Hans Castorps Schneetraum: Pathographisches

Vordergründig ist der Gedankentraum ein Zugeständnis an den Zeitgeist. Auf einer zweiten, keineswegs nachgeordneten Bezugsebene teilt der 48-jährige Thomas Mann die Bewältigung seiner bis dahin wiederkehrenden suizidalen Anfechtungen mit, wie oben in dem Abschnitt Der Lebensbefehl schon ausgeführt wurde.

Depressive Episoden hat Thomas Mann im Winter 1900 auf 1901 und im November 1913 durchlebt. Mitteilungen darüber waren aus den Briefen an Heinrich Mann eingangs zitiert worden. Auch sonst scheinen leichte rezidivierende depressive Störungen (ICD 10) aufgetreten zu sein. "Aber ich war in den letzten acht Tagen so elend, daß ich mich zu den kleinsten Geschäften untauglich fühlte. Das kommt alle acht oder zehn Wochen mal vor." [1]

Ausführlich dokumentiert hat Thomas Mann eine depressive Erkrankung im Frühjahr 1933, ausgelöst durch die Emigration. Auf den Fotos dieser Zeit ist er abgemagert, Mimik und Haltung zeigen nicht mehr die gewohnte repräsentierende Selbstsicherheit. Die Tagebucheintragungen beschreiben depressive Kernsymptome : Stimmungseinengung, Energiedefizit, Unruhe als Leibgefühl (innere Unruhe) sowie Tagesschwankungen in Form von Schlafverkürzung und Morgentief. Zusätzlich traten Panikattacken auf.


Auszüge aus dem Tagebuch Thomas Manns vom Frühjahr 1933

Mittwoch, den 15.03.1933

Heute Morgen bin ich, wie übrigens meistens am Morgen, frei von dem krankhaften Grauen, das mich seit zehn Tagen stundenweise, bei überreizten und übermüdeten Nerven beherrscht. Es ist eine Art von angsthaft gesteigerter Wehmut, die mir in gelinderem Grade von vielen Abschiedserlebnissen her vertraut ist. Der Charakter dieser Erregung, die neulich nachts, als ich zu K. meine Zuflucht nahm, zu einer heftigen Krisis führte, beweist, daß es sich dabei um Schmerzen der Trennung von einem altgewohnten Zustand handelt, um die Erkenntnis, daß eine Lebensepoche abgeschlossen ist und daß es gilt, mein Dasein auf eine neue Basis zu stellen.

Donnerstag, den 16.03.1933

Obgleich ich leidlich geschlafen [habe], waren heute vom Erwachen an meine Nerven in schlechtem, beängstigtem Zustande.

Sonnabend, den 18.03.1933

Geschlafen bis heute ½6 Uhr. Nach dem Erwachen zunehmender Erregungs- und Verzagtheitszustand, krisenhaft, von 8 Uhr an unter K[.]‘s Beistand. Schreckliche Excitation, Ratlosigkeit, Muskelzittern, fast Schüttelfrost u. Furcht, die vernünftige Besinnung zu verlieren. Unter dem Zuspruch K.’s, mit Hilfe von Luminaletten u. Kompresse langsame Beruhigung.

Freitag, den 31.03.1933

Neue erregte Depression. Nahm gegen 5 Uhr Evipan und schlief dann noch. K. war bei mir u. ließ die Verbindungstür offen. Wieder glänzend heller, frisch-dunstiger Morgen. Aber die Nerven sind wieder beklemmender u. bedrängter als in den letzten Tagen.

Dienstag, den 04.04.1933

Der Schlaf hat ohne Nachhilfe keine rechte Ausdauer, ich erwache zu früh bei großer Müdigkeit am Abend.

Sonnabend, den 08.04.1933

Brom [bromhaltiges Schlafmittel]. Müde, niedergeschlagen.

Sonntag, den 09.04.1933

Nicht möglich, mich zur energischen Beschäftigung mit dem Roman zu zwingen. Ich „arbeite“ an diesen Aufzeichnungen. […] Der Ruhe-Genuß der ersten Tage dieses Aufenthalts scheint dahin. Meine Nerven sind wieder gespannter, erregter.

Oster-Sonntag, den 16.04.1933

Erwachte bald in Erregungszustand, nahm Phanodorm u. kam dann leidlich zur Ruhe.

Oster-Montag, den 17.04.1933

Unruhige Nacht. Wiederkehr der Neigung zur Erregungs- und Beängstigungszuständen. Ausweglosigkeit in der Paß-Angelegenheit. [ Der deutsche Pass war abgelaufen und der Patient hielt sich in der Schweiz auf.]

Donnerstag, den 20.04.1933

Nervöse Erregtheit, Übelbefinden. Unruhig-schwerer und schlechter Schlaf.

Sonnabend, den 22.04.1933

Man schläft zu wenig. Morgens nervös und ängstlich. Nach dem Frühstück gearbeitet, aber vorwiegend abschriftlich.

