Kurs Diskussion:Exerzitien unter der Straße/Der "Ungleichsstaat"
- Der Unrechtsstaat DDR war noch besser als der Ungleichsstaat BRD heute. (Amy 2012, nach der Finanzkrise)
- Das perfide System wurde geschaffen, um einer kleinen Elite von hundert Familien ein paradiesisches Leben zu ermöglichen. (Rezension zu "Oxygenien" von Klará Fehér bei fantasyguide. - vgl. Klára Fehér und Oxygenien)
--Methodios (Diskussion) 08:42, 20. Sep. 2020 (CEST)
Soziale Ungleichheit ist nicht naturgegeben
BearbeitenVermeintlich wissen wir über Arme alles: welche Chips sie essen, mit welchen Marken sie sich einkleiden, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Über den anderen Pol der Klassengesellschaft hingegen wissen wir so gut wie nichts. Woher auch? Auf RTL 2 laufen nicht den ganzen Tag Doku-Soaps, in denen die Superreichen Einblicke in ihren Alltag gewähren – von ein paar Neu-, aber sicher nicht Superreichen wie den Geissens mal abgesehen. Die Reichen heiraten gern unter ihresgleichen, gehen in exklusive Clubs, wohnen in Gated Communitys. Kurzum: Diese Parallelgesellschaft besteht aus Integrationsunwilligen. Um den Reichen die Rückkehr in die Gesamtgesellschaft zu erleichtern, ruft das bundesweite Bündnis „Wer hat, der gibt“ am 19. September zu Aktionen in mehreren Städten auf. In Hamburg soll in einem Villen-Viertel an der Außenalster demonstriert werden. Im Aufruf heißt es: „Millionär*innen und Milliardär*innen haben ihr Geld nicht ‚verdient‘, sondern sie haben sich angeeignet, was wir erarbeitet haben.“ Deshalb sollen die Reichen für die Coronakrise zahlen. Ganz realpolitisch fordert das Bündnis die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine effektive Besteuerung großer Erbschaften und mehr Geld für Krankenpfleger*innen, Erzieher*innen, Erntehelfer*innen oder Kassierer*innen. Die Berliner Autorin Bini Adamczak sagte Anfang 2019 im Interview mit dem Online-Magazin kritisch-lesen.de: „Der Mut, nach oben zu treten, ist links. Nach unten treten, ist rechts.“ Richtig ist diese Aussage nicht, weil die da oben moralisch verkommene Wesen und die, die unten sind, qua ihres Status irgendwie sympathischer wären. Richtig ist Adamczaks Satz, weil der kleinste gemeinsame Nenner linker Politik die Gleichheit aller Menschen ist. Rechte Politik hingegen orientiert sich an der Ungleichheit: Neoliberale legitimieren sie, indem sie die Menschen in Leistungsträger und Leistungsempfänger einteilen. Völkische Nationalisten trennen zwischen einer angeblich zivilisierten Kultur (aka Rasse) auf der einen Seite und einer rückständigen und minderwertigen auf der anderen. Neofeudale zelebrieren den Unterschied zwischen Eigentümern und Schuldnern. Je nach Ideologie ist die Ungleichheit gottgemacht, naturgewollt oder Treiber für soziale Entwicklung. Aus der Perspektive der ökonomischen Gleichheit ist unsere Gesellschaft rechtsradikal: Wenige verfügen über das, was eine Mehrheit erarbeitet hat, und können dabei einen so großen Berg Money anhäufen, den sie nicht einmal in hundert Leben selbst verbrauchen könnten: Allein in Deutschland werden jährlich bis zu 400 Milliarden Euro vererbt. Jeff Bezos verdient in 16 Sekunden so viel Geld wie eine Krankenpflegerin im ganzen Jahr. Diejenigen, die den Status quo beibehalten wollen (Reiche zum Beispiel), sind kreativ, um den Kampf für mehr Gleichheit zu verteufeln. Sie erfinden Begriffe wie Neid-Debatte, wenn Menschen es wagen, die Resultate des rechtsradikalen Wirtschaftssystems zu kritisieren. Sie sprechen mit Sorgenfalten auf der Stirn von einer drohenden Spaltung der Gesellschaft, wenn es um die real existierende zwischen Arm und Reich geht. Und sie sprechen von verkürzter, regressiver oder gar strukturell antisemitischer Kapitalismuskritik, wenn nicht ausschließlich Strukturen, sondern auch der Reichtum mancher Menschen thematisiert wird. Bei Brecht heißt es: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich.“ Anders gesagt: Sich den Reichtum der Reichen überhaupt zu vergegenwärtigen, kann ein erster Schritt sein, den strukturellen Zusammenhang von Reichtum und Armut zu erkennen. Die Klassengesellschaft ist von Menschen gemacht.
Soziale Ungleichheit ist nicht naturgegebenVermögenssteuer. Ein Aktionsbündnis verlangt, dass die Reichen für die Kosten der Coronakrise aufkommen. „Verdient“ haben sie diesen Reichtum ohnehin vielfach nicht. Von Sebastian Friedrich. Der Freitag, Ausgabe 38/2020 (16. September 2020).
--Methodios (Diskussion) 22:06, 20. Sep. 2020 (CEST)
Wohin das Geld fließt
BearbeitenAuch in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten hat der Staat enormen Einfluss auf die Verteilung des Wohlstands. Was das konkret in Euro bedeutet, zeigen Daten, die Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zur Verfügung gestellt hat. Basis der staatlichen Umverteilung sind die Markteinkommen, also Bruttolöhne und Kapitaleinkünfte. Darauf werden Steuern und Abgaben erhoben. Ein Teil des Geldes fließt an Menschen, die auf den Arbeits- oder Finanzmarkt keine Einkünfte erzielen, etwa weil sie keinen Job haben oder in Ruhestand sind. Aus dieser Umverteilung ergeben sich die tatsächlich verfügbaren Einkommen, zu denen Nettolöhne und staatliche Leistungen, wie Arbeitslosengeld, Hartz IV und Renten, gehören. In den 10 Prozent der ärmsten Haushalte in Deutschland erzielten die Menschen im Jahr 2017 laut DIW im Schnitt ein Markteinkommen von 117 Euro pro Person und Monat. Davon kann man nicht leben. Inklusive Sozialleistungen hatten sie 532 Euro zur Verfügung und damit viereinhalb Mal so viel. Personen in den reichsten Haushalten (rund 10 Prozent aller Haushalte) kamen im Schnitt auf Bruttolöhne und Kapitalerträge von monatlich 5.323 Euro pro Kopf. Nach Abzug von Steuern und Abgaben blieben in diesen Haushalten 3.513 Euro für jedes Kind, jeden Erwachsenen und jeden Rentner.
Wohin das Geld fließt. Über die Verteilung der Einkommen, die Wirkung des Sozialstaats und alternative Mittel, Menschen vor finanzieller Not zu bewahren. Von Eva Roth. ND vom 12. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 07:02, 14. Jun. 2020 (CEST)
Durch staatliche Umverteilung haben Arme mehr Geld, Reiche weniger – und die Mittelschicht wird gestärkt. Sortiert man die Haushalte nach ihrem Markteinkommen, gehörten zuletzt gerade einmal 45 Prozent zur Mittelschicht. Nach staatlicher Umverteilung waren es immerhin 76 Prozent. Angesichts dieses Effekts ist es bemerkenswert, wenn marktliberale Politiker einerseits die Mittelschicht beschwören und andererseits über den Sozialstaat die Nase rümpfen. Wenn wenige Topverdiener Spitzeneinkünfte erzielen und viele zum Mindestlohn arbeiten, ist es für die Politik aufwendiger, die Unterschiede bei den Markteinkommen auszugleichen. Das ist eigentlich logisch, gerät aber in der politischen Debatte oft aus dem Blick, wenn etwa hohe Steuern beklagt werden, ohne nachzuschauen, wie die Markteinkommen verteilt sind. Tatsächlich ist die Ungleichheit über Jahrzehnte gewachsen. So sind zwischen 1995 und 2015 die Bruttogehälter von Besserverdienenden gestiegen, die von Geringverdienenden sanken hingegen preisbereinigt um bis zu 7 Prozent, während die Wirtschaft in diesem Zeitraum um 30 Prozent wuchs.
