Auflage 1919)

Die Entfaltung der Wirksamkeit des Daseins folgt einer Periodizität und erzeugt so ein Wellensystem, welches das Dasein nicht nur Anderen entgegensendet, wie Senghor sagt, sondern welches qua Reflexion (in doppeltem Sinne als Feedback von Anderen und als „Nachdenken“ über sich selbst) auf das Dasein selbst zurückwirkt, sodass das Dasein aus dieser Periodizität einen Eindruck seines Rhythmus seines Seins bekommt, wodurch es sich selbst immer besser verstehen kann. Dies ist die Parallele zu Einsteins Sichtweise, dass das physikalische Gesamtfeld eines Gegenstandes diesen erzeugt. Mit Hilfe von Rhythmus und Reflexion als Rückwirkung bewegt sich das Dasein beliebig durch Raum und Zeit, indem es sich durch Wieder-Holen früher Geschehenes zurückruft und durch Aufstellen von Erwartungen sich aus der Zukunft entgegenkommt. In gewisser Weise ist Rhythmus der Ausdruck entworfener und entwerfender Befindlichkeit, und im eigentlichen Unwillkürlich-Sein findet das Dasein seinen eigentlichen Rhythmus, seinen eigentlichen Charakter (wie es tickt) im Sinne von Rhysmôs. Wenn das Dasein in kreativer Weise eine bestimmte Form bzw. eine bestimmte Gestalt entwirft, also gestaltet, und dann ausdrückt, entsteht bei jedem Wahrnehmen davon ein Eindruck bei daseinsmäßig Seiendem (auch beim Dasein selbst), und dadurch eine bestimmte Stimmung bei diesem Seienden. Die betreffende Stimmung ist der Stimmung ähnlich, die dieses Seiende hatte, als es etwas wahrgenommen hatte, was dieser bestimmten entworfenen Gestalt ähnlich war. Jedes Wahrnehmen dieses Entworfenen ist ein mögliches Wiederkehren einer der entworfenen ähnlichen Gestalt. Wenn das wahrnehmende daseinsmäßig Seiende keine der entworfenen Gestalt ähnliche aus seiner Gewesenheit wieder-holen kann, kann es mit der Schöpfung des Daseins nichts anfangen, das heißt diese Schöpfung oder Kunst ist ihm nicht verständlich. Somit ist Rhythmus als Ausdruck entworfener und entwerfender Befindlichkeit die ontologische Grundlage von jeder Art von Kunst. So betrachtet ist jede Art rhythmischen Ausdrucks des Entwerfens des Daseins Kunst (rhythmisch ausgedrückte Weltlichkeit ist Kunst, Welt ist Natur), und je verständlicher (vom befindlichen Verstehen her) sie für Andere ist, desto schöner ist sie für diese Anderen im ästhetischen Sinne.

Rhythmus als Grundlage der Kunst erhält so eine soziale Dimension, da er über Verständnis zu Harmonie und letztlich zu Liebe zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft führen kann, je echter und unmittelbarer das entsprechende Verständnis ist. Da das Dasein in seiner Selbstbedeutsamkeit (siehe Seite 142) als Struktur seines Selbstentwurfs eine ähnliche Struktur besitzt wie eine Gemeinschaft (siehe oben), kann Rhythmik über Selbst-Verständnis zur Harmonie seiner Selbstbedeutsamkeit und zur Selbstliebe führen, je echter und unmittelbarer das über die Rhythmik, also den rhythmischen Ausdruck, vermittelte befindliche Verstehen seiner selbst ist. Sowohl die Mitglieder einer Gemeinschaft als auch die Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins (die Elemente seines Selbstentwurfs) können als rhythmische Module aufgefasst werden, die dynamisch miteinander verbunden und doch eigenständig sind. Die entscheidende Frage ist nun, wessen es bedarf, um Harmonie und Liebe in solchen rhythmischen Organisationen zu erreichen. Gibt es einen gemeinsamen Rhythmus, in welchem alle Rhythmen der jeweiligen Organisation harmonisch und in Liebe aufgehen können, und wie kann dieser Rhythmus gefunden werden? Darauf soll in Kapitel 14 (Das Wesen der Liebe) näher eingegangen werden.

Ein bestimmter Rhythmus gründet auf einer bestimmten Bezogenheit der Ereignisse, auf die hin das Dasein die entsprechende Rhythmus-Gestalt entworfen hat, das heißt der Rhythmus gründet im befindlichen Verstehen des Daseins dieses Zusammenhangs der Ereignisse, er legt den Zusammenhang, die Bezogenheit, ausdrücklich aus. Der hermeneutische Zirkel des Verstehens ergibt daher auch einen Rhythmus, und im vierten Abschnitt seiner Periode bzw. seiner Rhythmus-Gestalt, in der Auslegung des Vor-Griffs, habe ich oben das kreative Potenzial dieser Rhythmik aufgezeigt. Erst der Rhythmus eines Prozesses macht diesen Prozess vergleichbar und damit mitteilbar. Daraus ableitbar ist die Messbarkeit eines Prozesses, zum Beispiel indem man seine Periodenlänge bzw. -dauer mit denen anderer Prozesse vergleicht. Durch den Rhythmus kann ein Prozess ausdrücklich ausgelegt und damit sich selbst angeeignet und Anderen vermittelt werden. Der Rhythmus ermöglicht das Einfühlen in einen Anderen und in sich selbst. Wenn die vom Dasein entworfene Rhythmik aus dem eigentlichen Verstehen des Daseins in seinem Worumwillen stammt, dann sind die Rhythmen und das in ihnen wurzelnde Verständnis von Zeit, Raum und Prozess eigentlich. Der jeweilige Rhythmus eines Prozesses gibt unter anderem dessen Zeit-Maß, so dass man auch verschiedene Abschnitte oder Teilprozesse anhand ihrer verschiedenen Rhythmen miteinander vergleichen kann. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass der Rhythmus das ursprünglichere Phänomen ist, von dem die Messbarkeit, also die Metrik, erst abgeleitet wird. Das Dasein entwirft mit dem Rhythmus eine Struktur, in der es verschiedene Phänomene einordnet und so Zusammenhänge befindlich verstehend gestaltet und auslegt. Diese Struktur ist sowohl zeitlich als auch räumlich, also prozesshaft, und weist eine Besonderheit auf, nämlich eine gewisse Periodizität, das heißt die Wiederkehr von ähnlichen Substrukturen. Diese Wiederkehr hat für das Dasein folgende Bedeutsamkeit: Kontinuität von Ähnlichem erzeugt eine Stimmung von Vertrautheit, sowie Gelassenheit und gibt dem Dasein Anhaltspunkte für sein weiteres Verstehen und Entwerfen.

Befindliches Verstehen ist nur dann möglich, wenn ein ausreichendes Maß dieser Kontinuität gegeben ist. Dies deckt sich auch mit der Tatsache, dass kleine Kinder für ihre Entwicklung möglichst viel Kontinuität brauchen, sowohl was die Umwelt, als auch was die sozialen Beziehungen betrifft. Daher entwirft das Dasein für alles, von dem es beeindruckt und ergriffen ist, einen Rhythmus. Solange der rhythmische Ausdruck mit dem zusammenpasst, wofür das Dasein ihn entworfen hat, wenn das Dasein also das, was es ausdrücken will, einigermaßen echt und unmittelbar verstanden hat, so lange ist das Dasein beruhigt, denn alles scheint seine Ordnung zu haben. Der Rhythmus ist die Grundlage, auf der das Dasein mathematische Modelle der Welt entwirft, er ist also die Basis des berechnenden und technischen Verstehens. Hier zeigt sich die indogermanische Wurzel „ri“, Zahl, von Rhythmus. Die Doppelnatur des Rhythmus wird nun darin offenbar, dass er außerdem auch die Grundlage des befindlichen Verstehens ist. In der Kunst ist Rhythmus sogar Ausdruck von entworfener Befindlichkeit (siehe oben) und damit ein Modus von deren Mitteilung. Wenn das Dasein sich achtsam dafür offen hält, dass es immer wieder auch Abweichungen dessen, wovon es den Rhythmus entworfen hat, geben kann von seinem entworfenen Rhythmus, insbesondere also von seiner Befindlichkeit, indem es sich also für alle Befindlichkeiten (Abscheu, Leid, Wut, Angst und Freude), nicht nur die eigenen, sondern auch die der Anderen in seiner Gemeinschaft, offen und bereit hält, die Bedingtheit seines Schuldigseins verstehend und akzeptierend sich auf das eigenste Schuldigsein zu entwerfen, dann hält es sich in der Freude offen für echtes und unmittelbares Verstehen und damit für Weisheit, also für die Entwicklung zur Liebe. Geleitet und begleitet vom Rhythmus, den es als Techne im Sinne von Kunstfertigkeit gelassen auf sich beruhen lassen kann, gibt sich das Dasein in diesem Fall voller Mut dem Geheimnis des Seins hin, um immer mehr echtes und unmittelbares Verstehen zu erlangen. Auch hier finden wir die Merkmale der Liebe als Hingabe: Gelassenheit, Mut und Weisheit (als echtes und unmittelbares Verstehen). Das Sein des Daseins, also seine Existenz, ist zwar die Grundlage und die Substanz des Daseins, aber sie gehört ihm nicht im Sinne einer beliebigen Verfügbarkeit, sondern sie ist ihm nur apriori, also von Anfang an gegeben und wird ihm im Tod wieder genommen.

Jeder Prozess, von dem das Dasein beeindruckt und ergriffen ist, wird von ihm rhythmisiert. In jeder ausdrücklichen Auslegung des Daseins von einem Prozess sind mindestens ein, meistens mehrere Rhythmen enthalten. Andererseits aber ist ein Prozess nichts Seiendes, weder Subjekt noch Objekt. Um dies angemessen auszudrücken, hat Heidegger schon in „Sein und Zeit“ sogenannte Impersonalsätze geprägt, wie zum Beispiel: „Die Zeitlichkeit „ist“ überhaupt kein Seiendes. Sie ist nicht, sondern zeitigt sich.“ (Seite 328 ebenda). Entsprechend muss es bei mir heißen: die Prozesshaftigkeit ist nicht, sie prozessiert sich. Durch Rhythmik, zum Beispiel das Atem-Zählen bei der Zen-Meditation, das Pendel des Hypnotiseurs und seine rhythmische Sprechweise oder die Trommelrhythmen der Schamanen, kommt das Dasein in die unwillkürliche (siehe oben) Seinsweise der Trance oder Hypnose und sagt zum Beispiel: „Es atmet mich, es durchpulst mich, o.ä.“ Wenn Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“, 2. Buch, „84. Vom Ursprung der Poesie“ (2000) sagt, „durch den Vers wurde man beinahe Gott. Ein solches Grundgefühl lässt sich nicht mehr völlig ausrotten – und noch jetzt [...] wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daherkommt“, so spricht er damit das Trance-Phänomen der Suggestibilität an. In Gemeinschaften kann man dies auch als ein Resonanz-Phänomen bezeichnen: jeder rhythmische Ausdruck des Daseins kann jemand Anderen, der ihm begegnet, verändern und umgekehrt. Rhythmische Ausdrucksweisen wie auch Prozesse überlagern und beeinflussen sich wie zum Beispiel zwei Wellen, die ein Interferenzmuster bilden. Dabei kann der eine Rhythmus oder Prozess den anderen im Ausdruck verändern, manchmal nur einseitig, manchmal auch wechselseitig. Wenn ein rhythmischer Ausdruck der Seinsweise des Daseins und der eines anderen Seienden(daseinsmäßig oder nicht) sich gegenseitig verändern und dabei stärken, dann nennen wir dies auch Resonanz. Zwei Rhythmen, die sich gegenseitig im Ausdruck stärken, sollen resonant genannt werden. Wenn sich dagegen die beiden rhythmischen Ausdrucksweisen gegenseitig verändern und dabei schwächen, so soll dieses Phänomen mit Dissonanz bezeichnet werden. Die beiden Rhythmen, die sich gegenseitig im Ausdruck schwächen, sollen dissonant genannt werden. Im Zustand der Trance oder Hypnose sind die Rhythmen des Daseins derart, dass sie mit wesentlich mehr Rhythmen resonant sind, als dies bei anderen Seinsweisen des Daseins der Fall ist. Je langsamer ein Rhythmus ist, desto mehr Rhythmen gibt es, die mit ihm resonant sind, und je schneller er ist, desto weniger resonante Rhythmen kann es geben. Aufgrund der Entspannung sind die Rhythmen des Daseins im Zustand der Trance oder Hypnose relativ langsam. Wenn das Dasein sehr aufgeregt ist, dann sind seine Rhythmen relativ schnell, so dass es für Andere schwieriger ist, eine Harmonie mit ihm herzustellen. Je nach dem wie entschlossen das Dasein ist, kompensiert es Resonanz und Dissonanz durch entsprechenden Ausdruck und steuert so den Grad der Beeinflussung von sich und Anderen. Diese Prozesse sind vom Dasein zwar erschlossen, was sich in Redewendungen wiederspiegelt wie „auf einer Wellenlänge sein“ oder im Begriff der Stimmung oder Gestimmtheit, aber nicht unbedingt entdeckt und verstanden. In der Abkehr von ihm selbst konstruiert das Dasein abergläubische bis paranoide Erklärungen, wobei es sich damit in eine Opferposition begibt und nicht wahrhaben will, dass es für sich selbst die Verantwortung hat, derartiger Beeinflussung entgegenzusteuern. Wenn es dann in der Folge Feindbilder in seiner Weltlichkeit bzw. Gemeinschaftlichkeit entwirft und sich befindlich im Recht wähnt (Wahn!) „zurückzuschlagen“, geht es in die Täterposition und kehrt sich noch weiter von ihm selbst ab. Die bisherigen Ausführungen, die in ihrem Umfang dem Phänomen des Rhythmus nur teilweise gerecht werden, sollten vor allem aufzeigen, welche Mächtigkeit in dieser Art des Ausdrucks bzw. der Auslegung steckt und wieviel sich damit beschreiben und erklären lässt, was Prozesse und Prozesshaftigkeit betrifft. Auf der ontischen Ebene zeichnet sich das Trance-Geschehen durch die Kombination von Konzentration und Entspannung aus und ähnelt damit dem Geschehen im Traumschlaf, in dem das Dasein auch einerseits entspannt schläft und andererseits konzentriert ist auf das Traumgeschehen. Ontologisch betrachtet ist es eine Mischung aus Entschlossenheit und Hingabe, eine entschlossene Hingabe an und eine hingebungsvolle Entschlossenheit für die eigene Existenz und immer mehr an und für das Sein überhaupt. Mit der Entschlossenheit ist das Dasein in der Ekstase der eigentlichen Räumlichkeit. Hingabe war ja Gelassenheit gegenüber dem, was nicht zu ändern ist, und der Mut, das Veränderbare zu ändern, sodass das Dasein sowohl sich die Möglichkeiten aus der Gewesenheit wieder holen (Vor-Habe), also in der eigentlichen Gewesenheit sein, als auch zukünftige Möglichkeiten seines Seinkönnens entschlossen entwerfen kann (Vor-Sicht), also dann in der eigentlichen Zukunft ist, und im gegenwärtigen Augenblick wird das Dasein durch die Weisheit gehalten (Vor-Griff), das Veränderbare vom Nicht-Veränderbaren zu unterscheiden, sodass es in der eigentlichen Gegenwart, im Augenblick ist. Wenn dann das Dasein den Eindruck, den seine Existenz bei ihm aufgrund dieser unwillkürlichen Seinsweise macht, unmittelbar und eigentlich versteht in seinem Worumwillen, so kann die Rede und Auslegung davon, bei der sich das Dasein in der unwillkürlichen Seinsart hält, blitzartig etwas Neues erschaffen. Dadurch vertieft sich die Hingabe immer mehr zur Hingabe an das Sein überhaupt, so dass das Dasein in der Trance sich immer mehr in Richtung kreativer Liebe und Erfüllung entwickeln kann.

Was dem Rhythmus faktisch zu Grunde liegt, das Sich-Wiederholende in gleicher oder ähnlicher Weise, das sich nahtlos aneinander fügt bei einem Geschehen, das anschwillt und abebbt, möchte ich Wellenhaftigkeit des Seins nennen. Dadurch werden Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart bzw. Vor-Habe, Vor-Sicht und Vor-Griff zu einer Einheit verbunden und im rhythmischen Ausdruck ausgelegt. Daher kann man die Wellenhaftigkeit als die Basis der eigentlichen Prozesshaftigkeit bezeichnen. Die Wellenhaftigkeit, das Sich-Zeigen und Sich-Entziehen, ist die Essenz, das geheimnisvolle Wesen der eigentlichen Prozesshaftigkeit, und der Grad der Kreativität des Rhythmischen als Ausdruck des Daseins korreliert mit dem Grad der Offenheit der Horizonte der vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit, vor allem der Ekstase der Räumlichkeit. Das Besondere der eigenen Rhythmik des Daseins ist deren Wechselwirkung mit der Wellenhaftigkeit des Seins des Daseins, das heißt wenn die eigene Rhythmik des Daseins resonant ist mit der Wellenhaftigkeit seines Seins, dann ist das Dasein im Einklang mit sich selbst und kann sich immer mehr echt und eigentlich verstehen, entwickelt sich also immer mehr hin zur Liebe. Bei entsprechender Dissonanz ist das Dasein nicht im Einklang mit sich selbst, es hat sich von ihm selbst abgekehrt. Bestimmte Rhythmen der Prozesshaftigkeit können immer wieder von Dissoziationen unterbrochen sein. Dissoziationen sind ein Zeichen von Unentschlossenheit, und dadurch verliert das Dasein nach und nach seine Rhythmik, weil diese dissonant zur Wellenhaftigkeit seines Seins ist. Das unentschlossene Dasein hat Lücken in Teilen seiner Rhythmik, weil die verschiedenen rhythmischen Ausdrucksweisen sich nicht zusammenfügen, und so ist es je nach dem auf Andere angewiesen, dass diese es per Resonanz in Einklang mit sich selbst bringen, was voraussetzt, dass diese Anderen das Dasein bis zu einem gewissen Grad echt und unmittelbar verstehen. Wenn die Rhythmik des Daseins zum Beispiel aufgrund von solchen Lücken dissonant zur Wellenhaftigkeit seines Seins ist und damit diese insgesamt aufhört und nicht wieder in Gang kommt, tritt der Tod ein. „Mit Fug und Recht“ könnte man Dissoziation auch als Un-Fug bezeichnen.

Die volle Bedeutung der Rhythmik für das Dasein, das wir ja selbst sind, erschließt sich uns meines Erachtens erst durch folgenden Gedankengang: Wenn es dem Dasein um sein eigenes oder das Sein überhaupt geht, dann versucht es, dieses Sein zu steuern oder wenigstens zielgerichtet und damit sinnvoll zu beeinflussen. Dazu muss es aber etwas vom Sein befindlich verstehen, was bei jeder Seinsart beim ersten Begegnen nicht gelingen kann, sondern erst dann, wenn sich mindestens ein Aspekt der betreffenden Seinsart wiederholt und das Dasein von der Wellenhaftigkeit des Seins ein Vorverständnis hat und daher entsprechende Rhythmen entwerfen kann. Damit sind wir bei der Rhythmik, das heißt ohne Rhythmik kann das Dasein in der Gegenwart, also dann, wenn es eingreifen könnte, nichts richtig, also befindlich, verstehen und daher auch nichts sinnvoll beeinflussen oder gar steuern. Durch Rhythmik kann der Augenblick zur Erinnerung an die Zukunft werden. In ähnlichem Sinne meint Kierkegaard, dass Wiederholung eine „Erinnerung in Richtung nach vorn“ ist. Deshalb „macht die Wiederholung, wenn sie möglich ist, einen Menschen glücklich“ (Kierkegaard: Die Wiederholung. 2005). Ganz am Anfang in Kapitel 1 habe ich die Freude am Gestalten erwähnt, so dass mit Anlehnung an Kierkegaard von einer Freude am Rhythmisieren gesprochen werden kann. Wenn sich jedoch das Dasein von ihm selbst abgekehrt hat, dann wird aus der Freude Spaß oder sogar ein Zwang zum Rhythmisieren, ein Wiederholungszwang. In „Jenseits vom Lustprinzip“ thematisiert Freud 1920 diese Schattenseite der Wiederholung, dass leidvolle Erlebnisse immer wieder neu inszeniert werden, wobei sich das Leid ebenfalls ständig wiederholt. Ein Sinn ergibt sich darin nur dann, wenn man annimmt, dass das Dasein das betreffende leidvolle Erlebnis noch nicht richtig verstanden hat und mit jeder Wiederholung erneut versucht zu verstehen. Das eigentliche Sich-Rhythmisieren ist das Bemühen zu verstehen, das heißt lieben zu lernen. Das Kreative im Rhythmisieren liegt im ausdrücklichen Verstehen, und das Kreative der Wellenhaftigkeit besteht darin, dass nur Ähnliches wiederholt wird und nie genau dasselbe. Dieser ständige Dialog zwischen Rhythmik des Daseins im akzentuierten Ausdruck, in der Wellenhaftigkeit des Seins und in der ähnlichen Wiederholung erhält und erschafft ständig alles Seiende und ist die ständig sich kreierende Schöpfung. Damit liegt im Austausch zwischen Dasein und Sein überhaupt, in ihrer Beziehung, also im menschlichen Leben, das faktisch Kreative, so ereignet sich ständig die Schöpfung. Mit der Rhythmik ist dem Dasein das Leben als solches erschlossen.

Die besorgte Zeit bzw. der besorgte Verlauf Bearbeiten

Um die in der Zeitmessung besorgte Zeit vollständiger zu charakterisieren, will Heidegger erst einmal verfolgen, wie sich in der „rechnenden“ Datierung das Datierte zeigt, so dass die öffentliche Zeit phänomenal unverhüllt zugänglich wird, da die Zeitmessung, die nur mithilfe eines Entwurfs von Rhythmen möglich ist (das ist ein Entwurf der Wirklichkeit bzw. der Realität, die damit als subjektiv - im Entwurf - problematisiert ist, wobei es für Heidegger kein Realitätsproblem gibt, es gibt Wirkliches, da sich das In-der-Welt-sein ereigne (§44 b)), die besorgte Zeit erst „eigentlich“ veröffentlicht. Entsprechend veröffentlicht „eigentlich“ erst die Raummessung, die durch das rhythmische Zählen von Schritten ermöglicht wird, den besorgten Raum. Die jeweilige Datierung schließt in sich, dass es geeignete oder ungeeignete Zeit für etwas ist, und die jeweilige Verortung, dass dort ein geeigneter oder ungeeigneter Platz für etwas ist. Zeit und Raum werden in einem Bezug auf ein Wozu verstanden, welches seinerseits letztlich in einem Worumwillen des Seinkönnens des Daseins festgemacht ist. Sowohl die veröffentlichte Zeit als auch der veröffentlichte Raum offenbart damit die Struktur der Weltlichkeit, nämlich die Bedeutsamkeit. Heidegger nennt daher die sich veröffentlichende Zeit die Weltzeit, und ich möchte entsprechend den sich veröffentlichenden Raum den Weltraum nennen. Zusammen ergibt das den Weltprozess. Weltzeit, Weltraum und Weltprozess sind nichts innerweltlich Seiendes sondern sie gehören zur Weltlichkeit in diesem existenzial-ontologisch interpretierten Sinn und sind nur möglich durch den Rhythmus. Nach Heidegger ist jetzt erst die besorgte Zeit struktural vollständig charakterisiert, was ich für den besorgten Raum und damit für den besorgten Prozess gleichfalls behaupte: sie sind datierbar bzw. verortbar bzw. nachvollziehbar, gespannt oder erstreckt, öffentlich, gehören als so strukturierte zur Weltlichkeit selbst und sind nur durch Rhythmik möglich. Ferner sind Raum und Zeit im vulgären Verständnis als öffentliche Zeit und Raum an Vorgängen orientiert, so werden sie ja berechnet, und erscheinen daher eher objektiv. Im eigentlichen Verstehen des Daseins aber hat alles Seiende seinen eigenen bedeutsamen Rhythmus und dadurch seine eigene bedeutsame Zeit und seinen eigenen bedeutsamen Raum, sodass Raum und Zeit hier eher subjektiv erscheinen. Aufgrund der Bedeutsamkeit kann das Dasein entwerfend eingreifen und etwas bewirken. Raum und Zeit können aber auch allein dadurch dem Dasein subjektiv erscheinen, dass bestimmte Zeiten und Orte nur für das Dasein eine bestimmte Bedeutung haben.

Die Schwierigkeit für das Dasein beim Weltprozess besteht darin, dass die Bedeutsamkeit der Weltlichkeit nie richtig erfasst werden kann, richtig in dem Sinne, dass das Dasein als In-der-Welt-sein nicht mehr enttäuscht werden kann. Wenn es im Idealfall gelänge, dass alle daseinsmäßig Seienden sich absolut verständigen und verstehen und gemeinsam alle Vorgänge und Beeinflussungen entdecken würden, dann wäre dieses Problem gelöst. Durch die in Kapitel 10 beschriebene Lösung der Transzendenz wird dieses Ideal und damit die Lösung des Problems zumindest näherungsweise immer besser erreicht.

