Kurs:Meißen im Mittelalter/Die Entstehung der Stadt Meißen

Die Stadtgenese Meißens

auf der Grundlage archäologischer und mediävistischer Quellen

Meißen wird von vielen Historikern, historisch interessierten Laien, aber auch von der Tourismusindustrie, als ein großartiges Beispiel einer mittel alterlichen Stadt erwähnt, gepriesen und vermarktet. Das kann beim näheren Hinsehen kaum für den optisch wahrnehmbaren Gebäude bestand gelten. Sieht man vom Burgberg ab, der seine heute prägende Gestalt in der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit erhielt, stammen die ältesten erhaltenen Fassaden Meißner Häuser aus dem beginnenden 16. Jahrhundert. Damals war bekanntlich das Mittelalter bereits zu Ende gegangen.

Man wird entgegnen: Aber der Grundriß der Stadt ist, wie Helmuth Gröger schon 19271 dargelegt hat, geradezu ein Paradebeispiel einer Stadtgründung auf ostdeutschem Kolonisationsschema.2 Mit dieser Meinung wollen wir uns im Folgenden unter Hinzuziehung der seither vor allem durch die archäologische Forschung, aber auch die Mediävistik neu erschlossenen Quellen und Erkenntnisse auseinandersetzen.

Der Bischof und Chronist Thietmar von Merseburg berichtet von der 

Gründung der Burg Meißen durch König Heinrich I., daß dieser nach der Unterwerfung der Daleminzer auf einem an der Elbe gelegenen, mit Bäumen bestandenen Berg eine Burg errichten ließ, die er nach einem an dessen Nordseite vorbeifließenden Bach Misni nannte. Da Thietmar selbst einige Male in Meißen war und hier auch die Funktion des Burgkommandanten wahrnahm, sind seine Aufzeichnungen unzwei felhaft von großem Quellenwert. Für das Jahr 984 berichtet dieser von der Einnahme der Burg durch ein böhmisches Heer. Dazu bediente sich der Böhmenherzog einer List. Er beredete sich mit der Besatzung und ließ unter einem Vorwand Friedrich, einen Freund und Vasallen des gerade in Merseburg weilenden Markgrafen Rikdag, zu einer außerhalb der Burg gelegenen Kirche kommen.3 Diese Kirche ist von der älteren Forschung sowohl mit St. Afra als auch mit St. Nikolai im Triebischtal in Zusammenhang gebracht worden. Wir dürfen aber davon ausgehen, daß beide Patrozinien im 10. Jahrhundert noch nicht existierten.4 Demzufolge muß diese außerhalb der Burg gelegene Kirche an einem anderen Ort zu suchen sein. Vom Patrozinium her kommen nur zwei weitere Meißner Kirchen in Frage, St. Martin (Abb. 5, m) und St. Laurentius (Abb. 5, L). St. Martin wurde zwar wie St. Afra seit nachrömischer Zeit verehrt, ist aber bei uns als Ritterheiliger erst im Spätmittelalter nachweisbar.5 Ein sekundär verbautes Holz, das möglicherweise zu einem Vorgänger der heute dort befindlichen romanischen Saalkirche gehört, datiert auf 1153.6

Anders steht es mit St. Laurentius (Abb. 1). Diesem Heiligen, der am ehesten als Schutzpatron gegen Feuersbrunst bekannt ist, kam besonders unter Kaiser Otto I. eine besondere Bedeutung zu. Am 10. August, dem Laurenzitag des Jahres 955, kam es vor Augsburg in den Niederungen des Lechs zu einer dramatischen Schlacht zwischen den Ungarn und den königlichen Truppen, die Otto siegreich anführte.7 Seither hatte der Kaiser eine enge Bindung an diesen Heiligen.

Dreizehn Jahre nach der Schlacht auf dem Lechfeld, 968 gründete Otto I. das Bistum Meißen 8 und stattete das Kapitel mit dem Zehnten vom Königstribut in den Gauen Dalaminza, Diedesa, Milzane und Lusiza aus. 983 erneuerte Otto II. den Willen seines Vaters und ergänzte ihn unter anderem mit der Vergabe des Fluß- und Übergangszolls an und auf der Elbe von Belgern bis zum Hafenplatz des Domstifts bei der Burg Meißen.9 Damit wird die wirtschaftliche Bedeutung des Verkehrs auf der und über die Elbe nur zu deutlich.