Wohin das Geld fließt. Über die Verteilung der Einkommen, die Wirkung des Sozialstaats und alternative Mittel, Menschen vor finanzieller Not zu bewahren. Von Eva Roth. ND vom 12. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 07:07, 14. Jun. 2020 (CEST)
Diese Entwicklung ist nicht mit Marktkräften, wie der Nachfrage nach Personal, zu erklären. Die sogenannten Markteinkommen werden vielmehr stark von politischen Vorgaben und wirtschaftlichen Kräfteverhältnissen bestimmt. Und die haben sich nach 1990 deutlich verschoben. Nach der »Wende« gelang es Politik und Unternehmen, die Gewerkschaften massiv zu schwächen. Immer mehr Firmen verabschiedeten sich aus der Tarifbindung, wodurch die Gewerkschaften in diesen Betrieben keinen Einfluss mehr auf die Löhne haben. Bis heute sinkt der Anteil der Beschäftigten, für die Tarifverträge gelten. Produktmärkte, wie die Postbranche, wurden privatisiert, neue Firmen verschafften und verschaffen sich mit geringeren Lohnkosten Wettbewerbsvorteile. Der Sozialforscher Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen nennt das eine »Zerstörung von Tarifverträgen durch das Wettbewerbsrecht«. Später drückten die Hartz-Gesetze ohnehin niedrige Löhne weiter nach unten. Der Schwächung der Gewerkschaften folgte eine »zweite Verteilungsrunde«, so Bosch: Spitzenverdiener nutzten ihren relativen Vorteil und setzten eine Absenkung der Einkommensteuer und der Unternehmenssteuern durch. Im Ergebnis waren zuletzt sowohl die Markteinkommen als auch die verfügbaren Einkünfte ungleicher verteilt als in den 1990er Jahren. Seit einigen Jahren verharrt die Ungleichheit mit leichten Schwankungen auf einem nunmehr höheren Niveau.
Wohin das Geld fließt. Über die Verteilung der Einkommen, die Wirkung des Sozialstaats und alternative Mittel, Menschen vor finanzieller Not zu bewahren. Von Eva Roth. ND vom 12. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 07:10, 14. Jun. 2020 (CEST)
In den kommenden Monaten dürften sich die Verteilungskämpfe wieder verschärfen, wenn es darum geht, wie mit der Pandemie-Verschuldung des Staats umzugehen ist. »Es wird künftig entweder höhere Steuern oder geringere staatliche Leistungen geben. Vermutlich beides«, sagte der Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, Ende April der »Rheinischen Post«. Tatsächlich hat die Politik noch viele andere Möglichkeiten, die Fuest nicht erwähnt. Sie kann sich zum Beispiel zum Ziel setzen, die unteren und mittleren Bruttolöhne, etwa im Einzelhandel, im Gastgewerbe und in der Pflege, vor einer erneuten Absenkung zu bewahren und stattdessen anzuheben. Höhere Löhne bedeuten auch höhere Einnahmen aus Sozialbeiträgen. Das stärkt den Sozialstaat. Damit dies gelingt, kann die Politik Gewerkschaften stärken und die Tarifbindung ausdehnen, indem sie zum Beispiel Tarifverträge für ganze Branchen für verbindlich erklärt. Das passiert in Frankreich seit Langem in großem Stil und führt dazu, dass Menschen vor finanzieller Not geschützt sind, ohne staatliche Umverteilung.
Wohin das Geld fließt. Über die Verteilung der Einkommen, die Wirkung des Sozialstaats und alternative Mittel, Menschen vor finanzieller Not zu bewahren. Von Eva Roth. ND vom 12. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 07:25, 14. Jun. 2020 (CEST)
Gewerkschaften aufgepaßt
BearbeitenVon 2018 auf 2019 war das Privatvermögen um Währungsschwankungen bereinigt um satte zehn Prozent auf rund 226 Billionen US-Dollar (etwa 201 Billionen Euro) gestiegen. 2019 sei damit das stärkste Jahr seit 2009 gewesen, zitierte dpa Zakrzewski. Die gute Nachricht fürs Volk hier: Deutschland liegt der Studie zufolge mit Privatvermögen von insgesamt 7,7 Billionen US-Dollar (rund 6,9 Billionen, also 6.900 Milliarden, Euro) weltweit weiterhin auf Platz fünf. Nur verfügen leider weder Krankenschwestern noch Busfahrer über bedeutende Anteile an diesem Reichtum. Zwar stieg nicht nur die Vermögenssumme, auch die Menge der Vermögenden war zuletzt enorm gewachsen. Doch es stellt keine Überraschung dar, dass die Nutznießer dieser Geldflut andere waren: Weltweit hat sich die Anzahl der Millionäre in den vergangenen 20 Jahren fast verdreifacht, so die BCG-Studienautoren lapidar. Ende 2019 verfügten demnach mehr als 24 Millionen Menschen über ein Vermögen von einer Million US-Dollar oder mehr. 1999 waren es noch 8,9 Millionen. Nicht überraschend: Die große Mehrheit von ihnen lebt in den USA, Deutschland liege mit 400.000 Millionären an siebter Stelle. Diese Zahl habe sich damit in der Bundesrepublik in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdoppelt.
Gewerkschaften aufgepaßt. Reiche brauchen jetzt Geduld. Studie: Globale Coronapandemie bremst rapides Wachstum von Privatvermögen Von Klaus Fischer. Junge Welt vom 19. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 08:04, 19. Jun. 2020 (CEST)
Doch was ist das schon, ein Millionär? Für die richtig Reichen fängt der Spaß erst bei 100 Millionen an. Und in dieser Liga glänzten die deutsche Vermögensathleten wie erwartet in Sachen Geldernte: Mit 2.400 Personen, die über materielle Werte von umgerechnet mehr als 100 Millionen Dollar verfügen, stellt die BRD nach den USA und China dem Bericht zufolge die dritthöchste Zahl von extrem Reichen in einem Land. Und wie toll die Aneignung und die Umverteilung von unten nach oben auch weiterhin funktioniert, macht ein Vergleich besonders deutlich: Insgesamt verfügten laut Studie Millionäre und Milliardäre über mehr als die Hälfte des weltweiten Vermögens.
Gewerkschaften aufgepaßt. Reiche brauchen jetzt Geduld. Studie: Globale Coronapandemie bremst rapides Wachstum von Privatvermögen Von Klaus Fischer. Junge Welt vom 19. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 08:07, 19. Jun. 2020 (CEST)
Reformen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein
BearbeitenIn besagtem Bericht wird in diesem Jahr stark Bezug genommen auf soziale Rechte wie das Recht auf Wohnen oder das auf eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung. Derlei soziale Menschenrechte sind in der Vergangenheit nicht nur von der politischen Linken oft vernachlässigt worden. Sehen Sie die Chance, dass einst von links besetzte Themen – wie die soziale Frage oder auch das Recht auf ein Leben in Frieden – künftig wieder größere Bedeutung bekommen könnten? - Das sollten sie, ja. Gerade die Coronapandemie hat ja die Defizite in der sozialen Infrastruktur offengelegt und auch gezeigt, wer in schlecht bezahlten Jobs alles am Laufen hält. Wir müssen jetzt für den universellen Zugang zu guter Gesundheitsversorgung und für ein Grundrecht auf Wohnen streiten.