Die Zeit- und die Raummessung vollziehen eine ausgeprägte Veröffentlichung der Zeit und des Raumes, so dass auf diesem Wege erst das bekannt wird, was wir gemeinhin „die Zeit“ und „den Raum“ nennen (vergleiche Seite 419 ebenda). Weltzeit, Weltraum und Weltprozess haben auf dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Verfassung der Prozesshaftigkeit, der sie zugehören, dieselbe Transzendenz wie die Welt (vergleiche ebenda). Jedes prozesshaft besorgende Sein bei innerweltlich Seiendem versteht dieses als „im Prozess“ begegnendes umsichtig. Da Weltzeit, Weltraum und Weltprozess zur Weltlichkeit gehören, sind sie weder subjektiv noch objektiv, sondern gehören zu der Beziehung von Dasein und Sein überhaupt, also zum menschlichen Leben, wie ich es genannt habe.

Die bisherige Interpretation und Auslegung von Weltzeit, Weltraum und Weltprozess ist insofern eigentlich und ursprünglich, als dass sie im ursprünglichen Sinn des Seins des Daseins, nämlich in der Prozesshaftigkeit, gründet bzw. daraus abgeleitet wurde. Zunächst und zumeist unterliegt das Dasein aber noch gewissen Täuschungen und begreift Zeit, Raum und Prozess auf eine Weise, die Heidegger vulgär nennt. Um die Entstehung dieser vulgären Begriffe aufzuhellen, muss man noch einmal bei der Innerzeitigkeit bzw. bei mir bei der Innerprozesshaftigkeit beginnen und zwar beim Gebrauch von Messinstrumenten für Raum und Zeit. Deren existenzial-prozesshafter Sinn erweist sich als ein sich-ergreifen-lassendes und damit aufenthaltloses Gegenwärtigen der Anzeige der Messinstrumente, wobei die erhaltenen Daten in irgendeiner zählbaren Form (vermittelt durch die Häufigkeit einer Rhythmus-Gestalt) festgehalten werden. Dieses aufenthaltslose Gegenwärtigen zeigt sich in der ekstatischen Einheit eines gewärtigenden Behaltens. Das bedeutet: Jetzt-sagend offen sein für den Horizont des Früher, das heißt des Jetzt-nicht-mehr, und offen sein für den Horizont des Später, das heißt des Jetzt-noch-nicht, und Hier-sagend offen sein für den Horizont eines weiteren Dort, das heißt des Nicht-Hier. Das sich darin Zeigende ist die Zeit und der Raum und damit der Prozess und lässt sich so definieren (ich wandle hier Seite 421 ebenda entsprechend ab für Zeit, Raum und Prozess): Die bzw. der im Horizont des umsichtigen, sich Raum und Zeit nehmenden, besorgenden Gebrauchs von Messinstrumenten offenbarte Zeit bzw. Raum bzw. Prozess ist das im aufenthaltlosen gegenwärtigenden, zählenden Verfolgen des sich im jeweiligen Messinstrument zeigende Gezählte auf die Weise, dass sich das unentschlossene oder versessene und daher sich-von-sich-selbst-abbringen-lassende aufenthaltlose Gegenwärtigen in der ekstatischen Einheit mit dem nach dem Früher, Später und Dort horizontal offenen Behalten, Gewärtigen und Ergreifenlassen umsetzt. Die vulgäre Innerprozesshaftigkeit ist also uneigentlich.

Das Gezählte in Bezug auf die Zeit sind die Jetzt als Rhythmus-Gestalten und in Bezug auf den Raum die Hier (dabei ist die Rhythmus-Gestalt zum Beispiel der genormten Schritt des Metermaßes, und mit jedem Schritt wird ein Dort zum Hier und ein Hier zum Dort) der drei Koordinaten in einem vorher festgelegten dreidimensionalen Koordinatensystem. Die in solcher Weise „gesichtete“ Weltzeit nennt Heidegger die Jetzt-Zeit. Analog bezeichne ich den entsprechenden Weltraum als den Hier-Raum und den entsprechenden Weltprozess als den Hier-und-Jetzt-Prozess. So betrachtet haben wir es mit einer Art Rastermodell zu tun, welches sich beliebig verfeinern und vergröbern lässt. Ist es zu grob, kann man nichts erkennen, ist es zu fein, ist die Datenmenge zu groß, als dass man sie verarbeiten bzw. befindlich verstehen und auslegen könnte, so dass ebenfalls nichts erkennbar ist. Einerseits ist es damit ein Modell, welches nur mit einem entsprechend optimalen Maßstab praktikabel ist und am besten bei Maschinen und Robotern eingesetzt wird. Andererseits aber widerspricht dieses Modell, wenn es zu starr verwendet wird, vollkommen der Art und Weise, wie das Dasein sein In-der-Welt-sein erschlossen hat und befindlich verstehend sich in der Welt verhält. Das Dasein ist ontologisch und damit selektierend je nach Ergriffenheit und Erwartung, also je nach seiner Sorge. Je mehr es sich auf ein rigides Rastermodell einlässt, desto mehr entfremdet es sich von sich selbst, das heißt es wird immer uneigentlicher und ist in seiner Sorge schließlich nur noch auf Beruhigung und Kontrolle aus. Diese Gefahr besteht zum Beispiel bei stereotypen Arbeiten.

Auch Heidegger erkennt, dass in der vulgären Auslegung der Zeit als Jetzt-Folge – und ich übertrage dies auch auf den Raum als Ansammlung von Hier-Orten – sowohl die Datier- und Verortbarkeit als auch die Bedeutsamkeit fehlt. Diese nivellierende Verdeckung, die das vulgäre Verständnis vollzieht, sei nicht zufällig, meint Heidegger, sondern liege einzig in der Blickrichtung der besorgenden Verständigkeit, in der sich diese Auslegung von Raum und Zeit hält. Die Jetzt als Zeit- und die Hier als Raumpunkte begegnen zusammen mit dem Seienden und werden ontologisch im Horizont der Idee von Vorhandenheit „gesehen“, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird. Strukturen wie Welt, Bedeutsamkeit, Datierbarkeit und Verortbarkeit sind nicht mehr zugänglich. Auch die Erstrecktheit wird nicht mehr verstanden, sondern die Hier-und-Jetzt-Folge ist ununterbrochen, lückenlos, stetig und ewig, ohne Anfang und ohne Ende. In der Abkehr von der eigentlichen Prozesshaftigkeit läuft diese dem Dasein jedoch genauso hinterher, wie im Ausweichen vor dem Tode dieser dem sich Abkehrenden nachfolgt. Denn wieso sagen wir, die Zeit vergeht, und nicht ebenso betont, sie entsteht? Bei aller Verdeckung ist die Weltzeit also nicht völlig verschlossen. Und wieso verwenden wir so viele Worte für den Raumpunkt wie zum Beispiel Ort, Platz, Stelle, Gegend, Ecke, Lage, Sitz, Stand, Stätte, Umgebung und Gelände? Auch der Weltraum ist nicht völlig verschlossen. Den Grund für die Unmöglichkeit der Umkehr des Zeitflusses, der auch in der vulgären Auslegung erkannt wird, sieht Heidegger in der Herkunft der öffentlichen Zeit aus der Zeitlichkeit bzw. der Prozesshaftigkeit, „deren Umsetzung, primär zukünftig, ekstatisch zu ihrem Ende „geht“, so zwar, dass sie schon zum Ende „ist“.“ (Seite 426 ebenda)

Während die Prozesshaftigkeit sich primär aus dem entschlossenen Vorlaufen zum Tode umsetzt, also aus der eigentlichen Zukunft verbunden mit der eigentlichen Räumlichkeit, sieht das vulgäre Verständnis das Grundphänomen des Prozesses im aufenthaltlosen Hier und im puren Jetzt, welches ebenso wie das Hier in seiner vollen Struktur beschnitten ist.

Resümee Bearbeiten

In den Schlussparagraphen von „Sein und Zeit“ zieht Heidegger Resümee, dass die Seinsverfassung des Daseins herausgestellt sei. Das ursprüngliche Ganze des faktischen Daseins hinsichtlich der Möglichkeiten des eigentlichen und uneigentlichen Existierens ist existenzial-ontologisch aus seinem Grunde interpretiert. Als dieser Grund und damit Seinssinn offenbarte sich meiner Meinung nach die Prozesshaftigkeit und nicht die Zeitlichkeit. Was vor deren Freilegung bereitgestellt war, ist nun in die ursprüngliche Struktur der Seinsganzheit des Daseins, nämlich die Prozesshaftigkeit, zurückgenommen, so dass die früher nur aufgezeigten Strukturen eine Begründung erhalten haben. Das Ziel ist die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt, und dazu war die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins des Daseins als die Prozesshaftigkeit nur ein Weg. Diese Antwort ist noch sehr formal und es bedarf nach Heidegger zusätzlich einer thematischen Analytik der Existenz, für die ihrerseits erst das Licht aus der zuvor geklärten Idee des Seins überhaupt gebraucht wird. Diese Idee des Seins ist meines Erachtens die Idee der Liebe und Erfüllung als Idee des Entwicklungsziels der Sorge bzw. Idee der eigentlichen Sorge. Meine Analytik der Existenz hinsichtlich dieses Themas ergab, dass das Dasein in seinem Entwicklungsprozess eine oszillierende Bewegung ausführt, zum einen in die Richtung von Liebe und Erfüllung, also zum wahren Leben, zum andern in die Richtung Beruhigung und Kontrolle, also zu Abhängigkeit und Symbiose als dem uneigentlichen Leben (Leben als Beziehung zum Sein), so dass ein gewisser Rhythmus entsteht. Wenn das Dasein sich in Richtung Liebe und Erfüllung bewegt, dann geht es ihm um immer mehr echtes und unmittelbares befindliches Verständnis seiner Situation. Da das Dasein aber immer irgendwelchen Täuschungen unterliegt („Es irrt der Mensch, solang´ er strebt.“, Goethe, Faust, Prolog im Himmel), gibt es immer wieder Enttäuschungen, die das Dasein unter Umständen verzweifeln oder zweifeln lassen in seiner Beziehung zum Sein überhaupt (Zweifel an seinem Leben), so dass es sich abkehrt von ihm selbst und sich damit in Richtung Beruhigung und Kontrolle, also Abhängigkeit und/oder Kontrollzwang, bewegt. Zunächst und zumeist gelingt dem Dasein nur dadurch eine Umkehr, dass ihm Andere innerhalb einer Gemeinschaft beistehen über Resonanzprozesse, so dass das Dasein über wiedergutmachendes Sich-Zurückbringen, entschlossenes Vorlaufen auch als Vorkehr gegenüber einer wiederholten oder ähnlichen Täuschung mit der Gefahr der Abkehr von sich selbst, gegliederte Sinnesänderung und ausdrückliche Umkehr und Befreiung von seiner jeweiligen Täuschung sich wieder in Richtung Liebe und Erfüllung bewegt. Im Laufe seines Entwicklungsprozesses eröffnen sich dem Dasein immer mehr Möglichkeiten, eine solche Umkehr auch alleine zu schaffen, insbesondere durch Tranceprozesse, die seine Resonanzbereitschaft für eigene Umkehrtendenzen erhöhen. Andere Rhythmen, deren Ausdrucksweisen entsprechende eigene Rhythmen „übertönt“ haben, können dann in der Trance ausdrücklich „verblassen“, sodass die eigenen Rhythmen im Ausdruck erstarken und so zu immer mehr Eigentlichkeit führen.

Philosophie beginnt in der eigentlichen Räumlichkeit des Daseins, nämlich in der Entschlossenheit, sich mit der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, also mit dem menschlichen Leben, zu befassen, und macht dort in dieser Beziehung den Leitfaden allen philosophischen Fragens fest. Daraus entspringt auch das Sein des Daseins. Aus der eigentlichen Geschichtlichkeit holt sie sich dann ihre Vor-Habe, aus dem entschlossenen Vorlaufen zum Ende allen Daseins ihre Vor-Sicht und aus der Rede als der augenblicklichen vorgreifenden Gliederung von beidem ihren Vor-Griff, so dass dessen kreativ-ausdrückliche Auslegung die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt immer weiter aufklärt und so der Wahrheit immer näher bringt. Dorthin, nämlich in die Beziehung zum Sein überhaupt, schlägt das philosophische Fragen zurück, und dorthin entwickelt sich auch das Sein des Daseins, nämlich hin zu Liebe und Erfüllung, wodurch die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, also das menschliche Leben, zur Wahrheit wird. Die kreativ-ausdrückliche Auslegung des Vor-Griffs bringt Ontisches (das „Dass“) und Ontologisches (das „Wie“) zusammen und gestaltet so durch seinen Ausdruck das Prozesshafte rhythmisch auf ekstatische Weise. Nur in dieser prozesshaften Gestaltung als Sinn des Seins sind uns das Sein, das menschliche Leben und die Wahrheit zugänglich.

Heidegger fragt nun nach einem ontischen Fundament der Philosophie und danach, welches Seiende die Funktion der Fundierung übernehmen muss. Dieses Seiende ist meines Erachtens die Gemeinschaft, die ja eine ähnliche Struktur hat wie das Dasein, die aber eine größere Mannigfaltigkeit und damit auch größere Mächtigkeit besitzt. Eine Gemeinschaft kann ihren Mitgliedern, wenn sie sich aufgrund einer Enttäuschung von ihrer Beziehung zum Sein überhaupt und damit von sich selbst abkehren, beistehen, wieder umzukehren und sich weiter in Richtung Liebe und Erfüllung zu entwickeln. Dies ist meines Erachtens das ontische Fundament der Philosophie, wodurch ihre Aufgabe und ihre Funktion für uns alle aufgezeigt sind.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die Stellung der Naturwissenschaften kommen, insbesondere auf die der Physik, weil es Physiker gibt, z.B. Roger Penrose (2002, 1995), die die These vertreten, man könne eine Physik entwickeln, also die physikalische Theorie derart weiterentwickeln, dass sie das Bewusstsein, einen wichtigen Bereich des Seins des Daseins, physikalisch erklären könnten. Heidegger verwendet in „Sein und Zeit“ zwar nicht den Begriff des Bewusstseins, aber wenn das Dasein sich z.B. des Todes gewiss ist, also darum weiß, dass es sterblich ist, dann hat es ein Bewusstsein vom Tod. Sich etwas gewiss sein, um Begriffe zu nehmen, die auch Heidegger verwendet, ist in diesem Sinne dasselbe wie ein Bewusstsein von etwas haben. Bewusstsein bedeutet aber auch Aufmerksam-Sein und ist damit ein Teil der Achtsamkeit, die bei mir hier bei der achtsamen Entschlossenheit oder der achtsamen Übertragung eine wichtige Rolle spielt.

Nun beruhen ja die physikalischen Gesetze und die physikalische Theorie auf dem Ursache-Wirkungsprinzip, was ja mit der daseinsmäßigen Zeitlichkeit und Räumlichkeit, also mit der Prozesshaftigkeit, nicht zusammen passt. Die Bedingtheit des Daseins und die Möglichkeiten seines Seinkönnens haben nichts mit Ursache und Wirkung in diesem Sinne zu tun. Die Physik beschäftigt sich ja auch mit Vorhandenem und nicht mit dem Dasein. Hierbei ist natürlich stillschweigend angenommen, dass das Dasein eine wenn auch begrenzte Freiheit hat zu sein. Diese Annahme ist weder beweisbar noch widerlegbar. Heidegger zeigt aber in „Sein und Zeit“ auf, dass das Dasein in mehrfacher Hinsicht frei ist, z.B. darin, seine Selbstwahl anzunehmen oder nicht.

Die Physik hat in ihrer Theorie schon immer gewisse Schwierigkeiten z.B. mit der Zeit: Wir wissen ja, dass die Zeit niemals rückwärts läuft, aber in der Physik sind fast alle Gesetze symmetrisch in Bezug auf die Zeit, für die Zeit (t) kann ohne Probleme (-t) gesetzt werden (siehe Penrose, 2002, Seite 295 f.). Es gibt nur zwei Stellen, bei denen das nicht der Fall ist, nämlich in der Quantentheorie, wenn eine Messung vorgenommen wird, was Penrose (2002) auf Seite 348 f. und mit Abb. 8.3 sehr anschaulich demonstriert, und beim 2. Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass die Entropie immer zunimmt mit der Zeit. In beiden Fällen kommen dann aber Wahrscheinlichkeiten ins Spiel, in der Quantentheorie die Heisenberg´sche Unschärferelation bzw. durch die Entwicklung der Schrödinger-Gleichung Wahrscheinlichkeiten für Bahn oder Impuls von Quantenteilchen (z.B. Photonen, Elektronen, Positronen oder Neutrinos), und die Entropie ist von der Wahrscheinlichkeitsverteilung von Gas im Raum abgeleitet. Wenn es also um das Vorlaufen in der Zeit bzw. die Asymmetrie der Zeit geht, wird die Physik immer weniger exakt und das sogar schon bei Vorgängen von Vorhandenem. Penrose ist zwar optimistisch (z.B. Penrose, 2002 oder 1995) und meint, man könne eine entsprechende Theorie finden, die die Relativitätstheorie und die Quantentheorie vereint und als zwei Spezialfälle beinhaltet, sodass dieses „Zeitproblem“ der Physik gelöst ist, aber den Stein des Weisen hat bis heute auch noch niemand gefunden.

Wir haben also inzwischen vier Einflussquellen auf das Sein des Daseins, nämlich die Gene, die Welt außerhalb der Gemeinschaft, in der es Mitglied ist, diese Gemeinschaft und das Dasein selbst. Dies entspricht auch den oben aufgeführten vier konstitutiven Momenten Leiblichkeit, Arbeitsbereich, Soziales und Künstlerisch-Philosophisches (Sinnsystem) des In-der-Welt-seins. Die ersten drei Quellen dürften unbestritten sein, an der letzten entzündet sich die Kontroverse um die Freiheit oder die Determiniertheit des Daseins. Unter der Annahme der Determiniertheit des Daseins gäbe es keine echte Beziehung zwischen dem Dasein und dem Sein überhaupt, d.h. kein echtes menschliches Leben, wie ich es oben definiert habe, keine Wahrheit und keine Liebe wie oben beschrieben, und auch die Gemeinschaft aller Menschen wäre determiniert. Damit wäre auch die dritte Einflussquelle, die Gemeinschaft, keine echte Quelle. Letzten Endes wäre alles nur abgeleitet aus der Materie bzw. aus der Physik der Elementarteilchen. Die Elementarteilchen hätten schon immer Bewusstheit von sich selbst und würden uns in der Quantenmechanik und ihren Wahrscheinlichkeiten nur zum Narren halten. Ein Elektron würde, sobald wir es genauer betrachten wollten, nach eigenem Gutdünken seine Umlaufbahn um einen Atomkern einfach wechseln oder auch nicht. Selbst wenn die heute bekannten Elementarteilchen noch nicht der Ursprung der Materie sind, dann würde eben dieser alles determinieren. Hier stoßen wir aber an die Grenzen dessen, was wir wissen können. Selbst wenn wir etwas finden, was wir für den Ursprung der Materie halten, weil alle unsere Fragen beantwortet sind, so könnte es prinzipiell doch sein, dass wir auf irgendwelche noch nicht beantworteten bzw. beantwortbaren Fragen nicht gekommen sind, d.h. wir können nie sicher sein und beweisen, dass wir den Ursprung der Materie gefunden haben. Das einzige, das wir dann sicher sagen könnten, ist das Allgemeinste, nämlich dass der Ursprung der Materie im Sein liegt und somit das Sein alles bestimmt, aber dass auch das Sein vollständig determiniert ist. Damit ist meines Erachtens gezeigt, dass eine Antwort auf die Frage von Freiheit oder Determiniertheit des Daseins prinzipiell nicht bewiesen werden kann. Wir können nur sagen, dass es grotesk und ohne Sinn wäre, wenn das Dasein keinerlei Einfluss auf das eigene Sein hätte, zumal es ihm doch um dieses Sein geht, denn sonst würde ich ja diese ganzen Überlegungen hier gar nicht anstellen können. Aber auch dieses Worumwillen, wie Heidegger es nennt, ist kein Beweis, sondern nur ein Aufzeigen der Freiheit des Daseins. Eigentlich hätte diese Diskussion an den Anfang gehört, denn sie macht klar, und dies ist ja auch die Position Heideggers, die er am Anfang von „Sein und Zeit“ darlegt, dass das Sein und die Diskussion darum die Grundlage der Philosophie und jeder Wissenschaft sein muss.

Das Thema Freiheit oder Determiniertheit hat aber noch eine andere Seite, die ich mit dem Begriff der Verfügbarkeit bzw. Unverfügbarkeit bezeichnet habe. In seiner Individualität bzw. Geworfenheit und Sterblichkeit ist das Dasein sowohl für sich selbst als auch für Andere unverfügbar. Hieraus wird ersichtlich, dass Freiheit immer in Bezug auf das Sein eines Seienden (auch des Daseins selbst) und in Bezug auf einen Aspekt der Beziehung zwischen dem Dasein und diesem Seienden betrachtet werden muss und niemals subjektivistisch nur auf das Dasein allein bezogen. Eine grundlegende Betrachtung der Freiheit muss sich auf die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt und auf den Aspekt der Wahrheit dieser Beziehung konzentrieren: je mehr das Dasein in die Liebe und je mehr dadurch die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt in die Wahrheit kommt, desto größer wird seine Freiheit.

So interessant die Ausführungen von Penrose auch sein mögen, sie gehen am eigentlichen Thema der Freiheit bzw. Unverfügbarkeit vorbei. Sie werfen aber ein Schlaglicht auf das konstitutive Moment der Leiblichkeit, nämlich auf die Rolle des Gehirns bei den Existenzialien der Befindlichkeit, des befindlichen Verstehens sowie der Rede und der Auslegung des Daseins. Penrose (2002, 1995) beweist am Beispiel des mathematischen Verstehens, dass dieses nicht rein berechnend ist. Insofern ist also sogar mit der mathematischen Logik bewiesen, dass das besinnliche Verstehen, das Verstehen eines Sinns, welches das Dasein nur prozesshaft im hermeneutischen Zirkel des Verstehens unter Einbezug von Befindlichkeit, befindlichem Verstehen, Rede und Auslegung erreichen kann, durch Algorithmen bzw. durch Computer noch nicht einmal simuliert, geschweige denn bewerkstelligt werden kann. Der hermeneutische Zirkel ist kein Algorithmus im strengen Sinn, denn die einzelnen Schritte, die zwar algorithmisch angeordnet sind, sind für sich genommen in der Regel nicht-algorithmisch, insbesondere die kreative Auslegung, denn ein Algorithmus kann nichts Neues schaffen, kann also gar nicht kreativ sein.

Wie oben am Anfang von Kapitel 4 aufgezeigt, führt die Physik über das Phänomen des Lichts an das dort ungelöste Problem des Sich-Verstehens auf Möglichkeiten heran und öffnet so einen Freiraum für sich selbst organisierende Prozesse, wie man sie aus der Chemie kennt. Solche Prozesse laufen teilweise mit einer derartigen zeitlichen Präzision ab, dass man damit Uhren konstruieren könnte. Wenn diese Prozesse durch eine Art Membran einerseits nach außen geschützt sind, andererseits aber Ressourcen durch diese Membran hindurch kommen können, dann sind wir nicht mehr weit von einer Zelle in der Biologie entfernt. Im Inneren sollte der Prozess möglichst harmonisch ablaufen, sodass wir an dieser Stelle an Gemeinschaften erinnert werden, denn auch bei ihnen sollten die Mitglieder im Inneren möglichst harmonisch miteinander auskommen, und sie müssen nach außen vor Gefahren geschützt und von außen mit den nötigen Ressourcen versorgt werden. Wenn diese zellartigen Gebilde sich durch Teilung vermehren können, dann sind wir von der Physik über die Chemie vollständig bei der Biologie gelandet. Über die Evolution entstehen dann immer höhere Lebensformen bis zum Menschen. So betrachtet weisen die verschiedenen Naturwissenschaften immer wieder Lücken auf, die Physik bei der Dualität des Lichts, die Chemie bei der Vermehrung und die Biologie beim Entwicklungsschritt zum Menschen (dem eigentlichen „Missing Link“). Nach diesen Lücken in entsprechendem Abstand setzt dann die nächste Wissenschaft ein in der Reihenfolge Chemie, Biologie und Psychologie (die Medizin rechne ich in diesem Zusammenhang noch zur Biologie), aber die Lücken bleiben, das heißt allen vorausgehenden und der jeweils folgenden Wissenschaft fehlt letztlich die Basis, sie hat mit ihren Methoden keine Möglichkeiten, die jeweiligen Lücken zu schließen, und hier kann eigentlich nur die Philosophie eingreifen und über besinnliches Denken Zusammenhänge aufzeigen (nicht beweisen in einer Konsequenzlogik), die einen Sinn machen. Wenn Penrose (1995) bei der Quantentheorie auf Seite 440 von einer „objektiven“ Reduktion spricht, wenn es also zu einer objektiven Entscheidung kommen soll, welche Zustandsmöglichkeit ein System nun einnehmen soll, wofür es bis heute keine physikalische Theorie gibt, dann kann er damit eigentlich nur eine sinnvolle Reduktion meinen, das heißt sinnvolle Möglichkeiten, die nur über nicht-rechnerisches, also besinnliches Denken, gefunden werden können. Damit sind wir aber meines Erachtens schon im Bereich der Philosophie. Auch wenn Gerald Hüther (2010) von der Evolution der Liebe spricht, ist er kein Biologe mehr, sondern Philosoph.

