Kurs:Kulturelle Identität im Zeitalter der Globalisierung (Internet- und Projektkompetenz)/Staatsform beeinflusst religiöse Identität

Geschichtlicher Hintergrund Bearbeiten

Um nachvollziehen zu können, warum und wie antireligiöse Propaganda in der UddSSR betrieben wurde, folgt eine kurze Zusammenfassung der geschichtlichen Hintergründe, die für die vorliegende These von Bedeutung sind.

Als erstes Ereignis ist die Entmachtung der zaristischen Herrschaft 1917 zu nennen, die durch die Februarrevolution stattfindet. Noch im gleichen Jahr wird aus dem russischen Zarenreich die Russische Sowjetrepublik. Diese Ausrufung ist eine Folge der Oktoberrevolution unter Lenin.

Nachdem die Bolschewiki den russischen Bürgerkrieg im Dezember 1922 gewonnen hatten, findet letztendlich die Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetunion, der UdSSR, statt.

Das sind die, für das Thema, grundlegenden Eckdaten zur Machtergreifung des sozialistischen Regimes.

Nun stellt sich die Frage, warum unter diesem Regime denn überhaupt eine antireligiöse Propaganda geschah.

Als Antwort ist hier vor allem die enge Verflechtung der orthodoxen Kirche mit dem Zarenreich zu nennen, welche die Religion als „konterrevolutionäre Macht“ (Ziegler 1932: 27) für die Sozialisten manifestiert. Daher ist die Schlussfolgerung, dass für eine geglückte Revolution die Religion bekämpft werden muss und es gilt: „Ziel der Partei ist nicht mehr und nicht weniger als Ausrottung der Religion und ihrer Diener“ (Ziegler 1932: 28).

Entwicklung der antireligiösen Propaganda und des Kampfes gegen die Religion als Parteiziel Bearbeiten

Mit der Machtergreifung der Kommunistischen Partei 1917 beginnt die Verwirklichung ihrer Religionspolitik, zunächst jedoch sehr langsam, Step by Step sozusagen. Grund hierfür ist, dass die Kommunistische Partei in den Jahren des Bürgerkriegs auf die Sympathien der Bauern und Arbeiter angewiesen war und dieser Bevölkerungsteil Russlands sehr religiös ist (vgl. Ziegler 1932: 35).

Somit findet ein schrittweises Vorgehen statt, das zuerst die Kirche im äußeren Bestand angreift, mit dem Dekret über Landbesitz im Jahr 1917. Ein Jahr später folgt das Dekret über Trennung von Kirche und Staat und von Schule und Kirche. Unter anderem wird in diesem Dekret der Religionsunterricht in den Schulen verboten und festgelegt, dass jegliche Hinweise auf Religionszugehörigkeit aus den offiziellen Papieren gestrichen wird.

Inwiefern bei Nicht-Achtung der Dekrete und Verstößen gegen die Verordnungen Sanktionen erfolgen werden in den jeweiligen Gesetzesschriften zum großen Teil nicht klar ausformuliert, aber eine Hintertür zur Verfolgung ergibt sich durch die zweideutige Formulierung oder auch der weit gefächerten Auslegungsmöglichkeit.

So greift ab 1921 beispielsweise eine Verordnung die es erlaubt, Predigten rein religiösen Inhalts und Hintergrunds zu halten, wann die Predigt den religiösen Rahmen überschreitet liegt hierbei im Urteil der Regierung. Zu dieser Verordnung sind zwei Fälle von Priestern bekannt geworden, die nach ihren Predigten verhaftet, angeklagt und verurteilt worden sind (vgl. Ziegler 1932: 39).

Auch die Presse erleidet durch die antireligiöse Propaganda Einschränkungen. Zunächst darf keinerlei Kritik an der Sowjetmacht geübt werden und darüber hinaus kein „religiöser Fanatismus“ (Ziegler 1932: 39) erregt werden, was die Kommunistische Partei mit jeglicher religiösen Äußerung gleichsetzt. Letztendlich wird ab 1929 auch ganz offensiv in der Presse antireligiöse Propaganda betrieben und antireligiöse Schriften werden auf diesem Weg veröffentlicht.

Die direkte Auswirkungen auf Geistliche zeigen sich, neben der Einschränkung der Berufsausübung, durch das Wahlverbot für Geistliche und die erforderliche Registrierung jedes Geistlichen, die mit Taxen verbunden ist. Auch Kinder von Geistlichen spüren die Nachteile, weil ihnen keine Arbeitstsellen durch die Behörden vermittelt werden und auf der Zugang zu Hochschulen für sie untersagt ist.

Die Russisch orthodoxe Kirche Bearbeiten

Die Frage stellt sich, warum die Bolschewiki so gegen die Russisch orthodoxe Kirche waren. Grundsätzlich hat der Sozialist nichts gegen die Kirche, aber in Russland waren Kirche und Politik so eng miteinander verflochten das nach dem Putsch 1917 auch die Kirche der Neuen Moralordnung weichen musste. Der russische Sozialismus strebt nach einer neuen Weltanschauung und Moral, das ganze Leben soll erneuert werden, die Gesellschaft soll neu strukturiert und aufgebaut werden. Die orthodoxe Kirche hatte vor 1917 so viel Macht und war so verwurzelt mit dem Zarenreich, dass sie nicht in die neue Weltordnung passte, daher wurde sie nach dem Oktoberputsch verboten und als „Opium der Volkes“ bezeichnet (vgl. Masaryk 1965: 279ff).

Kirchengeschichte in der UdSSR Bearbeiten

„Religion in der UdSSR ist ein sehr widersprüchliches Phänomen.“ (Theis 2006: 102) Dabei lassen sich grob drei Phasen unterscheiden. Die erste Phase ist die von der Vernichtung des Religiösen Lebens geprägt und ging bis 1943. Die war dann ab 1943 ein kontrollierter Wideraufbau und die Instrumentalisierung von Gläubigen. Die dritte Phase war dann die Stagnation Mitte der 70er Jahre (vgl. Theis 2006: 102).