Debatte über Grundrechte: »Reformen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein« Ein Gespräch mit Michèle Winkler. Über strukturellen Rassismus in der BRD, Proteste in Zeiten der Pandemie und eine Empfehlung an Dietmar Bartsch. Interview: Markus Bernhardt. Junge Welt vom 20. Juni 2020
DGB fordert deutliche Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze
BearbeitenBerlin. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert eine deutliche Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze. »Es ist in einem reichen Land wie Deutschland ein Skandal, dass die viel zu niedrigen Regelsätze noch nicht einmal ausreichen, um sich gesund und ausgewogen zu ernähren«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Mittwoch). Die vor zwei Wochen von der Regierung beschlossene monatliche Erhöhung des Regelsatzes um sieben Euro für alleinstehende Erwachsene ab Januar 2021 müsse daher »deutlich angehoben werden«. Hartz-IV bedeute für den Alltag der Betroffenen »extremer Mangel, Entbehrung und Ausgrenzung«, kritisierte Piel. Zudem sei es »menschenunwürdig«, dass die Leistung auch in der Corona-Krise durch Sanktionen gekürzt worden seien. Piel verwies auf eine aktuelle Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Der am Dienstag veröffentlichten Studie zufolge bieten die derzeitigen Regelsätze keinen Schutz vor Armut. Zudem gebe es keine finanziellen Spielraum für eine ausgewogene gesunde Ernährung sowie für ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe. Der Paritätische hatte ebenfalls eine sofortige Erhöhung der Regelsätze in Hartz-IV und Altergrundsicherung um 100 Euro pro Kopf und Monat gefordert, bis die Beiträge Anfang kommenden Jahres neu festgesetzt werden. dpa/nd
Hartz IV bedeutet existenzielle Not
BearbeitenDie derzeitigen Hartz-IV-Sätze führen zu Armut - dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie der Forschungsstelle des Paritätischen Gesamtverbands. Die Leistungen der Grundsicherung unterschreiten demnach regelmäßig die Armutsschwelle. Betroffenen fehlt es etwa an Geld für ausgewogene Mahlzeiten. Laut der Studie, die an diesem Dienstag veröffentlicht wird, haben Menschen im Grundsicherungsbezug »deutlich häufiger Defizite bei der Ernährung«. In der Studie wurde ein Fragebogen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ausgewertet, in dem es unter anderem um Mängel in der Ernährung ging. Ein solcher liegt, so die Autoren, etwa dann vor, wenn nicht mindestens alle zwei Tage eine warme Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder Geflügel gegessen wird. Sechs Prozent der Alleinerziehenden-Haushalte mit Hartz-IV-Bezug essen demnach nicht mindestens jeden zweiten Tag eine solche Mahlzeit, bei den Singles gaben dies sogar 15 Prozent an. Als Grund nannten die meisten Menschen mit Hartz-IV-Bezug finanzielle Abwägungen. Den Schluss eines Ernährungsmangels legt auch die Auswertung einer Studie aus dem Jahr 2018 nahe. Im Rahmen eines EU-Projektes wurden zur Bedarfsermittlung in verschiedenen Ländern Warenkörbe zusammengestellt. Der Warenkorb für Ernährung in Deutschland basierte auf Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Der Paritätische stellt fest, dass einem Paar mit zwei Kindern im Hartz-IV-Bezug demnach monatlich 123 Euro für Lebensmittel fehlen. Bei einem alleinlebenden Mann liegt die Differenz zwischen dem im Regelsatz vorgesehenen Betrag für Essen und dem Bedarf nach dem DGE-Warenkorb bei 45 Euro. Aber auch in anderen Bereichen gibt es laut dem Wohlfahrtsverband viel zu wenig Geld für Erwerbslose. In allen für Teilhabe relevanten Aspekten stehen Haushalte, die auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind, »deutlich schlechter da als der Rest der Gesellschaft«. So sei etwa die Gefahr von Vereinsamung und sozialer Isolierung sehr hoch. Beispielsweise könne sich mehr als ein Viertel der Singlehaushalte mit Hartz-IV-Bezug keinen Internetanschluss leisten. Insgesamt hätten sich die Defizite des Arbeitslosengeldes für Ein-Personen-Haushalte seit 2010 stetig erhöht. Bei dieser Gruppe müsse inzwischen bereits von »strenger Armut« gesprochen werden, so der Paritätische. Bei den Familien seien besonders Alleinerziehende »mit Mangel und Entbehrungen konfrontiert«. Am deutlichsten benachteiligt werden Leistungsberechtigte laut der Studie bei den materiellen Entbehrungen, die der sozialen Teilhabe zugeordnet werden können. Hier zeigten sich im Vergleich zu Personen, die nicht auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, massive Unterschiede. Laut dem SOEP gehört zur Teilhabe etwa die Möglichkeit, Freunde einmal im Monat zum Essen einzuladen oder monatlich einmal ins Kino, Theater oder zu einer Sportveranstaltung zu gehen. 40 bis 60 Prozent der Haushalte mit Grundsicherungsbezug gaben an, dass sie sich diese Aktivitäten nicht leisten können. Auch die Möglichkeit, alte Kleidung oder Möbel zu ersetzen, ist laut der Untersuchung für Menschen mit Hartz-IV-Bezug deutlich geringer als für andere. Schließlich hätten diese keine finanzielle Rücklagen. Wenn Sachen kaputtgehen, führe dies regelmäßig zu Problemen. Gesetzlich werde für solche Situationen auf die Möglichkeit eines Darlehens hingewiesen, doch dies helfe Betroffenen nicht, weil es in Form von reduzierten Leistungsansprüchen zurückgezahlt werden müsse und sich das Problem dadurch nur verschiebe. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass »unter den Hartz-IV-beziehenden Haushalten materielle Unterversorgung weit verbreitet ist«. Zudem sei die Entscheidungsfreiheit der betroffenen Haushalte verengt. Für sie stelle sich die Frage, ob sie bei der Ernährung oder der Teilhabe verzichten. Aufgabe der Grundsicherung ist jedoch nach Aussage des Bundesverfassungsgerichts von 2014 die Aufrechterhaltung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an sozialer, politischer und kultureller Teilhabe. Dies und ebenso die UN-Entwicklungsziele für 2030, die Armutsbekämpfung und die Reduktion sozialer Ungleichheit bezwecken, würden nicht erreicht werden. »Hartz IV schützt nicht vor Armut, sondern manifestiert sie«, kommentiert der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, die Studie. »Millionen Menschen sind von der gesellschaftlichen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt, ausgegrenzt und werden immer weiter abgehängt.«
Wirtschaft und Umwelt Armut. Hartz IV bedeutet existenzielle Not. Laut einer Studie des Paritätischen Gesamtverbands werden Erwerbslose abgehängt und ausgegrenzt Von Lisa Ecke. ND vom 1. September 2020.
Armutsquote: Reformen von gestern, Armut von heute
BearbeitenDie miserablen Arbeitsbedingungen von migrantischen Beschäftigten in der Landwirtschaft und in Schlachthöfen sind durch die Coronakrise in die öffentliche Debatte gerückt. Migranten und Menschen ohne deutschen Pass gehören zu den Gruppen, die besonders oft in relativer Armut leben, das war schon vor der Pandemie so. Insgesamt ist die Armutsquote in Deutschland 2019 auf das höchste Niveau seit mehr als zehn Jahren gestiegen, trotz Wirtschaftswachstum und sinkender Arbeitslosigkeit. Die politischen Gründe hierfür spielen in der öffentlichen Debatte kaum noch eine Rolle. Die Armutsquote sagt etwas darüber aus, wie der Wohlstand verteilt ist. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt als relativ arm oder armutsgefährdet. Bei einem Single lag die Schwelle zuletzt bei 1074 Euro netto im Monat. Im vergangenen Jahr waren 15,9 Prozent der Menschen in Deutschland armutsgefährdet, berichtete das Statistische Bundesamt am Donnerstag. Im Ostdeutschland ist die Armutsquote binnen zehn Jahren gesunken, sie lag aber mit rund 18 Prozent zuletzt weiterhin über dem Bundesschnitt. Im Westen stieg der Anteil der Menschen mit geringen Einkünften von rund 13 auf über 15 Prozent. Eigentlich hätte man erwarten können, dass die Armutsquote zurück geht. Schließlich ist in dem langen Aufschwung nach dem Krisenjahr 2009 die Zahl der Arbeitslosen um mehr als eine Million gesunken, und die Reallöhne sind gestiegen. Doch viele Männer und Frauen haben nur einen schlecht bezahlten Job gefunden oder konnten nur eine Teilzeitstelle annehmen. Und so waren zuletzt acht Prozent der Erwerbstätigen relativ arm. Ein Grund für die Niedriglöhne ist die Entscheidung von immer mehr Unternehmen, die Belegschaft nicht nach Tarif zu bezahlen. Dieser Trend hat lange vor der Agenda 2010 begonnen und hält weiter an. Ein weiterer Grund sind die Hartz-Reformen der rot-grünen Koalition. Auch sie wurden schon vor langer Zeit beschlossen, setzen den Arbeitslosen aber immer noch zu, weil das Arbeitslosengeld I nur für einen relativ kurzen Zeitraum bezahlt wird und die Hartz-IV-Sätze niedrig sind. Zuletzt war die Mehrheit der Erwerbslosen - rund 58 Prozent - relativ arm. Menschen ohne deutschen Pass sind besonders oft arbeitslos und werden bei der Jobsuche zudem diskriminiert. Häufig führen sie schlecht bezahlte Tätigkeiten aus, im Gastgewerbe, in Schlachthöfen, auf Äckern oder als Paketzusteller - auch wenn sie gut qualifiziert sind. Sozialabbau und mangelnden Arbeitnehmerschutz bekommen Menschen ohne deutschen Pass darum besonders oft zu spüren. Rund 35 Prozent von ihnen waren zuletzt relativ arm. Wer jetzt vor allem an Geflüchtete denkt: 2005 war die Armutsquote unter Ausländern fast ebenso hoch. Alleinerziehende und Paare mit drei oder mehr Kindern leben ebenfalls sehr oft in finanziell prekären Verhältnissen, weil die Menschen allenfalls Teilzeit arbeiten können oder Löhne und staatlichen Leistungen eben nicht ausreichen, damit eine große Familie auskömmliche Einkünfte hat. Renteneinschnitte sind wie die Hartz-Reformen schon vor langer Zeit beschlossen worden. Nun zeigen sie Wirkung: Die Armutsquote unter Rentnerinnen und Rentnern ist binnen eines Jahrzehnts von zwölf auf 17 Prozent gestiegen.
Armutsquote. Reformen von gestern, Armut von heute. Bis zur Coronakrise ging es mit der Wirtschaft bergauf. Die Armutsquote ist trotzdem gestiegen. Von Eva Roth. ND vom 15. August 2020
--Methodios (Diskussion) 08:35, 2. Sep. 2020 (CEST)
Sanktionen: Hartz IV gehört abgeschafft
BearbeitenDiskriminierung hat viele Gesichter. Ein oft vernachlässigter Aspekt ist Klassismus, also die Benachteiligung aufgrund eines tatsächlichen oder vermuteten sozialen und ökonomischen Status. In Deutschland erfahren dies etwa Hartz-IV-Beziehende. Die Sanktionspraxis leistet zur Diskriminierung einen entscheidenden Beitrag: Es werden Leistungen vom Regelsatz gestrichen, der sowieso bereits am absoluten Existenzminimum liegt. Gerechtfertigt werden kann das nur, indem das Klischee des arbeitsunwilligen Sozialhilfeempfängers aufrechterhalten wird. Wer selbst schuld an der Erwerbslosigkeit ist, den könne man schließlich bestrafen. Während wegen der Corona-Pandemie die Sanktionen für Hartz-IV-Beziehende seit April ausgesetzt waren, sind diese laut Bundesagentur für Arbeit seit Donnerstag wieder möglich. Das bedeutet für die Betroffenen, sich in den Jobcentern wieder vermehrt rechtfertigen zu müssen. Für ihre Lage, die keineswegs aus persönlichem Versagen entstanden ist, sondern politische und gesellschaftliche Ursachen hat. Die Kampagne Hartz-Facts vom Paritätischen und vom Verein Sanktionsfrei kommt daher gerade zum richtigen Zeitpunkt. Sie will Vorurteile abbauen, höhere Regelsätze erreichen sowie Sanktionen abschaffen. Wenn Erwerbslosen weniger stigmatisiert werden, ist die Chance größer, effektiven politischen Druck für eine Abschaffung von Hartz IV ausüben zu können. Und das ist dringend nötig.