Zusammenfassend lässt sich philosophisch sagen, dass es unter der überaus sinnvollen Annahme einer gewissen wenn auch unbestimmbaren und begrenzten Freiheit des Daseins einen zutiefst menschlichen Bereich des Seins gibt, in dem es keine naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten geben kann, die Vorher- oder Aussagen über richtig oder falsch machen können, und in dem der einzige Leitfaden oder Sinn des Seins, wie Heidegger es nennt, die Prozesshaftigkeit ist, an der wir uns orientieren können. Indem wir dazu unser Dasein, das heißt die Räumlichkeit unseres Ich-Hier, Du-Da usw., also unser erschlossenes Da, unsere Situation, und unsere Zeitlichkeit, also unsere Befindlichkeit bzw. unsere Bedingtheit (Gewesenheit) zusammen mit den Möglichkeiten unseres Seinkönnens (Zukunft), die in diesem Augenblick (Gegenwart) gehalten sind, immer unmittelbarer und echter zu verstehen suchen und daher immer wieder uns neu entschließen, offen für alle Befindlichkeiten bei uns selbst und bei Anderen zu sein, sodass wir bereitwillig unser Schuldigseinkönnen annehmen und gegebenenfalls umkehren, also soweit möglich und sinnvoll Wiedergutmachung üben und leisten, entsprechende Vorkehrungen gegen Wiederholungen unseres faktischen Schuldigseins treffen, bereuen (unsere Schuld möglichst voll und ganz begreifen) und insgesamt die Umkehr vollziehen, entwickeln wir uns dahin, uns selbst und das Sein überhaupt immer mehr zu lieben und uns entschlossen dieser Entwicklung hinzugeben mit dem Mut, die Dinge zu ändern, die wir ändern können, mit der Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können, und mit der durch die sich immer mehr entwickelnde Liebe gegebenen Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Diese Leitlinie wird von unserem Gewissen liebevoll gefordert, das aus der Ergriffenheit und Erwartung, also aus der Sorge, einer Vorform von Liebe und Erfüllung, herrührt, und wir werden im Entwicklungsprozess durch die Freude gefördert, die uns jedes Mal erfasst, wenn wir etwas mehr Liebe zum Sein überhaupt entwickelt haben, wenn unsere Beziehung zum Sein überhaupt, also unser menschliches Leben, immer liebevoller und damit immer mehr in der Wahrheit ist. Dieser Leitfaden ist das, was Kant wahrscheinlich als vernünftig im Sinne der praktischen Vernunft bezeichnen würde, und dafür wird es nie eine naturwissenschaftliche Theorie geben. Aber dieser Leitfaden sollte die Grundlage aller Naturwissenschaften sein, damit ihre Erkenntnisse nicht zum Schaden, sondern zum Nutzen für uns eingesetzt werden. Diese Leitlinie sollte ebenfalls die Grundlage der Religionsausübung, also der Praxis der Religion sein, damit diese nicht zum Herrschaftsinstrument missbraucht wird, sodass das Dasein unter die Herrschaft des Man geraten und so verfallen kann, also in Versuchung geführt wird, sich von ihm selbst abzukehren. Dogmen etwa haben den Charakter der Versessenheit und stören so die Entwicklung zur Liebe erheblich, da sie das Dasein davon abhalten, frei zu sein, Entschlüsse gegebenenfalls aufzugeben, um sich wieder neu zu entschließen. Um zur Liebe zu kommen, also um echt und unmittelbar verstehen zu lernen, muss das Dasein ungläubig und kritisch sein und nachprüfen dürfen. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich das Beispiel des Kindes anführen, das einen Bademantel für einen bösen Mann hielt und sich davor fürchtete (Fonagy et al., 2008, Seite 418 f.). Die Mutter stellte kein Dogma auf: „Wenn ich sage, das ist ein Bademantel, dann ist das ein Bademantel, und du musst das glauben!“, sondern sie reagierte verständnisvoll, indem sie sich in das Kind hinein versetzte und es spiegelte, gleichzeitig aber auch den Bezug zur Realität herstellte, indem sie den Bademantel nahm und weg brachte. Damit gab sie ihrem Kind einen Freiraum zum Spielen mit der Realität und erlaubte ihm, ungläubig und kritisch zu sein, und indem sie den Bademantel entfernte, ließ sie ihr Kind durch eigene Anschauung nachprüfen, dass es offensichtlich kein Mann war.

Heideggers spätere Auseinandersetzung mit „Sein und Zeit“ Bearbeiten

Von Dieter Thomä in Rentsch (2007) wird ein Rückblick auf „Sein und Zeit“ unternommen, der sich mit Heideggers eigener Kritik daran befasst, sowohl was „Irrwege“ und „Abstürze“ bei der „Bergbesteigung“ des Seins, als auch was Heideggers Konstruktion bzw. Interpretation von „Sein und Zeit“ betrifft, dass er das von Irrtümern gereinigte Werk in sein späteres Denken integriert sieht. Thomä bezweifelt dabei, dass Heidegger „Sein und Zeit“ wirklich bereinigen kann und dass sein spätes Denken noch „denselben Berg“ besteigt wie „Sein und Zeit“.

Indem ich diese Ausführungen durcharbeitete, kam ich zu folgenden Erweiterungen und Verbesserungen meiner eigenen Ausführungen: Heideggers Einwand gegen seinen Ausdruck Fundamentalontologie und deren Aufbau auf der existenzialen Analytik stellt sich in meiner Terminologie so dar: Die existenziale Analytik ist ja der hermeneutische Zirkel, bestehend aus Vor-Habe (Gewesenheit), Vor-Sicht (Zukunft), Vor-Griff (Gegenwart) und Auslegung (Räumlichkeit), also die Prozesshaftigkeit, der Sinn des Seins schlechthin. Damit ist auch in meiner Analyse aufgezeigt, dass das Sein in der existenzialen Analytik schon enthalten ist und darauf nicht noch etwas aufgebaut werden sollte wie eine Ontologie. Dass der Verstehenshorizont des Daseins entsprechend auch kein Aufbauen darauf verträgt, um das vom Dasein verstandene Sein des Seienden zu thematisieren, ist klar, wird aber meines Erachtens auch durch das Bild des Horizonts nahegelegt, was ich so verstehe, dass niemand einen Horizont erreichen kann, geschweige denn etwas darauf aufbauen kann, weil mit jeder Annäherung der Horizont sich weiter nach hinten verschiebt. Kindern sagt man ja zum Beispiel, dass dort, wo ein Regenbogen in die Erde geht, ein Schatz vergraben sei. So wie der Horizont entzieht sich auch immer wieder das Sein und fordert nach meiner Interpretation dadurch zur Hingabe auf.

Der letzte Punkt hat mich auf eine wichtige Erweiterung der Ekstase der Räumlichkeit gebracht: Bislang gab es hier nur das Dass und das Wie des Ausdrucks und bei der eigentlichen Räumlichkeit die rechte Art der Entschlossenheit, die insbesondere im Augenblick gehalten sein muss durch Vor-Habe und Vor-Sicht, damit sie nicht zur Versessenheit wird oder in die Unentschlossenheit entspringt. Diese Entschlossenheit ist auch die rechte Hingabe, die ebenfalls durch die Vor-Habe und die Vor-Sicht (aus beidem zusammen ergibt sich das, was gelassen hingenommen werden sollte, da es nicht zu ändern ist, und das, was mutig angegangen werden sollte, da es änderbar ist) gehalten sein muss, wobei es sowohl für die Entschlossenheit als auch für die Hingabe wichtig ist, dass das Dasein schon ein Wissen darüber hat, was veränderbar ist und was nicht. Dies ist ihm durch die Erschlossenheit des Seins zwar gegeben, aber noch nicht unbedingt entdeckt bzw. ausdrücklich verstanden. Diese Erschlossenheit hat das Dasein mit seiner Geworfenheit erhalten, und zwar durch die Stimmungen, seine jeweilige Gestimmtheit oder ontologisch betrachtet durch seine Befindlichkeit. Dem Dasein ist also (transzendental) von Anfang an etwas gegeben, was es sich nach und nach ausdrücklich aneignen kann. Genau das kann das Dasein aber nur durch ein entschlossenes oder hingebungsvolles Sich-Zurückbringen zum Anfang hin begreifen: Es gibt etwas, was das Dasein sich zu eigen machen kann, und das ist ein wichtiger Aspekt der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt und damit ein grundlegender Aspekt des menschlichen Lebens, ohne den es kein solches des Daseins geben würde. Im entschlossenen und hingabebereiten Vorlaufen zum Tode entdeckt das Dasein dann ausdrücklich, dass es auch etwas zurückgeben, dass es sich selbst bzw. seine Individualität und Unverfügbarkeit hingeben muss spätestens im Tod, und das schließt mit ein, dass es auch vorher schon davon geben kann, genauso wie es entdecken kann, dass es nach dem Anfang mit der Geworfenheit auch später immer wieder etwas bekommt und sich ihm immer wieder etwas Neues erschließen kann. Damit hat das Dasein etwas Grundlegendes und Ursprüngliches entdeckt, nämlich dass seine Beziehung zum Sein überhaupt, also sein menschliches Leben, aus Geben und Nehmen besteht, also aus einem Austausch. Je verständnisvoller, also je liebevoller, dies geschieht von Seiten des Daseins, desto wahrer ist diese Beziehung bzw. das menschliche Leben des Daseins. Bei der Ekstase der Räumlichkeit muss also das Dass-und-Wie des Ausdrucks des Daseins, was noch eine subjektivistische Sichtweise nahelegt, ersetzt werden durch das Dass-und-Wie des Austauschs zwischen Dasein und Sein überhaupt, was damit eine transpersonale statt eine subjektivistische Sichtweise ergibt. Genauer betrachtet ist jeder Ausdruck schon ein Austausch, denn mit dem Ausdruck eignet sich das Dasein einerseits etwas an, gleichzeitig gibt es aber auch etwas zurück, nämlich das Ausgedrückte, und dieses Nehmen und Geben ist Austausch. Es geht hierbei insbesondere um das Dass-und-Wie des Austauschs mit Anderen in einer Gemeinschaft. Je verständnisvoller und damit liebevoller dies geschieht, desto wahrer ist das menschliche Leben des Daseins, desto mehr hat sich das Dasein vom ursprünglichen „Ich-sagen“, in das es immer wieder verfallen kann (siehe weiter unten, Seite 206), zum „Selbst-sein“ entwickelt. Man könnte auch sagen, dass beim „Selbst-sein“ die eigentliche Transzendenz im Austausch erreicht wird. Transzendenz ist Austausch.

Nach Thomä (s.o.) macht Heidegger die „subjektivistische Verunreinigung“ an drei Punkten fest, die jeweils mit Raum, Sprache und dem Ich zu tun haben. Die Prozesshaftigkeit bekommt durch obige Erweiterung der Räumlichkeit in der eigentlichen Prozesshaftigkeit folgende Ausgestaltung: Im Hören-Wollen auf den Gewissensruf entfaltet sich das Dass-und-Wie des Austauschs des Daseins mit dem Sein überhaupt, was einen Teil der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt darstellt und damit einen Teil seines menschlichen Lebens. Der Austausch besteht aus der befindlich (so gibt das Sein) gegebenen Erschlossenheit und der hingebungsvollen (so gibt das Dasein) Entschlossenheit. Dann folgt wie gehabt das entschlossene und hingebungsvolle Sich-Zurückbringen zum Anfang der Beziehung des Daseins mit dem Sein überhaupt (zum Anfang des Lebens) mit dem Ergebnis der Vor-Habe, das entschlossene und hingabebereite Vorlaufen zum Tode, also zum Ende der Beziehung des Daseins als unverfügbares Individuum mit dem Sein überhaupt, mit dem Ergebnis der Vor-Sicht und mit dem augenblicklichen Begreifen der momentanen Situation, wobei das Dasein sich an Vor-Habe und Vor-Sicht voller hingebendem Verständnis und Weisheit hält, mit dem Ergebnis des Vor-Griffs. Sodann kann sich das Dasein das Begriffene ausdrücklich (so gibt das Dasein) und befindlich (so gibt das Sein) aneignen (das nimmt das Dasein) und dabei etwas empfinden (das nimmt das Sein), z.B. Dankbarkeit oder Freude. Zuerst ist also die eigentliche Räumlichkeit als Austausch gefolgt von der eigentlichen Gewesenheit, der eigentlichen Zukunft und der eigentlichen Gegenwart, und zum Abschluss kommt nochmals die eigentliche Räumlichkeit als nunmehr vertiefter Austausch. Die eigentliche Räumlichkeit ist als Austausch ein Teil des Lebens. Es ist das, was einen Prozess am „Leben“ hält, ohne das es keinen Prozess und damit auch kein Leben (Beziehung mit dem Sein) geben kann, denn durch die Prozesshaftigkeit wird der Austausch zwischen Dasein und Sein immer mehr vertieft, das menschliche Leben wird immer wahrer, und dieser Prozess schreitet immer weiter fort. Der Austausch mit seiner stetigen Vertiefung ist also das Lebenselixier. Die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, das menschliche Leben, ist erst durch die Liebe wahr, das heißt der Austausch und damit die Transzendenz sind erst richtig wahr, wenn sie liebevoll sind. Das wahre Lebenselixier ist also nur der zur absoluten Vertiefung gelangte und damit liebevolle Austausch. Mit der Ekstase der Räumlichkeit (als abgesonderter, unheimlicher, verzweifelter, trostloser und elender Aufenthaltlosigkeit in Abstufungen – von Uneigentlichkeit bis Eigentlichkeit – bis zum liebevollen Austausch zwischen Dasein und Sein) und mit den drei Zeitekstasen Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart ist die Prozesshaftigkeit genau das, was die Zeitlichkeit bei Heidegger sein sollte, der Sinn des Seins, der Rahmen, in dem das Sein verständlich wird. Mit dem Dass-und-Wie des Austauschs bündelt und vereint die eigentliche Räumlichkeit die drei Zeitekstasen, erst empfängt das Dasein in der Erschlossenheit und gibt dann in hingebungsvoller Entschlossenheit und kann sich dann etwas ausdrücklich aneignen und stille Dankbarkeit empfinden (der ultimative Austausch). Das Dass und das Wie des Austauschs schließen die Zeitekstasen ein, auf die sich das Wie als entschlossene Entrückung von der Räumlichkeit her überträgt und durchgehalten wird. Damit ist die subjektivistische Verunreinigung durch diesen Punkt, der mit der Räumlichkeit zu tun hat, beseitigt, das Dasein existiert niemals für sich allein sondern nur in der Beziehung mit dem Sein. Selbst in der Privation des Austauschs, in der Abgesondertheit des Daseins, ist das Dasein in einer Art Beziehung mit dem Sein überhaupt, wenn auch nicht in einer liebevollen. Auch das von mir bei der Transzendenz der Welt Festgestellte, wie diese konkret im Austausch mit Anderen in einer Gemeinschaft erreichbar ist, ist unvereinbar mit irgendeiner Art von noch so abgewandeltem oder modifiziertem Subjektivismus.

Was die Sprache betrifft, so heißt es in „Sein und Zeit“, die Bedeutsamkeit fundiere „das mögliche Sein von Wort und Sprache“ (Seite 86 ebenda). Diese Verwobenheit der Sprache mit Handlungen sieht Heidegger als Ausdruck der Eigenständigkeit des Daseins und damit als einen Rest von Subjektivismus. Die Sprache als eine mögliche Ausdrucksform oder, wenn man wie Heidegger jeglichen Ausdruck schon als Sprache versteht, die Sprache schlechthin ist als ausdrückliches Sich-Aneignen von Begriffenem (Ekstase der Räumlichkeit) Teil des Austauschs zwischen Dasein und Sein, und zwar das Nehmen des Daseins vom Sein als Sich-aneignen und im Ausdruck auch schon ein Geben, insbesondere ein Geben an Andere. Die ästhetische Schönheit des Ausdrucks misst sich dann daran, wie viele Andere der Ausdruck beeindruckt, und wie viel die Anderen sich vom Ausgedrückten aneignen können. Eine ähnliche Auffassung von Ästhetik vertritt Georges Buffon (1707-1788) bei seiner berühmten Antrittsrede 1753 vor der Académie française: „[…] ein schöner Stil ist in der Tat nur so aufgrund der unendlich vielen Wahrheiten, die er vermittelt.“ Damit ist die Ästhetik im Austausch mit dem Sein und damit im menschlichen Leben auf natürliche Weise fundiert, das heißt die Ästhetik „erschließt sich in der Einsicht in die Verfassung des Daseins, der nur entsprochen wird“, wie Thomä es auf Seite 297 in Bezug auf die Ethik ausdrückt. Ein Ausdruck ist demgemäß dann von wahrer Schönheit, wenn das mit ihm Gegebene von echtem und unmittelbarem Verständnis und damit von Liebe geprägt ist. Dieser Zusammenhang von Wahrheit, Schönheit und Liebe spiegelt die alltägliche Erfahrung wieder, dass wir die, den oder das, was wir zu lieben glauben, schön finden, und wenn wir davon nicht enttäuscht werden, wenn wir es also echt und unmittelbar dabei verstanden haben, dann ist unsere Liebe wahr und beruht auf der Wahrheit. Da Sprache somit ein Teil des Austauschs ist, dem Ganzen auch noch die befindliche Erschlossenheit und ein Sich-Hingeben oder Sich-Hineingeben ins Sein des Daseins vorausgeht, und neben dem Sich-aneignen auch eine Art nicht unbedingt, aber meist freudige Reaktion (z.B. Dankbarkeit, aber auch Enttäuschung) als Ausdruck folgt, das ist alles ein Geben und Nehmen, ist diese Verwobenheit nicht Ausdruck der Eigenständigkeit des Daseins bzw. von Subjektivismus, sondern sie zeigt nur den Austausch, die Beziehung und die Verwobenheit des Daseins mit dem Sein überhaupt. Die Bedeutsamkeit kann sich das Dasein nur deswegen aneignen, weil es sich im Austausch mit dem Sein befindet. Was das Ich-sagen betrifft, so finde ich in „Sein und Zeit“, dass das Dasein in der Verfallenheit als Man-selbst „am lautesten und häufigsten Ich-Ich [sagt], weil es im Grunde nicht eigentlich es selbst ist und dem eigentlichen Seinkönnen ausweicht“ (Seite 322 ebenda), während Heidegger bei der Einführung der Entschlossenheit als möglicher Reaktion auf den Gewissensruf diese „das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein“ (Seite 296 f. ebenda) nennt. Hier wird meines Erachtens doch scharf getrennt zwischen Ich-sagen und Selbst-sein, so dass mir Heideggers eigene Kritik unnötig erscheint. Ferner stellt Heidegger schon auf Seite 130 in „Sein und Zeit“ fest: „Die Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst ist [...] ontologisch durch eine Kluft getrennt von der Identität des in der Erlebnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich.“

Wenn man den Prozess des Austauschs betrachtet und ihn sowohl von der Hermeneutik als auch von der ekstatischen Prozesshaftigkeit her und vom Standpunkt des Daseins aus nochmals analysiert, so lassen sich die folgenden Phasen erkennen: am Anfang ist das Dasein von etwas beeindruckt bzw. lässt sich beeindrucken, es ist befindlich ergriffen von etwas und ist erwartungsvoll interessiert, es näher zu verstehen. Von den Ekstasen her ist das Dasein durch diese eindrückliche Sorge in die Räumlichkeit entrückt, da das Sein (eines Anderen oder von etwas ihm in der Welt begegnenden Seiendem) ihm gegenüber etwas ausdrückt und auf diese Weise gibt. Dieses Eindrückliche ist dem Dasein somit erschlossen, wenn auch noch nicht oder nicht richtig entdeckt. Daraufhin beginnt die Informationssammlung, in der Entrückung der Gewesenheit die Vor-Habe, in der Entrückung der Zukunft die Vor-Sicht, und beides wird dann symbolisiert und in der Rede gegliedert auf Begriffe gebracht in der Entrückung der Gegenwart als Vor-Griff. In diesen zeitlichen Ekstasen findet die Sammlung und das formale Ordnen der Daten auf eher technische Weise statt. Diesen Teil des Prozesses kann das Dasein in weiten Teilen auch Maschinen und der EDV überlassen. Die eigentliche Interpretation, Auslegung bzw. das ausdrückliche Sich-aneignen und sich so auch mit Anderen austauschen oder mit der Welt interagieren und handeln, diese Prozesse finden dann in einer zweiten Entrückung des Daseins in die Räumlichkeit statt. Die beiden Entrückungen in die Räumlichkeit am Anfang und am Ende dieses Austauschprozesses zwischen dem Dasein und dem Sein überhaupt sind das, was dem Austausch die eigentlich menschliche Note gibt. Die Prozesshaftigkeit lässt sich also unterteilen in die Zeitlichkeit, die eher technische Seite des Prozesses, die allerdings auch mit vollem Engagement betrieben werden muss, und die eine wichtige Grundlage für das Ergebnis des Prozesses darstellt, da Fehler hier sich insgesamt äußerst fatal auswirken können, und die Räumlichkeit, die eher menschliche Seite des Prozesses, die ebenfalls mit großem Engagement durchgeführt werden sollte, da sonst der ganze Aufwand vorher umsonst ist, weil der Prozess dann ergebnislos ohne ausreichende Aneignung oder ohne ausreichenden Austausch im Sande verlaufen würde. Engagement bedeutet hier jeweils von Verständnis getragen für das, was in dem jeweiligen Prozessschritt erreicht werden soll, also letztlich Achtsamkeit und Liebe für alle Details des Austauschs.

Um dies an einem Beispiel zu veranschaulichen, sei als Dasein ein Arzt gewählt, zu dem ein Patient kommt und von seinen Beschwerden erzählt (sein Sein drückt dem Arzt gegenüber etwas aus). Auf den Arzt macht dies einen bestimmten Eindruck, er hat vielleicht Mitleid mit dem Patienten (ist befindlich ergriffen) und ist interessiert, das Problem des Patienten näher zu verstehen, also in Sorge um den Patienten. Er macht eine Anamnese (Gewesenheit, Vor-Habe), untersucht den Patienten, erhebt Laborwerte und vergleicht Ist- mit Soll-Werten (Zukunft, Vor-Sicht) und macht sich aufgrund seines Wissens vom Studium und seinen bisherigen Erfahrungen, von seinem Vorverständnis her ein Bild, das heißt er gliedert und fasst das bisher an Informationen Gewonnene vorgreifend zusammen im sogenannten Befund und hat auch schon eine Vorstellung einer möglichen Behandlung (Gegenwart, Vor-Griff). Von der Anamnese bis zum Befund hätte dies weitgehend auch ein mit dem aktuellen medizinischen Wissen programmierter Diagnose-Roboter machen können. Er müsste aber sehr gründlich und gewissenhaft, mit Liebe zum Detail programmiert worden sein. Dann erarbeitet sich der Arzt ausdrücklich einen Behandlungsplan, wobei er sein Verständnis für den Patienten (auch für dessen Unverfügbarkeit als daseinsmäßig Seiendes) und seine Situation mit einfließen lässt (idealerweise), und tauscht sich mit ihm darüber aus, wie die Durchführung der Behandlung konkret aussieht, was passieren kann oder nicht und wie der Patient dabei mitwirken könnte und müsste. Leider verläuft eine ärztliche Behandlung nicht immer so ab, wobei weniger die technischen Dinge zu kurz kommen, sondern die menschlichen, sodass man sich nicht wundern muss, dass viele Behandlungen an der mangelnden Mitwirkung des Patienten scheitern, weil er sich nicht verstanden und als „Fall“ verkannt fühlt. Experimente haben übrigens gezeigt, dass es einen signifikanten Unterschied im Behandlungsergebnis ausmacht, ob dem Patienten dasselbe Medikament von einem Roboter oder persönlich von einem Arzt gegeben wird.

Bezogen auf Heideggers „Sein und Zeit“ finde ich es fast schon tragisch, dass er bei der Zeitlichkeit hängen geblieben ist, also beim mehr Technischen, obwohl er doch immer auf die Gefahren der Technik in den Naturwissenschaften hingewiesen hat. Im 18. Jahrhundert hat Buffon in seiner Antrittsrede noch gesagt: „Diese Dinge [sc. die Menge des Wissens, die Einzigartigkeit der Tatsachen, die Neuheit der Erkenntnisse] haben ihren Ursprung nicht im Menschen, der Stil ist der Mensch selbst.“ Damit ist für mich ausgedrückt, dass das Technische auch außerhalb des Menschen, also zum Beispiel von Robotern, erledigt werden kann, während die eigentliche Aneignung und der Austausch unter den Menschen nur durch Menschen selbst geschehen kann. Später wurde dieser Ausspruch von Buffon im Zuge der Industrialisierung und Technisierung im 19. Jahrhundert abgewertet und so interpretiert, als komme es nur auf den äußeren Schein und nicht auf den Inhalt an („Wohllaut statt Wahrheit“). Ich denke beides ist gleich wichtig, und so wie vielleicht im 18. Jahrhundert der Ausdruck zu stark betont wurde, geschah dies ab dem 19. mit dem Technischen. Gerade heute kommt man jedoch immer mehr dazu, die Bedeutung von beidem anzuerkennen. Dazu hat sicherlich auch Heidegger beigetragen, und daher ist es umso unverständlicher, dass er bei der Zeitlichkeit, also beim Technischen, geblieben ist. Er hat zwar deutlich gemacht, dass auch hier Entschlossenheit wichtig ist, dass sich das Dasein bei der Informationsgewinnung ganz hineingeben muss, damit keine fatalen Fehler geschehen, sodass auch hier das Menschliche nicht ausgeklammert werden darf, aber den ausdrücklichen Austausch, die Entrückung in die Räumlichkeit, hat er nicht thematisiert. Wenn er den Stil Hitlers („Mein Kampf“) und der SA einmal genauer betrachtet und ernst genommen hätte, vielleicht hätte ihn das ausdrücklich genug gewarnt, sich mit den Nazis einzulassen.