„Die Kirchenverfolgung im ersten Jahrzehnt nach dem Oktoberputsch von 1917 waren hinsichtlich der orthodoxen Volkskirche brutal, in ihrer Grausamkeit für den menschlichen Verstand kaum faßbar, aber sie waren keineswegs systematisch.“ (Maser 2003: 77) Es geb große Unterschiede zwischen der Behandlung der Kirchen. Baptisten, Adventisten und Mennoniten hatten bestimmte Freiheiten. Ihnen war es möglich eine Freistellung vom Militärdienst zu bekommen, christliche Kolchosen waren einige Jahre geduldet und im begrenzten Umfang war es den Baptisten und Evageliumschristen gestattet Stätten für Predigernachwuchs zu bauen. Auch zwischen orthodoxen Gruppen wurde stark unterschieden. Die Erneuer, eine reformierte Gruppierung der orthodoxen Kirche, die nach der Revolution unter der Selbstbezeichnung „Erneuerer“ hervortraten und von den Bolschewiki finanziell unterstützt wurden. Solche Gruppierung dienten Lenin und Stalin zur Spaltung der Russischen Staatskirche (vgl. Maser 2003:77f).

Ab dem Jahr 1929 war ein großer und vernichtender Umbruch in der Kirchenpolitik. Mit dem Religionsgesetz 1929 wurde die Gleichschaltung und Entrechtung im geistlichen-religiösen Bereich und die flächendeckende Vernichtung des religiösen Lebens erlaubt (vgl. Maser 2003: 78). „Mit dem Gesetz verfolgte Stalin ein einziges Ziel: der Tscheka Handhaben zur Schließung von Kultgebäuden und zum Verbot von Gemeinden zu bieten. Dabei wurden sie vom atheistischen Mob, organisiert im „Verband der Gottlosen“, wirkungsvoll unterstütz.“ (Maser 2003: 78) Die Tscheka ist als Geheimpolizei zu verstehen, sie ist der Vorläufer der späteren (O)GPU (Объединённое государственное политическое управление: Vereinigte staatliche politische Verwaltung), des NKWD (Народный комиссариат внутренних дел, Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) und des KGB (Комитет государственной безопасности при Совете Министров СССР, Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR). Das Gesetz hatte eine völlig vernichtende Wirkung auf jegliches institutionelles religiöses Leben zur Folge. Fast alle Kirchen, Tempel, Synagogen und Moscheen wurden säkularisiert und viele wurden auch zerstört. Nach und nach verschwanden die verschieden Kirchen als sichtbare Institutionen (Maser 2003:78). Am dramatischsten war die Situation in der ehemaligen Staats-und Volkskirche. „Hatte diese mit ihren 70 Bischöfen 1914 über 54 000 Gemeinden mit 53 000 Priestern und 15 700 Diakonen, 58 geistlichen Lehranstalten sowie 1025 Klöster mit 95 000 Mönchen und Nonnen geboten, so weiß man 1938 noch von vier amtierenden Bischöfen und von 200 bis maximal 500 Gemeinden in der gesamten Sowjetunion.“ (Maser 2003:79) Stalin nutzte die verbliebende Kirche als Alibi gegenüber den Westlichen Staaten, falls diese Vorwürfe erheben.

Mitten im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche erst wieder erlaubt. Nach vier Jahren Krieg wurde am 04.September 1943 aus taktischen Gründen die Kirche wieder zugelassen. Der Aufbau der Zweiten Front im Westen verzögerte sich, da griff Stalin zu einem beliebten Mittel und mobilisierte gesellschaftliche Gruppen im Westen für seine Ziele. Die Anglikanische Kirche hatte angefragt in einer Delegation die Russische Kirche zu besuchen. In einer Nacht und Nebelaktion wurden die letzten drei nicht verhafteten Metropoliten in der Nacht vom 04. zum 05. September in den Kreml eingeladen. Stalin empfing in der Nacht die Kirchenmänner und gab ihnen somit eine Anerkennung unter seiner Bedingungen. Am 08.September hielten 18 Bischöfe unter staatlicher Aufsicht ein Bischofkonzil ab. Die Bischöfe wurden größtenteils wieder aus Lagern frei gelassen und nach Moskau geflogen. Auf dem Konzil wurde Metropoliten Sergi (Stragorodski, 1867-1944) zum Patriarchen gewählt. Schon am 20.September besuchte die englische Delegation die Russische Kirche. Die Phase der kirchlichen Vernichtung wurde 1943 von der Phase der Konzessionierten Kirche abgelöst (vgl. Maser 2003: 79f). „Mit diesem Konzept wies Stalin den Kirchen in der Sowjetunion eine gesellschaftliche Nische zu, gewährte ihnen eine Schattenexistenz.“ (Maser 2003: 80) Die Kirche war unter bestimmten Bedingungen erlaubt und diese Bedingungen diktierte Stalin und Nikita Chruschtschow. Die Religionsgemeinschaften standen ständig unter Beobachtung und Kontrolle. Spitzel wurden in die Gemeinden eingeschleust und Priester terrorisiert und durch bürokratische Hürden wurden manche Dinge offiziell untersagt. Um einen Raum für einen Gottesdienst zu nutzen brauchte man eine staatlich Anerkannte Registrierung und diese war schwer oder fast gar nicht zu bekommen (vgl. Maser 2003: 80).

In den 1960 Jahren stiegen wieder die Verfolgungen von Mitgliedern der Kirchen. Nikita Chruschtschow hatte sich die Vernichtung der Religiosität zur ernsthaften Ziel gesetzt. Seine wichtigste Aufgabe war die Selbstauflösung der Kirchenvorstände zu unterstützen. Ein paar Priester widersetzten sich der Religionsbehörde und ermutigten somit andere Priester auch Widerstand gegen ihre Selbstauflösung zu bilden. Auch mit geänderten Verortungen schikanierte man Kirchenmitglieder. Unter Chruschtschows Administration wurde die Zahl der Prediger eingeschränkt, das Taufalter auf 30 Jahre gehoben und die Taufbewerbungsfrist auf drei Jahre verlängert. Du“rch den enormen Druck des Regimes förderte man die Abwanderung in den Untergrund (vgl. Maser 2003: 81f).