Kommentare. Sanktionen. Hartz IV gehört abgeschafft. Lisa Ecke über Hartz-Facts und die Wiedereinführung der Sanktionen. Von Lisa Ecke. ND vom 07.07.2020
Hartz-Sanktionen abschaffen, Regelsätze anheben
BearbeitenEndlich mit dem Märchen von den Hartz-IV-Empfänger*innen aufzuräumen, die den ganzen Tag faul in der Hängematte liegen - das ist eines der Ziele, die die Infokampagne Hartz-Facts erreichen will. Bilder von faulen Sozialhilfeempfängern seien 2003 produziert worden, um der Agenda 2010 politische Akzeptanz zu verschaffen, meint Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei am Dienstag auf der Pressekonferenz zum Kampagnenauftakt. »Schließlich ging und geht es immer noch um massive Einschnitte in der deutschen Sozialversorgung.« Vorurteile gegenüber Hartz-IV-Empfänger*innen sind allgegenwärtig, das zeigen sowohl eine ältere Allensbach-Umfrage als auch eine aktuelle von Hartz-Facts. Beide kommen zu dem Ergebnis, dass etwa ein Drittel der Befragten glaubt, Menschen in Hartz-IV-Bezug wollten gar nicht arbeiten. »Hartz IV ist zugleich Stigma, ist Meinung, ist Urteil und vor allem ist es Vorurteil«, erklärt Steinhaus am Dienstag. Im Rahmen von Hartz-Facts hängen Plakate in sieben Städten an Haltestellen, um auf die Kampagnenwebsite aufmerksam zu machen. Dort wird mit Vorurteilen gegenüber Erwerbslosen aufgeräumt, und es werden Fakten erklärt. Etwa, dass 1,6 Millionen Menschen zusätzlich zur Sozialhilfe die Essensausgabe der Tafel nutzen. Oder dass die Wahrscheinlichkeit, schwer an Covid-19 zu erkranken, für Hartz-IV-Beziehende um 84 Prozent höher liegt. Oder dass Betroffene keine Freizügigkeit genießen, sondern sie eine Abwesenheit vom Wohnort rechtzeitig beim Jobcenter beantragen müssen. Auf der Pressekonferenz fasst Steinhaus zusammen, dass für 5,8 Millionen Menschen Hartz IV nicht nur Armut, sondern immer auch soziale Ausgrenzung bedeute: »Aus finanziellen Gründen nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können ist die eine Sache«, doch die permanente Stigmatisierung sei besonders belastend. »Diskriminierung ist ein unbewusster und unterschwelliger Prozess und genau deswegen so gefährlich.« Die Kampagne mache es sich zum Ziel, diese Diskriminierungen aufzulösen. Permanenter Generalverdacht gegenüber Hartz-IV-Beziehenden, Schuldzuweisung, angebliche Unwilligkeit zu arbeiten sowie Kontrolle der Behörden bis in die tiefste Privatsphäre der Betroffenen sind Alltag. »Hartz-IV-Beziehende sind der Sündenbock der Leistungsgesellschaft«, sagt Steinhaus. Auch Ulrich Schneider, Geschäftsführer vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, nahm an der Pressekonferenz teil. Er erklärte, die Kampagne werde den Höhepunkt sicher im Oktober erreichen, wenn der Bundestag über die Höhe der neuen Regelsätze entscheidet. Die beiden Organisationen fordern eine Abschaffung der Sanktionen und eine Anhebung der Regelsätze auf mindestens 600 Euro.
Politik. Hartz IV. Aufräumen mit den Erwerbslosen-Klischees. Hartz-Sanktionen abschaffen, Regelsätze anheben, Vorurteile ausräumen - Sozialbündnis macht Druck. Von Lisa Ecke. ND vom 07.07.2020.
--Methodios (Diskussion) 08:46, 2. Sep. 2020 (CEST)
Armutskongress
BearbeitenSeit 1989 veröffentlicht Ihr Verband regelmäßige Armutsberichte für Deutschland. Und 2019 veranstalten Sie den dritten Armutskongress. Hat sich für die Menschen seither nichts verbessert? Unser erster Armutsbericht erschien unter dem Titel: »Armut in Deutschland...Wessen wir uns schämen müssen als reiches Land.« Das kann ich heute genau so unterschreiben. Die Armutsquote ist ungeachtet einer ausgezeichneten Wirtschaftslage in den letzten Jahren konstant geblieben. Auch die Felder sind altbekannt: Wohnen, Altersarmut, Arbeitslosigkeit, Kinderarmut, Pflege, psychische Erkrankungen, die Vereinnahmung von rechts. Aber gerade erleben wir, dass sich die gesellschaftliche Stimmung ändert. Woran machen Sie das fest? Ich beobachte, dass es eine zunehmende Sensibilisierung für Armut und soziale Ungleichheit gibt. Es gibt eine Reihe starker und wachsender Bewegungen, die sich den einzelnen Facetten widmen. Wenn man sich die Mietenwahnsinn-Demo ansieht, oder Unteilbar, die große Demo gegen Rechts zum Beispiel. Auch in der akademischen Diskussion spielt das Thema eine zunehmend wichtige Rolle. Zivilgesellschaftlicher Problemdruck ist das eine. Aber schlägt sich das in Regierungshandeln wieder? Ja. Beispielsweise in der Debatte um Pflege und Armut, wo es Überlegungen gibt, die Kostenbeteiligung der Pflegebedürftigen zu deckeln. Wir sehen, dass sich die Debatte um das Wohnen verändert und erfreulich radikalisiert hat. SPD und DGB sind daran, Papiere zu entwickeln, wie Hartz IV überwunden werden soll. Es gibt Überlegungen, eine armutsfeste Grundrente zu schaffen. All das zeigt: Das Thema Armut hat die Nische verlassen und findet wieder auf dem zentralen politischen Marktplatz statt. Bei Hartz IV muss ich allerdings einhaken. Der Paritätische beklagt, dass gerade Arbeitslose das höchste Armutsrisiko tragen. An den zu niedrigen Sätzen will die SPD aber gar nichts ändern. Wenn man die Sanktionen wegnimmt, die Hilfen für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt verbessert und die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld I verlängert, sind das wichtige Schritte. Aber ja: Die zuständigen Ministerien und die beauftragten Statistiker pfuschen immer wieder an der Regelsatzrechnung herum und rechnen Dinge heraus, die nicht herausgerechnet gehören. Sie kommen dann zu einem Satz, der aktuell um mindestens rund 150 Euro zu niedrig liegt. Studien zeigen, dass die meisten Deutschen für mehr soziale Gerechtigkeit und auch Umverteilung sind. Bei Erwerbslosen hört aber die Sympathie auf. Nur eine Minderheit findet, dass sie mehr finanzielle Unterstützung verdienen. Keine gute Ausgangslage. Erst mal muss man der Dauerdiffamierung entgegentreten, Hartz-IV-Beziehende seien allesamt in der sozialen Hängematte. Daran ist alles falsch: Weder Hängematte noch Bequemlichkeit noch die Freiwilligkeit bestimmt den Hartz-IV-Bezug. Wir müssen immer klar machen, was das heißt, arbeitslos zu sein - raus aus den sozialen Zusammenhängen, aus Struktur und Rhythmus, aus der Sicherheit eines Einkommens. Und das nicht als fahrlässig oder gar vorsätzlich selbstverschuldeten Zustand, sondern von außen herbeigeführtes Schicksal. Und ich denke, diese Sicht nimmt zu. Es wäre wünschenswert. Was war Ihr Auslöser, sich für das Thema Armut zu interessieren? Als Gesundheitswissenschaftler habe ich 30 Jahre die Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin geleitet. In dem Feld ist eines der allerersten Dinge, die einem ins Auge springen: Arme Menschen in Deutschland leben zehn Jahre kürzer als wohlhabende. Und in der kürzeren Lebenszeit müssen sie sich zudem dreieinhalb Jahre länger mit chronischer Krankheit plagen als Personen mit mehr Einkommen. Die sozial-bedingte Ungleichheit in der Gesundheit ist gewaltig. In den Programmen der Regierungsparteien taucht Armut nur im Zusammenhang mit Altersarmut und Kinderarmut auf. Andere Armut scheinen sie für Deutschland nicht zu kennen. Fehlt es da an Bewusstsein? Das ist eine gespaltene Entwicklung. Von den Arbeitgeberverbänden und den von ihnen bezahlten Lobbygruppen wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gibt es eine Masse an Papieren und Veranstaltungen, die den Eindruck vermitteln sollen: Es gibt keine Armen. Das färbt natürlich in gewissem Maße den Diskurs. Aber wir sehen auf der anderen Seite, dass es Gegenbewegung gibt. Die Leute merken immer mehr, dass der Markt nicht alles löst. Aber auch Altersarmut und Kinderarmut sind keine kleinen Themen. Jeder fünfte arme Mensch ist ein Kind, und die Gruppe der im Alter Armen ist die am schnellsten wachsende. Das ist nicht nur ein symbolischer Kampf. Welche Note würden Sie also auf dem Feld Armutsbekämpfung der Bundesregierung geben? Also eine Durchschnittsnote hat natürlich immer ihre Probleme. Die einzelnen Ressorts arbeiten unterschiedlich gut. Aber zusammengerechnet: Besser als ein Ausreichend kann ich nicht geben. Ist eine Gesellschaft ohne Armut überhaupt realistisch? Zumindest sind andere Länder da weiter als wir. Zum Beispiel in Skandinavien und Japan. Da sehen wir, dass es auch anders geht. Und es ist ja nie nur ein Thema der Armen, es hat positive Effekte für eine gesamte Gesellschaft. Dort gibt es weniger Drogengebraucher, weniger psychische Erkrankungen, weniger frühzeitige Schwangerschaften, weniger Menschen im Knast, mehr Vertrauen und mehr soziale Mobilität. Das ist kein Plädoyer für absolute Gleichverteilung, aber zumindest dafür, den Trend zu immer größerer Ungleichheit und Armut aufzuhalten.
