Interview mit Proband 2 (Moslem)

JR: Wie alt bist du?

PB2: 30.

JR: Was ist deine religiöse und kulturelle Herkunft?

PB2: Türkisch-muslimisch, jedoch nicht streng religiös.

JR: Wurdest du daheim religiös erzogen? Und spielt für deine Eltern Religion eine große Rolle.

PB2: Nein. Eher am Rande, eher als Teilaspekt einer kulturellen Grundhaltung.

JR: Hast du dich vor deinen Eltern und deiner Familie geoutet? Wenn ja, wie haben sie darauf reagiert?

PB2: Meine Eltern wissen es nicht. Für meinen Vater wäre es eine große Schande. Für meine Mutter eine große Bürde; sie würde sich die Schuld dafür geben und in Selbstmitleid und Scham verfallen. Meine Schwester weiss es und geht gut damit um - wobei ihr schon wichtig ist "dass die Leute nichts mitbekommen."

JR: Hast du Angst dich zu outen oder hast du es jemals in Betracht gezogen?

PB2: Es ist keine Angst in dem Sinne, dass ich vor der Situation an sich wahnsinnige Angst hätte. Eher vor den Folgen für meine Eltern und der Tatsache, dass es unsere Verbindung negativ beeinflusst. In Betracht gezogen habe ich das Ganze natürlich...doch irgendwann wurde mir klar, dass sich meine Eltern niemals damit produktiv auseinander setzen könnten. Für keinen von uns hätte es einen Mehrwert. Deshalb habe ich die Entscheidung getroffen, mein Leben für mich zu genießen und meine Familie von allzu privaten Dingen fern zuhalten. So oder so ist das Resultat traurig...um meine Eltern vor Dingen zu schützen, die ihnen schaden würde, halte ich sie auf Abstand. Allein das muss schon sehr viel Schmerz verursachen. Dies bezüglich denke ich oft an meine Mutter.

JR: Danke für diese ehrliche Antwort. Wäre es für deinen Vater aus religiösen und kulturellen Gründen eine Schande?

PB2: Ich denke da lassen sich die türkische Kultur im Sinne einer allgemein gängigen und gültigen Lebensart für viele Menschen, die sich als türkisch identifizieren, und der Islam als spirituell-ethische Lebensmaxime nicht getrennt voneinander betrachten. Beides wurzelt für mich in einer Mentalität, die auf Heteronormativität, Traditionalismus und patriarchalen Denkmustern zurückzuführen ist. Kann man meinen Vater als Vertreter dieser Geisteshaltung charakterisieren? Mit Sicherheit.

JR: Hattest du oder hast du auch heute noch das Gefühl, dass du im Kreise der Leute, die nichts von deiner Homosexualität wissen, nicht du selbst bist und du deine Persönlichkeit verstellen oder verstecken musst?

PB2: Klar. Ich weiss nicht wie andere Betroffene damit umgehen...aber für mich ist es bis heute so, dass ich in solchen Situation nur ungefähr 15 gefühlte % meiner wahren Persönlichkeit zeige. Dabei verstelle ich mich nicht, ich bin dann eher wie substanzlos. Ein Flickenteppich an Leerstellen. Ich muss auf alle Familienmitglieder, Verwandte und Bekannte, die meine wahre Identität nicht kennen, entweder sehr mysteriös oder sehr langweilig wirken. Weil so vieles im Argen liegt. Ich meine, stell dir mal vor in wie vielen Lebensaspekten sich meine Homosexualität spiegelt....Mein Freund, schwule Freunde, Dinge, die mir täglich passieren, evtl. Dinge, die mich interessieren...das alles kann dann nicht kommuniziert werden...Es bleibt eine Leerstelle.

JR: Vielen Dank für deine Ehrlichkeit.