Sonntag, den 23.04.1933

Besser geschlafen. Das Wetter lau und kalt. […] Leichtere, hellere und frischere Stimmung.

Montag, den 24.04.1933

Unausgeschlafen. Unruhe wegen des langen Ausbleibens des Handkoffers mit Papieren. Notwendigkeit, den Paß aus Bern wieder herbeizuschaffen. Blau und kühl. Ich arbeite etwas. Mittwoch, den 26.04.19933 Nervös, müde, verstimmt.

Donnerstag, den 27.04.1933

Mit Hülfe von Phanodorm gut geschlafen. Wird es nach dem gestrigen schlimmen Tag wieder ein wenig besser?

Sonntag, den 30.04.1933

Starke nervöse Erschöpfung. [...] Morgens sehr nervös - entsetzte und schaurige Stimmung. [...] Schwere, entnervte und von Sorgen gequälte Reise mit Anfällen von Beängstigung, die größter Müdigkeit wichen.

Montag, den 01.05.1933

Nervöse Erschöpfung, die sich auf dem Zimmer [Hotelaufenthalt] durch Rasieren und Alleinsein besserte.

Dienstag, den 02.05.1933

Ich konnte nicht schlafen bis 3 Uhr, gequält von Altem u. namentlich von der Affaire des Koffers hinter der mörderische Tücke lauert. [Der Koffer enthielt die Tagebücher aus dem frühen Erwachsenenalter des Schriftstellers und war auf dem Postweg aus Hitlerdeutschland in die Schweiz unterwegs.]

Donnerstag, den 04.05.1933

Mit Phanodorm recht gut geschlafen, aber sehr angegriffen.

Freitag, den 05.05.1933

Ich war sehr müde, schlief aber doch nicht ohne Phanodorm ein.

Dienstag, den 09.05.1933

Unruhig geschlafen, viel wach und halb wach gelegen.

Freitag, den 12.05.1933

Ich erwachte früh u. kam die letzten beiden Stunden vor 8 Uhr nicht mehr zum Schlafen.

Sonnabend, den 13.05.1933

Mit Phanodorm geschlafen. .Sonntag, den 14.05.1933 Ohne Mittel leidlich geschlafen, wenn auch zu früh erwacht.

Freitag, den 19.05.1933

Flottere Arbeit. [...] Man ging spazieren und machte kleinere Einkäufe.Bei der Heimkehr fand ich den konfiszierten Handkoffer, sehr schwer, in meinem Zimmer vor. Die Münchener Verpackung scheint unberührt. Offenbar hat das Stück wochenlang, angehalten aber unangetastet in Lindau gelegen.

Dienstag, den 23.05.1933

Wie täglich versuche ich vorwärts zu arbeiten. Aber die Mitgenommenheit meiner Nerven äußert sich in großer Schlaffheit und Trägheit, die über den guten Willen, mit dem ich [mich] nach dem Frühstück niedersetze, nach wenigen Zeilen den Sieg davonträgt. Immer besteht auch die Neigung zu depressiver Erregung fort.


Ab Juni werden keine weiteren depressiven Symptome notiert. Die reaktiv ausgelöste somatische Depression, bei der auch Panikattacken aufgetreten sind, ist folgenlos abgeklungen.

Ihrer Gewichtung nach dürfte es sich um eine mittelschwere depressive Episode (ICD 10) gehandelt haben. Thomas Mann konnte in den Abendstunden noch Tagebuch führen, aber nicht mehr schriftstellerisch arbeiten. Bei einer schweren depressiven Episode nach ICD 10 wäre ihm selbst Tagebuchführen nicht mehr möglich gewesen.

Ätiologisch bestand eine familiäre Disposition. Beide Schwestern Thomas Manns haben sich suizidiert, ebenso die Söhne Klaus und Michael. Golo Mann – so Klaus Jonas´ Mitteilung an den Autor - habe unter Depressionen gelitten und ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen.

Ausgelöst bei solcher Anlage und Vorgeschichte wurde die depressive Erkrankung im Frühjahr 1933 durch die abrupte Entwurzlung. Diesen Schock hat er 1945 im Rückblick das Herzasthma des Exils, den nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit genannt.[2]

Erschwerend kam damals die Sorge hinzu, seine Tagebücher, die in Deutschland geblieben waren, könnten den Nazis in die Hände fallen. Schließlich gelangten sie doch noch zu ihm ins Exil. Was sie an Bekenntnissen enthielten, lässt sich nicht mehr ermitteln. Bis auf die Jahrgänge 1918 – 21 hat sie Thomas Mann verbrannt. Lückenlos erhalten sind die Tagebücher wieder ab 1933.


Verweise und Anmerkungen

  1. Thomas Mann am 27.11.1906 an Ida Boy-Edd.
  2. Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe.


weiter
Inhaltsverzeichnis
zurück