Politik. Armutskongress. Das Thema Armut hat die Nische verlassen. Heute startet der Armutskongress. Der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands findet: Es gibt Bewegung. Von Alina Leimbach. ND vom 09.04.2019.
Regierung manipuliert Hartz-Regelsätze runter
BearbeitenBerlin. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat der Bundesregierung Manipulationen bei der Festlegung der Hartz-IV-Sätze zu Lasten der Betroffenen vorgeworfen. Die statistischen Grundlagen für die Festlegung der Sätze würden von Regierungsseite »willkürlich manipuliert«, um die Leistungen an die Empfänger »trickreich« kleinzurechnen, kritisierte Verbandspräsident Ulrich Schneider in Berlin. Schneider forderte eine kräftige Erhöhung. Das Bundessozialministerium widersprach der Darstellung des Verbands. Verbandspräsident Schneider kritisierte, dass die zum Jahreswechsel anstehende Erhöhung der Sätze um fünf Euro auf dann 404 Euro pro Monat »in keiner Weise bedarfsdeckend« sei. Er forderte eine Anhebung der Leistung um 23 Prozent auf 491 Euro im Monat. Andere Verbände wie die Caritas oder der Sozialverband Deutschland hatten in den vergangenen Tagen ebenfalls eine Anhebung der Sätze über das bislang beschlossene Maß hinaus gefordert.
Hartz-Empfänger bekommen real weniger als 2005
BearbeitenBerlin. Die Hartz-IV-Regelsätze steigen zwar zum Jahresanfang ein wenig - doch bleibt den Beziehern sogar unter dem Strich deutlich weniger als zur Einführung der neuen Transferleistung durch Rot-Grün im Jahr 2005. Dies geht aus einer Berechnung des DGB hervor, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Die aktuelle Anhebung um fünf Euro könne nicht kaschieren, dass Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger heute faktisch weniger zum Leben haben als zum Start des Hartz-IV-Systems Anfang 2005, so der DGB. So seien die Regelsätze von 2005 bis 2015 um 15,7 Prozent gestiegen - die Preise für Nahrungsmittel aber um 24,4 Prozent. Der Regelsatz für Alleinstehende steigt von derzeit 399 Euro auf 404 Euro. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sagte der dpa: »Trotz guter Konjunktur hat sich die Spaltung zwischen oben und unten noch vergrößert.« Ein Teil der Gesellschaft, darunter überproportional viele Kinder, werde von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgehängt. Die Bundesregierung dürfe bei der Neubestimmung des sozio-kulturellen Existenzminimums ab 2017 die Regelsätze nicht weiter kleinrechnen, forderte Buntenbach. »Die Sicherung des Existenzminimums ist ein Verfassungsauftrag und keine Frage fiskalpolitischer Opportunität.« Auch die Linkspartei warf der Bundesregierung vor, den Regelsatz mit statistischen Tricks gezielt nach unten gerechnet zu haben. »So ist ein Leben in Menschenwürde, wie es das Grundgesetz verlangt, für Menschen, die Sozialleistungen beziehen, immer weniger möglich«, sagte die Parteivorsitzende Katja Kipping. Die Hartz-Regelsätze müssten neu berechnet und die Preisentwicklung bei den Anhebungen komplett berücksichtigt werden. Zuvor hatte bereits der Paritätische Wohlfahrtsverband der Bundesregierung Tricksereien bei der Festlegung der Hartz-IV-Sätze zu Lasten der Empfänger vorgeworfen. Auch das Deutsche Kinderhilfswerk bezeichnet unterdessen die anstehende Erhöhung des Kindergeldes und des Hartz-IV-Regelsatzes für Kinder als »völlig unzureichend«. Agenturen/nd
Reformen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein
BearbeitenNun sind Sie persönlich nicht verdächtig, keinen Wert auf Grund- und Freiheitsrechte zu legen. Erst Anfang des Monats haben Sie in Berlin den »Grundrechte-Report« für 2020 vorgestellt. Auch im diesjährigen Bericht geht es um Rassismus, Diskriminierung und die Aufrüstung und Militarisierung der Polizei. Wie ist es denn grunsätzlich – unabhängig von der Coronapandemie – um die Grund- und Freiheitsrechte in der BRD bestellt? - Wir nennen den Grundrechte-Report auch den alternativen Verfassungsschutzbericht. Darin versuchen wir einerseits, einen möglichst umfassenden Überblick zu geben, andererseits die gravierendsten Entwicklungen eines Jahres abzubilden. Insgesamt können wir nicht zufrieden sein. Nur ganz wenige der 39 Texte des diesjährigen Reports behandeln Themen, bei denen Fortschritte gemacht wurden. Im ganz überwiegenden Teil müssen wir Verstöße, unverhältnismäßige Einschränkungen und die Missachtung demokratischer oder rechtsstaatlicher Grundsätze feststellen. Auch in diesem Jahr ist die Redaktion zu dem Schluss gekommen, dass die Gefährdung von Demokratie, Grund- und Menschenrechten wesentlich vom Staat, insbesondere der Exekutive, ausgeht.
Debatte über Grundrechte: »Reformen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein« Ein Gespräch mit Michèle Winkler. Über strukturellen Rassismus in der BRD, Proteste in Zeiten der Pandemie und eine Empfehlung an Dietmar Bartsch. Interview: Markus Bernhardt. Junge Welt vom 20. Juni 2020
Spekulanten aus der BRD verlagerten eine halbe Billion Euro in Steueroasen: Bundesregierung fördert Geschäftsmodell
BearbeitenSchon Urlaub gebucht? Die britische Insel Jersey ist eine unter deutschen Millionären beliebte Steueroase. Auf dem kleinen Fleckchen im Ärmelanal wurden 2018 insgesamt 180,8 Milliarden Euro geparkt. Das geht aus einer Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, berichtete die Süddeutsche Zeitung am Mittwoch. Das Ministerium hat die Zahlen aus dem sogenannten automatischen Informationssystem abgefragt – ein internationaler Datentauschring, bei dem Staaten und Gerichte sich gegenseitig über Konten informieren, die ausländische Steuerpflichtige bei ihnen unterhalten. Auf Jersey zeigt sich aber nur die Spitze des Eisbergs. Insgesamt verschoben den Daten zufolge Firmen und Superreiche 591,3 Milliarden Euro ins Ausland, um Steuern zu sparen. Aus der Schweiz wurden für 2018 laut Finanzministerium 133,1 Milliarden Euro auf Konten von Deutschen gemeldet, aus Luxemburg 125,8 Milliarden Euro. Die Statistik des Finanzministeriums sagt aber nichts darüber aus, ob das Geld nach bürgerlichem Recht legal oder illegal am deutschen Fiskus vorbei ins Ausland transferiert wurde. Das prüfen die zuständigen Finanzämter, nachdem ihnen die Daten übermittelt wurden. In der Liste des Ministeriums fehlen laut SZ allerdings vermutlich wichtige Steueroasen. So verlangen etwa die Cayman Islands und die Bahamas, dass Statistiken zu ihren Länder geheim bleiben.