Ab Mitte der 70 Jahren war eine Stagnation in der Religionspolitik zuerkennen. Durch die vom Regim unbeabsichtigenten Freiräume bildeten sich „Jugendseminare“ die Religionsphilosophische Kurse anboten. Im Westen sprach man von einer Religiöse Renaissance. Die Prozesse versuchte man mit erneuten Verhaftungswellen 1979/80 in den Griff zu bekommen.

Die Prozesse und Widerstände waren nicht mehr aufzuhalten und 1988 feierte man unter der Herrschaft von Gorbacev das Millenium der Taufe Rus (vgl. Maser 2003:87ff).

An den beiden Diagrammen werden die Phasen der Kirchenpolitik nochmal deutlich.

Vor dem Ersten Weltkrieg gab es ca. 40 000 Gemeinden. Durch die massive Verfolgung unter Stalin schrumpfte die Zahl der Gemeinden in der UdSSR unter 500. Erst nachdem Zweiten Weltkrieg nehmen langsam aber stetig unter der Kontrolle des Staates die Gemeinden wieder zu. 1958 ist ein leichter Rückgang von -5 Prozent verzeichnet. Mitte der 60Jahre sinkt die Zahl der Gemeinden wieder dramatisch bis sie 1986 ihren Erneuten Tiefpunkt mit 6.742 Gemeinden erreicht. Nach 1986 beginnt der Aufschwung der Gemeinden bis sie 1988 wieder ohne staatliche Kontrolle (vgl. 69).

Begriffsbestimmung: Identität Bearbeiten

Identität kann auf vielfältige Art und Weise definiert werden; zum einen im Bezug auf ein einzelnes Individuum:

„Identität ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit Anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben.“ (Abels 2010: 258)

Gephart jedoch sieht Identität eher als kollektives Konstrukt an und somit als sozialen Prozess, denn die Mitglieder einer Gruppe schöpfen aus Gemeinschaftsformen ihre Identität und „ein kollektives Wir-Gefühl manifestiert“ (Gephart 1999: 236) sich:

„Unter Identität im soziologischen Sinne ist die Chance zu verstehen, dass Akteure ihr Handeln einer räumlich, zeitlich oder sozial strukturierten Gemeinsamkeit zurechnen und hierüber insoweit ein „Wir-Gefühl“ entwickeln.“ (Gephart 1999: 234)

Im Zusammenhang mit dieser Arbeit soll eher die kollektive und weniger die individuelle Identität betrachtet werden.

Identität und Kultur Bearbeiten

Abb. 1: Das „Zwiebeldiagramm“: Manifestation von Kultur auf verschiedenen Tiefenebenen (Hofstede 2006: 8)

Für Hofstede (2006: 4f) ist die Persönlichkeit eines Individuums und somit seine Identität durch ererbte Gene, aber auch durch den Einfluss von Kultur und persönlicher Erfahrungen geprägt. Deshalb lohnt es sich den Begriff Kultur (die „kollektive Programmierung des Geistes, die die Mitglieder einer Gruppe oder Kategorie von Menschen von einer anderen unterscheidet“ (Hofstede 2006: 4)) genauer zu betrachten und zu sehen wie Kultur manifestiert ist.

Das Zwiebeldiagramm von Hofstede beschreibt Symbole als „die oberflächlichsten und Werte [als] die am tiefsten gehenden Manifestationen von Kultur“ (Hostede: 2006: 7). Hofstede versteht Symbole als Worte, Gesten, Bilder und Objekte mit einer bestimmten Bedeutung, die nur von Menschen der gleichen Kultur erkannt wird. Gephart (1999: 265) sieht Symbole außerdem als sichtbare Außengrenzen einer Gemeinschaft, was auch Hofstedes Zwiebeldiagramm verdeutlicht. Helden sind Personen mit Eigenschaften, die in einer Kultur hoch angesehen sind und dienen als Verhaltensvorbilder. Rituale definiert Hofstede als kollektive Tätigkeiten, die als sozial notwendig gelten und um ihrer selbst Willen ausgeübt werden. Symbole, Helden und Rituale werden unter Praktiken zusammengefasst, die nach außen hin sichtbar sind. Im Kern der Kultur befinden sich nun die Werte, die nicht nach außen hin sichtbar und deshalb auch nicht so einfach anzugreifen bzw. zu verändern sind. Hofstede bezeichnet sie als „allgemeine Neigung, bestimmte Umstände anderen vorzuziehen“ (Hofstede 2006: 9).

Weiterhin manifestiert sich Kultur nach Hofstede (2006: 12) auf verschiedenen Ebenen: Der nationalen Ebene, der regionalen und/oder ethnischen und/oder religiösen und oder sprachlichen Ebene, der Ebene des Geschlechts, der Ebene der Generation, der Ebene der sozialen Klasse und der Ebene der Organisation. Die vorliegende Seminararbeit beschäftigt sich hauptsächlich mit der religiösen Ebene von Kultur.

Übertragen auf die russisch-orthodoxe bzw. christliche Kirche, ergeben sich für Hofstedes Modell folgende Beispiele. Als Symbole könnte man den Weihrauch, das Abendmahl oder die Bibel betrachten. Nach Waldenfels (1999: 118) gibt es sieben Symbole christlicher Identität: Das Christusbild, das Kreuz Christi, die Bibel, die Lampe, das Gemeindegebet, die unbedingte Vergebung und das Teilen mit dem Nachbarn in Not. Helden sind beispielsweise Jesus, die Apostel, die Jungfrau Maria, Propheten und Heilige. Zu den Ritualen zählen Gottesdienst, Taufe, Hochzeit, Beerdigung, Abendmahl, Kommunion, Beichte und ähnliches. Werte sind größtenteils dem Dekalog zu entnehmen (nicht stehlen, nicht ehebrechen usw.).

