Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2022-2023)/Teil I/Vorlesung 1

„Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen“
Chinesische Weisheit



Rechengesetze für natürliche Zahlen

Wir geben eine Einführung in typische Fragestellungen, wie sie in diesem Kurs im Mittelpunkt stehen.

  1. Welche Rechengesetze für natürliche Zahlen kennen Sie?
  2. Was bedeuten sie, sind sie inhaltlich einsichtig? Gibt es geeignete Illustrationen, Visualisierungen, Veranschaulichungen?
  3. Gibt es Anwendungen?
  4. Gelten die Gesetzmäßigkeiten auch für andere Zahlbereiche, wie für die ganzen, die rationalen, die reellen Zahlen? Für Polynome?
  5. Warum gelten sie?
  6. Gibt es innerhalb dieser Rechengesetze logische Abhängigkeiten, d.h. kann man die Gültigkeit des einen Gesetzes auf die Gültigkeit eines anderen Gesetzes logisch zurückführen?
  7. Gibt es innerhalb dieser Rechengesetze entwicklungspsychologische, lernpsychologische, didaktische Abhängigkeiten? Gibt es im Lernen und im Lehren der Gesetze eine natürliche Reihenfolge?

Als Rechengesetze wurden genannt (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge):

  • Das Kommutativgesetz, und zwar für die Addition und die Multiplikation. Also die Identitäten
und (hier und im Folgenden für beliebige ).
  • Das Assoziativgesetz, ebenfalls für diese beiden Verknüpfungen, also
und .
  • Die binomischen Formeln, siehe unten.
  • Das Distributivgesetz, also die Beziehung

Auf der rechten Seite verwenden wir die Konvention Punktrechnung vor Strichrechnung, um Klammern zu sparen.

d.h. ist das neutrale Element der Addition.

d.h. ist das neutrale Element der Multiplikation.

  • Die Potenzgesetze, also

wobei gleichzeitig bemerkt wurde, dass dies nicht gleich ist, es gilt also kein Assoziativgesetz für das Potenzieren (beispielsweise ist , aber ).

In diesem Kurs stehen die Fragen von Typ (5) und (6) an erster Stelle, das Warum[1]. Die Frage nach der logischen Abhängigkeit ist eine Frage nach dem Warum, da man versucht, Gesetzmäßigkeiten auf grundlegendere Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Das Zurückführen auf fundamentalere Sachverhalte nennt man argumentieren, begründen, zeigen, ableiten, beweisen. Da man irgendwo anfangen muss, spielen in der Mathematik die Logik, Axiome und Definitionen eine fundamentale Rolle. Die Frage nach dem Warum soll zu einem vertieften Verständnis der Mathematik führen.

(2) ist auch ein wichtiger Punkt, die inhaltliche Bedeutung der Zahlen und die damit ermöglichten Anwendungen sind letztlich der Grund, sich mit Mathematik zu beschäftigen, Rechengesetze vereinfachen Rechnungen, Anwendungen der elementaren Mathematik sind allgegenwärtig.[2] Die logische Abhängigkeit ist zwar in den Einzelschritten unmittelbar einleuchtend, da aber häufig eine Vielzahl an solchen Einzelschritten aufgetürmt werden muss, um zu einer prägnanten Aussage zu kommen, sieht man manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht. In Interpretationen, Veranschaulichungen, Visualisierungen tritt die inhaltliche Bedeutung einer Formel deutlich hervor, zugleich ist es nicht die Formel selbst. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Argumentationsebenen auseinander zu halten. Diese reflexive Fähigkeit zu entwickeln ist ein wesentliches Lernziel. Beispielsweise sind manche Visualisierungen auf den ersten Blick sehr einsichtig, bei genauerem Hinsehen muss man sich aber eingestehen, wie viel an Vorwissen und Vorannahmen eingehen.[3]

Die Fragestellungen (1) und (4) sind auch wichtig, sie stellen aber kein ernstes Problem dar, da die Rechengesetze und sonstige Formeln aus der Schule bekannt sind (sein sollten) und da es letztlich auch nicht so viele gibt. Auch die Formulierungen sind eher einfach, zumindest, wenn man sich auf algebraische Eigenschaften konzentriert, wie sie im ersten Semester im Mittelpunkt stehen (bei der Einführung der reellen Zahlen sieht dies etwas anders aus). Zur Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten gehört das korrekte algorithmische Anwenden (rechnen) in passenden Situationen (3).