Steuerdeals. Geld ins Ausland verschoben. Spekulanten aus der BRD verlagerten eine halbe Billion Euro in Steueroasen. Bundesregierung fördert Geschäftsmodell. Von Simon Zeise. Junge Welt vom 25. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 09:55, 25. Jun. 2020 (CEST)
Die Bundesregierung fördert dieses Wachstumsmodell für Wohlhabende. Eine Reichensteuer gibt es de facto nicht. Firmenpatriarchen können ihr Hab und Gut legal in vollem Umfang ihren Kindern vererben. Dierk Hirschel, Chefökonom der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, sagte am Mittwoch gegenüber jW: »Für immer mehr Reiche und Superreiche gibt es keine soziale Verpflichtung ihres Eigentums mehr. Sie nutzen die heimischen Kitas, Schulen, Straßen, Bahnen und Krankenhäuser, sind aber nicht mehr bereit, dafür angemessen Steuern und Abgaben zu zahlen.« Durch die Flucht in Steueroasen, entzögen sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. »Die legalen und illegalen Steuerschlupflöcher müssen geschlossen werden«, so Hirschel. Die Bundesregierung müsse sich weiterhin darum bemühen, dass internationale Abkommen zur Austrocknung von Steueroasen zustande kommen. Solange dies nicht gelinge, müsse die Steuerflucht durch nationale Quellensteuern bekämpft werden, so der Gewerkschafter.
Steuerdeals. Geld ins Ausland verschoben. Spekulanten aus der BRD verlagerten eine halbe Billion Euro in Steueroasen. Bundesregierung fördert Geschäftsmodell. Von Simon Zeise. Junge Welt vom 25. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 09:57, 25. Jun. 2020 (CEST)
Auch auf der internationalen Bühne versucht Berlin, Vorstöße zur Besteuerung von Kapitalgewinnen auszubremsen. Ein von der EU-Kommission gefordertes Verfahren, nach dem Konzerne offenlegen müssen, in welche Länder sie ihre Gewinne ausgelagert haben (»Country-by-Country-Report«), wird von der Bundesregierung blockiert. Eine von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) angekündigte globale Digitalsteuer sollte die Gewinne von Amazon und Co. schmälern. Doch in einem Brief an die Finanzminister Italiens, Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens drohte US-Finanzminister Steven Mnuchin in der vergangenen Woche mit Sanktionen, sollten die Europäer das Vorhaben weiterhin in Erwägung ziehen. Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire hat Scholz am Montag aufgefordert, mit einer abgestimmten Haltung der EU Druck auf die USA aufzubauen. »Die Gewinner der Coronakrise sind allein die Digitalunternehmen«, sagte Le Maire. Genau diese Firmen zahlten aber weniger Steuern als andere. Frankreich hatte deshalb eine nationale Digitalsteuer eingeführt. In Deutschland können Amazon und Co. schalten und walten wie bisher.
Steuerdeals. Geld ins Ausland verschoben. Spekulanten aus der BRD verlagerten eine halbe Billion Euro in Steueroasen. Bundesregierung fördert Geschäftsmodell. Von Simon Zeise. Junge Welt vom 25. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 10:00, 25. Jun. 2020 (CEST)
Mit einer weltweiten Abgabe auf Aktiengeschäfte hatte Scholz zudem angekündigt, die sogenannte Grundrente in Deutschland gegenzufinanzieren. Ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Sozialverbänden und Kirchen erklärte hierzu am Mittwoch, seit 2009 werde die Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer erhoben: »Der Handel mit riskanten Finanzprodukten aller Art sollte pro Transaktion mit einer Steuer in Höhe von 0,1 bis 0,01 Prozent belegt und das Geld zur Bekämpfung von Armut und für weltweiten Umwelt- und Klimaschutz verwendet werden.« Ende 2018 habe aber die Bundesregierung einen fast ausgehandelten Richtlinienentwurf fallengelassen und durch eine von Deutschland und Frankreich vorangetriebene Initiative für eine »Aktiensteuer« verdrängt. Diese würde weder den fragwürdigen computerbasierten Hochgeschwindigkeitshandel beeinträchtigen noch Finanzwetten mit Hilfe von Derivaten erfassen. Weder drängt sie riskante Finanzpraktiken zurück, noch generiert sie angemessene Erträge, kritisierte das Bündnis. In den gestern vorgelegten Schwerpunkten der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die die Bundesregierung am 1. Juli übernimmt, ist das Wort »Steuer« nicht ein einziges Mal zu lesen.
Steuerdeals. Geld ins Ausland verschoben. Spekulanten aus der BRD verlagerten eine halbe Billion Euro in Steueroasen. Bundesregierung fördert Geschäftsmodell. Von Simon Zeise. Junge Welt vom 25. Juni 2020
Die Großen lässt man laufen: Wirecard-Bilanzbetrug
BearbeitenSchmiergeld, Preisabsprachen, Manipulation: Große Betrügereien, bei denen gegen die offiziellen Spielregeln verstoßen wird, gehören zum System. In der BRD haben in jüngerer Vergangenheit auch andere Beispiele die bürgerliche Öffentlichkeit aufgeschreckt. Von der VW-Dieselaffäre bis zum milliardenschweren Schmiergeldskandal bei Siemens 2006. Nun erregt das bislang den meisten Menschen nur wenig bekannte Unternehmen Wirecard die Gemüter. Trotz des milliardenschweren Bilanzskandals beim Zahlungsdienstleister ist dessen Exchef Markus Braun wieder auf freiem Fuß. Nach einer Nacht in Untersuchungshaft in München wurde er am Dienstag nachmittag gegen eine Kaution von fünf Millionen Euro freigelassen. Dem langjährigen Wirecard-Vorstand und Braun-Vertrauten Jan Marsalek, gegen den ebenfalls Ermittlungen laufen, droht Insidern zufolge weiterhin eine Verhaftung. Marsalek war bis zu seiner Abberufung am Montag für das Tagesgeschäft und die Aktivitäten von Wirecard in Asien verantwortlich. Der philippinische Justizminister Menardo Guevarra sagte, es gebe Hinweise darauf, dass Marsalek kürzlich auf die Philippinen gereist sei und sich dort aufhalte.
Unternehmenskultur. Die Großen lässt man laufen. Im Wirecard-Bilanzbetrug kommen immer mehr Details ans Tageslicht. Junge Welt vom 25. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 10:05, 25. Jun. 2020 (CEST)
Die Behörden des Landes ermittelten gegen mehrere Personen, die möglicherweise in den Fall Wirecard verwickelt seien. Unterdessen spitzt sich die geschäftliche Lage des Unternehmens zu, da sich Großkunden in großer Zahl von Wirecard abwenden: darunter Aldi Süd, die niederländische Airline KLM, das schwedische Möbelhaus IKEA oder Fedex. Die Zukunft des Konzerns ist daher höchst ungewiss. Die Gespräche mit Gläubigerbanken zur Rettung laufen auf Hochtouren. Die Banken versuchen, sich einen Überblick über die Situation von Wirecard zu verschaffen. Der in den fast zwei Jahrzehnten unter Brauns Führung stark gewachsene Dienstleister für bargeldlose Zahlungen hatte Anfang der Woche eingeräumt, dass ein bilanziertes Vermögen von 1,9 Milliarden Euro auf Konten in Asien aller Wahrscheinlichkeit nach nicht existiert. Die Ermittler legen dem 50jährigen Österreicher zur Last, wahrscheinlich mit weiteren Tätern die Bilanzsumme und den Umsatz durch vorgetäuschte Einnahmen aufgebläht zu haben. Die Gesellschaft habe so finanzkräftiger und für Anleger und Kunden attraktiver dargestellt werden sollen.
Unternehmenskultur. Die Großen lässt man laufen. Im Wirecard-Bilanzbetrug kommen immer mehr Details ans Tageslicht. Junge Welt vom 25. Juni 2020
--Methodios (Diskussion) 10:07, 25. Jun. 2020 (CEST)
Auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bafin geht inzwischen davon aus, dass die Bilanzen für die Jahre 2016 bis 2018 falsch sind. Sie hat daher ihre Strafanzeige wegen des Verdachts der Marktmanipulation erweitert. Die Behörde, die unter der Aufsicht des Finanzministeriums steht, sieht sich selbst wachsender Kritik ausgesetzt, weil sie erst spät gegen das Unternehmen vorging. Riesige Lücken im Aufsichtsregime sind nun offenkundig geworden. Mittlerweile sah sich auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz gezwungen, »Fehler« bei der von seinem Ministerium beaufsichtigten Bafin einzuräumen. Über den Wirecard-Skandal hinaus, lohnte sich ein genauerer Blick auf die »Deregulierungen« der vergangenen Jahrzehnte, die einem Betrug in dieser Dimension Tür und Tor geöffnet haben.