Religion und Unsicherheitsvermeidung Bearbeiten

Religion bietet eine Möglichkeit für die Menschheit, Angst und Unsicherheit zu vermeiden. Religiöse Überzeugungen und Rituale helfen, Ungewissheiten, wie beispielsweise den Tod, zu akzeptieren, gegen die wir uns nicht wehren können (vgl. Hofstede 2006: 273). Russland mit dem orthodoxen Christentum hat laut Hofstede einen hohen Unsicherheitsvermeidungsindex: Platz 7 von 74 mit 95 von 100 Punkten (Hofstede 2006: 234). Der Unsicherheitsvermeidungsindex ist ein „Maß für die (In-) Toleranz gegenüber der Uneindeutigkeit in einer Gesellschaft“ (Hofstede 2006: 231). In Kulturen mit starker Unsicherheitsvermeidung herrscht nur ein Glaube bzw. eine Wahrheit vor, alle anderen haben Unrecht. Es besteht nur ein einziger Weg zum Heil, welches das wichtigste Ziel im Leben der Menschen ist. Andere, anders glaubende Menschen versucht man zu bekehren, zu meiden oder zu töten (vgl. Hofstede 2006: 275).

Nach Hofstede haben auch politische Ideologien, „die zu einer Art weltlicher Ersatzreligion werden können“ (Hofstede 2006: 277), das Potential Unsicherheit oder Angst zu vermeiden, und sind dadurch intolerant gegenüber anderen Ideen. Ein Beispiel hierfür wäre der Marxismus, der als Vorbild für den sozialistischen Sowjetstaat galt.

Hofstedes Theorie bestätigt, dass Wertesysteme, die sich beispielsweise an hoher oder niedriger Unsicherheitsvermeidung orientieren, also einen Einfluss darauf haben, bis zu welchem Grad eine Bevölkerung für bestimmte Religionen oder Ideologien aufnahmebereit ist und wie sich diese entwickeln (vgl. Hofstede 2006: 274).

Die Identitätsstiftende Funktion von Religion Bearbeiten

Gephart (1999: 261) behauptet, dass die Religion ein identitätsvermittelndes Medium sei, da sie auf Fragen wie „Wer sind wir, wo kommen wir her und wohin gehen wir?“ zu antworten sucht. Identitätsstiftung ist somit eine zentrale Funktion von Religion. Nach Bremer (2000: 200) versteht sich Religion zwar nicht als Mittel zum Erreichen einer nationalen, staatlichen oder sonstigen Identität. Sie versucht stattdessen Überzeugungen hervorzubringen, die die Welt und den Menschen erklären wollen und die einen Weg anbieten, den Menschen aus seiner unerlösten Situation zu befreien. Das wiederum führt zu Identitätsbildung, ist aber nach ihrem eigenen Verständnis nicht der erste Zweck von Religion. Gephart (1999: 264) erklärt außerdem, dass Sinnstiftung das Schicksal des Kulturmenschen und somit das Ausgangsmotiv religiöser Weltdeutung sei.

Auch Hofstede (2006: 213) versichert:

„Die Religion bietet der Menschheit die Möglichkeit, das Übernatürliche zu beeinflussen: Sicherheiten zu schaffen über die unvorhersehbaren Risiken menschlicher Existenz hinaus. Zu den wichtigsten dieser Unwägbarkeiten gehören Geburt, eheliche Fruchtbarkeit und Tod.“

Religion ist also ein Mittel für den Menschen, sich über den Sinn von Leben und Tod im Klaren zu werden und gewisse Ängste und Unsicherheiten zu bewältigen (siehe Punkt 3).

Speziell auf das Christentum bezogen, stellt Muszynski (2009: 158) fest, dass man den Zusammenhang der europäischen Identität und Christentum an folgenden Punkten festmachen kann. Die Hoffnung ist das Grundprinzip des menschlichen Lebens, die Würde des Menschen ist unveräußerlich und das menschliche Leben ist unantastbar. Weiterhin ist die Ehe zwischen Mann und Frau und die Familie ein wichtiger Punkt europäischer und christlicher Identität, sowie die moralischen Grundprinzipien des Dekalogs. Auch die gegenseitige Zuordnung von Gerechtigkeit und Liebe, sowie die Trennung zwischen dem profanen und religiösen Bereich und die Freiheit als Voraussetzung der Verantwortung sind für Muszynski ausschlaggebend.

Insgesamt lässt sich also ein deutlicher Zusammenhang zwischen Religion und Identitätsstiftung erkennen.

Codes kollektiver Identitäten Bearbeiten

„Erscheinungsformen kollektiver Identität lassen sich […] aus drei Perspektiven beobachten: im Hinblick auf ihre symbolische Codierung, im Hinblick auf ihre Position in einem historischen Prozeß und im Hinblick auf ihre Einbettung in eine soziale Situation“ (Giesen 1999:15).

Giesen (1999: 14) verwendet den Begriff „Codes“ bzw „Codierung“ für zentrale Unterschiede kollektiver Identitäten, die es erlauben Grenzen zu ziehen, innerhalb und außerhalb einer Gemeinschaft. Giesen differenziert drei Arten von Codes: Primordiale, traditionale und universalistische (vgl. Giesen 1999: 18-43). Diese drei unterschiedlichen Codes deuten also auf drei unterschiedliche Identitätsformen hin. Er definiert primordiale Codes als von Natur aus gegeben, als scheinbar ursprünglich und unveränderbar, mit scharfen Grenzen nach außen. Falls doch eine Aufnahme neuer Mitglieder nötig ist, müssen bestimmte Reinigungsrituale erfolgen. Grundsätzlich jedoch werden Nicht-Mitglieder einer primordialen Gemeinschaft dämonisiert, sprich als totale Außenseiter mit einer feindlichen Identität angesehen, die nicht assimiliert werden können. Ein Beispiel für primordiale Grenzkonstruktion wäre nach Giesen der Antisemitismus (vgl. Giesen 1999: 24).

„Den zweiten wichtigen Code der Konstruktion kollektiver Identität nennen wir traditional. Traditionale Formen kollektiver Identität ergeben sich auf der Grundlage der Vertrautheit mit impliziten Regeln des Verhaltens, mit Traditionen und sozialen Routinen […] [, die] als der Kern der kollektiven Identität angesehen [werden]“ (Giesen 1999: 25).