„Sein und Zeit“ ist meines Erachtens dadurch zur Sackgasse geworden bzw. hat deshalb zu einem Absturz geführt, weil Heidegger sich nur auf die Zeitlichkeit beschränkt und nicht den ganzen hermeneutischen Prozess beachtet hat, zu dem neben der Zeitlichkeit, die ja Vor-Habe, Vor-Sicht und Vor-Griff beinhaltet und so die eigentliche Auslegung und den Austausch mit dem Sein nur vorbereitet, auch die Räumlichkeit gehört, in die das Dasein erst durch Ergriffenheit und Erwartung, also Sorge, entrückt ist, um dann nach der Entrückung in die Zeitlichkeit erneut durch das ausdrückliche Sich-aneignen und Anderen Mitteilen über das in der Zeitlichkeit technisch-sachlich Begriffene in die Räumlichkeit entrückt zu werden, wobei hier das Sich-mit-Teilen zum Vermehren führt, ein Vermehren sowohl von Informationen und Handlungsmöglichkeiten, als auch von gegenseitigem Verständnis und Liebe. Durch das Übergehen der Räumlichkeit ist Heidegger alles entgangen, was mit dieser Ekstase der Prozesshaftigkeit verbunden ist: Leiblichkeit, Rhythmus, Austausch, Eindruck, Wirkung usw. Er geht auch kaum auf das Phänomen des Ausdrucks ein, und die Auslegung ist bei ihm deswegen nicht richtig von der Rede abgegrenzt. Die Zeitlichkeit, bei der es um das Sammeln und Ordnen von Wissen und Informationen geht, hat vor allem mit dem Aufgabenbereich in einer Gemeinschaft zu tun, bei dem es um das Verhältnis zur Außenwelt geht, während die Räumlichkeit hauptsächlich das Sozial-Emotionale innerhalb dieser Gemeinschaft betrifft. Da aber auch eine Gemeinschaft verbunden ist mit der Außenwelt, spielt der Austausch mit dieser ebenfalls eine wichtige Rolle, so dass auch hier das Sozial-Emotionale nicht vernachlässigt werden darf. Unabhängig von Heideggers späterem Denken sehe ich durch meine Ausführungen „Sein und Zeit“ von subjektivistischen Verunreinigungen hinreichend befreit. Das Dasein, das sich nach der ersten unverarbeiteten Enttäuschung egoistisch auf Beruhigung und Kontrolle ausgerichtet hat und aufgrund seiner durch nachfolgende Zuwendung durch Andere entdeckten faktischen Angewiesenheit in Gefahr ist, zu kapitulieren und welthörig zu werden, findet im durchaus möglichen Idealfall mit Hilfe Anderer in einer Gemeinschaft dadurch angeregt und unterstützt, dass sie das Dasein immer mehr echt und unmittelbar verstehen und damit sozusagen ins Leben „hineinlieben“, immer mehr zu sich selbst und zur Wahrheit als der liebevollen Beziehung zum Sein überhaupt, also zum wahren menschlichen Leben und zu Liebe und Erfüllung.

Thomä fragt dann weiter, was der Kern bzw. die Substanz von „Sein und Zeit“ ist, die nach Heideggers Meinung weiterhin gilt, und stellt fest, dass Heidegger „mit subtilen begrifflichen Verschiebungen versucht“, diesen Kern „vor Missverständnissen zu bewahren und von Unzulänglichkeiten zu befreien“ (Thomä s.o., Seite 287). Thomä greift hier den Begriff des Daseins auf, den Heidegger zuerst in Mensch, meines Erachtens frei nach Goethes „Es irrt der Mensch“, und in Da-Sein als eigentliches Dasein (im Sinne von „Sein und Zeit“) aufspaltet, sodann Da-Sein zugunsten von Sein weglässt, bis er schließlich das Begriffspaar „Mensch und Sein“ zugunsten von „Ereignis“ und „Geviert“ ganz aufgibt, um den Schein der Vergegenständlichung von Sein zu vermeiden. Im Gegensatz zu Thomä finde ich diese Schritte logisch nachvollziehbar, da es beim Dasein von „Sein und Zeit“ um die Beziehung des Daseins zum eigenen Sein und zum Sein überhaupt geht, also in meiner Terminologie um das Leben und das menschliche Leben. Es geht also um das Dazwischen, um Beziehung zwischen Unverfügbarem, was für mich die Substanz bzw. der sachliche Kern von „Sein und Zeit“ ist, der bis zu „Ereignis“ und „Geviert“ Heideggers Denken durchzieht. Bei mir ist das „Geviert“ der Rahmen mit den vier Ekstasen der Prozesshaftigkeit (siehe oben), in dem jedes „Ereignis“ entdeckt, also ausdrücklich verstanden werden kann in der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt. In „Sein und Zeit“ ist die Substanz des Menschen die Existenz (Seite 314 ebenda), das Sein, um das es dem Dasein geht und über das es genauso wenig verfügen kann wie über sich selbst. Aufgrund meiner Ausführungen zum Dasein in Gemeinschaften ist klar geworden, dass es dem Dasein nicht nur um sein eigenes Sein geht, sondern auch um das von Anderen. Noch allgemeiner betrachtet geht es dem Dasein ebenfalls um sein In-der-Welt-sein und damit um alles Sein von Seiendem, das ihm innerweltlich begegnet. Je mehr sich das Dasein zur Liebe hin entwickelt, desto mehr vom Sein von verschiedenem Seiendem versteht es immer echter und unmittelbarer, bis es am Ende das Sein überhaupt versteht und damit liebt. In diesem Sinne geht es dem Dasein um das Sein überhaupt. Die Beziehung zwischen Dasein und Sein überhaupt ist also ein wachsendes Gehen-um, das immer verständnisvoller bzw. liebevoller wird. Dieses Gehen-um ist die Substanz bzw. der sachliche Kern von Sein und Zeit, also die Beziehung zwischen dem Dasein und dem Sein überhaupt, das menschliche Leben, wie ich es genannt habe.

Auch die weitere Kritik von Thomä auf Seite 289 ff. geht meiner Meinung nach ins Leere. Zuerst bemängelt er bei Heideggers Umschreibung des Augenblicks als der eigentlichen Gegenwart, womit „die entschlossene, aber in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet“ in „Sein und Zeit“ auf Seite 338 gemeint ist, dass Heidegger Entschlossenheit und Entrückung später jeweils als „Inständigkeit“ interpretiert hat, sodass etwas Nichtssagendes dabei herauskomme, nämlich „die inständige, aber in der Inständigkeit gehaltene Inständigkeit des Daseins“. In meiner Auslegung Heideggers, ohne sein Spätwerk vorher gelesen zu haben, ist Entschlossenheit ein Sich-Hingeben, was nichts mit Kapitulation und Selbstaufgabe im Sinne von Verantwortung-abgeben zu tun hat, sondern Engagement des Daseins in seiner Beziehung zum Sein überhaupt bedeutet, also im (menschlichen) Leben des Daseins. Ich habe dies noch genauer umschrieben als Gelassenheit, Mut und Weisheit, wobei das Ausmaß an echtem und unmittelbarem Verständnis, also an Weisheit, entscheidend ist, also der Grad an entwickelter Liebe, welchen Grad der Hingabe bzw. Entschlossenheit das Dasein erreichen kann. Entsprechend sind bei mir auch die eigentlichen Ekstasen der Prozesshaftigkeit ganz auf die Entwicklung von immer mehr Liebe ausgerichtet, sodass die von Thomä zitierte Stelle in meiner Terminologie „die hingabebereite, aber in der Hingabebereitschaft gehaltene Ausgerichtetheit auf Liebe“ heißen würde. Da Hingabebereitschaft aber die Entwicklung zur Liebe beinhaltet, erhält man eine ähnliche Tautologie. Das liegt aber meines Erachtens in der Natur der Sache, dass man das Eigentliche nur in Tautologien ausdrücken kann, weswegen vielleicht Heidegger in der Beschäftigung mit Hölderlin sich zuletzt immer mehr auf die künstlerische Ausdrucksweise verlegt hat, die das Publikum auffordert, selbst zu denken und die Wahrheit zu ergründen. Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie pflegte auf Fragen nach Wirklichkeit oder Wahrheit zu antworten: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.“ Im Taoismus heißt es entsprechend, dass die Wahrheit (das Tao), die gesagt werden kann, keine Wahrheit ist. Damit ist keine Aufforderung zur Willkür gemeint, sondern dass die Philosophie als Protreptik gehalten ist, zum Denken zu ermahnen, wie dies Heidegger seit seinen ersten Publikationen und zumindest in seinen frühen Vorlesungen, in denen er stets Diskussionen mit seinen Zuhörern angeregt hat, immer getan hat.

Was die „subtilen begrifflichen Verschiebungen“ betrifft, so interpretiere ich das so: Heidegger wertet ja nicht, sondern beschreibt mit Wertprädikaten, was dann oft zu Missverständnissen geführt hat. Dass er seine Beschreibungen geändert hat, sehe ich als Zeichen dafür, dass er seine ursprünglichen Beschreibungen nicht mehr für adäquat gehalten hat. Wenn ich die beiden Verschiebungen von „Entschlossenheit“ und „Entrückung“ jeweils hin zu „Inständigkeit“ betrachte, so drängt sich mir folgender Gedanke auf: Als Heidegger „Sein und Zeit“ schrieb, war er kurz vor dem Höhepunkt seiner Hochschul-Karriere. Rein statistisch gesehen passt dies gut, denn Männer haben mit durchschnittlich 35 Jahren den höchsten Punkt in ihrer beruflichen Entwicklung erreicht. Zu diesem Entwicklungsstadium passen solche nach vorne strebenden Ausdrücke wie „Entschlossenheit“ und „Entrückung“ natürlich viel besser als „Inständigkeit“, was eher an „inständiges Bitten“ erinnert. Durchschnittlich ab 45 Jahren versuchen Männer dann, ihre Karriere-Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Hier sieht man übrigens auch deutlich dieses Wechselspiel von Nehmen und Geben. Mit „Inständigkeit“ war Heidegger dann nach dem 2. Weltkrieg bestrebt, sein vielfältiges Wissen adäquater weiterzugeben und hat so nach immer neuen Begrifflichkeiten gesucht. Was nach Thomä bei Heideggers eigener Interpretation von „Sein und Zeit“ untergehe, sei „die eigenständige Dimension, in der das Dasein mit sich selbst zu tun hatte. [...] Diese Subjektivität ist tiefer in Sein und Zeit verankert, [...] so tief, dass sie nicht als Verunreinigung ausscheidbar ist.“ (Thomä s.o., Seite 291) Ich denke, dass Thomä hier einem Missverständnis unterliegt und „Ich“ mit „Selbst“ verwechselt. Es geht dem Dasein um sein Sein, welches ein In-der-Welt-sein ist, also um Beziehung, und die eigenständige Dimension, in der das Dasein mit sich selbst zu tun hat, ist seine Unverfügbarkeit, die so lange zu Enttäuschungen führt, bis das Dasein sie verstanden hat. Von Anfang an ist es in die Welt geworfen, und zwar zuerst in die Beziehung mit seiner Mutter. Es erlebt dann immer wieder ambivalente Ereignisse, bei denen es etwas verliert, aber auch etwas bekommt, ein Geben und Nehmen, eben Beziehung, und in dieser Beziehung erlebt es immer wieder seine Unverfügbarkeit und die des Seins. Bei der Geburt wird ihm die Wärme und Geborgenheit im Mutterleib entzogen, es bekommt dafür mehr Bewegungsfreiheit. Beim Abstillen bekommt es geschmacklich abwechslungsreicheres Essen, und die Schule gibt zwar nicht die Geborgenheit wie zu Hause, vermittelt aber meist wichtiges und manchmal auch interessantes Wissen. Wenn es bei der „sozialen Geburt“ erfährt, dass die Mutter anders gestimmt ist, sich also emotional woanders befindet, kann es sich trotz der Enttäuschung darüber freier fühlen, eigene Empfindungen zu haben. Wenn das Dasein bei derartigen sogenannten Schwellensituationen oder auch sonst mit der Ambivalenz seiner Situation nicht zurechtkommt, wenn das Enttäuschende für das Dasein überwiegt, dann kehrt es sich zunächst und zumeist von seiner Beziehung zu Anderen ab und damit von seiner Beziehung zum Sein überhaupt, also auch von seinem eigenen Sein, von seinem Selbst, und demonstriert damit letztlich wieder seine Unverfügbarkeit, auch wenn es sie immer noch nicht begriffen hat, denn in der Unverfügbarkeit ist die Geworfenheit und die Sterblichkeit enthalten, dem Dasein wird gegeben und genommen. Es gibt hier im Wesentlichen zwei Arten schlechter Terminierung für die Entwicklung des Daseins, die man als Überfordern und als Verwöhnen bezeichnen kann. Im ersten Fall wird dem Dasein zu früh etwas entzogen, es kann mit dem gegebenen Neuen noch nichts anfangen und ist somit überfordert und ängstlich enttäuscht, da es etwas Bedrohliches auf sich zukommen sieht. Bei einer Frühgeburt ist das Dasein zum Beispiel zu schwach, seine Bewegungsfreiheit wirklich zu nutzen, es ist noch zu klein, um sich im Mutterleib beengt zu fühlen, und es hätte die Wärme, die Geborgenheit und die unmittelbare Ernährung in der Gebärmutter noch länger gebraucht, so dass seine Lage wirklich bedrohlich ist. Beim Verwöhnen hat das Dasein das Neue bekommen, aber das Alte wird ihm erst später entzogen, so dass es den Zusammenhang nicht versteht und wütend enttäuscht ist. Es interpretiert seine wütende Befindlichkeit, die auf eine vergangene Schädigung hinweist, meist so, dass ein früheres Versprechen absichtlich nicht eingehalten wurde, man hat ihm in der Vergangenheit etwas vorgemacht. Wenn zum Beispiel ein Kind noch länger die Flasche bekommt und gleichzeitig abwechslungsreiches Essen, dann aber irgendwann die Flasche weggenommen bekommt, so wird es wütend und enttäuscht sein und nicht verstehen können, warum es nicht weiter aus der Flasche trinken darf. Das Vertrauen ist gestört, und es wird sich manipuliert vorkommen. So ist es für Eltern oft schwierig zu verstehen, welche Kritik ihr Kind überfordert und welche es fördert. Das Existieren, das Zu-sich-selbst-sein verfällt bei solcher Abkehr zum Ich-Ich-sagen, sodass das Dasein gerade nicht mehr mit sich selbst zu tun hat (Seite 322 ebenda).

Die „eigenständige Dimension“ in „Sein und Zeit“ entpuppt sich als Beziehung zum Sein überhaupt, also als unverfügbare Beziehung zwischen zwei Unverfügbarkeiten, das heißt als unverfügbares menschliches Leben, und das ist alles andere als Subjektivität, denn das Dasein erfährt sich ursprünglich in einer Beziehung zu einem unverfügbaren Anderen, nämlich zu seiner Mutter. Erst in der Abkehr, in die das Dasein immer wieder verfallen kann, entspringt es dem Austausch mit dem Sein und beginnt, sich als isoliertes und damit verfügbares Subjekt zu sehen, und das ist der Sündenfall, die Erbsünde – Sünde und Absonderung sind ja wortverwandt. Es kann aber auch immer wieder in den Austausch mit dem Sein hineingehen, sich hineingeben, sich hingeben, je nach dem gelassen oder mutig, was sich danach richtet, wie erfahren und weise es schon ist, und dabei immer mehr an Weisheit, Verständnis und Liebe entwickeln. Das Problem, aus der Ich-Bezüglichkeit und Ich-Bestimmung wieder herauszukommen, hat die Philosophie des Subjektivismus von Descartes bis Kant, Rousseau und Schelling beschäftigt, und ich denke, Heideggers Gewissensruf reicht dazu allein nicht aus. An dieser Stelle muss ich Thomä recht geben, dass Heidegger es sich etwas zu leicht gemacht hat, diesen Subjektivismus, in den das Dasein wie auch die Philosophie offenbar sehr leicht verfällt, zu überwinden. „[Die] eigenständige Dimension, in der das Dasein mit sich selbst zu tun [hat]“ (Thomä s.o., Seite 291), kann ich auf das eigentliche Unwillkürlich-Sein beziehen, wenn das Dasein sich der Eigendynamik des eigenen Seins hingibt und so durch echte und unmittelbare Selbst-Erfahrungen aus der Ich-Bezüglichkeit und Ich-Bestimmtheit, also aus der Abkehr von ihm selbst, wieder herauskommt. Der Gewissensruf zeigt nur, dass das Dasein sich unwohl fühlt und gerne aus der Isolation herauskommen will, es aber alleine meistens nicht schafft. Es muss im eigentlichen Unwillkürlich-Sein durch Selbst-Erfahrung oder von Anderen wieder ins menschliche Leben, in die Beziehung zum Sein, hineinkommen bzw. „hineingeliebt“ werden, das heißt es muss dazu Andere geben, die es in einem entsprechend großen Ausmaß echt und unmittelbar verstehen (siehe Transzendenz, Kapitel 10), damit das Dasein sich selbst wieder so weit verstehen kann, dass es wieder zu sich selbst und dann zu Anderen und zum Sein überhaupt befindlich, also emotional, finden kann. Dies kann zum Beispiel in einer therapeutischen Gemeinschaft oder in einer entsprechenden Selbsthilfegruppe geschehen. Es kann sich sicherlich nicht in einer hasserfüllten Gemeinschaft wie den Nazis ereignen, da hat es Heidegger noch an Erfahrung und Weisheit gefehlt. Der Ruf der Nazis hat den Nerv der damaligen Zeit genau getroffen und so die Generation der misshandelten Kinder mit Hitler als Protagonisten (siehe Alice Miller, 1983, Seite 169 ff.) angesprochen, sodass Heidegger dies vielleicht für eine Art Gewissensruf hielt. Aber Hitler und seine Gefolgsleute hatten keinerlei echtes Verständnis, weder für sich selbst noch für andere Misshandelte, sodass fast die ganze Menschheit in einen Strudel voller Hass gezogen wurde und die Beziehung zum Sein durch Mord und Totschlag in enormem Ausmaß negiert wurde. Diese bittere Erfahrung muss Heidegger zuerst sehr enttäuscht haben, und er muss gute Freunde gehabt haben, die trotz allem an seine guten Absichten geglaubt, zu ihm gestanden und ihn verstanden haben. Auf jeden Fall hat er sich schnell auch selbst verstanden und so sich wieder zurück in die Beziehung zum Sein gebracht, was sich meines Erachtens auch darin zeigt, dass er bei aller Selbstkritik stets zu „Sein und Zeit“ gehalten hat. Insgesamt ist jedenfalls festzustellen, dass es dabei Heidegger um ein Beziehungsproblem ging, die Beziehung zum Sein, und das Problem besteht darin, dass das Dasein sich immer wieder abwendet von dieser Beziehung und Schwierigkeiten hat, wieder zurückzufinden. Thomä legt dies aus als Problem der Selbstbeziehung, was in den Rahmen einer Theorie der Subjektivität gehöre. Ich kann dem nicht zustimmen, da das ursprüngliche Phänomen die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt ist und nicht seine Absonderung oder Selbstbeziehung. So betrachtet ist es ein Problem der Transzendenz.

Die in „Sein und Zeit“ tatsächlich enthaltene subjektivistische Verunreinigung ist das Übergehen der Räumlichkeit als notwendige Bedingung für die Entschlossenheit, die das eigentliche Ganzsein des Daseins ermöglicht. Dieser Mangel ist aber einfach zu beheben, und dann kann die „inhärente Intersubjektivität (siehe Fonagy et al., 2008, Seite 293) aufgezeigt werden.

Die Kluft zwischen dem Sein des Daseins und dem Sein überhaupt hat Heidegger in „Sein und Zeit“ tatsächlich nicht überwunden, wie Thomä richtig feststellt. Das Sein des Daseins gründet eben nicht in der Zeitlichkeit, sondern in der Prozesshaftigkeit, sodass erst diese das In-der-Welt-sein und somit die Transzendenz des Daseins ermöglicht. Der Fehler oder das Manko besteht eben darin, dass Heidegger die Ekstase der Räumlichkeit ausgelassen hat, zu der auch die Vermehrung der Räumlichkeit durch das Teilen mit Anderen gehört, sodass sich durch immer mehr ausdrücklichen Austausch beim Sich-mitteilen – das ist ja auch Räumlichkeit, die durch Teilen vermehrt wird – das echte und unmittelbare Verständnis von allem, auch von der Welt, immer weiter vermehrt. Die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt spielt bei „Sein und Zeit“ die Hauptrolle, schon allein deswegen, weil Heidegger die Antwort auf die Seinsfrage darin sucht und zu finden hofft. Bei der oben zitierten Umschreibung des Augenblicks kritisiert Thomä im Weiteren auf Seite 293 f., „die pragmatische Wendung zum „Besorgbaren“ würde fremd wirken, wenn man versuchte, sie in den späteren Kontext der „Inständigkeit“ zu übertragen.“ Auch hier scheint mir ein Missverständnis Thomäs vorzuliegen. Die Frage ist doch, besorgbar wofür, für egoistische Interessen eines verfallenen Daseins, das an Täuschungen festhält, oder für das um die Beziehung zum Sein überhaupt und daher um Eigentlichkeit und echtes unmittelbares Verständnis, also um Liebe, bemühte, engagierte und hingebungsvolle Dasein. Da es sich um die eigentliche Gegenwart handelt, kann nur letzteres gemeint sein.

Zum Schluss dieses Abschnitts stellt Thomä als Problem von „Sein und Zeit“ heraus, „wie ein in seine Belange verstricktes Dasein so zu sich selbst findet, dass es damit in ein freies Verhältnis zur Welt eintritt, dass sich ihm, anders gesagt, die Welt öffnet.“ Zuerst würde ich die Frage umformulieren in: wie ein in seine Belange verstricktes Dasein, weil es sich vom Sein abgekehrt hat, indem es sich insbesondere für verfügbar hält und entsprechend mit sich umgeht, wieder zurückfindet zu seiner Beziehung zum Sein überhaupt, denn dann öffnet sich auch die Welt für das Dasein, nämlich durch die Gabe der Erschlossenheit, die das Sein gibt. Diese Frage wurde oben schon entsprechend beantwortet, und als Manko von „Sein und Zeit“ stellte sich die fehlende Ekstase der Räumlichkeit heraus.

Im letzten Abschnitt geht Thomä auf zwei Missverständnisse ein, gegen die sich Heidegger stets gewehrt hat: „Sein und Zeit“ sei eine philosophische Anthropologie, und Heidegger betreibe dort Ethik. Ersteres kann Heidegger leicht ausräumen, denn es geht ihm nicht um den Menschen, sondern nur darum, dass dieser als Dasein für das Sein aufgeschlossen ist, sodass die Beschäftigung mit ihm hilfreich für die Beantwortung der Seinsfrage ist. Anthropologische Aussagen dienen nur der Erhellung des Seins des Daseins und damit des Seins überhaupt. Dass man daraus eine Anthropologie machen kann, bedeutet nicht, dass es Heidegger jemals darum ging.

Gegen den Ethik-Vorwurf führte Heidegger ins Feld, dass seine Analytik des Daseins „neutral“ sei. „Prioritäten und Neigungen, wie sie mit den ethischen Fragen des Sollens und Wollens verbunden sind, [sollen] ebensowenig eine Rolle spielen wie „Prophetie und Weltanschauliche Verkündigung“ (GA 26, 172 ...“ (Thomä, Seite 296). Laut Thomä sei dies „eine von Nietzsche inspirierte Kritik an lebensfernen „Werten“.“ (Thomä, Seite 296) In meiner Terminologie ist die Beziehung zum Sein menschliches Leben, sodass lebensnahe Werte für mich Verstehen, Echtheit, Unmittelbarkeit und Eigentlichkeit sind, also letzten Endes Liebe als der lebensnahe Wert schlechthin. Aber weder bei Heidegger noch bei mir geht es um Prioritäten, Neigungen, Sollen oder Wollen, sondern darum, dass das Dasein obige „lebensnahen Werte“ als notwendig und zum menschlichen Leben gehörend erfährt, sodass es nur die Wahl hat, das Leben so, wie es ist, also mit diesen Werten, anzunehmen oder nicht. Damit ist auch der Einwand hinfällig, Heidegger habe hier eine Sonderwelt skizziert. Die Neutralität der Analytik des Daseins ist somit eine doppelte: zum einen wird neutral beschrieben, welche Lebensarten des Daseins es gibt und welche Eigentümlichkeiten sie haben. Das „Verfallen“ ist eine ganz normale Seinsart, und auch in der Eigentlichkeit weiß das Dasein, dass es bei Enttäuschungen immer wieder in diese Seinsart verfallen kann (es weiß aber auch, wie es wieder herauskommt); zum anderen wird zwar schon eine bestimmte Lebensform herausgestellt, die Eigentlichkeit bei Heidegger, bei mir das Streben nach Liebe, „sie entspringt aber keinem ethischen, nicht-neutralen Tendenzbeschluss, sondern ... erschließt sich in der Einsicht in die Verfassung des Daseins, der nur entsprochen wird.“ (Thomä, Seite 297)

Abschließend kann ich nur feststellen, dass Heideggers „Sein und Zeit“ bei aller Unvollkommenheit – aber was ist schon vollkommen – mich äußerst inspiriert und zum besinnlichen Denken angeregt hat. Auf diese Weise sind viele Dinge in mir wach gerüttelt und hervorgeholt worden, die schon in einer Versenkung verschwunden waren. Das Durcharbeiten dieses Buches und der Sekundärliteratur von Rentsch (2007) und später auch Steffen (2005) hat mir Freude und Erfüllung gegeben, und ich habe mich dadurch, also durch das wachsende Verständnis von Heidegger, weiter in Richtung Liebe entwickeln können, wofür ich allen Beteiligten, auch ohne sie persönlich zu kennen, sehr dankbar bin. Ein Beteiligter, den ich persönlich kenne, ist Dr. Gerhard Stamer, der mir als erster Heidegger nahe gebracht und ein erstes Verständnis von ihm vermittelt hat. Dankbarkeit ist übrigens auch ein wichtiger Begriff, der das Phänomen von Austausch und Liebe näher beschreibt. Er spielt beispielsweise in der japanischen Tradition eine große Rolle. Man ist dort allen Menschen gegenüber dankbar und dadurch in Liebe verbunden, die der Nachwelt etwas gegeben haben, und Heidegger hat mir viel gegeben.  