Unternehmenskultur. Die Großen lässt man laufen. Im Wirecard-Bilanzbetrug kommen immer mehr Details ans Tageslicht. Junge Welt vom 25. Juni 2020
Studie: Corona-Pandemie vergrößert soziale Ungleichheit
BearbeitenBesonders betroffen seien Frauen, sagt Aline Zucco vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Schon vor der Pandemie haben sie weniger Geld verdient als Männer, konstatiert Zucco. ... Geringverdiener trifft es härter. Ähnlich sieht es Katja Möhring, Soziologie-Professorin an der Universität Mannheim. Für eine fortlaufende Studie befragt sie mit ihrem Team seit März jede Woche 3500 Menschen, wie die Pandemie ihr Leben verändert hat. Demnach werden Menschen, die nur wenige Stunden pro Woche in so genannten Mini-Jobs arbeiten, und solche, die haushaltsnahe Dienstleistungen anbieten, besonders schnell freigestellt. "Frauen trifft es da besonders stark", sagt sie der DW. "So eine Krise wirkt wie ein Brennglas auf soziale Ungleichheiten", sagt Anja Piel, Vorstandsmitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). "Die Krise triff Erwerbstätige mit niedrigem Einkommen und niedrigem Bildungsgrad besonders hart." Sie könnten oft nicht im Homeoffice arbeiten. Wer vor der Pandemie weniger verdiente, müsse jetzt häufig weitere Einkommensverluste hinnehmen. Auch Migranten gefährdet. Konkrete Zahlen hat der DGB noch nicht, doch glaubt Piel, dass Menschen mit Migrationshintergrund bei Kündigungen benachteiligt seien. Als ein Beispiel nennt sie Ausländer, deren Aufenthaltsstatus in Deutschland nur die Duldung ist. Wenn sie ihren Job verlieren und nicht in kurzer Zeit einen neuen finden, könnten sie in der Folge auch die Erlaubnis verlieren, in Deutschland zu bleiben. ... Unabhängig von der Pandemie müsse "der Niedriglohn-Sumpf" ausgetrocknet werden, fordert Piel. Sie fordert deshalb höhere Löhne für Pflegekräfte sowie und Geringverdiener. "Wir brauchen armutsfeste Löhne", so Piel. Menschen, denen jetzt Arbeitslosigkeit droht, müsse die Möglichkeit zur Weiterbildung gegeben werden, damit sie sich für andere Tätigkeiten qualifizieren. Die Gewerkschafterin begrüßt das Konjunkturpaket der Bundesregierung. Doch sie geht davon aus, dass die Arbeitslosigkeit steigen wird. Auch das werde die soziale Ungleichheit vergrößern.
Miodrag Soric: COVID-19. Studie: Corona-Pandemie vergrößert soziale Ungleichheit. - Geschlossene Kitas und Schulen, Kurzarbeit, Kündigung - die Corona-Krise hat weitreichende soziale und wirtschaftliche Folgen. Doch die sind nicht für jeden gleich - besonders hart trifft es die bereits Benachteiligten.
Wassernot in Dresden
BearbeitenStadt Dresden: Knapp die Hälfte der kleinen Bäche und Flüsse in #Dresden sind aktuell komplett oder fast ausgetrocknet. Grund sind anhaltende Hitze und Trockenheit. 🚫 Deshalb ist es verboten Wasser aus oberirdischen Gewässern zu entnehmen, egal ob mit Eimern oder Pumpen.Vom Wassermangel besonders betroffen sind die Fische 🐟. Bei Austrocknung des Fließgewässers sterben sie oder wandern ab. Aber auch für Menschen sind Flüsse und Bäche wichtig, denn sie haben eine kühlende Wirkung 💦 auf die Umgebung – aber natürlich nur, wenn auch genug Wasser fließt.
Steven Groß: Dann stellt doch mal Nestlé zur Rede was die mit Vittel gemacht haben. Wasser sei ja kein Menschenrecht. Alles Nestlé Propaganda. Solche Verbrecher gehören hinter Schloss und Riegel!
Hannes Grusla: Steven Groß und was hat das jetzt mit den trockenem Wetter in DD zu tun? Versteh den Zusammenhang gerade nicht - sie werden es mir doch erklären oder?
Philipp Wahnicht: Hannes Grusla 😅👍🏻
Christian Mangold: Ganz groß, Steven!🤦♂️
Ganz einfach: dem kleinen Bürger wird jeder Liter verboten, aber die großen Geschäftemacher dürfen mit Millionen Litern Millionen machen - Wasserarmut für Millionen Menschen - und (Wasser)Millionen für die Reichen. Ihr dürft ruhig mit Nestlé-Wasser aus Plastikflaschen gießen - dann ist alles im grünen Bereich. Ich hab diese Erden-Kacke ja zum größten Teil schon hinter mit. Gott sei Dank! 😂🤣
--Methodios (Diskussion) 22:22, 14. Aug. 2020 (CEST)
Alle Jahre wieder! Aber auch das alle Jahre wieder: "Unterstützen Sie uns beim Wässern der Bäume! Fehlende Niederschläge und ein niedriger Grundwasserstand - Dresdens Stadtbäume brauchen zusätzliches Wasser. Helfen Sie uns beim Gießen!" (Webseite der Landeshauptstadt Dresden#Stadtbäume) Offensichtlich sind die mit ihrem Latein völlig am Ende! Woher soll denn das Wasser kommen? Das fällt doch nicht einfach so vom Himmel! 😂 Dem kleinen Bürger wird jeder Liter verboten, aber die großen Geschäftemacher dürfen mit Millionen Litern Millionen machen - Wasserarmut für Millionen Menschen - und (Wasser)Millionen für die Reichen. Wir dürfen ruhig mit Nestlé-Wasser aus Plastikflaschen gießen - dann ist alles im "grünen Bereich." 🤣
Erst das Fressen: Erscheinungsformen der Ungleichheit
BearbeitenDer Titel des kürzlich erschienenen schmalen Bändchens »Ungleichheit in der Klassengesellschaft« ist etwas irreführend. Denn schon der Begriff Klassengesellschaft setzt die Existenz sozialer Ungleichheit voraus. Ungeachtet dessen ist die bei Papyrossa erschienene Studie des Kölner Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge lesenswert. Butterwegge begnügt sich nicht mit einer rein soziologischen Bestandsaufnahme. Die Existenz von geradezu irrwitzig großen Privatvermögen und auch die krasse und weiter wachsende Armut der »unteren« Bevölkerungsschichten sind schließlich, auch wenn sie in regelmäßigen Abständen neu »entdeckt« werden, beinahe Allgemeinwissen und werden nicht einmal von der bürgerlichen Sozial- und Wirtschaftswissenschaft geleugnet. Der Autor setzt demzufolge bei Marx und Engels an, betrachtet unter Berufung auf diese die Klassenstruktur einer Gesellschaft als grundlegend für den Grad der ihr innewohnenden sozialen Ungleichheit. In mehreren Kapiteln vergleicht er die klassische marxistische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft mit den Ansätzen anderer Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler, die sich ebenfalls mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. Ausführlich setzt er sich beispielsweise mit dem Nationalökonomen und Soziologen Max Weber auseinander, der nicht Lohnarbeit, sondern die Tauschvorgänge auf dem Markt als entscheidend für die soziale Schichtung der Gesellschaft angesehen hat. Wie Butterwegge meint, werde so die Unterscheidung zwischen Lohnabhängigen und den Profiteuren der Lohnarbeit verwischt. Andere Forscher und Theoretiker hätten jedoch wesentlich zum Verständnis von Struktur und Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus beigetragen, unter anderem zur Rolle der zur Zeit von Marx nur rudimentär vorhandenen »Mittelschichten«. Marx sei jedoch, wie Butterwegge ausdrücklich betont, bis heute »weder inhaltlich noch methodisch« widerlegt. Nur auf der Grundlage eines marxistischen Klassenverständnisses könnten »Armut oder sozialer Abstieg als kollektives Schicksal begriffen (werden), das strukturelle Ursachen hat, und nicht als individuelles Versagen der Betroffenen missdeutet« werden. Der von Marx so benannte Kapitalfetisch als dem Grunde nach irrationaler Zwang der Geldvermehrung nur um der Geldvermehrung willen, der letztlich die Ursache des gigantomanisch angewachsenen Reichtums einiger weniger ist, kommt bei Butterwegge allerdings nicht vor, statt dessen schreibt er etwas verkürzt von dem »kapitalistischen Wirtschaftssystem zwangsläufig immanente(n) Expansionsdrang«. Bei einer Expansion denkt man sofort an Ausweitung auf Kosten von Nachbarn. Eine solche gab und gibt es im Kapitalismus selbstverständlich. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich das Kapital durch die Einverleibung von zuvor in öffentlicher Hand befindlicher Infrastruktur aber auch zunehmend in das Innere der Gesellschaft hineingefressen. Heftig kritisiert wird in dem Buch der Kultursoziologe Andreas Reckwitz, der – so Butterwegge – an die Stelle der Klassenanalyse eine »Kulturalisierung und Singularisierung des Sozialen« setzt. Das beim Auf- oder Abstieg von Teilen der Mittelschicht der kulturelle Faktor eine grundlegende Rolle spielt, ist selbstverständlich Unsinn – allein durch das Leben im »richtigen« Milieu lassen sich keine Vermögen erzeugen. Wie Butterwegge richtig schreibt, wird so »einer soziologischen Willkür (…) Tür und Tor geöffnet«. Außerdem komme, wie Butterwegge in Abwandlung eines Brecht-Zitates betont, »erst (…) das Fressen, dann kommt die Kultur«. Ob Brecht diese Neufassung seines Textes gefallen würde, dürfte allerdings eher fraglich sein. Es sei bei dieser Gelegenheit angemerkt, dass zahlreiche Kulturschaffende derzeit als Folge der Coronakrise am Rande des Abgrundes stehen – oder aber schon hineingefallen sind. Ausdrücklich lobt Butterwegge den Publizisten Werner Rügemer für dessen detaillierte Analyse der sich verändernden Strukturen im modernen Kapitalismus, insbesondere der sich herausbildenden Schicht gigantischer Finanzmarktakteure. Im letzten Kapitel des Buches liefert der Autor interessante Daten und Analysen zur akuten Verschlechterung der Lage der Bevölkerungsmehrheit und dem immer weiteren Auseinanderklaffen der sozialen Schere. Er untersucht die »Haupterscheinungsformen der Ungleichheit« bei den Einkommen und Vermögen, im Gesundheitsbereich, im Bildungssektor und beim Wohnen. Verdienstvollerweise finden sich hier auch viele sehr aktuelle Daten und Informationen, die im allgemeinen Nachrichtenbrei entweder untergegangen oder gar nicht vorgekommen sind. Der Abschnitt zum Gesundheitssektor, der auch die Auswirkungen der Coronapandemie thematisiert, ist betitelt mit dem Satz: »Wer arm ist, muss eher sterben.« Treffender geht’s nicht.