Hierbei spielen Rituale der Erinnerung (z.B. Gründungsmythen, Denkmäler, Verehrung von Reliquien) eine wichtige Rolle, die zu bestimmten Anlässen zeremoniell gefeiert werden (z.B. Gottesdienste). Bei traditionalen Gemeinschaften verläuft die Grenzziehung diffus und nicht so scharf wie bei primordialen. Die Bindung an bestimmte Lokalitäten ist ebenso besonders wichtig. Heutige Religionen wie das Christentum kann man als traditionale Form kollektiver Identität sehen, wenn man nur den Ist-Zustand betrachtet und die Vergangenheit ausblendet (Kreuzzüge etc.).

Die letzte, für Giesen essenzielle Codierung kollektiver Identität ist die universalistische, die mit einer besonderen Idee der Erlösung verbunden ist. Die Chance der Erlösung ergibt sich hierbei nur durch eine totale Veränderung des Diesseits. Zu dieser Form kollektiver Identität zählt der Sozialismus. Wichtige Prinzipien bei universalistischen Codes sind erstens Pädagogisierung, zweitens Opferrituale und drittens die Erfindung des Neuen. Zum Ersteren: Alle Menschen sind „gleichermaßen mit der Bestimmung zur Erlösung ausgestattet, aber sie sind sich dessen noch nicht bewußt, oder sie sind durch die Umstände, unter denen sie leben, verblendet“ (Giesen 1999: 35). Deshalb ist es die Aufgabe der bereits bekehrten Mitglieder, die Außenseiter zu belehren, wobei „Widerstand gegen die erlösende Lehre nicht ernst zu nehmen […] [und] zur Not auch mit Gewalt zu überwinden [ist]“ (Giesen 1999: 35). Zum Zweiten: Erst durch Erbringung bestimmter Opfer wie beispielsweise Entbehrungen, Blutopfer, Kriege und Hinrichtungen wird die Hingabe an die neue Ordnung verdeutlicht und verteidigt. Auch Stalins Säuberungen zählen hierzu (vgl. Giesen 1999: 37). Zum Dritten: „Es gilt, die Welt der Vergangenheit aufzugeben und die Zukunft im Sinne der neuen besseren Ordnung zu gestalten“ (Giesen 1999: 38f).

Diese drei unterschiedlichen Codes verdeutlichen die wichtigsten Funktionen und Handlungsweisen kollektiver Identitäten und helfen Unterscheidungen vorzunehmen.

Bedeutung des Sozialismus für die religiöse Identität Bearbeiten

Die sozialistischen Verbote hatten zur Folge, dass, wie bereits ausführlich im geschichtlichen Teil dieser Arbeit erläutert, religiöse Zeremonien nicht öffentlich durchgeführt werden durften, kirchliche Ehen und Taufen nicht anerkannt wurden und ähnliches. Dies schränkt das religiöse Leben sehr ein, da es nur heimlich und/oder unter Angst ausgelebt werden konnte. Da Religion und Identität so stark zusammen hängen, reißt das eine schwer zu schließende Identitätslücke auf. Auch nach Gephart (1999: 265) bedeutet „Religionsverlust […] existenziellen Identitätsverlust, solange keine kompensatorischen Identitätsangebote in Kraft treten [,] […] weil die Sicherheit eigener Bestimmung abhanden gekommen ist.“ Der sozialistische Sowjetstaat hat deshalb versucht, diese Lücke durch diverse Identitätsangebote zu schließen. So wurden die bereits genannten christlichen Symbole, Helden und Rituale durch sozialistische weitgehend ersetzt. Als sozialistische Symbole sind die Farbe Rot, Sichel und Hammer, der Stern, ein rotes Halstuch und ähnliches anzusehen. Auch der Heldenkult wurde verstärkt, um religiöse Elemente aufzufangen (vgl. Bremer 2007: 130); Lenin oder auch der erste Kosmonaut Gagarin, sowie etliche Kriegshelden oder auch das Bild des einfachen, fleißigen, sozialistischen Arbeiters wurden als Helden gefeiert. Auch christliche Rituale wurden durch sozialistische ersetzt. Christliche Feiertage wurden dadurch kompensiert, dass beispielsweise die Bräuche von Weihnachten auf Silvester übertragen worden sind und das Neujahrsfest deshalb heutzutage noch eines der größten Feste in Russland ist. Auch wurde der 1. Mai, der Tag der Arbeit als großes Fest gefeiert. Außerdem haben die Sozialisten versucht Rituale zu nutzen, um die Kinder schon von früh auf an die Ideologie zu binden und zwar durch die Erziehung in der Schule. So wurden sowjetische Schulkinder feierlich in Organisationen aufgenommen. Es gab die Pioniere (ca. 2. Klasse), die Oktebrjata (ca. 4. Klasse) und die Komsomol (ca. 8. Klasse), die mit der Hitlerjugend oder auch Pfadfindern zu vergleichen. Dafür bekamen sie Abzeichen wie einen Stern mit einem Bild von Lenin, ein rotes Halstuch und ähnliches, auf die sie stolz sein konnten. Durch diese vielfältigen Ersatzangebote versuchten die Bolschewiki die entstandene Identitätslücke zu schließen und somit eine mögliche Identitätskrise abzuwenden. Nur so konnte es gelingen, die Menschen davon zu überzeugen, dass Religion überflüssig ist.

