Kurs:CSCL/Group Cognition
Grundidee: "Building knowing"
BearbeitenStatt "Lernen" verwendet Gerry Stahl den Begriff "building knowing". Er nimmt in seiner Theorie eine konstruktivistische Sichtweise auf den Lernprozess ein. Das bedeutet, dass er nicht davon ausgeht, dass man objektives Wissen aus beispielsweise Texten oder Vorträgen aufnimmt. Sondern der Lernende bringt das neue Wissen mit seinem bereits vorhandenen Wissen in Verbindung, interpretiert es anhand dessen und lernt in Interaktion mit seiner Umwelt und Diskussion mit anderen Lernenden und Lehrenden. Lernen ist also kein passives Wissenaufnehmen, sondern aktives Wissenerarbeiten. Wissen wird in diesem Sinne konstruiert.
Bei dem Konzept der Group Cognition ist die Idee, dass die Gruppe etwas schaffen kann, das die einzelnen Individuen nicht geschafft hätten. Die Leistung kann auch nicht von einem oder mehreren Individuen der Gruppe erbracht werden, sondern nur von der Gruppe als Ganzes. Dabei ist die Idee, dass eher Praktiken gelernt werden (implizites/ prozedurales Wissen) und es weniger um den Erwerb von Faktenwissen (explizites Wissen) geht. Anders als in der traditionellen Sichtweise von Lernen, in der der Fokus auf dem Individuum liegt, ist hier der soziale Aspekt wichtig. Die Gruppe soll dabei ein neues Verständnis zu einem gewissen Thema erwerben und neue Bedeutungen lernen, die möglicherweise außerhalb der Gruppe eine andere Bedeutung haben. Stahl spricht explizit von einer "social theory of learning" und grenzt sie damit von Theorien ab, die psychologische bzw. mentale Prozesse in den Fokus stellen.
Erklärung im Detail
BearbeitenIndividuelles Wissen und Gruppenwissen
BearbeitenSowohl individuelles Wissen, als auch Gruppenwissen sind wichtig und beeinflussen sich gegenseitig. Einzelne Gruppenmitglieder tragen etwas von ihrem Wissen bei und andere können ihr eigenes Wissen ergänzen oder Äußerungen gegebenenfalls korrigieren. So erreichen die einzelnen Individuen in der Gruppe gemeinsam eine neue Ebene von Verständnis bzw. eine neue Qualität in bestimmten Arbeitsabläufen (z.B. Textanalyse). Das spiegelt sich wieder in der Tatsache, dass bestimmte individuelle Äußerungen nur in der Gruppe einen Sinn ergeben, da die Beiträge aufeinander aufbauen und sich aufeinander beziehen.
Aufgaben sollten nach diesem Konzept nicht auf Einzelne aufgeteilt und dann zusammengetragen werden, sondern von der Gruppe als Ganzes bearbeitet werden. Und dies am besten in kleinen Gruppen.
Bedeutung und Interpretation
BearbeitenJedes Objekt in der Umgebung hat sofort eine Bedeutung für den Betrachter. Es gibt nicht zuerst einen Input von Pixeln, der dann interpretiert wird, sondern man sieht beispielsweise sofort ein Haus oder ein Fenster. Aber nicht jeder interpretiert das Wahrgenommene gleich, d.h. nicht jeder gibt ihm sofort die gleiche Bedeutung. Aus dieser Divergenz kann Kreativität entstehen, da sie den einzelnen Gruppenmitgliedern die Möglichkeit gibt, die Thematik aus unterschiedlichen Aspekten zu beleuchten. Wenn die Divergenz jedoch zu groß wird, kommt es zum Zusammenbruch der Kommunikation und die Gruppenmitglieder müssen über eine gemeinsame Wissensbasis verhandeln.
Aus diesem Verhandeln der Wissensbasis folgt auch der Begriff der Synergie der Kollaboration, d.h.verschiedene Perspektiven werden diskutiert, interagieren und führen so zu neuen Ergebnissen. Das, was gesagt wird, ist zunächst offen für Interpretation und nicht eindeutig. Im Lauf der Interaktion wird jedoch geklärt, was der Sprecher mit seiner jeweiligen Aussage gemeint hat, indem die anderen Gruppenmitglieder mögliche Interpretationen in ihren Antworten ansprechen und der andere die Möglichkeit hat, sie zu korrigieren und seine Aussage näher zu erklären. Eine gemeinsam erarbeitete Bedeutung gilt für die ganze Gruppe gleichermaßen, man "einigt" sich auf eine Bedeutung, entwickelt eine Bedeutung, die für alle gilt. Die daraus resultierenden Interpretationen sind dagegen individuell, jeder einzelne kann die gültige Bedeutung individuell interpretieren.