Das Wesen der Liebe Bearbeiten

Bisher haben wir, von einem gewissen Vorverständnis von Liebe ausgehend, aufgezeigt, dass das Dasein genau dann ein Seiendes liebt, wenn es ihm um dessen Sein geht und wenn es dieses Sein in seinem Worumwillen echt und unmittelbar befindlich versteht. Als eigentliche Entwicklungsrichtung des Daseins stellten wir fest, dass es dem Dasein immer mehr um das Sein überhaupt geht und dass es dieses immer mehr echt und unmittelbar befindlich versteht, wenn es sich nicht von ihm selbst abkehrt, das heißt das Dasein entwickelt sich immer mehr hin zum wahren menschlichen Leben, welches gekennzeichnet war als liebevolle Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, sodass die Sorge des Daseins sich dabei transformiert in Liebe und Erfüllung. Mit der formalen Anzeige von Liebe als Gehen-um und echtes und unmittelbares befindliches Verstehen-von, wodurch eine Partnerbeziehung durch Liebe zum hingebungsvollen Austausch wird und liebende Beziehungspartner sich gegenseitig Platz einräumen und gewissermaßen zeitweise räumlich miteinander verschmelzen, sodass etwas neues Seiendes entstehen kann, haben wir aber noch nichts vom Wesen der Liebe gesagt, was denn Liebe überhaupt ist.

Betrachten wir einmal verschiedene Verschmelzungsprozesse, um vielleicht etwas zu finden, was das Wesen der Liebe näher beleuchten könnte: Als erstes möchte ich ein Beispiel aus der Physik nehmen, und zwar das Phänomen des Laser-Lichtes. Mittels elektrischer Spannung werden Lichtblitze aus einer Elektrode geschlagen, die zwischen zwei Spiegeln, die in einem bestimmten Abstand aufgestellt sein müssen, hin und her reflektiert werden. Diese Blitze beeinflussen sich zwar gegenseitig, bleiben aber chaotisch jeder für sich. Wenn jedoch die Spannung über einen bestimmten Wert angehoben wird und damit der Impuls bzw. die Bewegungsmenge zunimmt, verschmelzen sie zu einer kohärenten sinusartigen Lichtwelle, dem Laser-Licht, das heißt sie haben insbesondere dieselbe Frequenz und Polarisationsebene, also denselben berechenbaren Rhythmus. Ein anderes Beispiel, diesmal aus dem sozialen Bereich, ist ein klatschendes Publikum nach einer künstlerischen Darbietung. Wenn die Begeisterung entsprechend groß ist bzw. die Leute entsprechend bewegt sind, verschmelzen die unterschiedlichen Klatschrhythmen der einzelnen Personen zu einem gemeinsamen Rhythmus, und zwar ohne dass von außen dieser Rhythmus vorgegeben ist. Das Gemeinsame dieser beiden doch sehr unterschiedlichen Phänomene ist, dass jeweils die Bewegungsmenge bzw. der Impuls groß genug war, die elektrische Spannung bzw. die Begeisterung, um den Verschmelzungsprozess der unterschiedlichen Rhythmen auszulösen. Gemeinsam ist auch, dass der gemeinsamen Rhythmus, den alle beteiligten Elemente übernommen haben, von nichts und niemandem augenscheinlich vorgegeben oder gar aufgezwungen worden ist, sondern sich aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Rhythmen wie von selbst ergeben hat. Die verschiedenen Rhythmen sind in dem gemeinsamen Rhythmus aufgegangen. Das Wesen der Liebe hat also etwas mit Energie und mit Rhythmik zu tun. Rhythmik aber begegnete uns zum einen schon bei der Prozesshaftigkeit (12. Kapitel) und zum anderen als notwendige Bedingung, damit das Dasein etwas befindlich verstehen kann (12. Kapitel). Die entsprechende Bewegtheit, die für die Entwicklung des Daseins zu Liebe und Erfüllung hin nötig ist, haben wir als die Entschlossenheit aufgezeigt. Somit ergibt sich als Antwort auf die auf Seite 188 gestellten Fragen, dass es in Gemeinschaften und auch in der Struktur der Selbstbedeutsamkeit des Daseins jeweils als rhythmischer Organisation einen gemeinsamen Rhythmus gibt, in dem die einzelnen Rhythmen harmonisch und in Liebe aufgehen, und der sich von selbst ergibt, wenn jeweils die Entschlossenheit zur Hingabe groß genug ist. Entschlossenheit ist hier immer gemeint als die Annahme der Selbstwahl, also die Entschlossenheit zu bußfertiger ausdrücklicher Umkehr, also Wiedergutmachung, Selbstreinerhaltung, reumütige Einkehr und deren ausdrückliche Umsetzung, als im Dasein selbst durch sein Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit. Diese Entschlossenheit ist das verschwiegene, für die Befindlichkeiten Abscheu, Leid, Wut und Angst, nicht nur die eigenen, sondern auch die der Anderen in seiner Gemeinschaft, offene und bereite die Bedingtheit seines Schuldigseins verstehende und akzeptierende Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein, wobei die Entschlossenheit, vom Mahnruf des Gewissens geweckt, durch die Vorfreude auf Harmonie, Erfüllung und Liebe entsprechend gestärkt wird. Durch diese Art der Annahme der Selbstwahl des Daseins, die auch die Annahme seiner Unverfügbarkeit beinhaltet, lassen sich alle Extreme des Seins des Daseins integrieren als nur vorübergehende Seinsweisen. Nur der Verlust der sich stets neu ergreifenden entschlossenen Annahme der Selbstwahl ist nicht integrierbar und führt zum allmählichen Verlust aller Rhythmik des Daseins, eine Entwicklung, an deren Ende das Ende der Beziehung des Daseins zum Sein steht. Das Dasein braucht einen Rhythmus, den es nur durch eine ständige Entschlossenheit aufrecht erhalten kann, damit es sich als Ganzes prozesshaft strukturiert. Entsprechendes gilt auch für Gemeinschaften, wobei zur Annahme der Selbstwahl auch die Annahme der Wahl der Zugehörigkeit zu der betreffenden Gemeinschaft gehört. Die Stärke der Entschlossenheit ergibt sich aus der jedes einzelnen Mitglieds der Gemeinschaft, wobei ein Mangel an Entschlossenheit bei einer begrenzten Minderheit durch eine entsprechend große Entschlossenheit einer Mehrheit ausgeglichen werden kann.

Liebe ist also einerseits ein entschlossenes Sich-Einsetzen und andererseits ein Sich-Hingeben, ferner echtes unmittelbares Verstehen von einerseits Möglichkeiten und andererseits Bedingungen, was einerseits dynamisch und andererseits statisch ist. Das entspricht auch der Doppelnatur von Rhythmus (vgl. Buchheim, 1994, Seite 184 ff.): Einerseits ist Rhythmus (zum Beispiel bei Demokrit) etwas Dynamisches, ein Fließen oder der sogenannte Flow mit einem Anschwellen und Abklingen, das Verschmelzen und Eins-Werden, andererseits fasst Heidegger in der Tradition von Aristoteles und dessen Metaphysik Rhythmus als etwas Statisches auf wie das Skhêma als Fügung oder ein Sich-Fügen. Aristoteles hat den Rhythmus (Rhysmôs), die zweiseitige, also interferierende Berührung (Diathigê) und die Wendung, der Drall oder der Effet (Tropê) der griechischen Atomisten (Leukipp und Demokrit) als das, worin sich Seiendes unterscheide, entsprechend umgedeutet in Form (Skhêma), Anordnung (Taxis) und Lage (Thesis). Rhysmôs meint bei den Atomisten den anschwellenden und wieder abklingenden Andrang oder Verlauf, der auf Seiendes eindringt, ein bestimmtes akzentuiertes und artikuliertes Drängen, während Heidegger und Aristoteles das Wort als Synonym für „ruhende Gestalt“ zu verwenden scheinen, die Bewegtes zusammenfügt und so Ruhe verleiht. In beiden Fällen wird übrigens neben dem zeitlichen Aspekt die Räumlichkeit von Rhysmôs herausgestellt: Drängen und Eindringen sind dynamische räumliche Begriffe, und Gestalt ist als begrenzter Raum auffassbar, der nach bestimmten Gesetzen gefüllt ist, frei nach Jaucourt (Rhythme, in Diderot et d´Alembert, 1756, Seite 267, linke Kolumne): „[...] um etwas Substanzielles zu sagen, der Rhythmus ist nichts anderes als ein durch bestimmte Gesetze begrenzter Raum.“ Bei Heidegger und Aristoteles ist die ruhende Gestalt aber als Schema und Form, als Idee bzw. Entwurf, und nicht als etwas Räumliches gemeint.

Dieser Gegensatz zwischen Demokrit und Aristoteles erinnert mich an den Streit um das Wesen des Lichts in der Physik: Einerseits gibt es von Newton die sogenannte Korpuskeltheorie des Lichts, wonach Licht aus winzig kleinen körperlichen Elementen besteht, während die Wellentheorie des Lichtes davon ausgeht, dass Licht aus Wellen besteht. Die erste Theorie kann beim Doppelspaltexperiment von Young (1802) nicht die Bildung von Interferenzmustern erklären, was die Wellentheorie kann, und beim photoelektrischen Effekt (Licht erzeugt Elektronenemission unabhängig von der Frequenz aber abhängig von der Amplitudenstärke, also Leuchtkraft) versagt die Wellentheorie, wie Einstein 1905 nachwies, und legt nahe, dass das Licht einen Teilchencharakter besitzt (Einstein bezeichnete sie als Lichtquanten oder Photonen). Indem Einstein Masse und Energie (Teilchen als Quanten von Energie) ins Verhältnis setzte, konnte er die Energie des Lichtes als Teilchen mit einer Masse interpretieren, so dass die Dynamik des Lichts zum Tragen kommt, während die Interferenzmuster des Wellenmodells des Lichts etwas Statisches an sich haben. Auch beim Rhythmus haben wir es in gewisser Weise mit Energie und pulsierendem Drängen zu tun und mit wellenförmiger Überlagerung, die auf einen umgrenzten Raum beschränkt ist. Die wellenförmige Überlagerung als in sich ruhende Fügung des Rhythmus ist das entschlossene Sich-Zurückbringen, Vorlaufen und Im-Augenblick-Halten der ekstatischen Zeitlichkeit, bei der Vor-Habe, Vor-Sicht und Vor-Griff aneinandergefügt werden, also ein umgrenzter Raum der Weltlichkeit angefüllt wird, während die pulsierende Dynamik der Ergriffenheit und der ausdrücklichen Auslegung und des Austauschs in der ekstatischen Räumlichkeit auf Seiendes in durchaus drängender Weise sich ausbreitend Eindruck machen kann. Auch hier zeigt sich bei Heidegger das Fehlen der ekstatischen Räumlichkeit, sodass sich ihm in der Fügung der ekstatischen Zeitlichkeit lediglich das Ruhende des Rhythmus zeigt, nicht aber seine dynamische Ausdrücklichkeit und Eindringlichkeit, die erst in der ekstatischen, sich ausbreitenden Räumlichkeit hervortritt.

In der Prozesshaftigkeit werden räumlich-zeitliche Bewegung und Fügung in Beziehung gesetzt und vereint, sodass sich der Gegensatz zwischen Demokrit und Leukipp einerseits und Aristoteles und Heidegger andererseits bezüglich des Rhythmus auflöst. Die Doppelnatur des Rhythmus vereint nicht nur diesen Gegensatz von Bewegung und Fügung, sondern mit dem Rhythmus hat sich das Dasein generell eine Möglichkeit geschaffen, Gegensätze und Extreme zu integrieren. Dabei findet keine Nivellierung oder Gleichschaltung statt, sondern das Dasein entwirft eine Einheit für die Vielheit. Alles Seiende kann so in einem Prozess rhythmischer Überlagerungen, Übergänge oder Fügungen, deren Ineinander-Fließen nicht genau, aber ähnlich einer Periode sein muss, miteinander verbunden werden. Rhythmik wird so zur Freiheit eines nur vom befindlichen Verständnis der Zeit- und Raumfülle kontrollierten Spiels. Dadurch dass das Dasein die Wellen und Schwingungen der Welt im Rhythmus befindlich versteht, befreit es sich aus dem rasenden Stillstand, der durch die Herrschaft des Man bzw. durch die Abkehr des Daseins von ihm selbst erzeugt wird. Im Rhythmus, der teils leitende Dynamik, teils sich überlagernde, begleitende Fügung ist (Milton Erickson, der auch der Vater der modernen Hypnotherapie genannt wird, nannte dies „leading and pacing“) und so Gegensätze vereint, zeigt sich dem Dasein die ständige Unverfügbarkeit seines Seins und des Seins überhaupt, das sich im Entziehen aufdrängt.

Betrachten wir noch einmal die Berührung (Diathigê), welcher beim Licht die Interferenz entspricht und in der Musik die (begleitende) Harmonie, und die Wendung (Tropê), die beim Licht die Dynamik des photoelektrischen Effekts und in der Musik die (leitende) Melodie darstellt. Berührung, Interferenz (Überlagerung) und Harmonie haben mit der Stimmung zu tun, ontologisch betrachtet also mit der Befindlichkeit, deren primäre prozesshafte Ekstase die Gewesenheit ist, während Wendung, Dynamik des photoelektrischen Effekts (Veränderung) und Melodie als Möglichkeiten in die Zukunft weisen. Wenn wir noch die augenblickliche Form, die augenblickliche Lichterscheinung bzw. den augenblicklichen Klang in der Musik, jeweils gehalten in Berührung und Wendung, Interferenz und Dynamik des photoelektrischen Effekts, sowie Harmonie und Melodie, mit hinzunehmen, dann entpuppt sich die Berührung (Diathigê), die Interferenz und die Harmonie aufgrund von deren primärer Ekstase der Gewesenheit als Vor-Habe, die Wendung (Tropê), die Dynamik des photoelektrischen Effekts und die Melodie aufgrund von deren primärer Ekstase der Zukunft als Vor-Sicht und die augenblickliche Form, die augenblickliche Lichterscheinung und der augenblickliche Klang aufgrund von deren primärer Ekstase der in Gewesenheit und Zukunft gehaltenen Gegenwart als der die Vor-Habe und die Vor-Sicht gliedernde Vor-Griff. In der entschlossenen Übernahme des Rhythmus durch das Dasein wird dann diese Form, diese Lichterscheinung bzw. dieser Klang vom Dasein akzentuiert und ausdrücklich ausgelegt, sodass sich für das Dasein darin die ganze Prozessdynamik aller vier Ekstasen der eigentlichen Prozesshaftigkeit entfaltet. So betrachtet könnte man den Rhythmus auch als den Prozess im Prozess ansehen. Dass Heidegger die Zeitlichkeit so betont, bringt ihn quasi in die theoretische Nähe der Wellentheorie, bei der Licht mehr vom Aspekt der in sich ruhenden Überlagerung her betrachtet wird, und daher die statische Form betont ist, sodass er mit Aristoteles den Rhythmus als Fügung und nicht als Fließen und Verlauf sieht. Betrachtet man dagegen mehr die Dynamik der Auslegung, sieht also mehr den kreativen Ausdruck und damit den lebendigen Austausch mit dem Sein überhaupt (siehe Kapitel 13), dann rückt statt statischer Form die Bewegung, das Fließen und der Verlauf, statt begleitender Überlagerung mehrerer Möglichkeiten, die zunächst nicht bewertet nebeneinander stehen, energische Entschlossenheit, die stets bereit ist, sich zu erneuern, und statt der Harmonie der Fluss der Melodie in den Vordergrund. Indem begleitende Überlagerung und energischer Entschluss, Form und Bewegung, Fügung und Fließen in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, wird das ganze Sein für das Dasein greifbarer, und der Rhythmus der Umwandlung von begleitendem Nebeneinander in leitende Energie, Form in Bewegung, Fügung in Fließen und jeweils umgekehrt, in welchem dieses Verhältnis jeweils verständlich wird, da es ja vom Dasein in der entschlossenen Übernahme des Rhythmus ausdrücklich ausgelegt wird, wird zur dynamischen Brücke oder genauer zur bewegt bewegenden Räumlichkeit und damit Austausch von Dasein und Sein, auf bzw. in der die Beziehung zwischen beiden sich entwickelt. Auch beim Übernehmen eines Rhythmus sind die Grenzen zwischen Entschlossenheit und Hingabe fließend, ein echter Austausch, sodass sich in Hingabe und Entschlossenheit, Begleitung und Leitung, Gelassenheit und Mut jeweils die Doppelnatur der Liebe zeigt.

Zwecks Übersichtlichkeit hier eine Tabelle zur Doppelnatur der verschiedenen hier betrachteten Phänomene:

Phänomen Statische Form (passiv) Dynamik (aktiv)
Prozesshaftigkeit Zeitlichkeit Räumlichkeit (Ausdruck, Eindruck, Austausch)
Liebe Hingabe Entschlossenheit (ständig bereit, sich zu erneuern)
Rhythmus Fügung, ruhende Gestalt pulsierendes Drängen, Fließen, Verlauf
Beziehung Berührung, Begleitung Wendung, Leitung
Licht Interferenz, (stehende) Welle Energie, Teilchen (Photon)
Klanglichkeit Harmonie Melodie
Verstehenszirkel Vor-Habe, -Sicht, -Griff Auslegung, ausdrückliche Aneignung

Bewegung wird zu einer gefügten Form und Form zur dynamischen Bewegung, und etwas kann sich im Fließen zueinander fügen und eine Fügung kann sich fließend weiterentwickeln. Dabei kann das Dasein durch entschlossene Übernahme und Verschmelzung eigener Rhythmen mit den verschiedenen Rhythmen des Seins die Entwicklung seines echten und unmittelbaren Verständnisses vom Sein überhaupt immer weiter vorantreiben und so zu Liebe und Erfüllung gelangen. Das Wesen der Liebe wird also erst durch die entschlossene Übernahme und Verschmelzung auf der Ebene der Rhythmik verständlich. Die Entschlossenheit dieser Übernahme, wenn sie nur stark genug ist und daher zur Verschmelzung führt, bringt das Dasein in den eigentlichen Kontakt mit dem Sein überhaupt. Andererseits bringt sie das Dasein auch immer mehr zu Liebe und Erfüllung, sodass hiermit bestätigt ist, dass durch die Einheit von Liebe und Erfüllung, also durch die eigentliche Sorge, die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt eine wahre Beziehung ist. Insgesamt ist daher die Liebe die Grundlage des wahren Seins des Daseins, also der wahren Existenz und damit der Wahrheit.

Sorge als Ergriffenheit und Erwartung oszilliert zwischen dem einen Extrem der uneigentlichen Sorge als Ergriffenheit und Erwartung von Ruhe und Kontrolle, also Abhängigkeit und Zwang, wodurch jede eigene Rhythmik abgewürgt wird, und dem anderen Extrem der eigentlichen Sorge als Liebe und Erfüllung, die alle Rhythmik zum Erblühen bringen kann. Wenn das Dasein diesen Rhythmus des Oszillierens sowohl bei sich selbst als auch bei Anderen echt und unmittelbar versteht, hat es einen großen Entwicklungsschritt in Richtung Liebe und Erfüllung bewältigt. Mithilfe der Rhythmik kann das Dasein Empathie mit anderem Seienden erreichen, die entschlossene Übernahme von Rhythmen dieses Seienden ermöglicht es dem Dasein, sich in dieses Seiende hineinzuversetzen, sodass Rhythmus und seine Übernahme Transzendenz ermöglicht. Ohne Rhythmus kann es also weder Liebe noch Erfüllung geben, Rhythmik ist die Grundlage von Liebe und Erfüllung.

In der Physik gibt es theoretische Ansätze, in denen die Zeit als Raum aufgespannt wird, indem die Zeit auch Werte aus den komplexen Zahlen annehmen kann, um eine Superposition verschiedener Möglichkeiten darstellen und erfassen zu können. Als entsprechende Zustandsgleichung wählt man dann eine Wellengleichung von der Art der Schrödingergleichung aus der Quantenmechanik. Bei der Zeitlichkeit spannt auch Heidegger einen Raum auf, in welchem verschiedene Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins sich überlagern oder nebeneinandergestellt sind. An die Stelle einer Wellengleichung, um den jeweiligen Zustand des Daseins zu beschreiben, also welchen Ausdruck seines Seins das Dasein gerade gewählt hat, habe ich dann die Rhythmik eingeführt.

Rhythmik scheint ein besonderes Schema des Entwerfens des Daseins zu sein. Das Dasein hat wohl schon immer ein Vorverständnis davon, es erwartet, dass alles früher oder später in ähnlicher Form wiederkehrt, es hat die Tendenz, allem Seienden, das sich bewegt, einen ihm eigenen Rhythmus zu geben. Von manchen Rhythmen kann das Dasein so ergriffen sein, dass es ihm schwer fällt, einem solchen Rhythmus zu widerstehen bzw. sich ihm zu entziehen. Hieraus ergibt sich, dass Rhythmik etwas mit Ergriffenheit und Erwartung zu tun hat, also mit der so verstandenen Sorge, der Substanz des menschlichen Lebens. Ich will nun versuchen, aufzuweisen, dass die Rhythmik am Anfang des menschlichen Lebens steht, also am Anfang der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt und damit auch am Anfang der Entwicklung des Daseins zur Liebe hin. Zur Bewährung dieser existenzialen Interpretation der Rhythmik als Anfang des menschlichen Lebens möchte ich drei Bibelstellen heranziehen, in denen das Dasein die Rhythmik vorontologisch als Anfang der Schöpfung auslegt, was ich als paradigmatische Darstellung des Anfangs der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt verstehe (siehe Thomas Strässle in Barbara Naumann, 2005, Seite 191 ff.). Es sind dies die Eingangssätze zum Buch Genesis und zum Johannesevangelium: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (Gen 1,1) und „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1), sowie aus dem apokryphen Buch Weisheit Salomonis: „Aber Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.“ (Weish 11,21). Dies bedeutet, dass im Anfang ein Gesetz in einem gesetzlosen Raum eingeführt wird, im Buch Genesis das Gesetz der Tat, im Johannesevangelium das Gesetz des Wortes, wodurch alles so geordnet ist, dass es einander nach Maß, Zahl und Gewicht ähnlich und vergleichbar ist, das heißt dass sich Ähnliches wiederholt. Somit erhalten wir den Satz: Im Anfang war der Rhythmus. Dies ist übrigens der Titel einer Komposition von Sofia Gubaidulina, die Thomas Strässle in Barbara Naumann (2005) ab Seite 191 ff. interpretiert. Die Tat schafft Gegensätze (Himmel und Erde), die auf diese Weise erschlossen sind und die vom Dasein dann begriffen und in der Rede (im Wort) gegliedert werden können. Die schöpferische Tat erschließt die Welt, sie teilt und macht unteilbar, und in einem bestimmten Rhythmus erschafft und zerstört, gibt und nimmt sie so die Individualität, die Unteilbarkeit und Unverfügbarkeit des Daseins, sie gibt sie am Anfang und nimmt sie am Ende seiner Existenz. Das Erschlossene kann dabei vom ungeteilten und unverfügbaren Dasein im Rhythmus prozesshaft begriffen und durch rhythmischen Ausdruck und Akzentuierung ausgelegt, sich selbst angeeignet und Anderen mitgeteilt werden. Im Entwicklungsprozess des Daseins ist also die Rhythmik von Anfang bis Ende allgegenwärtig, was aufzuzeigen war.