1 Gröger 1927.

2 Kretzschmar 1905, 65 ff.

3 Thietmar von Merseburg, Chronik VI,5; hrsg. von Werner Trillmich (Freiherr vom Stein-Gedächtnisaus gabe). Berlin 1958, 118–121.

4 Die Kirche St. Afra wurde erst um 1050 erbaut: Find eisen 1973; der archäologische Befund stimmt hier mit einer chronikalischen Nachricht Fausts überein, wonach Bischof Dietrich I. (1024–1040) die Kirche gestiftet haben soll: Gurlitt 1917, 337. – Nikolaikirchen sind in Europa erst seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar: Blaschke 1997.

5 Merzbacher 1954.

6 Christl 1994.

7 Pätzold 1989, 45.

8 Codex diplomaticus Saxoniae regiae II,1 Nr. 7.

9 Ebenda II, 1 Nr. 11.


Wo aber befand sich der Hafen der Meißner Kirche? Um dies fest stellen zu können, geben uns die Topographie, Ergebnisse archäo logischer und baugeschichtlicher Untersuchungen, wie auch Schrift quellen und ehemalige rechtliche Zugehörigkeiten Auskunft. Betrachtet man die Isohypsen des Stadtkartenwerkes, stellt man fest, daß der Bereich des Theaterplatzes noch heute eine Art Becken darstellt. Durch eine archäologische Sondierung, die 1991 an der Einmündung des Baderberges auf den Theaterplatz vorgenommen wurde, konnte fest gestellt werden, daß sich hier erst in ca. fünf Meter Tiefe Schichten des 13. Jahrhunderts befanden. Eine später erfolgte Notbergung an der Westseite des Gebäudes Lorenzgasse 5 ermittelte nach Osten stark abfallende Schichten mit Keramik des 12. und 13. Jahrhunderts. An dieser Stelle ist also mit einer ursprünglich vorhandenen Terrasse zu rechnen.

Bezieht man die ersten Ergebnisse des Meißner Kellerkatasters und die einer intensiveren baugeschichtlichen Untersuchung am Gebäude Lorenzgasse 5 in die Betrachtung mit ein, gibt sich folgendes: Die anthropogen verursachten Aufschüttungen im Bereich des Theater platzes betragen selbst an seiner Westseite über fünf Meter (Abb. 3). Deshalb ist damit zu rechnen, daß sich hier im 10./11. Jahrhundert ein Elbmäander oder ein Altarm der Triebisch befand, der für einen Hafen ideale Voraussetzungen bot. Bei den Untersuchungen im Gebäude Lorenzgasse 5 wurde im heutigen Keller Bausubstanz festgestellt, die ursprünglich zum Erdgeschoß eines Gebäudes gehörte und mit Sicherheit als romanisch anzusprechen ist. Im Gegensatz dazu sind alle Kelleranlagen um den eigentlichen Theaterplatz wesentlich jünger, hier gibt es vor dem 15. Jahrhundert keinen Nachweis von Steinbausubstanz. Die romanischen Steingebäude, von denen eins in oben genanntem Keller nachweisbar war, sind genau an der Kante der ehemaligen Uferterrasse errichtet worden (Abb. 5, L). Der Komplex beherbergte nachweislich seit dem 13. Jahrhundert das Hospital mit der Kapelle des Heiligen Laurentius. In einer Urkunde von 1216 nennt es das Domkapitel »sein Hospital«. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterstand es der Gerichtsbarkeit des Domkapitels und wurde durch die Meißner Bevölkerung bis ins 16. Jahrhundert als »Heiliges Viertel«  bezeichnet. Die Reste der Laurentiuskapelle sind erst zu Beginn unseres Jahrhunderts ohne vorherige Dokumentation abgerissen worden. Aber auch im Gebäude Baderberg 10 ist romanische Steinbausubstanz nach weisbar. Obwohl tiefgreifendere Untersuchungen für die Nr. 10 noch ausstehen, kann ein geschlossener, zumindest im 11. Jahrhundert

schon existierender Gebäudekomplex, eine curia (?), umrissen werden, die ursprünglich zum Betreiben des Hafens notwendig war. Einen ihrer wesentlichen Bestandteile bildete die Laurentiuskapelle oder -kirche. Der im Zusammenhang mit der Übertragung der Elbzölle 983 erwähnte Hafen der Meißner Kirche könnte demnach als Standort der bei Thietmar erwähnten Kirche vor der Burg in Betracht kommen, auch wenn wir den Beweis dafür bislang schuldig bleiben müssen.