Bedeutung der Auflösung des Sozialismus für die religiöse Identität Bearbeiten

Die 90er Jahre sind die Phase der „postsozialistische[n] Identitätskrise“ (Behrens 2002: 118), denn das neue Religionsgesetz Anfang der 90er, das die menschliche Persönlichkeit hervorhebt, eröffnet dem postsowjetischem Bürger neue Welten. Wiedergewonnene Meinungs- und Handlungsfreiheit, die Neugier auf ein jahrzehntelang tabuisiertes Thema oder auch eine gewisse Krisenstimmung führen zu einer „pluralistische[n] Gegenbewegung“ (Lewada 1994: 11 zit. n. Behrens 2002: 116) zur monopolistischen Staatsideologie. Sozialistische Ideale und Symbole werden nun so schnell wie möglich durch orthodoxe ersetzt, um eine „ideologische Alternative zu vergangenen Orientierungen zu finden und das entstandene ‚Vakuum‘ nahtlos wieder zu füllen“ (Behrens 2002: 110). Die Orthodoxie erlangt eine ungeheure Beliebtheit. Nach außen getragene Religiosität, wie sich taufen lassen oder das Tragen eines Kreuzes, ist sehr populär und tritt verstärkt auf. Behrens (2002: 117) spricht dies bezüglich sogar von einer „Modewelle“. Die Popularität der Orthodoxie wurde durch zahlreiche Umfragen bestätigt. Diese geben jedoch auch Grund zur Behauptung, dass das religiöse Wiederaufleben eher im soziokulturellen als im theologischen Sinne zu sehen ist (vgl. Behrens 2002: 117 ff). „Wir haben es mit einem areligiösen Volk zu tun, das auf die Religion baut“ (Lewada 1992: 246 zit. n. Behrens 2002: 112), ist das Ergebnis einiger Umfragen in Worte gefasst. „Viele Menschen, die sich heute als gläubig bezeichneten, hätten ihre Weltanschauung gegenüber der Vergangenheit nicht einmal verändert. Sie bezeichneten sich nicht deshalb als gläubig, weil sie tatsächlich an Gott glaubten, sondern weil sie meinten, daß Religion nützlich für die Gesellschaft und gläubig zu sein ‚eine gute Sache‘ sei“ (Behrens 2002: 115). Der religiöse Boom geht also zumeist lediglich mit einer konfessionellen Zuordnung einher und weniger mit einem tiefen, aufrichtigen Glauben und mit dem Praktizieren dessen (vgl. Behrens 2002: 116). Die Kirche wird als Hoffnungsträger gesehen, um wieder an alte „‚bessere‘ Tage russischer Geschichte“ (Behrens 2002: 117) anzuknüpfen. Russe sein und Orthodoxie sind untrennbar, denn Kultur, Traditionen und Moralität sind orthodox orientiert (vgl. Behrens 2002 121). Auch für Bremer (2007: 203) ist das Identitätsangebot der Orthodoxie eng mit der russischen Nation verbunden. Orthodoxie ist somit unabdingbarer Teil der nationalen russischen Identität geworden.

Kategorien des Leitfrageninterviews Bearbeiten

Als Messinstrument haben wir das Leitfrageninterview gewählt, um zwar einen roten Faden verfolgen zu können, aber auch genug Freiraum für persönliche Erfahrungen und Erinnerungen der einzelnen Probanden zu lassen.

Die Fragen sind angelehnt an die Kategorien:

  • Lebenslauf
  • politisches Leben
  • religiöses Leben
  • Familie

Leitfadeninterview Bearbeiten

  1. Stellen Sie sich bitte kurz vor. Wie alt sind Sie, wie lange wohnen Sie schon in Ihrer jetzigen Heimat?
  2. Was sind die, für Sie bedeutendsten, Erfahrungen, die Sie aus dem Kommunismus mitgenommen haben?
  3. Sind Sie religiös? Warum/Warum nicht? Welche Konfession, wie leben Sie diese aus?
  4. Wie haben Sie die kirchliche Politik im Kommunismus mitbekommen/erlebt?
  5. Haben sich kirchliche Bräuche und Feste, während der Regierung des Kommunistischen Regimes, in Ausführung und Bedeutung verändert?
  6. Haben Sie es vermisst, Ihre Religion frei ausleben zu können?
  7. Haben Sie durch ihr Elternhaus religiöse Erziehung genossen? Vermitteln Sie Ihren Kindern religiöse Werte und wenn ja auf welche Art und Weise?
  8. Hat sich der Kommunismus auf Ihren Glauben ausgewirkt?
  9. Meinen Sie, dass sich der Kommunismus auf die religiöse Identität oder Mentalität des gesamten russischen Volkes ausgewirkt hat?
  10. Gab es für Sie ein singuläres, einschneidendes Erlebnis, durch das Sie gemerkt haben, die kommunistischen Verbote sind jetzt hinfällig, die „alten Zeiten“ sind vorbei?

Nun folgen die wesentlichsten Aussagen von Probandin 1 und deren Auswertung. Bearbeiten

(1) „И воспитывались мы в том плане что бога нет есть только жизнь, только на земле, что всё религиозная кaсается, что это выдумки, что это всё неправдa, что это всё придумано для того чтобы замoрочить голову людям это придумано священниками и всё это как у нас была популярная фраза "религия это опиум для народа" и мы вoспитывались в таком духе и например в школе у нас сами знаете сначала была пионерская организация с самых ранних классов.“

(2) „A священникoв под любым предлогом их судим даже выдумывали чтото лишь бы только каким бы этим. Но я была далеко от этого. Поэтому меня это лично никак не кaсалось.“

(3) „Вот тогда все запреты кончились может они каким то образoм и немножко остались но в то время начaлся религиозный подъем. И церкви свoбодно люди стали посищaть и уже никто ничего не боялcя и мне кажетcя прaвительство пересталo обращaть на это внимания.“

(4) „Меня на это только личные жизненные обстоятельства подвинули а что касается общественного нет.“

(5) „Бабушкку она тоже верующая была. Ну как-то вот они толи из-за неграмотности своей толи из-за чего не знаю. Я думаю что они просто боялись, чтоб нам потом хуже не было раз все общество.“

Auswertung von Probandin 1 Bearbeiten

Durch Aussage (1) stellt die Probandin klar, dass sie durch die Schule und Erziehung von Kindheit an von den Werten des Sozialismus geprägt worden ist. In Aussage (4) erklärt die Probandin, dass sie durch persönliche Umstände zum Glauben gefunden hat. In einem persönlichen Gespräch erfuhren wir, dass ihre Tochter im Alter von 25 Jahren verstorben ist. Diese persönliche Krise hat ihren Glauben sehr gefestigt, was Hofstedes These zur Religion im Bezug auf Unsicherheitsvermeidung (siehe oben) bestätigt. Ihre Bemerkung (2) offenbart, dass die Erlebnisse der Probandin zur damaligen Zeit nicht emotional behaftet waren. Sie stellt in Aussage (2) klar, dass sie zwar mitbekommen habe, dass beispielsweise Priester verfolgt wurden, es habe sie aber nicht wirklich betroffen. Sie hat aber ein Bewusstsein dafür, dass es gläubige Leute nicht einfach hatten. Die Aussagen der Probandin lassen vermuten, dass sie das Geschehen kritisch reflektiert hat. So überlegt sie beispielsweise in Aussage (5), warum ihre Großmutter gläubig war und welche Gründe es hatte, dass sie diesen Glauben nur heimlich ausgelebt hatte. In Aussage (3) stellt sie ganz klar fest, dass sie nichts mehr am Glauben hindern könne. Außerdem lässt ihre Ausführung (3) erkennen, dass es kein singuläres, einschneidendes Erlebnis für sie gab, wobei sie gemerkt hätte, die Verbote wären nun aufgehoben. Vielmehr beschreibt sie einen Prozess, der durch die Auflösung der Sowjetunion in die Gänge gekommen sei. Sie erzählt, die Leute konnten offener mit ihrem Glauben umgehen, Kirchen seien renoviert worden usw.