Um zu zeigen, dass die Rhythmik am Anfang des menschlichen Lebens steht, am Anfang der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt und damit auch am Anfang der Entwicklung des Daseins zur Liebe hin, möchte ich noch einmal auf den Anfang der Mutter-Kind-Beziehung zurückkommen, wie sie oben im 5. Kapitel von mir in Anlehnung an Fonagy et al., 2008, beschrieben wurde. Wenn das Kind seine Befindlichkeit durch Schreien ausdrückt und so die Mutter herbeiruft, dann versucht diese ihr Kind möglichst echt und unmittelbar zu verstehen und ihm das Verstandene markiert und ausdrücklich zu spiegeln. Gleichzeitig stellt sie aber auch den Bezug zur Welt her. Damit schafft die Mutter einen Raum, in dem ihr Kind mit der Realität spielen kann. Es kann ungläubig sein, kritisch, das Ganze ängstlich ernst nehmen und schließlich gefahrlos überprüfen, was wirklich bzw. real ist. Wie bei einem Theaterspiel führt die Mutter dem Kind zuerst einmal vor, wie sie die Befindlichkeit des Kindes versteht und ausdrückt, und spielt dieses Theaterstück dann bis zu einem das Kind beruhigenden Ende durch. Meist sind diese Stücke nur kleine Szenen und entweder spannende Dramen oder lustige Komödien oder eine Mischung von beidem. Humor als Mittel der Verständigung spielt hier eine wichtige Rolle. Oft werden diese Szenen von der Mutter auch mehrmals hintereinander aufgeführt, was für das Kind einen großen Unterhaltungswert besitzt und wovon es meistens nicht genug bekommen kann. An diesem letzten Punkt lässt sich schon ansatzweise erkennen, dass diese Art der Kommunikation zwischen Mutter und Kind viel mit Rhythmik zu tun hat. Die Rhythmik spielt aber schon von Anfang an eine sehr große Rolle, denn je akzentuierter und rhythmischer die Ausdrucksweise der Mutter ist, desto aufmerksamer verfolgt das Kind das Spiel der Mutter, fühlt sich dadurch immer mehr angesprochen und versteht und übernimmt immer mehr von dem, was die Mutter ihm vorspielt. Mit der Zeit übernimmt das Kind bestimmte Rollen, bis es schließlich ganz allein für sich solche Theaterstücke spielt. Dieser Prozess gelingt dem Kind dadurch, dass es fähig ist, Rhythmen zu entwerfen, die resonant mit dem Spiel seiner Mutter sind. Nur durch diese Rhythmen kann das Kind befindlich verstehen, dass es selbst die Reaktionen seiner Mutter veranlasst hat, und dass das Spiel etwas mit seiner eigenen Befindlichkeit zu tun hat, die es im Spiel der Mutter verstehen und entsprechend verändern lernen kann. Schließlich kann das Kind über diese Fähigkeit, resonante Rhythmen zu entwerfen, seine eigene Befindlichkeit immer besser verstehen und Möglichkeiten seines Seinkönnens entwerfen und so seine Weltlichkeit mit der Struktur der Bedeutsamkeit immer mehr entwickeln. Ganz am Anfang der Interaktion zwischen Mutter und Kind kreiert die Mutter mit ihrem Verstehen der Befindlichkeit des Kindes im übertragenen Sinne den Himmel, und mit dem Herstellen des Bezugs zur Welt die Erde. Gleichzeitig drückt sie das alles interpretierend aus und schlüpft dabei in die Rolle des Kindes, so dass sie in diesem Sinne das Wort ist. Dabei ordnet sie das In-der-Welt-sein ihres Kindes nach Maß, Zahl und Gewicht. Indem die Mutter dabei auch eine gewisse Rhythmik im Ausdruck verwendet und rhythmisch vieles wiederholt, kommt sie ihrem Kind entgegen, welches durch seine Fähigkeit, resonante Rhythmen zu entwerfen, die Mitteilungen seiner Mutter immer besser sich aneignend verstehen kann.

Durch die rhythmische Wiederholung weckt die Mutter die Aufmerksamkeit ihres Kindes, und ihre Mitteilungen werden für ihr Kind immer besser befindlich verständlich, so dass es sich immer mehr freut und lacht. Die Situation wird für das Kind immer lustiger, und auch seine Mutter freut sich darüber entsprechend. Obwohl die Situation wie oben im Beispiel mit dem Bademantel für das Kind bedrohlich sein kann, muss es trotzdem lachen, wenn seine Mutter auf die Weise der rhythmischen Wiederholung damit umgeht. Im Spiel macht die Mutter sich teilweise wie ein Clown kindlicher, als sie ist, und durch ihre Lösung im positiven Ausgang der gespielten Szene vermittelt sie ihrem Kind Hoffnung. Die rhythmisch wiederholte Szene kann für das Kind nicht nur etwas Befreiendes, sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes haben. Im Spiel kann die Welt dem Kind nicht nur nicht schaden, die rhythmischen Wiederholungen der Mutter zeigen ihm, dass die Welt ihm auch Anlass zu Lustgewinn ist. Die vom Kind empfundene Gefahr wird durch die Mutter im Verhalten gewollt inszeniert und für das Kind manchmal überraschend umspielt. Insgesamt vertieft dieses Spielen der Mutter ihre Gemeinschaft mit ihrem Kind. Die Mutter zeigt dem Kind Schwächen und Stärken, Unzulänglichkeiten und Möglichkeiten, und wie man damit praktisch umgehen und diese Gegensätze verbinden kann. Alle diese Eigenarten der rhythmischen Wiederholung machen den Humor deutlich, der in solchen Inszenierungen dem Kind nicht nur Trost und Beruhigung, sondern auch befindliches Verstehen und Freude vermittelt. Denn folgende Eigenarten sind typisch für den Humor (aus Wikipedia, Stichwort Humor, de.wikipedia.org/wiki/humor, Definitionen): Humor weckt Aufmerksamkeit und vermittelt Verständnis, bringt Lachen hervor; Humor ist, wenn man trotz einer bedrohlichen oder gescheiterten Situation lacht; er vermittelt neue Hoffnung auf eine Lösung, er hat nicht nur etwas Befreiendes, sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes und zeigt, dass man aus allem auch einen Lustgewinn ziehen kann (siehe Freud, 1927); im Humor kann eine Gefahr gewollt inszeniert und dann überraschend umspielt werden; Humor stiftet Gemeinschaft und vertieft Beziehungen; im Humor sind Schwäche und Stärke, also Nichtigkeiten oder Unzulänglichkeiten und Möglichkeiten, miteinander verknüpft. Damit erweist sich der Humor, der eine besondere Ausdrucksweise in der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, also im menschlichen Leben, darstellt, als ein wichtiger Vermittler von Verständnis und Liebe. Was das Kind zum anfänglichen Ausdruck seiner Befindlichkeit durch Schreien bringt, ist eine befindliche Unzufriedenheit mit seinem In-der-Welt-sein, nämlich einem Gegensatz zwischen der Welt und seinem Dasein, welches nicht so ist wie vor seiner Geburt. Damals war seine Welt noch in Ordnung. Indem seine Mutter es möglichst echt und unmittelbar versteht, und dadurch, dass sie einen Bezug zur Welt herstellt und Ordnung schafft, also dadurch, dass die Mutter ihr Kind so gut wie möglich liebt, wird diese Unzufriedenheit und damit der Gegensatz zwischen Welt und Dasein meist aufgehoben. Da bei diesem Prozess die Rhythmik als Grundlage von Liebe und Erfüllung eine entscheidende Rolle spielt, weil es eben nicht genügt, einfach nur Ordnung zu schaffen, ist somit aufgezeigt, dass in der Rhythmik Gegensätze vereint werden können, und dass in der Liebe schließlich alle Gegensätze aufgehoben sind.

Hierzu möchte ich noch einmal ausholen und bestimmte Aspekte des Daseins differenzierter beschreiben. Die Gesamtheit aller Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins, die es in einem bestimmten Abschnitt seines Entwicklungsprozesses hat, also der Selbstentwurf des Daseins, war mit zwei verschiedenen Strukturen versehen, nämlich mit der Selbstbedeutsamkeit und der Selbstbewusstheit (siehe 9. Kapitel). Für das In-der-Welt-Sein ist die Struktur der Selbstbedeutsamkeit wichtig, damit das Dasein seinen Umgang mit der Welt zielorientiert entwerfen kann, und die Struktur der Selbstbewusstheit ist ausschlaggebend dafür, dass dies auch befindlich geschieht. Im Idealfall erreicht das Dasein so eine immer größer werdende Harmonie mit der Welt, also die „äußere Harmonie“. Beide Strukturen beeinflussen auch, wie echt und unmittelbar das Dasein sich selbst versteht, also liebt, das heißt wie groß die „innere Harmonie“ des Daseins ausgeprägt ist. Hier zeigt sich übrigens wieder eine Parallele zwischen dem Dasein und Gemeinschaft, beide sind vor zwei Arten von Aufgaben gestellt, zum einen den Kontakt mit der übrigen Welt zu gestalten, im wesentlichen sich vor Gefahren zu schützen und Ressourcen zu organisieren, wobei auch Bündnisse und Gemeinschaften entsprechend höherer Ordnung genutzt oder geschaffen werden können, zum anderen eine innere Harmonie herzustellen, aufrecht zu erhalten und zu vergrößern. Zum einen gibt es also Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins, bei denen das Dasein Lösungen entwirft, um die äußere Harmonie optimal zu gestalten. Man könnte diese Möglichkeiten den öffentlich bedeutsamen Selbstentwurf und seine Struktur die öffentliche Selbstbedeutsamkeit nennen. Zum anderen gibt es Möglichkeiten des Seinkönnens, bei denen das Dasein Lösungen entwirft, um die „innere“ Harmonie, die Harmonie innerhalb des Selbstentwurfs, so groß wie möglich zu machen. Man könnte diese Möglichkeiten den privat bedeutsamen Selbstentwurf und seine Struktur die private Selbstbedeutsamkeit nennen. In der Regel wird das Dasein beides nicht gleichzeitig entwerfen, sondern abwechselnd in einem bestimmten von der jeweiligen Situation abhängigen Rhythmus. Mit Liebe hat das Ganze insofern etwas zu tun, als dass die äußere Harmonie mit Fremdliebe und die innere Harmonie mit Selbstliebe korreliert. Damit korrelieren auch innere und äußere Harmonie, denn Fremdliebe und Selbstliebe mögen sich vielleicht unterschiedlich entwickeln, aber am Ende der jeweiligen Entwicklung sind sie eins, nämlich Liebe.

Beim Selbstentwurf des Daseins kann man noch eine weitere Unterteilung machen, nämlich die in den öffentlichen und in den privaten Selbstentwurf. Öffentlich sollen alle die vom Dasein entworfenen Möglichkeiten seines Seinkönnens heißen, die das Dasein Anderen mitgeteilt hat, und entsprechend privat der Rest. Diese beiden Bereiche des Selbstentwurfs sind zwar komplementär, aber dieselbe Möglichkeit des Seinkönnens des Daseins kann im Laufe der Entwicklung einmal öffentlich und einmal privat sein. Wenn das Dasein zum Beispiel früher geraucht hat in der Öffentlichkeit, dann aber versprochen hat, nicht mehr zu rauchen, und trotzdem heimlich raucht, dann hat es einen öffentlichen Entwurf seines Seinkönnens, nämlich das Rauchen, in einen privaten umgewandelt. Andersherum, wenn das Dasein einem Anderen etwas bisher Geheimes über eine bestimmte eigene Seinsweise anvertraut (zum Beispiel Coming-out), dann gehört das, was bisher eine Möglichkeit des Seinkönnens des privaten Selbstentwurfs war, zum öffentlichen Selbstentwurf. Das Dasein gestaltet also aktiv, welche Bereiche seines Selbstentwurfs öffentlich und welche privat sind. Die Möglichkeiten dieser Gestaltung sind auf die Öffentlichkeit hin ausgerichtet, beeinflussen aber auch die innere Harmonie, sodass sich hier noch einmal die Verschränkung bzw. die Einheit von Selbst- und Fremdliebe zeigt.

Wie hängt nun die Gestaltung seines Selbstentwurfs, wenn das Dasein also bestimmte Bereiche davon öffentlich macht und andere privat für sich behält, mit der Gestaltung der äußeren und der inneren Harmonie zusammen? Im 5.Kapitel habe ich den Begriff des Mitteilens eingeführt und die Bedeutung umrissen, die das Mitteilen in einer Gemeinschaft für deren innere Harmonie und bezogen auf das einzelne Mitglied für das Lieben-Lernen bzw. dessen Entwicklung zu Liebe und Erfüllung hin hat. Von daher ist es also prinzipiell ein wichtiges und erforderliches Ziel, dass das Dasein zumindest seinen gesamten öffentlich bedeutsamen Selbstentwurf Anderen mitteilt, in Gemeinschaften mit tieferen persönlichen Beziehungen sogar seinen gesamten Selbstentwurf. Diesem Ideal stehen nun zwei Dinge entgegen: zum einen kann es sein, dass der Andere die Mitteilung des Daseins und somit auch das Dasein selbst nicht richtig versteht und es so in der Folge zu einem Schaden für den Anderen oder für das Dasein kommen kann. Wenn in früheren Zeiten zum Beispiel ein Sohn seinem Vater mitgeteilt hätte, dass er homosexuell sei, dann hätte es passieren können, dass der Vater entweder den Sohn, sich selbst oder beide umgebracht hätte. Je besser das Dasein den Anderen versteht und somit liebt, desto besser kann es solchen Gefahren begegnen und seine Mitteilungen entsprechend steuern. Zum anderen kann es sein, dass das Dasein sich selbst und/oder den Anderen nicht richtig versteht und daher Selbstentwürfe zurückhält. Auch hier lösen Fremd- und Selbstliebe, also Liebe, das Problem. Solange das Dasein in seiner Entwicklung noch nicht Liebe und Erfüllung erreicht hat, solange es also sich selbst noch nicht richtig versteht, gibt es in seinem Selbstentwurf noch Bereiche von Möglichkeiten seines Seinkönnens, die es nicht gut findet und für die es sich schämt und/oder schuldig fühlt. Je größer seine Scham und Schuldgefühle deswegen sind, desto weniger Andere gibt es, denen es diese Möglichkeiten mitteilt, im Extremfall kehrt das Dasein sich von einem solchen Bereich sogar ab und teilt ihn auch niemandem mit. Wenn das Dasein nun in seinem Selbstentwurf nichts Positives als Kompensation findet, dann wird es sich aller Wahrscheinlichkeit nach immer mehr zurückziehen in der Absicht, Ruhe zu finden, aber mit der Konsequenz, in tiefster Depression zu Grunde zu gehen. Aber selbst wenn das Dasein eine solche Kompensation gefunden hat und dies Anderen mitteilt, also öffentlich macht, um ein positives Bild von sich zu vermitteln, besteht die Gefahr, dass es seinen öffentlichen Selbstentwurf damit so überbewertet und aufbläht, dass zwischen seinem öffentlichen und seinem privaten Selbstentwurf eine große Kluft entsteht. Solange das Dasein mit seinem öffentlichen Selbstentwurf bei Anderen auf genügend große Zustimmung, Anerkennung und Bewunderung trifft, kann das Dasein diesen Zustand seines Selbstentwurfs noch aufrecht erhalten, obwohl er das Dasein dabei blockiert, zu Liebe und Erfüllung zu finden. Das Dasein versteht in diesem Fall sein Seinkönnen und damit sich selbst fälschlicherweise als verfügbar und setzt sein Seinkönnen ein, um Anerkennung und Bewunderung zu erhalten, es beutet letztlich auch sich selbst aus. Wenn irgendwann dann noch die nötige Bewunderung ausbleibt oder das Dasein von Anderen gar Kritik erfährt, dann besteht die Gefahr, dass die Kluft im Selbstentwurf sich derart ausweitet, dass das Dasein psychotisch dekompensiert. In etwas anderer Sprache und anderen Begrifflichkeiten hat Paul Matussek diese Gedanken in Matussek (1993, Seite 101 ff.) ausgedrückt. In Matussek (1997, Seite 49 ff.) analysiert er aus diesem Blickwinkel die Lebensgeschichte Heideggers, soweit sie bekannt ist, und vertritt die Ansicht, man könne bei Heidegger von einer Art „larvierter Schizophrenie“ sprechen, auch wenn man damit nicht dem dynamischen Inhalt der Spezifität des Begriffs Schizophrenie entspreche (Matussek 1997, Fußnote auf Seite 78). Matussek geht bei seiner Analyse allerdings absichtlich nicht inhaltlich auf Heideggers Philosophie ein, weil er deren Wert schätzt und nicht antasten will. Ich will zumindest versuchen, Heideggers Philosophie in meine Kritik an Matussek mit einzubeziehen.

Es sei zunächst einmal dahingestellt, wie zutreffend die Analyse von Matussek ist, aber wenn ich „Sein und Zeit“ von Heidegger betrachte, so sehe ich darin eine entscheidende Tendenz, die sehr geeignet ist, psychotisches Denken zu überwinden: Matussek konstatiert „eine für die meisten Schizophrenen typische Tendenz, ein konkretes Ding oder einen konkreten Menschen über eine bestimmte Wesenseigenschaft zu erfassen“ (Matussek 19. 93, Seite 67). Eine solche Tendenz ist meines Erachtens eine Form der Versessenheit und damit ein Derivat des Äquivalenz-Modus des Seins (siehe oben 10. Kapitel). Das aber geht in Richtung traditionelle Ontologie und Verfügbarkeit des Daseins, wogegen sich Heidegger entschieden wendet. Heidegger fragt zwar auch nach dem Wesen, was zum Beispiel das Dasein ist, aber er bleibt nicht bei oberflächlichen Begriffen stehen, sondern fordert auf, entschlossen mit Hilfe des hermeneutischen Zirkels ein immer gründlicheres befindliches Verstehen von der Welt und vom Dasein zu erlangen, und er betont immer wieder, dass das Dasein weder zuhanden noch vorhanden ist, also keine verfügbare Sache. Wenn er also larviert schizophren gewesen ist, dann hatte er in seiner Philosophie auch schon das heilsame Gegenmittel.

Wie kann denn nun das Dasein seine Selbstvergessenheit in der Abkehr von bestimmten Bereichen seines Selbstentwurfs und seine Scham und Schuldgefühle überwinden? Wie kann es den blockierten Entwicklungsprozess hin zu Liebe und Erfüllung, insbesondere zur Selbstliebe, wieder in Gang bekommen? Zum einen ist es wichtig, weiterhin in der Welt tätig zu bleiben, damit sich durch die Antworten aus der Welt die Struktur der Selbstbedeutsamkeit des Selbstentwurfs des Daseins ändern kann und es dem Dasein auf diesem Weg unter Umständen gelingt, die abgelehnten Bereiche seines Selbstentwurfs anzunehmen, besser zu verstehen und schließlich lieben zu lernen, indem ihm insbesondere auch die Unverfügbarkeit seiner selbst verständlich wird. Zum andern ist es auch wichtig für das Dasein, sich mit der Struktur der Selbstbewusstheit seines Selbstentwurfs auseinander zu setzen, denn diese Struktur weist auf die Gewesenheit des Daseins hin und hilft so, die Selbstvergessenheit zu überwinden. Außerdem erinnert diese Struktur das Dasein an dessen Befindlichkeit, als es die betreffende Möglichkeit seines Seinkönnens entwickelt hat, so dass das Dasein diesen seinen Entwurf und damit sich selbst besser verstehen kann, insbesondere Täuschungen und Ent-Täuschungen, von denen es sich abgekehrt und an der entsprechenden Täuschung festgehalten hat. Dadurch kann das Dasein seine Abkehr und seine Scham- und Schuldgefühle nach und nach überwinden. Die Auseinandersetzung mit seiner Selbstbewusstheit erreicht das Dasein am besten in einem Zustand des Unwillkürlich-Seins wie zum Beispiel in der Meditation oder im intimen Gespräch (nur mit den Themen Ich, Du, unsere Situation) mit einem oder mehreren Anderen, die das Dasein möglichst gut verstehen und damit also in einem gewissen Ausmaß lieben sollten. In beiden Fällen verbindet eine entsprechende Rhythmik das Dasein mit seinem eigentlichen Selbst, im Unwillkürlich-Sein ist es der Rhythmus der Eigendynamik seines Seins, und beim innigen Gespräch mit einem verständnisvollen Anderen ist es der Rhythmus der Verbindung zwischen beiden. Dieser Punkt macht noch einmal deutlich, wie wichtig harmonische und daher liebevolle Gemeinschaften für die Entwicklung zu Liebe und Erfüllung hin sind. Eine wesentliche Eigenschaft von Liebe und Rhythmus ist ihre jeweilige Ansteckung. Es gibt eben auch so etwas wie ansteckende Gesundheit.

Ein weiteres wichtiges Thema, um das Wesen der Liebe noch weiter zu veranschaulichen, ist das Thema des Weltbezugs, der Art und Weise wie das Dasein sich vom Anfang seines Seins her auf die Welt bezieht und wie sich daher Öffentlichkeit und Privatheit seines Selbstentwurfs und die Kluft dazwischen entwickeln. „Nicht irgendwelche Belastungen, Verhaltensweisen, Charaktereigenschaften oder bestimmte Ereignisse führen in der Sicht des Kranken zur Psychose, sondern ein ganz spezifischer, an der Wurzel seines Daseins liegender Weltbezug“ (Matussek 1993, Seite 83 f.). Bei Heidegger in „Sein und Zeit“ ist das Dasein in bestimmte Möglichkeiten geworfen, und daraus entwickelt sich seine Weltlichkeit, die in einem bestimmten Bezug zur Welt steht, nämlich seinem Weltbezug, der mehr oder weniger echt und eigentlich ist. Der Weltbezug des Daseins ergibt sich aus dem Gesamt aller Verweisungen, wie oder mit welcher Haltung es auf die Welt bezogen ist. Wenn ich diesen Weltbezug auf dem Hintergrund der Kindheit und Jugend von Heidegger ähnlich wie Matussek (1997) interpretiere, so spiegeln sich die Wurzeln seines Daseins folgendermaßen wieder: der Begriff des Geworfen-Seins erinnert an das Tierreich, in dem man die Nachkommenschaft häufig als Wurf bezeichnet. Dies legt nahe, dass Heidegger sich in die Dorfgemeinschaft von Meßkirch, seinem Heimatort, geworfen und wie ein Tier behandelt fühlte. Sein Vater war damals Küster der katholischen Mehrheit, die von der altkatholischen und wesentlich wohlhabenderen Minderheit, die sich gerade von der katholischen Kirche wegen des Unfehlbarkeitsdogmas getrennt hatte, dominiert und von oben herab als abergläubische Hinterwäldler behandelt wurde. Aber mit der Zeit (Sein und Zeit!) entwickelte sich das Seinkönnen des jungen Heidegger immer mehr, er kam aufs Gymnasium und studierte schließlich, so dass die „führerlosen“ Altkatholiken (Ablehnung des Papstes) beschämt wurden. Heidegger wurde zum entschlossenen und ehrgeizigen Führer und Papst einer philosophischen Bewegung, deren Ziel es war, das Dasein von der Herrschaft des Man bzw. von der „Botmäßigkeit“ (Sein und Zeit, Seite 126) gegenüber den unentschlossenen, führerlosen und geistig durchschnittlichen Altkatholiken zu befreien. Das Ganze hat etwas von der Haltung „Wenn ich groß bin, zeige ich es euch allen!“, und es lässt sich dort ein narzisstischer Autismus oder Solipsismus als Weltbezug hineininterpretieren. Einen existenzialen „Solipsismus“ konstatiert Heidegger ja in „Sein und Zeit“ auf Seite 188. Diesen Solipsismus allerdings erlebt das Dasein aber nicht als „isoliertes Subjektding“ (ebenda) sondern in der Angst aufgrund seiner unheimlichen Aufenthaltlosigkeit in der Welt, und das hat nichts mehr mit einem narzisstischen Autismus als Weltbezug zu tun, sondern schildert ziemlich realistisch die Stimmung der bedrückenden Situation, in der Heidegger aufwuchs.

Ich will an dieser Stelle vorsichtig bleiben und lediglich feststellen, dass man Heidegger zwar so interpretieren kann, aber eine andere Interpretation der Fakten von Heideggers Leben und seiner Philosophie könnte so aussehen: Ein Mensch wie Heidegger fühlt sich in die Welt hineingeworfen, die ihn leider nicht bedingungslos mit offenen Armen und herzlich willkommen heißt. Stattdessen gibt es Sorgen, Erwartungen und Hoffnungen, die in ihn gesetzt werden, dass er etwas besonderes sein soll, also Bedingungen, an die ein – und man muss hier sagen „anscheinend“ – herzliches und liebevolles Aufgenommen-Werden geknüpft sind. Eine der möglichen Antworten auf eine solche Konstellation, die besonders dann nahe liegt, wenn der Betreffende einerseits besondere Fähigkeiten bei sich entdeckt und andererseits bei den Menschen, die solche Hoffnungen in ihn setzen, erkennt, dass sie sich in einer Notlage befinden, also eine Antwort, die dann aus einer Vorform der Liebe zu den Menschen geboren wird, bei denen der Betreffende die Möglichkeit sieht, ihnen zu helfen, besteht dann darin, entschlossen und ehrgeizig darum zu kämpfen und jedes Opfer zu bringen, um dafür zu sorgen, dass die Erwartungen und Hoffnungen seiner geliebten Angehörigen erfüllt werden. Er scheut keine Anstrengungen und erbringt große Verzichtsleistungen, auch wenn er eigentlich lieber etwas anderes gemacht hätte, als genau diesem Wunsch seiner Angehörigen nachzukommen (auf dem Priesterseminar wird ihm vermutlich allmählich klar, dass er entgegen dem Wunsch seiner Eltern doch nicht Priester werden will). Diese ebenfalls mögliche Interpretation Heideggers legt einen anderen Weltbezug nahe, nämlich den eines Menschen, der in eine notleidende Welt, die teils materiell, teils geistig verarmt ist, hineingeworfen wurde, und der mit seinem Seinkönnen helfen will und dabei entdeckt, dass er dies nur dann kann, wenn er eigentlich, also er selbst ist. Gleichzeitig erkennt er auch, dass er auf die Weise, auf die er ursprünglich helfen wollte, gar nicht helfen kann, weil er niemandem die Verantwortung für seine Selbstwahl abnehmen kann. Er erkennt schließlich, dass er sich verstiegen hat, nicht nur in „Sein und Zeit“ – damit kann er umgehen – sondern auch durch seine Einlassung auf die Nationalsozialisten, die Juden als zu vernichtendes Material ansahen und Soldaten als Kanonenfutter, und die Heidegger für seine Idee einer vorrangigen Philosophie benutzen wollte, womit er gegen seine eigene Erkenntnis der Unverfügbarkeit von daseinsmäßig Seiendem handelte. Er kann später die Kritik von anderen nicht annehmen, weil sie ihn nicht verstehen und er sich nur verletzt fühlen würde, wenn er die Kritik an sich herankommen lassen würde. So erscheint er nach außen narzisstisch und arrogant, was seinen wunden Punkt nur noch verschlimmert, da er nur Gutes wollte und sich durch die Reaktion der anderen, insbesondere durch den Entzug seiner Lehrerlaubnis nach dem Zweiten Weltkrieg, sehr enttäuscht und gekränkt fühlte. Zumindest zwei Menschen brachten ihm in dieser kritischen Zeit nach 1945 großes Verständnis entgegen, was er wohl dringend brauchte, nämlich die beiden Psychiater Medard Boss, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband, und Viktor Emil von Gebsattel, der vor seinem Medizinstudium in Philosophie promoviert hatte und Zeit seines Lebens den Künsten verbunden und ein Freund Rainer Maria Rilkes war, und in dessen Klinik Heidegger drei Wochen verbrachte (Matussek, 1997, Seite 75 f.). Die Zuneigung und das Verständnis, also ein wahrscheinlich großes Maß an Liebe (Liebe ist ja bei mir eine Utopie, auf die das Dasein zwar apriorisch ausgerichtet ist, aber normalerweise nicht erreicht), das diese beiden Männer Heidegger entgegenbrachten, ermöglichten ihm eine Wende in seinem Leben und die „Kehre“ in seiner Philosophie, dass er sich auf die humanistische Idee von der Unverfügbarkeit wieder besann, die er im Dritten Reich außer Acht gelassen hatte. Ich möchte an dieser Stelle kein Urteil darüber fällen, ob Heidegger „larviert schizophren“ war oder nicht, ich möchte aber feststellen, dass kein ernsthafter Psychotherapeut bei einem Patienten aufgrund einer solch dürftigen Informationsmenge eine solche Diagnose stellen würde. (Allerdings wollte Matussek Heidegger ja nicht behandeln, und Prominente müssen vieles über sich ergehen lassen.)