Die Fragestellungen in (7) sind auch sehr wichtig, insbesondere in Hinblick auf den angestrebten Beruf. Für die didaktischen Aspekte gibt es einen eigenen einjährigen Kurs (Grundkurs Mathematikdidaktik (BEU)). Mit etwas Wohlwollen - insbesondere, wenn man Begrifflichkeiten, Formulierungen nicht überbewertet und und sich auf das Verständnis konzentriert - erkennt man große Parallelen zwischen der Lern- und Lehrreihenfolge und dem logischen Aufbau der Mathematik.[4] In den Aufgaben werden gelegentlich gewisse didaktische Szenarien angesprochen. Eine gewisse Gefahr liegt darin, die Didaktik bzw. die angebliche berufliche Situation gegen eine fundierte mathematische Ausbildung vorzubringen. Ein Ziel der angestrebten Reflexionsstufe ist es, dies als ein oberflächliches Ausweichmanöver zu durchschauen.

Die Herausstellung der beiden Punkte (5) und (6) gilt für diesen Kurs, ist aber keine Gesamtbewertung über verschiedene Aspekte der Mathematik. Die Mitberücksichtigung der anderen Aspekte schlägt sich an vielen Stellen nieder, ist aber auch eine Aufgabe für die Studierenden.



Beispiel: Die binomischen Formeln

Als Beispiel betrachten wir die binomischen Formeln genauer.

Aus der Schule sind sicherlich die binomischen Formeln bekannt, also die Beziehungen

und

Wir stellen uns die folgenden Fragen.

  1. Für welche gelten diese Formeln?
  2. Gibt es eine Beziehung zwischen ihnen?
  3. Wie wichtig bzw. wie grundlegend sind sie?
  4. Welche Anwendungen haben diese Formeln?
  5. Wie intuitiv sind diese Formeln?
  6. Warum gelten diese Formeln, worauf beruhen sie, wie kann man sie begründen?
  7. Kann man die Gültigkeit der Formeln in einem bestimmten Zahlbereich auf die Gültigkeit der Formeln in einem kleineren Zahlbereich zurückführen?

Was fällt uns dazu ein?

  1. Vermutlich kann man sich an keine Einschränkung erinnern, die Formeln gelten für alle „Zahlen“, also für natürliche Zahlen, ganze Zahlen, rationale Zahlen, reelle Zahlen.[5] Dennoch kann es große Unterschiede geben, wie man jeweils die Gültigkeit der Formeln beweist. Etwas sonderbar ist allerdings schon, dass man die zweite binomische Formel explizit formuliert, wenn die erste für beliebige ganze Zahlen gilt.
  2. Denn dann kann man ja das in der zweiten binomischen Formel als schreiben und erhält unter Verwendung von einfachen Rechengesetzen für
    und so ergibt sich die zweite binomische Formel unmittelbar aus der ersten. Die zweite ist also als eigene Regel überflüssig, wenn man negative Zahlen zur Verfügung hat und mit ihnen umgehen kann. Wenn man hingegen nur mit den natürlichen Zahlen arbeitet, so kann man den Trick von eben nicht anwenden und die zweite binomische Formel braucht die zusätzliche Voraussetzung, dass ist, da sonst (in ) nicht definiert ist. Aber auch im Fall von natürlichen Zahlen kann man die zweite Formel auf die erste zurückführen. Dazu berechnen wir
    Dabei haben wir im ersten Schritt einfach das kompliziert geschrieben, im zweiten Schritt die erste binomische Formel angewendet, dann (distributiv) ausmultipliziert und zusammengefasst. Eine einfache Umstellung (siehe die Abziehregel) ergibt nun
  3. Sie kommen häufig in der Schule vor, doch welche Schlussfolgerung kann man daraus ziehen? Vielleicht sind ja eigentlich wichtigere Sachen für die Schüler und Schülerinnnen (oder die Lehrer und Lehrerinnen) zu schwierig? Keine Panik, so ist es nicht, man kann viel über die Gewichtung von Schulstoff diskutieren, aber völlig abwegig ist die Stoffauswahl nicht. Eine andere Frage ist die nach grundlegend. Wir haben gerade gesehen, dass man die zweite binomische Formel auf die erste binomische Formel zurückführen kann. Vielleicht stecken grundlegendere Sachverhalte hinter diesen Formeln? (Siehe 6.)
  4. Die binomischen Formeln haben eine Vielzahl von Anwendungen. Da ist zunächst die Anwendung bei der Multiplikation von natürlichen Zahlen und speziell beim Quadrieren. Beispielsweise berechnet man

    oder

    Weiterhin spielt es beim quadratischen Ergänzen bzw. dem Lösen quadratischer Gleichungen eine herausragende Rolle. Es verallgemeinert sich auf allgemeinere algebraische Strukturen (kommutative Halbringe) und auf höhere Potenzen, also Ausdrücke der Form , siehe die allgemeine binomische Formel.