Abb. 4: Darstellung der Neumarktsiedlung auf der Karte von Oeder/Zimmermann um 1600.

10 Gröger 1929, 93.

11 Christl 1994.

12 Christl 1996.

13 Loose 1900.

Die Lage des Meißner Hafens und damit des ersten Marktes ist aus dem eben Ausgeführten ersichtlich, dieser Hafen war zugleich erster Markt. Es wird sich aufgrund der vorhandenen Bevölkerungsdichte und Infrastruktur sicher nur um einen Jahrmarkt, der am Namenstag eines Heiligen stattfand, gehandelt haben. In Meißen fand er zumindest seit 1401 am Tage St. Donatus statt.10

Erst im 12. Jahrhundert änderte sich die Situation. In der Nähe, aber auch in gebührendem Abstand zur landesherrlichen Burg, hatten sich deutsche und jüdische Fernhändler angesiedelt (Abb. 5, Js, Jf, N). In der Siedlung der christlichen Fernhändler bestand eine Kirche die deren Schutzpatron, St. Nikolaus, geweiht war. Eine dendrochronolo gische Untersuchung der Dachsparren des bestehenden romanischen Kirchensaales ergab 1198 als Fälldatum. Aber auch hier konnte wie in der Martinskapelle ein sekundär verbautes Holz von einer Vorgängeranlage untersucht werden, das vor 1159 gefällt worden sein muß.11 Östlich anschließend an die deutsche Fernhändlersiedlung befand sich bis zum Pogrom von 1349 die jüdische Siedlung, die 1180 bereits über eine als Steinbau errichtete Synagoge verfügte.12 Die Siedlung Neumarkt behielt bis ins vergangene Jahrhundert hinein ihre rechtliche Autonomie.13 Auf der Karte von Mathias Oeder aus der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ist sie noch als umzäuntes Gelände mit der Nikolaikirche im Zentrum dargestellt (Abb. 4).

Der letzte Schritt zur Stadtwerdung erfolgte in den letzten Jahrzehn ten des 12. Jahrhunderts. Das erste Siegel der Stadtgemeinde weist auf eine gemeinschaftliche Gründung der Kommune durch Burggrafen und Markgrafen hin. Es zeigt einen Herold mit zwei Wappenschilden, dem meinheringischen der Burggrafen und dem wettinischen der Markgrafen vor einem Stadttor.

Die Gründung der Stadt erfolgte aber nicht wie bei vielen andern Städten in dieser Zeit auf wilder Wurzel, sondern mußte auf bereits vorhandene Strukturen und Bauwerke Rücksicht nehmen. Auf die rechtliche Situation zwischen Burggrafen und Markgrafen kann und soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Die bisher archäologisch gewonnenen Erkenntnis se zeigen aber, daß bereits vor Festlegung der heute noch vorhandenen Stadtstruktur die Burgstraße in ihrem Verlauf vorhanden war und von der Südwestecke des Rathauses quer über den späteren Marktplatz in Richtung auf das Gebäude Markt 5 führte.14 Dendrochronologisch konnte das für die Befestigung des Weges verwendete Eichenholz auf 1109 datiert werden. Im Kellerkataster deutet sich im Quartier zwischen Fleischer- und Marktgasse die Fortsetzung dieses Weges an. Es kann deshalb angenommen werden, daß die beiden das Quartier begrenzen den Straßen erst in einer späteren Umstrukturierungsphase entstanden sind.

Bei Kanalisationsarbeiten im Bereich der Einmündung der Elb straße in den Marktplatz wurden 1993 in ca. zwei Meter Tiefe die Reste eines Stabbohlenbaues entdeckt. Die Lage dieses Haus zeigt, daß er vor der Anlage der Elbstraße existiert haben muß. Eine dendrochronolo gische Untersuchung des geborgenen Holzes steht noch aus, trotzdem kann vermutet werden, daß es sich entweder um eine Bebauung vor Anlage der Bürgerstadt oder, wie beim eben erläuterten Befund, um eine Umplanung handelt. Anders sind mit Sicherheit die Befunde der

Grabungen in den Hinterhöfen der Gebäude Marktgasse 1 (1991–92) und Heinrichsplatz 6 (»Goldener Löwe«) (1999) zu werten. In beiden Fällen konnte eine Holzbebauung aus der Mitte der 12. Jahrhunderts nachgewiesen werden, die zu den noch bestehenden Hausfluchten Bezug nahm.15

Eine weitere Besonderheit stellt die Görnische Gasse dar, die mit ihrem Namen auf das Dorf Kirnitzsch Bezug nimmt (Abb. 5, K). Noch in Urkunden des 14. Jahrhunderts werden Bürger der Stadt Meißen in »vico Kirnitz« erwähnt16. Das deutet auf die Einbeziehung der ehemaligen Dorfflur in das Stadtgebiet hin, worauf auch die angerartige Aufweitung der Görnischen Gasse im Bereich vor dem ehemaligen Stadttor noch heute hinzuweisen scheint.