Die wesentlichsten Aussagen von Probandin 2 und deren Auswertung. Bearbeiten

(1) Das wir praktisch in der Grundschule als Oktebrjata bezeichnet wurden.

(2) Es gab ja Pioniere und das ab der fünften Klasse. In der Grundschule waren wir sozusagen kleine Brüdern und Schwestern und da hatten wir auch son Abzeichen bekommen, dass wir Oktebrjata sind.

(3) Ich bin nicht religiös. Aber ich zähle mich zur Griechisch-Orthodox. Also zur russischen Orthodoxen Kirche. Ich bin zwar nicht getauft, aber ich finde das hindert mich nicht daran zu Glauben. Allerdings glaube ich nicht an Gott, den die Kirche so zusagen vorschreibt. Deswegen, ich lebe meine Religiösität nicht wirklich aus. Ich weiß, dass da irgendwas ist, aber ich denk. Ich bin der Meinung ich brauch keine Kirche dafür.

(4) Meine Oma auch, aber wir, meine Familie eher nicht. Die Bräuche von Weihnachten wurden auf Silvester übertragen, deswegen stellt man den Tannenbaum Silvester auf und die Geschenke werden auch Silvester verteilt.

(5) Meine Eltern sind nicht Gläubig

(6) In dem Sinne, dass sie sich selbst entscheiden.

(7) Sie können sich später immer noch dafür entscheiden, genauso wie ich es gemacht habe.

(8) Russland war immer sehr Religiös.

(9) Und jetzt wird es sozusagen wieder auferlebt sozusagen. Aber (Schnaufen). Aber es hatte schon Auswirkungen, schon. Heutzutage die Generation, die wieder in die Kirche geht, erinnert sich nicht an die Zeit von Kommunismus, deswegen.

Auswertung von Probandin 2 Bearbeiten

Probandin 2 ist erst 29 Jahre alt und hat dadurch nicht mehr viel von der UdSSR mitbekommen. Sie kann sich nur daran erinner, dass sie in der Grundschule zu den Oktebrjata gehörte und ein Abzeichen bekommen hatte (1,2). Durch Aussage (3) bestätigt sie unbewusst die Forschungsliteratur. Sie zählt sich zur russisch orthodoxen Kirche ist aber nicht religiös. Die Aussage ist sehr paradox spiegelt aber die Russische Identität wieder. Ihre Oma ist gläubig (4), hat aber ihren Glauben nicht an ihre Kinder weitergeben. Die Eltern sind Atheisten und haben ihre Kinder nicht taufen lassen(5). Ihr Bruder hat nach dem Fall der UdSSR zum Glauben gefunden und sich taufen lassen. Probandin 2 will unter Berücksichtigung ihres späteren Mannes ihren Kindern auch eine Wahl lassen und geht sehr tolerant mit dem Thema Religion um (6,7). In der Familie wird das Neujahresfest groß gefeiert, die übertragenden Bräuche werden gefeiert (4). An Weihnachten gibt es auch immer ein großes Familienfest, aber das hängt mit dem Geburtstag der Oma zusammen. Die Ideologie der UdSSR sieht sie als Ersatz für die Religio. Die Russische Identität ist sehr mit der Religiosität verbunden (8) und nach dem Zerfall gab es ein Wiederaufleben der Kirchen (9). Sie hat sehr reflektiert mit dem Thema auseinandergesetzt.

Die wesentlichsten Aussagen von Probandin 3 und deren Auswertung. Bearbeiten

(1) Ich bin überzeugte Atheistin. Ich finde grundsätzlich, der Glaube an sich ist eine Beleidigung für die menschliche Intelligenz. Glaube an irgendwelche Dogmen und institutionalisierter Glauben, also in Form von Kirchen und alle möglichen religiösen Kult. Das ist für mich eigentlich eine gefährliche Form der Gehirnwäsche.

(2) Von religiöser Politik habe ich nicht viel mitgekriegt, weil in meinem Umfeld war es eigentlich nie das Thema. Religion war in der Sowjetunion also eigentlich ein Kuriosum aus der alten Zeit. Und ich finde es eigentlich auch ganz gut so. Also meine Eltern sind beide Naturwissenschaftler, deswegen war es schon für mich im Prinzip eigentlich kam auch nie in Frage, meine Eltern sind beide Ingenieure also wir sind eigentlich also die Frage stellt sich auch nicht mal. Ich hab auch niemand in meinem Umfeld gehabt, der das irgendwie vermisst hätte.

(3) Neujahr, ist absolut lazistisch ein wunderbares Fest. Also bis heute für mich das beste und das schönste Fest im Jahr.

(4) Meine Kinder sind nicht getauft und werden es nie werden, es sei denn, sie wollen es selbst irgendwann.

(5) Wir gehen damit absolut offen um. (Katholischer Kindergarten und Kirche)

(6) Gott hat mir nie gefehlt

(7) Wenn wir, wenn das das Ziel war, der Kommunisten, dann hats bei mich, bei mir voll gefruchtet, also ich bin zu überzeugte Atheistin geworden, wie gesagt, und äh, ich bin eigentlich Erfolgserlebnis der kommunistischen Erziehungspolitik

(8) Beim Sozialismus kann eigentlich vieles wirklich kritisieren, also wirklich, gibt’s ganz viele Sachen, aber das, das man schon mal die Trennung, die ganz bewusste Trennung von Glauben und Staat finde ich sehr gut.