Liebe spielt hier zumindest an zwei Stellen im Entwicklungsprozess des Daseins, das wir ja jeweils selbst sind, eine entscheidende Rolle: zum einen das Fehlen von ausreichender echter Liebe am Lebensanfang, denn es wäre sonst nicht zu diesen Irrungen und Wirrungen gekommen, die Heideggers Lebensweg bis zum zweiten Weltkrieg kennzeichneten, zum anderen das Maß an Liebe, das Heidegger dann nach 1945 erhielt und das ihn aller Wahrscheinlichkeit vor einer psychischen Dekompensation bewahrt hat. Die Aussage, die man über das Wesen der Liebe hieraus erhält, ist, dass ein Mangel an Liebe, besonders am Lebensanfang, das menschliche Leben, also die Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt, an den Abgrund führt, während schon ein gewisses Maß an Liebe, im richtigen Moment gegeben, das menschliche Leben vor dem Abgrund retten kann.  

Liebe, Öffentlichkeit und Privatheit Bearbeiten

Zum Ende von Kapitel 2 habe ich für das räumliche Empfinden bzw. das Sein-bei des Daseins eine Art Topologie eingeführt, indem ich Nähe und Distanz des Daseins zu etwas Seiendem durch das Ausmaß der Stärke der Ergriffenheit des Daseins von diesem Seienden definiert habe. Die Räumlichkeit des Daseins ist ja ein Teil der Weltlichkeit, also des Entwurfs und Entwerfens des Daseins von der Welt, in die das Dasein selbst als In-der-Welt-sein mit eingebunden ist. Jeder Entwurf des Daseins betrifft somit immer auch etwas vom Dasein selbst und seine Beziehung zum jeweiligen Ausschnitt der Welt, der in dem Entwurf enthalten ist. So betrachtet ist jeder Entwurf des Daseins von der Welt immer auch ein Selbstentwurf, auch wenn dies nicht immer vom Dasein ausdrücklich verstanden ist. Es muss nun unterschieden werden zwischen dem Raum wie in Kapitel 12 benannt und der Räumlichkeit als Ekstase der Prozesshaftigkeit. Insofern ist der öffentliche Raum dort, wo das Dasein mit Anderen zusammen ist, und der private Raum dort, wo das Dasein mit sich alleine ist. „Allein“ soll hier Distanz zu Anderen im Raum bedeuten, während „einsam“ sich auf die daseinsmäßige Räumlichkeit, das Sein-bei oder Mitsein, den Kontakt, beziehen soll. Öffentlichkeit dagegen ist die Räumlichkeit, in der das Dasein im Mitsein, also im Kontakt, mit Anderen ist, und Privatheit die, in der das Dasein mit sich einsam ist. Dabei gibt es natürlich noch entsprechende Abstufungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, so dass man von einer relativen Privatheit sprechen kann, wenn das Dasein dort nur mit relativ wenigen und ausgewählten Anderen in Kontakt ist. Bezüglich des Raumes haben wir also die öffentlich und die privat bedeutsamen Selbstentwürfe (siehe voriges Kapitel). Auf der daseinsmäßigen Ebene besagt die Öffentlichkeit mehr über die Qualität des Kontaktes zu Anderen, nämlich wie nah das Dasein sich den Anderen fühlt und demgemäß wieviel es ihnen mitteilt von seinen Selbstentwürfen, so dass wir hier von privaten und öffentlichen Selbstentwürfen reden (siehe voriges Kapitel).

Zuerst möchte ich darauf eingehen, welche Selbstentwürfe, also welche Möglichkeiten des eigenen Seinkönnens, in der Regel nicht oder eher selten Anderen vom Dasein mitgeteilt werden. Es sind einerseits die Möglichkeiten, von denen das Dasein am ehesten annimmt, dass sie von Anderen nicht richtig verstanden werden, und dass deswegen eine Mitteilung zu einem Schaden für den Anderen oder für das Dasein selbst führen kann, und andererseits die Möglichkeiten, wegen denen das Dasein sich schämt oder für schuldig bzw. unzulänglich hält. In der Regel sind dies alles Möglichkeiten, in denen das Dasein ergriffen und erwartungsvoll ist, sich aber vor der Reaktion der Anderen fürchtet und sich unter Umständen vor sich selbst ängstigt, wobei es sich ontologisch betrachtet um die Angst vor der Selbstwahl handelt, das ist nichts anderes als die Scham oder die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit, dem eigenen Schuldig-sein-können. Auch im ersten Fall würde sich das Dasein schuldig machen, an sich selbst oder an einem Anderen, wenn ein Schaden entsteht. Da Ergriffenheit und Erwartung, also Sorge, die Möglichkeiten des Daseins bestimmen, besteht der gesamte Selbstentwurf des Daseins aus Möglichkeiten, in denen das Dasein mehr oder weniger ergriffen und voller Erwartung ist. Der private Selbstentwurf des Daseins umfasst somit unter anderem die Möglichkeiten des eigenen Seinkönnens, bei denen das Dasein noch nicht die Entschlossenheit zu bußfertiger ausdrücklicher Umkehr, also Wiedergutmachung, Selbstreinerhaltung, reumütige Einkehr und deren ausdrückliche Umsetzung, hat als im Dasein selbst durch sein Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit. Der öffentliche Selbstentwurf dagegen besteht insbesondere aus Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins, von denen das Dasein annimmt, dass sie von Anderen richtig verstanden werden, und bei denen es sich für alle Befindlichkeiten (Abscheu, Leid, Wut, Angst und Freude), nicht nur die eigenen, sondern auch die der Anderen in seiner Gemeinschaft, offen und bereit die Bedingtheit seines Schuldigseins verstehend und akzeptierend entworfen hat sowohl auf das eigenste Schuldigsein, als auch auf die Entwicklung von Liebe hin. Dabei ist es auch offen und bereit, sein Schuldigsein zu verstehen und zu akzeptieren und sich auf liebevolles Seinkönnen auszurichten. Dann ist das Dasein nämlich offen, diese Möglichkeiten Anderen mitzuteilen. Hieraus lässt sich ebenfalls die Zielvorstellung herleiten, den Selbstentwurf insgesamt öffentlich zu machen (s. voriges Kapitel), damit das Dasein eigentlich ist bzw. Liebe und Erfüllung erreicht hat.

Wenn der öffentlich bedeutsame Selbstentwurf vor allem aus Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins besteht, von denen es annimmt, sie seien sozial erwünscht, wobei diese Annahme richtig oder falsch sein kann, dann ist es uneigentlich. Etwas vereinfacht und natürlich auch vereinfachend ausgedrückt besteht der Selbstentwurf des Daseins aus seinen Bedürfnissen, und der private Selbstentwurf umfasst die Bedürfnisse des Daseins, zu denen es (noch) nicht stehen kann. Der öffentlich bedeutsame Selbstentwurf besteht zu einem großen Teil aus Bedürfnissen, bei deren Erfüllung das Dasein Andere braucht, beim privat bedeutsamen Selbstentwurf sind dies großenteils entsprechende Bedürfnisse, bei denen es glaubt, niemand Anderen zu brauchen. Wenn es sich dann echt und unmittelbar versteht, sind alle Bedürfnisse erfüllt, dadurch dass manche Bedürfnisse weggefallen sind oder sich so verändert haben, dass sie erfüllt sind. Die Elemente des privaten Selbstentwurfs versteht das Dasein entweder als unbegreiflich für Andere oder als Unzulänglichkeiten, die es bei sich oder Anderen als solche früher so erfahren hat und als unakzeptable Schwächen versteht, wobei der Ausdruck „eine Schwäche für etwas haben“ dasselbe besagt wie „ein Bedürfnis haben“. Nicht akzeptierte Schwäche bedeutet hier konsequent „zum Ende hin“ gedacht mangelnde Entschlossenheit bzw. mangelndes Verständnis der Bedingtheiten des eigensten Schuldigseins oder mangelndes Verständnis des eigenen Bedürfnisses. Ein Bedürfnis zu akzeptieren heißt nicht unbedingt, seine Erfüllung anzustreben, es aber nicht zu akzeptieren ist eine Abkehr von sich selbst, letzten Endes also mangelnde Selbstliebe. Die primäre Ekstase der Prozesshaftigkeit des privaten Selbstentwurfs ist also die Gewesenheit, da er sich auf frühere Erfahrungen bezieht.

Um einem Missverständnis vorzubeugen, möchte ich hiermit klarstellen, dass die Auflösung des privaten Selbstentwurfs durch entsprechende Mitteilungen des Daseins nur das Ziel eines Entwicklungsprozesses zu Eigentlichkeit und Liebe ist, wobei es auf dem Weg dorthin einen notwendigen Bereich an privatem Selbstentwurf geben muss. Es wäre fatal, wenn das Dasein während dieses Entwicklungsprozesses schon so täte, als ob es am Ziel wäre. Wenn ein Schüler zum Flugzeug-Piloten schon so täte, als könne er ein Passagierflugzeug fliegen, und dies tut, oder wenn ein Wanderer mitten in der Wüste zur Zeit der Mittagshitze so täte, als befände er sich schon in einer schattigen Oase, und sich hingelegt, um zu schlafen, dann könnte dies jeweils schlimme Folgen haben. Erst wenn das Dasein sein eigenes Sein und das der Anderen, also das Sein überhaupt, echt und unmittelbar versteht, dann kann es, je nachdem wie weit der Andere in seiner Entwicklung zur Liebe ist, diesem Anderen immer mehr auch von seinem privaten Selbstentwurf mitteilen.

Dem Dasein stehen prinzipiell zwei mögliche Strategien zur Verfügung, um in seiner Entwicklung zur Liebe voranzukommen: zum einen gemeinsames Handeln mit dem Austausch von Mitteilungen mit Anderen über jeweilige Selbstentwürfe (Mitteilung persönlicher Geheimnisse), über Entwürfe des jeweils Anderen von dessen Mitsein mit dem Dasein (Mitteilung „blinder Flecken“ des Daseins, also Seinsweisen des Daseins, die beim Anderen eine gewisse Gestimmtheit ausgelöst haben, die das Dasein beim Anderen nicht entdeckt hat) oder andere Entwürfe (zum Beispiel Rituale und Konventionen, um Missverständnisse bei Mitteilungen zu vermeiden), zum anderen das Selbsterfahren beim Unwillkürlich-Sein mit eigenem Entwerfen und Verstehen seiner selbst in dieser Seinsweise und seinem so In-der-Welt-Sein. Für Letzteres braucht das Dasein einen gewissen Freiraum zum spielerischen Experimentieren, aber auch beim Austausch mit Anderen bedarf es einer gewissen Vertrautheit, also auch eines gewissen Freiraums, der den Austausch möglichst offen und spielerisch macht. Das Verhältnis zum Anderen sollte freundschaftlich sein in dem Sinne, dass beide einander wohlwollend gegenüber stehen. Hier wird die Ähnlichkeit zur frühen Mutter-Kind-Beziehung deutlich, bei deren Interaktion es dem Kind ermöglicht oder zumindest erleichtert wird, seine Erfahrungen in seiner Weltlichkeit des Als-ob-Modus seines Seins zu integrieren. Diesen Freiraum stellt die oben erwähnte Privatheit bzw. relative Privatheit wie früher allein mit seiner Mutter dar, und in dieser Privatheit kann das Dasein seinen Selbstentwurf so lange weiter entwickeln, bis es die Teile davon, die entsprechend herangereift sind und die es immer echter und unmittelbarer versteht, immer mehr veröffentlichen, also Anderen immer mehr mitteilen kann. Wie aus der Analyse der Mutter-Kind-Beziehung ersichtlich, spielt bei der Entwicklung von Vertrautheit und eigentlichem und unmittelbarem Verständnis, also Liebe, der Humor eine ausgezeichnete Rolle. Humor ist dabei deswegen so wichtig, weil das Dasein dadurch seine Stimmungen bzw. ontologisch seine Befindlichkeit regulieren kann. Bei zu großer Erregtheit ist nämlich kein Begreifen mehr möglich, sodass das Dasein das Erschlossene nicht entdecken kann. Sowohl beim Austausch mit Anderen, als auch beim Selbsterfahren im Unwillkürlich-Sein kommt es nicht nur auf den Umgang und das Entdecken an, sondern auch darauf, dass das Dasein seine Befindlichkeit entsprechend regulieren kann, damit alles andere ermöglicht wird. Humor als ein Modus der Auslegung, also des ausdrücklichen Begreifens des Verständnisses der Erregtheit des Daseins kann diese derart verringern, dass das Dasein nicht mehr blockiert ist durch seine starke Erregtheit und so zu seiner eigentlichen Befindlichkeit findet, die es dann echt und unmittelbar verstehen und in der Rede bzw. Unterredung begreifen kann, sodass es sich das Verstandene ausdrücklich aneignen bzw. mitteilen, also entdecken bzw. damit im Austausch mit Anderen umgehen kann. Bei diesem Entwicklungsprozess kann das Dasein immer mehr Verständnis gewinnen von seinem eigenen Sein und dem der Anderen und damit auch vom Sein überhaupt.

Der Ausdruck „entsprechend herangereift“ bezieht sich auf das Verhältnis des Daseins mit einem jeweils Anderen: das Dasein wird es mit der Zeit immer besser verstehen, welche Möglichkeiten seines Seinkönnens es bestimmten Anderen mitteilen kann, ohne dass etwas Schädigendes geschieht. Mit diesem Verständnis entwickelt sich in der Beziehung des Daseins zu immer mehr Anderen ein entsprechendes Vertrauensverhältnis. Der private Selbstentwurf wird so in verschiedene Bereiche aufgeteilt, die das Dasein nur mit ganz bestimmten Anderen teilt. Dabei gibt es dann einen Kernbereich dieses Selbstentwurfs, zu dem nur das Dasein Zutritt hat, und den ich den eigentlichen privaten Selbstentwurf nennen will. Entsprechend soll öffentlicher Selbstentwurf den Selbstentwurf des Daseins bezeichnen, der nicht den eigentlichen privaten Selbstentwurf umfasst, und der eigentliche öffentliche Selbstentwurf den Selbstentwurf, zu dem fast alle Zutritt haben. Außerdem gibt es dann noch den Bereich des Fiktiven, ein Derivat des Als-ob-Modus des Seins aus der Kindheit (siehe Seite 45), des Vorstellungsmäßigen, des Utopischen bzw. Nicht- oder Noch-nicht-Durchführbaren. Bei den bisherigen Entwürfen des Daseins war die Durchführbarkeit nicht betrachtet worden. Der Unterschied zwischen dem Bereich des Imaginären und des real Durchführbaren ist aber wichtig für das Verständnis des Daseins. Damit haben wir zwei Dimensionen des Selbstentwurfs entdeckt, nämlich privat versus öffentlich, sowie fiktiv-utopisch versus real durchführbar. Wenn das Dasein etwas verstehen will, dann wird es auch anhand dieser Dimensionen seinen Selbstentwurf durchsuchen.

Die oben erwähnten Strategien des Daseins, um in seiner Entwicklung zur Liebe hin voranzukommen, sind beide wichtig, und das Dasein steht somit in der ständigen Gefahr, sich auf eine der beiden Strategien zu fixieren, was die Entwicklung zu Liebe und Erfüllung hin beeinträchtigen und hemmen würde, wie ich im Folgenden zeigen werde. Wenn das Dasein sich auf den Austausch von Mitteilungen mit Anderen fixiert, und sein eigenes In-der-Welt-Sein und die Entwicklung eines tieferen Verständnisses seines Schuldig-Seinkönnens davon vergisst, dann wird es bei sogenannten Schwellensituationen (zum Beispiel Schulabschluss, Berufswahl, Eheschließung, Scheidung, Kinder, Trennung oder Tod von Angehörigen) sich nur daran orientieren, welche Selbstentwürfe Andere in der entsprechenden Situation von sich selbst haben oder welche Fremdentwürfe Andere von ihm machen, das heißt welche Erwartungen sie an das Dasein in der entsprechenden Situation haben. Wenn das Dasein also keine eigenen Entwürfe und kein eigenes Verständnis der neuen Situation entwickelt und nur fremde Entwürfe und fremdes Verständnis übernimmt, nimmt es den Abstand seines dadurch beeinflussten Verständnisses von sich selbst zu einem echten Verstehen seiner selbst nicht mehr wahr, sodass es sich der Illusion hingibt, sein von außen beeinflusster Selbstentwurf sei ein eigener und echter, obwohl es ihn nur von Anderen übernommen hat. Das Dasein betont viel zu stark seine Öffentlichkeit und vernachlässigt seine Privatheit, sodass sein Selbstentwurf immer fiktiv-utopischer wird, weil Entwürfe, die von Anderen stammen, oft vom Dasein selbst gar nicht richtig durchgeführt werden können. Daher läuft es Gefahr, früher oder später einem Wahn zu verfallen, da es seine Illusion nicht als Illusion erkennt. Im anderen Fall, wenn es sich auf das eigene Entwerfen und Verstehen seines eigenen In-der-Welt-Seins fixiert und sich unter anderem immer mehr und schließlich sogar vollständig den Konventionen und Erwartungen der Anderen entzieht, dann ist es schließlich in seiner eigentlichen Privatheit wie in einem Gefängnis eingesperrt, fürchtet sich immer mehr vor den Erwartungen der Anderen, die es nicht kennt, sondern nur erahnen kann, was meist dazu führt, dass das Dasein von viel höheren Ansprüchen ausgeht, als tatsächlich von ihm erwartet werden, meidet daher die Öffentlichkeit und wird sich früher oder später umbringen, wenn es diesen emotionalen Druck nicht mehr aushält. So betrachtet bewegt sich das Dasein zumindest bei solchen Schwellensituationen auf einem schmalen Grat zwischen Wahn und Suizid, oder etwas weniger extrem und dramatisch ausgedrückt zwischen paranoid-narzisstischen Vorstellungen und Depressionen.

Wenn das Dasein auf den Austausch mit Anderen fixiert ist, dann betont es zu sehr seine öffentlichen und öffentlich bedeutsamen und vernachlässigt seine privaten und privat bedeutsamen Selbstentwürfe. Da es sich dort nicht mehr weiter entwickelt, fühlt es sich mit seinen privaten und privat bedeutsamen Selbstentwürfen zunehmend unwohler, meidet diesen Teil seines Selbstentwurfs immer mehr und fürchtet auch in zunehmendem Maße, dass Andere etwas von diesem entsprechend unterentwickelten Teil erkennen könnten. Es „dichtet“ also diesen „Bereich“ immer mehr ab und macht ihn immer unzugänglicher, auch schließlich unzugänglicher für es selbst. Die Einzigartigkeit, die dem Dasein normalerweise in seinen privat bedeutsamen Selbstentwürfen begegnet und die es für das befindliche Verständnis seiner Individualität und Unverfügbarkeit braucht, muss es sich nun in der Öffentlichkeit verschaffen, so dass die Anerkennung seiner Einzigartigkeit von Anderen nicht mehr als Geschenk und Ausdruck einer sich entwickelnden Liebe dem Dasein gegenüber empfunden und verstanden wird, sondern als Anspruch, in den das Dasein sich immer mehr versteigt, indem es Andere als verfügbar immer mehr zu manipulieren sucht. Dieses Anspruchsdenken des Daseins aber muss früher oder später zu Irritationen bei den Anderen führen, so dass das Dasein, welches sich in dieses Anspruchsdenken verstiegen hat, von ihnen als verschroben empfunden wird. Wenn das Dasein sich dann überanstrengt und, enttäuscht darüber, dass es seinen Anspruch nicht durchsetzen konnte, abwenden will, kann es aber nur schwer zurück in seine Privatheit, da ihm diese und damit auch das eigentliche Selbstsein unzugänglich geworden ist, sodass häufig nur noch fiktive Selbstentwürfe für das Dasein offen sind, die es dann für real durchführbar hält und so immer weltfremder und stärker paranoid-narzisstisch wird und im Extremfall dem Wahnsinn verfällt. Eine Erleichterung kann das Dasein dabei in Alkohol und Drogen suchen und für kurze Zeit auch finden. Im anderen Fall, wenn das Dasein sich auf das eigene Entwerfen und Verstehen seines eigenen In-der-Welt-Seins fixiert, betont es zu sehr seine privaten und privat bedeutsamen Selbstentwürfe und versteht die Beziehungen zu Anderen zu einseitig, indem es zum Beispiel den tieferen Sinn von Ritualen und Konventionen nicht empfindet und versteht. Das Dasein findet daher in der Öffentlichkeit keine passenden positiven Entwürfe von ihm selbst, die es als eigene übernehmen kann, es findet sich sozusagen selbst in der Öffentlichkeit und im Spiegel der Anderen nicht in positivem Sinne wieder. Es versucht daher anfänglich, sich krampfhaft anzupassen und es allen recht zu machen. Da dies auf Dauer nicht gelingen kann, kommt es früher oder später zu einer Erschöpfungsdepression, so dass das Dasein sich enttäuscht und ausgebrannt in seine Privatheit zurückzieht. Dabei hält es sich meist für schuldig, also unzulänglich, dass es den Erwartungen in der Öffentlichkeit nicht gewachsen ist. Das Dasein nimmt überdeutlich seine gedrückte und bedrückende Befindlichkeit wahr, kann sie aber nicht verstehen. Stattdessen kommt es ins Grübeln, also in Gedankenschleifen wie bei einem hermeneutischen Zirkel, der aber keinen Zuwachs an echtem Verständnis bringt. Dies kann für das Dasein im Extremfall so unerträglich werden, dass Suizidgefahr besteht. Eine Erleichterung kann das Dasein für sich allein lediglich durch Ablenkung erlangen, wobei dann allerdings auch hier Suchtgefahr besteht.

In beiden Fällen führt letzten Endes immer nur mehr echtes und unmittelbares Verstehen, entweder von sich selbst bei der Überbetonung der Öffentlichkeit oder vom Anderen (also vom gesamten sozialen Bereich mit seinen Ritualen und Konventionen), also immer mehr (Selbst- oder Fremd-)Liebe, heraus aus der Gefahr von Wahnsinn oder Suizid. Diese beiden Varianten entsprechen übrigens in etwa der paranoid-schizoiden und der depressiven Position bei Melanie Klein (siehe oben 10. Kapitel). Wenn das Dasein bei der Fixierung auf die Öffentlichkeit so viele fremde Entwürfe sich zu eigen gemacht hat und sie nicht für sich in der Privatheit überprüfen kann, da diese ihm weitgehend verschlossen ist, ist es in der Versessenheit, was schon oben als paranoid-schizoide Position nach Melanie Klein angezeigt wurde. Entsprechend ist das Dasein bei einer Fixierung auf die Privatheit verunsichert, was es bei Anderen auslösen und wodurch es sich schuldig machen kann, sodass es immer unentschlossener wird, was ebenfalls oben der depressiven Position nach Melanie Klein zugeordnet wurde.

Hierin öffnet sich eine neue Betrachtungsweise von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit: wenn das Dasein auf den Austausch mit Anderen fixiert ist und seine privaten und privat bedeutsamen Selbstentwürfe vernachlässigt, ist es ganz klar uneigentlich. Wenn es dagegen auf das eigene Entwerfen und Verstehen seines eigenen In-der-Welt-Seins fixiert ist, und in diesem Sinne „zu eigentlich“ ist, versteht es die Beziehung zu Anderen nicht mehr echt, und das führt letzten Endes ebenfalls in die Uneigentlichkeit. Bevor das Dasein also „zu eigentlich“ wird, muss es wieder „etwas uneigentlicher“ werden, indem es sich mehr auf den Austausch mit Anderen einlässt, damit es im Endeffekt dann richtig eigentlich und echt ist, wenn es in der Liebe ist. Zur „eigentlichen“ Eigentlichkeit gelangt das Dasein also nur, wenn es zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit oszilliert. Für mich ist daher in dem Konzept der Eigentlichkeit von Heidegger die eigentliche Gefahr eines Subjektivismus gegeben.