Abgrenzung zum transaktiven Gedächtnis
BearbeitenDie Theorie zum transaktiven Gedächtnis legt im Gegensatz zur Theorie der Groupcognition ihren Fokus insbesondere auch auf das individuelle Wissen der einzelnen Beteiligten und auf die Verknüpfung dieses Wissens über mehrere Personen hinweg. Da beide Theorien Gruppenprozesse und Lernen beschreiben können, wäre es Interessant die Schnittmenge der beiden Theorien herauszuarbeiten und zu gucken, ob die Theorien die gleichen oder unterschiedliche Vorhersagen über den Wissenserwerb in Gruppen machen.
Beispiel: Beobachtung im Klassenzimmer
BearbeitenStahl veranschaulicht den Prozesse des "building knowing" anhand eines Beispiels aus seiner Forschung: Eine Gruppe von Schülern soll aus einer Gruppe von Raketen, diejenige mit den besten Flugeigenschaften herausfinden. Implizites Ziel ist es, den Schülern die Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens beizubringen. In diesem speziellen Fall, dass um bedeutsame Aussagen über den Vergleich zweier Möglichkeiten machen zu können, immer nur ein Merkmal variiert werden sollte.
Mithilfe eines PC-Programms können die Schüler Eigenschaften wie Nasenform, Größe, Antriebsstärke, Form,... variieren und am Computer simulieren. Nach einer Weile erfolglosen Probierens setzt der Lehrer mit einer rhetorischen Frage: "Gibt es wirklich kein Paar mit gleichem Antrieb und unterschiedlicher Nasenform?" den Prozess des "building knowing" in Gang. In den Einzelkommentaren des Beobachtungsprotokolls wird deutlich, dass die Schüler im Anschluss sich gegenseitig weiterhelfend, eine vorhandene Liste im Programm entdecken, die die geforderten Vergleiche enthält. Sie entwickeln dabei ein eigenes Konstrukt von Bedeutungen und Bezeichnungen und erarbeiten sich dadurch in der Gruppe, die vom Lehrer gewünschte Erkenntnis.
Beispiele aus der Praxis
Bearbeiten- Stahl entwickelte und prüfte einen großen Teil seiner Ideen im Rahmen des VMT (Virtual Math Team) Projektes. 2003, zu Beginn des fünfjährigen Forschungsprojektes entwickelten er und sein Team an der Drexel University in Philadelphia eine Onlineplattform zur Lösung mathematischer Probleme. Gruppen von Studenten aus aller Welt trafen sich in Chatrooms, um im direkten Austausch unter Verwendung eines "white boards" zur Visualisierung, gemeinsam mathematische Probleme zu bearbeiten. Zentrale Erkenntnisse im Bereich der Group Cognition und des CSCL Lernens gewannen Stahl und sein Team dabei aus der Analyse der Chatprotokolle und Lösungsskizzen. Das Projekt bildet die Grundlage einer Reihe wissenschaftlicher Arbeiten, sowie des 2009 erschienenen Buches "Studying Virtual Math Teams".
Weitere Beispiele:
- das gemeinsame Übersetzen eines Fremdsprachentextes: Verschiedene Wortbedeutungen/Übersetzungsmöglichkeiten diskutieren, Grammatikstrukturen erkennen
- das Lösen von "Black Stories"
- Verständnis taktischer Situationen bei Spielsportarten
Bezug zu CSCL
BearbeitenWenn man genau analysiert, wie Gruppen kommunizieren und zu einer neuen gemeinsamen Bedeutung kommen, so kann man dieses Wissen auf die Gestaltung von Lernplattformen anwenden. Man untersucht also, wie die Plattform aufgebaut sein soll, welche Funktionen die Gruppendiskussion unterstützen und welche vielleicht eher hinderlich sind. Ein Vorteil von CSCL in diesem Zusammenhang könnte es sein, dass alle Ideen leicht dokumentiert und gespeichert werden können und es somit leicht möglich ist später noch einmal nachzulesen, wie man zu dem Ergebnis gelangt ist. Durch dieses leichte Nachlesen kann auch besser erforscht werden, wie die Gruppen neues Wissen entwickeln, indem man die Gruppendiskussionen analysiert. Auch wenn die Gruppe einmal "festhängt", könnte sie noch einmal einen Schritt zurückgehen und von da aus versuchen, weiterzukommen. Andererseits fehlen hier die Merkmale direkter Gruppeninteraktion, wie Gestik und Mimik oder die Intonation des Gesagten, was bei einer Face-to-face-Interaktion ebenfalls zur Gruppenkommunikation beiträgt.
Literatur
BearbeitenStahl, G. (2006). Group Cognition: Computer Support for Building Collaborative Knowledge. (Kapitel 15)
Das Buch von Gerry Stahl über Group Cognition gibt es komplett online: http://www.cis.drexel.edu/faculty/gerry/mit/
Blog von Gerry Stahl mit Infos aus der CSCL-Community: http://cscl-community.blogspot.com/