(9) Und das ganze Ballast aus der alten Zeit eben dieser abergläubische, diese Glaube eben an irgendwelche dogmatischen Sachen, musste eigentlich abgeschafft werden mit der Zeit, deswegen war in der Sowjetunion ganz großes Thema eben diese Erziehung

(10) Kommunismus, also die haben auch bestimmte Rituale gefeiert, also kann man eigentlich wirklich manchmal wirklich skurrile Parallelen finden.

(11) Kirche ist nach dem Fall der Sowjetunion wieder aufgeblüht

Auswertung von Probandin 3 Bearbeiten

Probandin 3 ist überzeugte Atheistin (1) und hat eine feste und klare Meinung zum Thema Glauben und Kirche. Bewertet die die Situation sehr reflektiert und behauptet auch von sich selbst, dass die russische Erziehung bei ihr gewirkt hat (7). Da beide ihre Eltern studierte Naturwissenschaftler waren, stand die Frage des Glaubens nie ein Thema (2). Sie hat sich wissenschaftlich mit den Themen Religion, Kirche und Glauben auseinandergesetzt und sich mit dem wissenschaftlichen Atheismus beschäftigt. Gott hat ihr auch nie gefehlt (6). Obwohl sie eine überzeugte Atheistin ist, stellt sie ihren Kindern später frei sich zur Kirche zu bekennen oder nicht (4). Ihr ist es wichtig, dass man offen mit dem Thema um geht. Ihr jüngerer Sohn besucht auch einen katholische Kindergarten (5). Positiv bewertet sie die damalige und strikte Trennung von Kirche und Staat (8). Das Neujahresfest feiert sie bis heute (3). Die Parallelen zwischen den Ritualen und Festen der Kirche und der UdSSR sind ihr bewusst (10). Dass die Kirche nach dem Zerfall solch ein zulauf hat, findet sie befremdlich. Ihrer Meinung nach ist ein regelrechter Trend ausgebrochen und die Religiosität nimmt Absurde Formen an (11). Manche lassen sogar ihr Auto taufen. Auch kritisch zu betrachten ist die Heuchelei der Mächtigen in Russland, die noch vor ca. 26 Jahren gläubige Menschen verfolgt haben und heute sich vom Patriarchen taufen lassen. Probandin 3 hat eine sehr Reflektierte Meinung zur Religion, da sie auch wissenschaftlich mit dem Thema auseinandergesetzt hat.

Fazit Bearbeiten

Durch die Auswertungen der Interviews und der Einzelfazits kommen wir zur Schlussfolgerung, die Hypothese, dass die Staatsform die religiöse Identitätsbildung beeinflusst, wurde verifiziert und wir haben festgestellt, dass die religiöse Identität von Generation zu Generation schwächer geworden ist.

Um auf das Zwiebelmodell zurückzugreifen schauen wir uns abschließend noch einmal die Auswirkungen auf die einzelnen Zwiebelschichten an.

Die innerste Schicht, die Werte, sind durch ihre starke Verankerung und Verfestigung sehr schwer anzutasten. Hinzu kommt, dass bei den Werten keine explizite Veränderung stattfand, sondern lediglich die Weitergabe der religiösen Werte unterbunden wurde. Deshalb ist eine Veränderung erst in den anderen drei Schichten zu bemerken. Bei den Ritualen haben sich an Stelle von religiösen Ereignissen, wie zum Beispiel der Kommunion, dem Alter nach der Eintritt in Gruppierungen wie Oktebrjatja, Komsomol oder Pioniere etabliert. Als neue Helden wurden Leute angesehen, wie der Kosmonaut Gagarin, oder auch Lenin als die Maxime des fleißigen sozialistischen Arbeiters. Die Farbe Rot in Form von Halstüchern oder Abzeichen hat symbolische Bedeutung bekommen und wurde zum Beispiel von den zuvor genannten Pionieren getragen.

Es lässt sich Schlussfolgern, dass der Identitätsverlust, welcher als Resultat durch die Verdrängung der gewohnten Rituale, Helden und Symbole im Normalfall eingetreten wäre, durch gezielte, vom Staat initiierte Kompensation in Form von systematischen Ersatz der Praktiken, die die Werte nach außen tragen und durch Erziehung von staatlicher Hand. Auffällig, wenn man die Einzelfazits der Interviews betrachtet, ist, dass sich in den Köpfen keine Ablehnung der Religion festgesetzt hat, sondern sich viel mehr eine Toleranz gegenüber dem Glauben gebildet hat.

Literaturverzeichnis: Bearbeiten

Abels, Heinz (2010): Identität. 2. überarbeitete Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Behrens, Kathrin (2002). Die Russische Orthodoxe Kirche: Segen für die "neuen Zaren"? Religion und Politik im postsowjetischen Rußland (1991 - 2000). Paderborn [u.a.]: Schöningh.

Bremer, Thomas (2007): Kreuz und Kreml. Freiburg im Breisgau: Herder.

Gephart, Werner (1999): „Zur Bedeutung der Religionen für die Identitätsbildung.“ In: Gephart, Werner & Waldenfels, Hans (Hg.): Religion und Identiät. Im Horizont des Pluralismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 233-266.

Giesen, Bernhard (1999): „Codes kollektiver Identität“. In: Gephart, Werner & Waldenfels, Hans (Hg.): Religion und Identiät. Im Horizont des Pluralismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp., S. 13-43.

Hofstede, Geert (2006): Lokales Denken, globales handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management. 3. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Muszynski, Henryk Józef (2009): „Die christlichen Grundwerte als aksjologisches Fundament der europäischen Identität“. In: Veen, Hans-Joachim & März, Peter & Schlichting, Franz-Josef (Hg.): Kirche und Revolution. Das Christentum in Ostmitteleuropa vor und nach 1989. Köln [u.a.]: Böhlau, S. 157-161.

Waldenfels, Hans (1999): „Zur gebrochenen Identität des abendländischen Christentums.“ In: Gephart, Werner & Waldenfels, Hans (Hg.): Religion und Identiät. Im Horizont des Pluralismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 105-124.