Kurs:Gewöhnliche Differentialgleichungen/Differentialgleichungen
1.1 Differentialgleichungen
BearbeitenAls Differentialgleichung bezeichnet man eine Gleichung, in welcher eine unbekannte Funktion sowie deren Ableitungen auftreten. Eine solche Gleichung stellt einen Zusammenhang zwischen dem Ablauf eines bestimmten Prozesses, beschrieben durch die gesuchte Funktion, und der Veränderung des Prozesses im Raum oder Zeit dar. Differentialgleichungen treten oft dann auf, wenn man einen physikalischen, chemischen, biologischen oder gesellschaftlichen Prozess mathematisch modellieren möchte. Unter der physikalischen Herleitung einer Differentialgleichung versteht man die Übersetzung physikalischer Gesetze in die mathematische Sprache: in eine Differentialgleichung oder in ein System von mehreren Differentialgleichungen.
Wenn die gesuchte Funktion nur von einer Variable abhängt, also , d.h. der modellierte Prozess beispielsweise nur von der Zeit abhängig ist, spricht man von einer gewöhnlichen Differentialgleichung. Ist die gesuchte Funktion von mehreren Variablen abhängig, beispielsweise von räumlichen Koordinaten , oder noch zusätzlich von der Zeit , also , nennt man die Differentialgleichung, partielle Differentialgleichung. Hier treten nun partielle Ableitungen der Funktion nach und auf.
Beispiel 1.1 (Traktrix, Leibniz 1693).
BearbeitenWir betrachten eine Kettenuhr mit Kettenlänge , die auf einem Tisch liegt, so dass ihre Kette am Anfang orthogonal zur Tischkante liegt. Das Ende der Kette wird langsam entlang der Tischkante gezogen. Welche Kurve durchläuft die Uhr? (Hier kann der Radius der Uhr vernachlässigt werden, sodass die Position der Uhr durch ihren Mittelpunkt beschrieben werden kann)
Lösung:
Abbildung 1.1: Approximation der Kurve der Uhrkette durch expliziten (vorwärts-) Zugang
Die unbekannte Position der Uhr zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben wir mit der Funktion . Hier entspricht der Anfangszeit (zum Beispiel ) und der Endzeit unserer Beobachtung. Die Tischkante, die am Anfang orthogonal zur Uhrkette stand, repräsentiert die -Achse. Die angespannte Uhrkette repräsentiert die Tangente zu der gesuchten Kurve . Da diese stets die gleiche Länge hat, nennt man die gesuchte Kurve auch Equitangentialkurve (Traktrix). Die Lage der Uhr ist skizziert in Abbildung 1.1.
Wir bezeichnen mit den Schnitt der Uhrkette mit der Achse und mit die Position des Mittelpunktes der Uhr zur Zeit . Dann gilt für einen Zeitpunkt unter der Betrachtung des Dreiecks
Nun betrachten wir die Lage der Kette in einem weiterem Zeitpunkt , wobei . Wenn wir ausreichend klein wählen, liegt der Mittepunkt der Uhr zur Zeit ungefähr an der Hypotenuse , d.h. in . Aus der Ähnlichkeit der Dreiecke und ergibt sich dann
Die Nulladdition von im Zähler der rechten Seite obiger Gleichung und die Multiplikation mit ergibt dann , und schließlich erhalten wir
Da die Funktion unbekannt ist, soll sie aus der obigen Gleichung eliminiert werden. Dies ermöglicht jedoch die Gleichung (1.1). Nach der Verallgemeinerung des Vorgehens vom Zeitpunkt zum Zeitpunkt , in dem wir ausgehend vom die Lage der Uhr zur Zeit bestimmen, erhalten wir die Gleichung
Der Grenzübergang mit gegen 0, also in (1.2) führt (unter der Vorrausetzung dass die gesuchte Kurve durch eine differenzierbare Funktion beschrieben werden kann) schließlich zu folgender gewöhnlichen Differentialgleichung:
die mit der Anfangsbedingung versehen ist. In dem oben beschriebenen expliziten Lösungsansatz haben wir die zukünftige Lage der Uhr anhand der gegenwärtigen Lage approximiert. Dieser Zugang spiegelt sich auch in der Gleichung (1.2) wieder; nach dem Auflösen nach stellt diese Gleichung ein Iterationsverfahren dar, wobei man jede neue Position der Uhr aus der alten Lage bestimmen kann:
Abbildung 1.2: Approximation der Kurve der Uhrkette durch impliziten (rückwärts-) Zugang
Ein anderer Lösungszugang wäre ein impiziter Ansatz. Hier würde man die Lage der Uhr rückwärts in der Zeit beschreiben. Ausgehend von der zukünftigen Lage der Uhr (in ) die gegenwärtige Lage (in ) bestimmen. In dieser Situation (siehe Abbildung 1.2) würde man das Dreieck betrachten und die vorherige Lage der Uhr auf der Verlängerung der Hypotenuse , d.h. im Punkt suchen. Aus der Ähnlichkeit der Dreiecke und ergibt sich in diesem Fall
Unter Anwendung von , siehe Dreieck , folgt schließlich nach der Verallgemeinerung für alle Schritte
Um den neuen Wert zu erhalten, muss man die nichtlineare Gleichung (1.4) nach auflösen. Das ist im allgemeinem Fall ein schwieriges Problem und wird in der Praxis mit einem iterativen Verfahren gelöst (Newton-, Bisektion-, oder Sekantenverfahren).
Die Lösungsformeln (1.2), (1.4) stellen eine numeriche Approximation der Differentialgleichung (1.3) für die Equitangentialkurve dar. Die Formel (1.2) kann man auch erhalten, in dem man die Gleichung (1.3) in diskreten Zeitschritten auswertet, wobei man die Ableitung in jedem mit einer vorwärts genommenen Differenz approximiert, . Die Formel (1.4) erhält man analog durch Einsetzen von in (1.3) und das Ersetzen der Ableitung mit der rückwarts genommenen Differenz . Die Lösungen von (1.3), (1.2) und (1.4) stimmen (im allgemeinen) nicht überein. Man ahnt aber, dass sich die Lösungen dieser Gleichungen mit einander annähern. Um zwischen einer numerischen Annäherung der Lösung und der exakten Lösung zu unterscheiden, bezeichnen wir im folgenden mit die numerische Approximation der exakten Lösung in ,
Traktrix in Geogebra
BearbeitenDie approximative graphische Umsetzung der Traktrix Kurve (expliziter Zugang) finden Sie als Interaktives Geogebra-Applet 1, oder Interaktives Geogebra-Applet 2, (Autor A. Hundertmark).