Eine Besonderheit Meißens stellt die komplette Ummauerung unter Einbeziehung von Gebieten, die rechtlich nicht zur Bürgerstadt gehörten, dar. Sowohl die »Freiheit« als auch der »Jahrmarkt«, der erst 1446 rechtlich zur Bürgerstadt kam,17 und das »heilige Viertel«  wurden von einer Stadtmauer umschlossen. Ob es zwischen diesen Bereichen unterschiedlicher Rechtszugehörigkeit auch Abtrennungen durch Ummauerungen gegeben hat, deutet sich zwar stellenweise an, bedarf aber weiterer Untersuchungen.

14 Christl 1993a.

15 Christl 1992, 1993b; Westphalen 1999.

16 Codex diplomaticus Saxoniae regiae II, 1, Nr. 287.

17 Gröger 1929, 214.

Dr. Andreas Christl

Stadtverwaltung Meißen, Denkmalschutz behörde, Schlossberg 9, D-01662 Meißen

achristl@sv-meissen.de

Literatur

Zusammenfassend kann festgestellt werden. Meißen ist keine Kolonisa tionsstadt der Ostkolonisation im reinen Sinn. Ihr Grundriß orientiert sich ansatzweise am Anlageschema dieser Städte. Die Zwänge, die durch schon vorhandene Strukturen und Bauwerke gegeben waren, haben die Einteilung der Stadt aber sehr wesentlich geprägt.

Blaschke, Karlheinz: Nikolaikirchen und Stadtentstehung in Europa; in: ders.: Stadtgrundriss und Stadtentwicklung (Städteforschung A 44). Köln/Weimar/Wien 1997, 359–362.

Christl, Andreas: Archäologische Untersuchungen im Hof »Markt 3«/»Marktgasse 1«; in: Denkmal pflege und Archäologie – Meißen plant und baut, 1. Meißen 1992, 45.

Christl, Andreas (1993a): Neue Erkenntnisse zur frühgeschichtlichen Wegeführung in Meißen; in: Ausgrabungen und Funde 38, 1993, 7–24.

Christl, Andreas (1993b): Stadtarchäologie Meißen; in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 2/3. 1993, 28.

Christl, Andreas: Ein romanischer Kirchengrundriß in der Urbanskirche in Meißen; in: Oexle,

Judith (Hrsg.): Frühe Kirchen in Sachsen (Veröffentlichungen des Landesamtes für Archäologie mit Landesmuseum für Vorgeschichte 23). Stuttgart 1994, 191.

Christl, Andreas: Steine mit hebräischen Inschriften aus Meißen; in: Denkmalpflege in Sachsen 1996, 54.

Findeisen, Peter: Zur Baugeschichte der St. Afra Kirche in Meißen; in: Lau, Franz (Hrsg.): Das Hochstift Meißen (Herbergen der Christenheit, Sonderband ). Berlin 1973, 347–358.

Gröger, Helmuth: Meissen – Ein Beitrag zur Städtegeschichte der deutschen Kolonisationszeit; in: Beschorner, Hans (Hrsg.): Deutsche Siedlungsforschungen. Leipzig 1927, 236–266 und Karte.

Gröger, Helmuth: Tausend Jahre Meißen. Meißen 1929.

Gurlitt, Cornelius: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. 39: Meißen (Stadt,Vorstädte, Afrafreiheit, Wasserburg). Dresden 1917.

Kretzschmar, Johannes R.: Die Entstehung von Stadt und Stadtrecht in den Gebieten zwischen der mittleren Saale und der Lausitzer Neiße (Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechts geschichte 75). Breslau 1905.

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Pätzold, Barbara: Otto I.; in: Engel, Evamaria (Hrsg.): Deutsche Könige und Kaiser des Mittelalters. Leipzig/Jena/Berlin 1989.

Westphalen,Thomas: Kleine Grabung – große Ergebnisse; in Archäologie in Deutschland 1999, Heft 1, 50