Was geschieht nun, wenn das Dasein uneigentlich wird, wenn es also etwas nicht mehr aus der unmittelbaren Situation heraus, in die es sich selbst als mit einbezogen empfindet, sondern lediglich aus der begegnenden Welt etwas versteht und von ihm selbst absieht, da es sich aufgrund einer enttäuschten Erwartung von ihm selbst abgekehrt hat? Wenn das Dasein sich aufgrund einer enttäuschten Erwartung von ihm selbst abgekehrt hat und an der entsprechenden Täuschung festhält, dann gibt es entsprechende enttäuschende Situationen, in die es sich selbst nicht mehr mit einbezogen fühlt bzw. befindlich versteht, da es ja an der Täuschung festhält. Das heißt, dass alle Selbstentwürfe, bei denen es sich bisher in solche Situationen mit einbezogen verstanden hat, in irgendeiner Weise verworfen werden. Die Art und Weise, wie sie verworfen werden, kann eine Art Abspalten, In-Quarantäne-Stecken sein oder ein Verdrängen, ein Ersetzen oder vielmehr Überlagern durch andere Selbstentwürfe. Im ersten Fall kann sich das Dasein meistens noch an diese Selbstentwürfe erinnern, im zweiten Fall in der Regel nicht mehr, die Erinnerung kann aber unter gewissen Umständen wieder hervorgeholt werden. Die verworfenen Selbstentwürfe sind dann meistens alle privat, das heißt das Dasein teilt sie Anderen nicht mehr mit.

Die Täuschungen, denen das Dasein unterliegt, und die entsprechenden Enttäuschungen lassen sich in drei Gruppen unterteilen: das eine sind sachliche Täuschungen, bei denen sich das Dasein in Bezug auf nichtdaseinsmäßig Seiendes irrt. Die entsprechenden Enttäuschungen kann das Dasein in der Regel gut verarbeiten, das heißt die echte Bedeutsamkeit des entsprechenden Sachverhalts befindlich verstehen. Je mehr die Existenz des Daseins aber von dem jeweiligen Sachverhalt bedroht ist, desto eher kann es hier zu einer Störung des echten und eigentlichen befindlichen Verstehens kommen wie etwa bei einem Trauma. Das zweite sind Täuschungen bezüglich Anderer, bei denen diese ihre Interessen gegen die des Daseins mehr durchsetzen, als es das Dasein sich gewünscht und erwartet hat. Die entsprechenden Enttäuschungen sind für das Dasein umso schwieriger echt und unmittelbar befindlich zu verstehen, je mehr die eigene Ergriffenheit davon betroffen ist. Die schwierigste Art von Täuschungen aber sind die, bei denen das Dasein durch die Enttäuschung den Eindruck bekommt, dass Andere das Dasein so, wie es ist, ablehnen und die Gefahr besteht, dass sie sich vom Dasein abkehren und/oder es schädigen.

Welche Bereiche des Selbstentwurfs werden denn bei welcher Art von nicht verarbeiteter bzw. nicht richtig verarbeiteter Enttäuschung abgespalten oder verdrängt? Bei der ersten Art von Enttäuschungen – sie beruhen in der Regel auf mehr oder weniger traumatischen Erlebnissen – werden alle die Selbstentwürfe abgespalten, bei deren Umsetzungsversuch die jeweilige Gestimmtheit des Daseins aufgrund der belastenden Enttäuschung zu angespannt ist, so dass die Umsetzung blockiert ist. Da diese Abspaltung für das Dasein auf die Dauer ziemlich anstrengend ist, kann es immer wieder vorkommen, dass es zum Umsetzungsversuch eines solchen Selbstentwurfs kommt, so dass das Dasein eine ähnliche Gestimmtheit wieder erlebt, wie bei dem belastenden Enttäuschungserlebnis. Im Falle eines Traumas kann dies ein Flashback oder eine Re-Traumatisierung sein. Bei der zweiten Art von Enttäuschungen werden alle Selbstentwürfe, bei denen die eigene Ergriffenheit von etwas durch die entgegengesetzten Interessen von Anderen betroffen ist, durch andere Selbstentwürfe überlagert bzw. verdrängt, so dass der entsprechende Interessenkonflikt nicht mehr besteht. Da das Dasein aber die entsprechenden Situationen eigentlich nicht verstanden hat, kann das Verdrängte, die verdrängten Bedürfnisse, unter bestimmten Umständen immer wieder hervorkommen.

Wenden wir uns nun dem schwierigsten Fall zu: wenn das Dasein sich von einem Anderen persönlich bedroht, angegriffen oder geschädigt fühlt – persönlich bedeutet wegen einer oder mehrerer Selbstentwürfe des Daseins –, dann ist das Dasein mit seinem eigenen Schuldigseinkönnen konfrontiert, so dass es auf zwei Arten reagieren kann: es kann sich entweder wirklich schuldig fühlen, oder aber nur beschämt, also falsch gesehen (zu dieser Differenzierung von Schuld und Scham vergleiche Matussek, 1993, Seite 148 oben). Wenn es das Ganze nicht richtig versteht und dem nichts entgegenzusetzen hat, dann hat es entweder ein unechtes und falsches Schuldgefühl, oder es fühlt sich ungerechterweise beschämt und unverstanden. In beiden Fällen des Nicht-Verstehens fühlt es sich von Gefahren bedroht und in seinem Seinkönnen eingeschränkt. Im ersten Fall verdrängt es alle Selbstentwürfe, bei denen es irgendwie befürchtet, mit Anderen in Konflikt zu geraten und sich so noch mehr schuldig zu machen. Da es aber nicht richtig verstanden hat, wird das Dasein sich schließlich mit Anderen überangepasst und durch seine Unauffälligkeit schon wieder auffällig verhalten. Es vermeidet peinlichst jede Mitteilung über ein besonderes Seinkönnen Anderen gegenüber, das heißt sein öffentliches Verhalten bzw. alle entsprechend bedeutsamen Selbstentwürfe sind von belangloser Alltäglichkeit geprägt. Seine öffentliche Präsentation ist eine Nicht-Präsentation. Das Dasein will es allen Anderen recht machen und fixiert sich damit auf das eigene Entwerfen und Verstehen seiner Privatheit, denn es befürchtet im Austausch mit Anderen, durch eigenes Nicht-Verstehen andere zu belästigen und erneut Schuld auf sich zu laden. Weil es die Erwartungen der Anderen ebenso wenig wie deren Konventionen versteht, wird es alles mehr oder weniger als unechten Schein und keine Freude dabei empfinden, so dass ihn der Kontakt mit Anderen nur Kraft kostet und ihm nichts gibt. Weil dies auf Dauer zu anstrengend ist, verfällt es früher oder später in eine Erschöpfungsdepression und entzieht sich voller Schuldgefühle den Erwartungen und Konventionen der Öffentlichkeit, aber nicht, um seine Ruhe zu haben, sondern um in Ruhe zu Grunde zu gehen, möglicherweise durch Suizid. Im zweiten Fall spaltet das Dasein alle Selbstentwürfe ab, bei deren Umsetzung es von anderen beschämt und falsch gesehen werden könnte, und weil es von der Beschämung rein gewaschen und rehabilitiert werden möchte, versucht es in der Öffentlichkeit etwas Besonderes zu sein, um möglicherweise die anderen zu beschämen, so dass sie bereuen, es jemals falsch gesehen zu haben. Das Dasein versucht also, in der Öffentlichkeit immer als etwas Besonderes aufzufallen, teilweise nach dem Motto: „Liebe mich, auch wenn ich schlimm bin!“ So fixiert sich das Dasein auf den Austausch mit Anderen, wobei es allerdings von seinem eigentlichen Selbstsein nichts mitteilt und dazu immer mehr die Verbindung verliert. Es ist in seinem Seinkönnen nur auf die Welt, auf die Anderen ausgerichtet, um sie zu beeindrucken, das heißt es ist in höchstem Maße uneigentlich. Es beachtet die Erwartungen der Anderen und ihre Konventionen nicht deshalb, um nicht aufzufallen, wie es das Dasein im ersten Fall beabsichtigt, sondern benutzt sie nur zu dem Zweck, um die anderen zu beeindrucken und ihnen zu zeigen, dass es etwas Besonderes ist. Aufgrund der empfundenen Ungerechtigkeit bei seiner nicht verstandenen beschämenden Enttäuschung glaubt das Dasein einen Anspruch auf Anerkennung und Bewunderung zu haben. Es ist also auf die Öffentlichkeit fixiert und hat seine Privatheit derart abgedichtet, dass es selbst keinen Zugang mehr dazu hat. Wie oben ausgeführt, wird es daher im Extremfall einen Wahn entwickeln, wenn es nicht umkehrt.

Noch ein Wort zu den Konventionen: damit das Dasein und Andere sich verständigen können, müssen sie Konventionen treffen, welche Ausdrucksweise welche Haupt- und welche Nebenbedeutungen hat. Hierbei geht es nicht nur um sprachliche sondern auch um nonverbale Verständigung. Insbesondere im Nonverbalen besteht eine große Schwierigkeit, Verneinungen auszudrücken. Um etwa bei der Begrüßung auszudrücken, dass man dem anderen nichts antun will, haben verschiedene Kulturen verschiedene Rituale entwickelt, um dies nonverbal zu vermitteln. Die Ritter klappten ihr Visier hoch, vor 100 Jahren hob bei uns der Mann den Hut, heute heben wir zum Beispiel die offene rechte Hand, als ob wir zeigen wollten, dass wir keine Waffe benutzen wollen, und auch das Heben der Augenbrauen wird als nonverbale Geste verstanden, dass man dem anderen nichts Böses will. Bei der gegenseitigen Verständigung des Daseins mit Anderen ist es daher für beide wichtig, solche Übereinkünfte zu verstehen und zu beachten. Wenn das Dasein oder Andere solche Konventionen nicht verstehen, sondern unverstanden übernehmen, kann es mitunter zu großen Missverständnissen und Konflikten kommen. Hierzu ein Beispiel: ein Mann, der um eine Frau wirbt, und dabei höflich und zuvorkommend der Frau die Tür aufhält oder ihr in den Mantel hilft, macht das vielleicht nur deswegen, weil er diese Art, ohne sie zu verstehen, bei anderen gesehen hat, die Erfolg bei Frauen hatten. Er hat also den tieferen Sinn dieser Konvention nicht verstanden. Die Frau, die ein tieferes Verständnis für diese Konvention hat, also deren Bedeutung kennt, nämlich dass der Mann dadurch zeigt, dass er sich beherrschen und Rücksicht auf sie nehmen kann, glaubt, in ihm einen verständnisvollen Partner gefunden zu haben, der im Bett nicht wie ein Tier über sie herfällt. Sie geht auf dieses Ritual ein, obwohl sie ja auch selbst die Tür öffnen oder allein den Mantel anziehen könnte, und drückt damit aus, dass sie verstanden hat, und zeigt ihrerseits dem Mann, indem sie sein Verhalten nicht hinterfragt sondern akzeptiert, dass sie in einer künftigen Beziehung ihm auch seinen Freiraum und seine Privatheit lässt. Wenn die beiden dann geheiratet haben, und der Mann nach und nach seine Höflichkeiten immer mehr lässt und auch sonst immer rücksichtsloser wird, weil seine Frau als Ehefrau ihm angeblich gehört, dann hat diese Frau „King-Kong im Ehebett“. Es kann natürlich auch umgekehrt sein, dass der Mann ein tieferes Verständnis für die Konventionen hat und die Frau nicht, und dann hat er zum Beispiel die Schwierigkeit, dass sie ihn eifersüchtig beobachtet und ihm keinen Freiraum lässt. Solche Probleme sind nur schwer auf der verbalen Ebene zu lösen, denn wenn die beiden darüber ganz offen reden würden, würden ihre jeweiligen Unzulänglichkeiten offenkundig, was meistens einer der Beteiligten nicht mitmachen würde, weil seine Furcht vor Beschämung und/oder Beschuldigung zu groß wäre. Oft werden Konventionen als Blendwerk oder Maskerade bezeichnet. Das sind sie nur dann, wenn sie von den Beteiligten in ihrem Sinn nicht verstanden oder absichtlich manipulativ verwendet werden. Wenn das Dasein auf der einen Seite versteht, dass ein solcher Entwurf wie eine Konvention oder eine Höflichkeit nicht das ist, was es auf den ersten Blick zu bedeuten scheint (die Tür aufzuhalten oder in den Mantel zu helfen bedeutet nicht, dass er von der Frau glaubt, dass sie das selbst nicht kann), und es deswegen skeptisch verachtet und womöglich noch Andere damit kompromittiert, dann fehlt ihm ein tieferes Verständnis für das Entwerfen solcher Rituale. Wenn das Dasein sich in der Folge auch nicht um ein tieferes Verständnis bemüht, wird es sich vom Austausch mit Anderen abwenden, immer mehr in seine Privatheit zurückziehen und so seiner Beziehung zum Sein überhaupt, also seinem menschlichen Leben, immer mehr den Wert nehmen, bis diese Beziehung so wertlos ist, dass die Gefahr besteht, dass es sich umbringt.

Matussek (1997) vertritt auf Seite 16 die These, dass es für eine effektive Gestaltung einer Psychotherapie früher oder später notwendig ist, eine Theorie zu haben, aus der sich psychische Störungen veranschaulichen lassen. Wenn Behandler und Behandelter sich unter gegenseitiger Beachtung ihrer jeweiligen Unverfügbarkeit als daseinsmäßig Seiende ausreichend darüber verständigt haben, welche Ziele die Behandlung haben soll, dann wird eine solche Theorie benötigt, um zweckgerichtetes Handeln zu ermöglichen. Für Freud war dies seine Sexualtheorie, für Adler die Machthypothese und für Jung die These des kollektiven Unbewussten. „Sexualtrieb, Machttrieb und Menschheitsentwicklung waren für diese drei die Grundstrukturen, aus denen sich psychotische bzw. neurotische Störungen erklären lassen“ (Matussek, 1997, Seite 16). Matussek selbst sieht in seinem Doppelaspekt des Selbst, nämlich der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Selbst (was ich oben entsprechend umformuliert habe in öffentlichen und öffentlich bedeutsamen sowie privaten und privat bedeutsamen Selbstentwurf), die Grundstruktur, aus der sich schizophrene und schwere depressive Störungen begreiflich machen lassen. Wenn man es unter dem Gesichtspunkt der Salutogenese betrachtet, also mit welcher Grundstruktur sich die Beseitigung von psychischen Störungen erläutern lässt, so behaupte ich, dass es die Grundstruktur des echten und unmittelbaren Verstehens bzw. die der Liebe ist, aus der heraus sich jede Salutogenese deutlich machen lässt. Sowohl beim Sexualtrieb, als auch beim Machttrieb, bei der Menschheitsentwicklung und beim Doppelaspekt des Selbst geht es bei dem, was die Psychotherapie betrifft, immer darum, die jeweilige Grundstruktur echt und unmittelbar zu verstehen. Nur mit Liebe können sich die entsprechenden Störungen, die damit zusammenhängen, lösen lassen.

Die entscheidende Frage, die wir oben im wesentlichen schon beantwortet haben, der wir uns jetzt aber nochmals zuwenden wollen, um ihre Beantwortung noch mehr von den Ausführungen von Matussek leiten zu lassen, ist die, wie und wodurch es kommen kann, dass das Dasein, wenn es sich wie oben geschildert auf die eine oder andere Strategie fixiert hat, zu immer mehr echtem und unmittelbarem Verständnis finden kann. Matussek (1993 und 1997) kommt aufgrund seiner klinischen Erfahrungen zu dem Schluss, dass es in der Vergangenheit eines jeden Patienten bzw. einer jeden Patientin Erlebnisse gegeben hat, welche die betreffende Person nicht richtig verarbeiten konnte bzw. nicht richtig verarbeitet hat. In meiner Terminologie, die ich etwas modifiziert von Heidegger übernommen habe, heißt das, dass das Dasein, wenn es von etwas ergriffen war und dann in der Folge in seiner Erwartung enttäuscht worden ist, das Geschehene aber nicht oder nicht echt befindlich verstanden hat, in Gefahr ist, sich von ihm selbst abzukehren und wie oben geschildert sich auf eine bestimmte Strategie zu fixieren. Da die ersten Geschehnisse dieser Art in der Regel in eine Zeit fallen, in der das Dasein noch sehr auf Andere (meistens seine Eltern) angewiesen und ihnen unterlegen ist, wird es die jeweilige Enttäuschung seiner eigenen Unzulänglichkeit, also seinem eigensten Schuldig-Sein-können, zurechnen und daher sich beschämt oder schuldig fühlen. Beim Beschämt-Sein hält das Dasein an der Täuschung fest, im Grunde genommen vollkommen zu sein, und es hat die (narzisstische) Hoffnung, dass es später nicht zu verleugnende Unzulänglichkeiten überwinden kann, insgesamt nach dem Motto: „Wenn ich groß bin, zeige ich es euch allen.“ Wie oben geschildert wird das enttäuschende Geschehen etwas sein, was vom Dasein als persönlicher Angriff bzw. als persönliche Gefahr befindlich verstanden wird. Wenn es Scham empfindet, fixiert es sich auf die Öffentlichkeit und bei Schuld auf die Privatheit. Im einen Fall fühlt es sich bloßgestellt, blamiert und falsch gesehen, im anderen Fall bekommt es Schuldgefühle, selbst etwas falsch gemacht zu haben. Wenn das Dasein aufgrund der Enttäuschung sich schämt und nur falsch gesehen fühlt und daher beschließt, seine Privatheit in Zukunft zu schützen, damit nichts Falsches eindringen kann, dann wird es sich auf die Öffentlichkeit fixieren und seine Privatheit schützend abdichten, so dass es sich ausschließlich von der Welt her versteht und damit uneigentlich. Dadurch wird sein Verständnis auch immer unechter, also irrealer und verrückter. Es „spielt“ und experimentiert höchstens noch in der Öffentlichkeit und läuft Gefahr, zunehmend wahnhaft mit immer weniger echtem Verständnis zu werden. Es versteht alles nur noch vom Äußeren und von der Oberfläche her, auch sich selbst, und Beziehungen versteht es nur unter dem Aspekt von Anziehung und Abstoßung, tiefere Empfindungen wie Sympathie oder gar Liebe gibt es nicht für das Dasein. Anerkennung und Bewunderung sind der schale Ersatz für Liebe. Wenn das Dasein also seine Privatheit abgedichtet und sich somit davor geschützt hat, falsch gesehen zu werden, dann interessiert es sich nicht dafür und fragt nicht danach, was es bei Anderen bewirkt, denn das könnte ihm ja Schamgefühle machen, sondern nimmt nur noch seine eigenen Absichten und Intentionen wahr. Damit kann sich kein echtes Selbstverständnis entwickeln. Wenn es sich dagegen persönlich schuldig fühlt, dann bekommt es Angst vor dem öffentlichen Raum, wird sich dort besonders stark anpassen, dort also nichts durch Experimente riskieren. Damit bekommt es kaum Rückmeldungen von Anderen, sodass es sein Verstehen und Verständnis von der Welt nicht mehr weiter entwickelt, sondern fast ausschließlich allein mit sich selbst. Damit ist sein Verständnis zwar eigentlich, aber dafür immer weniger echt, sodass es schließlich trotzdem uneigentlich wird.

Durch bestimmte Ereignisse, die das Dasein an die nicht verstandene Enttäuschung erinnern, ist es dann immer wieder mit dieser Grundproblematik konfrontiert. Meist treten solche Ereignisse im Zusammenhang mit den oben schon erwähnten Schwellensituationen auf. Das Dasein sucht dann bildlich gesprochen entweder in seiner Privatheit oder Öffentlichkeit je nach Fixierung nach echtem Verständnis seiner enttäuschenden Erlebnisse, indem es das Ereignis, welches es an früher erinnert, als in ähnlicher Art enttäuschend teils so interpretiert, teils so inszeniert. Dieses Phänomen entspricht in etwa dem, was Freud den Wiederholungszwang nannte. Wenn das Dasein auf die Öffentlichkeit fixiert ist, dann ist es bestrebt, Andere zu beschämen, indem es sie durch sein Anders-Sein zu beeindrucken sucht und wird natürlich wieder „falsch gesehen“, ist es dagegen auf seine Privatheit fixiert, wird es sich am Ende meistens selbst schuldig fühlen, selbst wenn dies faktisch gar nicht stimmt. Es springt dabei auch immer wieder ins Fiktive, wobei es sich unter Umständen auch die früheren Geschehnisse vorstellt, aber mit dem Wissen von heute anders reagiert als früher. Wenn dies von seiner Privatheit aus geschieht, sind es meistens düstere Zukunftsvorstellungen oder Vorstellungen von früher, in denen das Dasein auch mit seinen heutigen Fähigkeiten und Fertigkeiten scheitert, da es sich ja prinzipiell schuldig fühlt. Insgesamt macht dies das Dasein noch verzweifelter, als es sowieso schon ist, so dass Suizidgefahr besteht. Geschieht das Vorstellen früherer Situationen von der Öffentlichkeit aus, dann steigert sich das Dasein immer mehr in Wut aufgrund der empfundenen Ungerechtigkeit, sodass es oft nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheidet und zumindest die Gefahr besteht, dass es in den Wahnsinn abrutscht. Aus diesen Schwierigkeiten kann das Dasein sich erst dann vollständig befreien, wenn es die grundlegende Enttäuschung ausdrücklich verstanden hat, wobei es dabei auf therapeutische Hilfe (Trachten nach Aufschluss, griech. thera = Trachten nach, griech. peutho = Aufschluss) eines Anderen angewiesen ist, der es ausreichend echt und befindlich versteht, also ausreichend liebt, und dabei gleichzeitig humorvoll eine Verbindung zur Welt herstellt wie die ideale Mutter in der frühen Mutter-Kind-Beziehung. Dann irrt das Dasein nicht mehr durch die „Bereiche“ von Privatheit, Öffentlichkeit und Fiktion, sondern hat in der räumlichen Ekstase der Prozesshaftigkeit endlich einen Stand gefunden, von dem aus es sich ohne diese Hypothek aus der Vergangenheit weiter entwickeln kann in Richtung Liebe und Erfüllung.

Wenn man dieses Denkmodell von Matussek auf die Philosophie selbst anwendet, so kann man sagen, dass der Materialismus die Tendenz hat, sich vor allem auf die Öffentlichkeit zu konzentrieren, während der Idealismus mehr die Privatheit in den Blickpunkt nimmt. Von daher müssten idealistische Philosophen mehr zur Depressivität und zum Suizid neigen, während die materialistischen sich eher versteigen, verschroben wirken und öfter wahnhaft werden. Wenn man die Entwicklung des Kommunismus betrachtet, so wurde er als „real existierender Sozialismus“ in gewisser Weise immer wahnhafter und musste aus diesen Gründen früher oder später scheitern.

Tabellen Bearbeiten

Tabelle zu den Sorgemomenten:

Sorgemomente Uneigentliche Form Eigentliche Form Primäre Ekstase
Ergriffenheit und Erwartung als Sorge insgesamt Streben nach Ruhe und Kontrolle (Abhängigkeit) Streben nach Liebe und Erfüllung (Angewiesenheit) Gesamte Entwicklung
Befindlichkeit Zweideutige Übertragung, Ausweichen vor der Selbstwahl Achtsame Übertragung, Annehmen der Selbstwahl Gewesenheit, Herkunft
Verstehen Neugier, Beschäftigung mit Unbedeutendem oder Unerreichbarem Verstehen des Schuldigseinkönnens und der Sterblichkeit Zukunft
Rede Gerede, kein Begreifen der eigenen Situation und der eigenen Bedürfnisse und des Zusammenhangs von Anfang und Ende Begriffliches Zusammenhalten von Geworfenheit bzw. Individualität und Schuldigseinkönnen bzw. Sterblichkeit Gegenwart, Ankunft
Auslegung/Austausch, Umgang mit Enttäuschungen Unverständlicher Ausdruck bzw. Verschrobenheit, Versessenheit, Verfallen und Festhalten an Täuschungen Verständlicher Ausdruck und Annahme seiner Konsequenzen, entschlossenes Annehmen von Enttäuschungen Räumlichkeit, Auskunft

Tabelle zu den vier Ekstasen:

Ekstase Uneigentliche Form Eigentliche Form Schema
Gewesenheit, Herkunft Selbstvergessen, Verantwortungslosigkeit Sich-Zurückbringen zum Anfang Zurück-auf-sich, Wovor/Woran
Zukunft Warten auf die Welt, Ansprüche Vorlaufen zum Ende bzw. zum Tod Auf-sich-zu, Umwillen seiner
Gegenwart, Ankunft Augenblickloses Entspringen Sich-Halten im begriffenen Augenblick Bei-sich-an, Um-zu seiner Bedürfnisse
Räumlichkeit, Auskunft Aufenthaltlosigkeit Eigentliche Entschlossenheit, ständige Bereitschaft, sich neu zu entschließen An-sich-heran und Aus-sich-heraus, Dass-und-Wie

Literatur Bearbeiten

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Wikipedia, deutsch, Stichwort Humor. Vom 05.12.2011