  5. Die erste binomische Formel kann man sich einfach durch Flächeninhalte wie im Bild veranschaulichen.

    Dies erfordert natürlich Grundkenntnisse über Flächeninhalte von Rechtecken, was letztlich mathematisch ein deutlich schwierigeres Konzept als das rein arithmetisch-algebraische Konzept der binomischen Formel ist. Es ist eine wichtige Bemerkung und ein Lernziel im Mathematikstudium, dass man das Intuitiv-anschauliche vom Logisch-mathematischen trennen und ihre jeweilige Bedeutung einordnen kann. Beides ist wichtig. Für das mathematische Argumentieren ist aber das zweite das entscheidende.

  6. Die binomischen Formeln (und zwar alle drei) sind in allen Rechenbereichen, in denen sie gelten, Spezialfälle des Distributivgesetzes und des Kommutativgesetzes für die Multiplikation. Ersteres besagt für beliebige Zahlen die Gleichheit

    und letzteres besagt

    Unter Verwendung dieser beiden Regeln kann man die erste binomische Formel durch (wir verwenden schon die Regel Punktrechnung vor Strichrechnung, um Klammern zu sparen)

    erhalten. Es ist eine wichtige Zielsetzung des Mathematikstudiums, die Abhängigkeiten und Hierarchien zwischen mathematischen Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und zu klären. Für die natürlichen Zahlen gelten die binomischen Formeln genauso wie das Distributivgesetz und das Kommutativgesetz. Letztere sind aber grundlegender, da man aus ihnen die binomischen Formeln ableiten kann. Ein tiefes Verständnis für die Hierarchien zwischen mathematischen Sachverhalten wird erst im begriffsorientierten axiomatischen Aufbau der Mathematik möglich.

    Diese logischen Hierarchien haben auch einen großen Einfluss auf die Didaktik der Mathematik: das Distributivgesetz ist wichtiger als die binomischen Formeln und es sollte im Schulunterricht mindestens so breit behandelt werden wie diese (Schlüsse von der logischen Hierarchie auf die didaktische Gewichtung sind nie zwingend; es kann auch Gründe geben, didaktisch anders zu verfahren, und das Distributivgesetz durch die binomischen Formeln zu motivieren, etc.).

  7. Über die Beziehung zwischen natürlichen und ganzen Zahlen haben wir schon gesprochen. Gehen wir davon aus, dass die binomischen Formeln für die ganzen Zahlen schon bekannt sind. Wir hätten die binomischen Formeln gern für die Brüche, also für rationale Zahlen. Wir schreiben die beteiligten rationalen Zahlen als

    und erhalten, unter Verwendung von grundlegenden Rechenregeln für Brüche, die Gleichheiten

    also die erste binomische Formel. Der Übergang von nach ist deutlich schwieriger.



Die Verknüpfungen auf den natürlichen Zahlen

Wir haben gesehen, dass das Distributivgesetz grundsätzlicher als die binomischen Formeln sind. Werden wir noch grundsätzlicher: Was ist eigentlich die Addition und was ist die Multiplikation auf den natürlichen Zahlen? Was ist für Sie die Addition, wie ist sie definiert? An was denken Sie zuerst? Welche Zugänge zu diesen Operationen kennen Sie, wie ist Ihr Verhältnis zueinander? Worin unterscheiden sich die Zugänge, welche sind besonders intuitiv, welche sind einfach begründbar, kommunizierbar, dokumentierbar?



Fußnoten
  1. Im didaktischen Kontext beschreibt man solche unterschiedlichen Aspekte gerne als Kompetenzen. (1) und (4) repräsentieren in diesem Sinne die inhaltliche Kompetenz, die Aspekte (5) und (6) laufen unter Argumentations- und Kommunikationskompetenz, wobei auch die Problemlösekompetenz mit eingeht, da es eben oft schwierig ist, aus einer Gegebenheit etwas anderes herzuleiten. In (2) findet sich die Darstellungskompetenz und die Modellierungskompetenz wieder.
  2. Und banal. Auch die historischen Anfangsgründe der Mathematik in den frühen Hochkulturen sind eher banal, sie liegen wie für die Schrift in der Bürokratie für eine wachsende Stadtbevölkerung begründet.
  3. Man betrachte beispielsweise das Rechteck zur Erläuterung der ersten binomischen Formel weiter unten.
  4. Konkret: Das Wort Halbgruppe hat in der Schule nichts verloren. Dennoch erfasst es sehr genau ein Bündel an Rechenkompetenzen, das in einem bestimmten mathematischen Entwicklungsstadium vorliegt.
  5. Man spricht auch vom Permanenzprinzip. Eine wichtige Fragestellung beim Übergang von kleineren Zahlbereichen zu größeren Zahlbereichen ist, ob dabei Gesetzmäßigkeiten erhalten bleiben. Insbesondere werden Regeln, die „immer“ gelten, besonders herausgestellt, bekommen einen eigenen Namen, werden zu einem Axiom, u.s.w..


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