Hans Castorps Schneetraum: Vier mythische Bilder

Hans Castorp, ein junger Mann aus Hamburg und Patient in dem Davoser Lungensanatorium, das Schauplatz des Romans ist, unternimmt eines Tages einen Skiausflug ins Hochgebirge. Dort gerät er in einen lebensbedrohlichen Schneesturm, verliert die Orientierung und muss das Unwetter im Windschatten eines Heuschobers abwarten. Er schläft ein, nachdem er einige Schluck Portwein zu sich genommen hat, „die sofort ihre Wirkung zeitigten“, und träumt. Der Traum zerfällt in zwei Teile: Anfangs träumt Hans Castorp in Bildern, danach gerät der Traum zu einem inneren Monolog. Thomas Mann trennt zwischen „Bildertraum“ und „Gedankentraum“.

Heimat

Der Bildertraum besteht aus einer Folge von vier mythischen Bildern. Mit dem Übertritt vom Wachdenken in seine Schlaferlebnisse sieht Hans Castorp plötzlich Laubbäume in vollem Blätterschmuck, sacht mit den Wipfeln rauschend. Er atmet ihren Duft und schwärmt: „Oh Heimatodem, Duft und Fülle des Flachlandes, lang entbehrt.“ Ein Regenschauer geht nieder und es entsteht ein Regenbogen, der einen Szenenwechsel einleitet.

Paradiesische Gefilde

Die Landschaft öffnet sich „in wachsender Verklärung“. Der Träumer sieht ein Meeresgestade, eine wunderschöne Bucht, „eine Seligkeit von Licht, von tiefer Himmelsreinheit“. Bevölkert wird die Szenerie von Jugend beiderlei Geschlechts: „Sonnen- und Meereskinder“ nennt sie Hans Castorp. Jünglinge, auf deren goldbrauner Haut die Sonne spielt, widmeten sich fröhlich ihren Pferden, andere üben sich im Bogenschießen. Eine Flötenspielerin mit über dem Nacken antikisiernd hochgebundenem Haar musiziert ihren Gefährtinnen, die ein Reigentanz vereint. Tief beeindruckt ist Hans Castorp von der großen Freundlichkeit und höflichen Rücksicht, mit der die Sonnenleute miteinander umgehen, ernst und heiter zugleich, in „verständiger Frömmigkeit“.

Sein Blick fällt auf eine junge Mutter, die ihr Kind stillt. Die Vorübergehenden grüßen sie „durch das nicht allzu genaue Andeuten einer Kniebeugung, ähnlich dem Kirchenbesucher, der im Vorübergehen vorm Hochaltar sich leichthin erniedrigt.“ Die Figur der jungen stillenden Mutter und die förmlichen Ehrerbietungen lassen den Leser an eine Mariendarstellung denken.

Abseits, im Text heißt es: „gelassen abseits“, steht ein schöner Knabe, der die Arme vor der Brust verschränkt hält und dessen volles Haar wie ein Helm wirkt. Selbst reglos, lässt er seinen Blick zwischen Hans Castorp und dem Strandbild hin und her wandern. Doch dann sieht der Knabe an ihm vorbei ins Weite. Seine Miene ändert sich, wird immer ernster, versteinert und nimmt eine unergründliche „Todesverschlossenheit“ an. Es ist Hermes, den Thomas Mann, wie schon in „Der Tod in Venedig“, wieder auftreten lässt.[1] Aufgabe der der wegweisenden-Gottheit war im antiken Mythos auch, die Seelen Verstorbener in die Totenwelt zu geleiten. Hans Castorp überkommt angesichts dieser „Todesverschlossenheit“ „der blasse Schrecken“, „nicht ohne eine unbestimmte Ahnung ihres Sinnes“. Er wendet sich rückwärts und das dritte mythische Bild tut sich auf.

Hades

Hans Castorp steht vor den Säulen eines antiken Tempels. Er betritt ihn und gewahrt eine steinerne Gruppenplastik, „Mutter und Tochter, wie es schien“. „In Betrachtung des Standbildes wurde Hans Castorps Herz aus dunklen Gründen noch schwerer, angst- und ahnungsvoller“. Die Thomas Mann-Interpretation sieht in den zwei Frauen Persephone und Demeter. Damit erweist sich das dritte Traumbild als Hades-Besuch. Während die ´Paradiesischen Gefilde´ den Leser eher religiös anmuteten, führt der Tempelbezirk in eine vorreligiöse, mythische Sphäre.

Natur

Durch eine offene Tür blickt Hans Castorp in das Innere der Tempelkammer und wird konfrontiert mit einem allegorischen Bild der Natur: Zwei graue, zottelhaarige Weiber, halbnackt und mit „hängenden Hexenbrüsten und fingerlangen Zitzen“, zerfleischen und fressen über flackerndem Feuer ein kleines Kind.[2] Mit Entsetzen wacht Hans Castorp auf, schläft aber gleich wieder ein, ohne die anfängliche Schlaftiefe wieder zu erreichen, und träumt weiter, jetzt „nicht mehr in Bildern, sondern gedankenweise“, in aufgelockerten Assoziationen.


  1. Haack, Hans-Peter: Hans Castorps Schneetraum. Ein autobiographisches Bekenntnis Thomas Manns. Neurotransmitter Juni 2003,S.84
  2. Für seine Personifikation der Natur hat Thomas Mann den bösen Aspekt des Mutterarchetypus (C. G. Jung) gewählt, den der zerstörenden, verschlingenden Mütter.


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