KLASSENGESELLSCHAFT. Erst das Fressen. Erscheinungsformen der Ungleichheit: Christoph Butterwegge über Theorie und Praxis der modernen Klassengesellschaft. Von Gerd Bedszent. Junge Welt vom 9. September 2020.
Christoph Butterwegge: Ungleichheit in der Klassengesellschaft. Papyrossa, Köln 2020, 183 Seiten, 14,90 Euro
Umweltverschmutzung verkürzt Leben
BearbeitenIn der Europäischen Union steht laut einer Studie etwa jeder achte Todesfall in Zusammenhang mit Umweltverschmutzung. Das geht aus einem Bericht der Europäischen Umweltagentur (EUA) hervor, der nun in Kopenhagen veröffentlicht wurde. Jährlich mehr als 400.000 Todesfälle sind auch auf die Luftverschmutzung zurückzuführen. Die Lärmbelastung führt laut dem Bericht zu 12.000 vorzeitigen Todesfällen. Auswirkungen des Klimawandels hätten zunehmend ihren Anteil. Als Beispiele werden Hitzewellen und Überschwemmungen genannt. Weitere von der Umweltagentur genannte Faktoren sind chemische Verbindungen, auf zu starken Antibiotika-Einsatz zurückgehende Resistenzen bei Krankheitserregern und verschmutztes Trinkwasser. Die Forscher hatten Daten zum Einfluss der Umwelt auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bürger analysiert. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Luftverschmutzung nach wie vor die größte Umweltbedrohung für die Gesundheit der Menschen in der EU darstellt. Vor 30 Jahren lag die Zahl der darauf zurückgehenden vorzeitigen Todesfälle bei einer Million. In vielen osteuropäischen Ländern ist die Rate vorzeitiger Tode durch Umweltfaktoren sehr viel höher als im Westen des Kontinents. In Rumänien ist fast jeder fünfte Todesfall auf Umweltverschmutzungen zurückzuführen. Dies war dem Bericht zufolge der EU-weit höchste Anteil. In Dänemark und Schweden war der Anteil der Todesfälle mit Verbindung zu Umweltverschmutzungen mit jeweils einem von zehn am niedrigsten innerhalb der Europäischen Union. Die Untersuchungen stützen sich auf Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den Todes- und Krankheitsursachen von 2012. Die Daten sind die jüngsten, die für die Studie vorlagen. Zu den häufigsten Todesursachen zählen in diesem Zusammenhang Krebs, Herzerkrankungen und Schlaganfälle. »Armut geht häufig mit dem Leben in einer belasteten Umwelt und schlechter Gesundheit einher«, betonte EUA-Exekutivdirektor Hans Bruyninckx. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Bettina Hoffmann forderte von der Bundesregierung »ein Umdenken beim Umgang mit chemischen Stoffen«. »In den Städten bedarf es darüber hinaus mehr frische Luft. Dafür muss der Umstieg auf das Fahrrad oder E-Antriebe vorangetrieben werden«, so Hoffmann.
Umweltverschmutzung verkürzt Leben. In der EU sind jährlich Hunderttausende Todesfälle auch auf dreckige Luft zurückzuführen. Von Aert van Riel. ND vom 8. September 2020.
--Methodios (Diskussion) 11:43, 9. Sep. 2020 (CEST)
Haushalt: Sparen an den Ärmsten
BearbeitenDie Haushaltswochen des Bundestags sind in Teilen eine große Show. Die Kanzlerin und ihre Minister bekommen viel Redezeit, um sich im Parlament zu inszenieren und die eigene Krisenbewältigungspolitik überschwänglich zu loben. Den Anfang machte am Dienstag Finanzressortchef und Vizekanzler Olaf Scholz. Der Sozialdemokrat erinnerte in seiner Rede an die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009. Damals hatte die Bundesregierung - wie nun auch während der Coronapandemie - sich weiter verschuldet, um die Folgen abzufedern und das Wachstum wieder anzukurbeln. »Was uns nun durch diese Krise führt, ist eine starke Wirtschaft und ein guter Sozialstaat, der genug Kraft hat, um die Bürgerinnen und Bürger zu beschützen«, verkündete Scholz. Obwohl vielen Keynesianern hierzulande angesichts der großen staatlichen Investitionen das Herz aufgeht, sind doch Zweifel an dem Satz von Scholz angebracht. Es ist klar, dass er Zuversicht verbreiten und den Bürgern vermitteln will, dass der Staat für sie da ist. Die Realität ist aber eine andere. Eine Umfrage der Auskunftei Creditreform ergab kürzlich, dass mehr als ein Viertel der Deutschen Zahlungsschwierigkeiten durch die Coronakrise fürchtet. 28 Prozent der Befragten waren demnach unsicher, ob sie in den kommenden zwölf Monaten alle finanziellen Verpflichtungen wie Miete, Kredite und Versicherungsbeiträge zahlen könnten. Als Ursachen wurden in erster Linie coronabedingte Kurzarbeit und Erwerbslosigkeit genannt. Für letztere Gruppe hatte die schwarz-rote Bundesregierung zu Beginn von Pandemie und Wirtschaftskrise noch »Sozialschutzpakete« beschlossen. Der Zugang zu Hartz-IV-Leistungen wurde erleichtert. Zu diesem Zweck setzte die Regierung die Prüfung der Vermögensverhältnisse sowie die Prüfung der Angemessenheit der Wohnverhältnisse aus. Auch die Hartz-IV-Sanktionen wurden ausgesetzt, da aufgrund der überwiegenden Schließungen der Jobcenter für den Kundenverkehr zwischenzeitlich keine persönlichen Anhörungen mehr möglich waren. Außerdem bekommen alle Familien im Herbst einen Kinderbonus von 300 Euro. Allerdings ist diese Zulage für arme Familien nur ein Ausgleich dafür, dass das Kita- und Schulmittagessen während des Lockdowns weggefallen ist. Die Zahlung von Arbeitslosengeld I, das oft höher ist als die Grundsicherung, wurde für viele Menschen um drei Monate verlängert. Doch diese Maßnahmen laufen aus. Hartz-IV-Bezieher werden inzwischen wieder durchleuchtet. Denn nach Auffassung der Bundesregierung ist es nach dem Lockdown für jeden wieder möglich, einen Job zu finden. Sie ignoriert, dass es bereits vor der Coronapandemie Krisentendenzen gab und beispielsweise in der Automobilindustrie und den Zulieferern ein größerer Stellenabbau droht. Im Haushaltsentwurf für das kommende Jahr sind keine großen Schritte bei der Bekämpfung von Armut mehr vorgesehen. Insgesamt plant Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) mit Ausgaben in Höhe von 163,98 Milliarden Euro. Der Etat ist traditionell der größte Einzelposten. Im Vergleich zu diesem Jahr will Heil sparen. Aus den Nachtragshaushalten für 2020 ergaben sich noch rund 170,68 Milliarden Euro für Heils Ministerium. Auffällig ist, dass der Entwurf 44,53 Milliarden Euro für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose vorsieht, nachdem in diesem Jahr insgesamt 48,95 Milliarden Euro gezahlt werden sollen. Mit Blick auf die schwierige wirtschaftliche Lage sind diese prognostizierten Ausgaben sehr optimistisch. Deutlich mehr Geld müsste Heil in die Hand nehmen, wenn Hartz-IV-Sätze gezahlt werden würden, die für ein menschenwürdiges Leben reichen. Nach den Berechnungen der Linken und ihrer Vorsitzenden Katja Kipping sollten die Leistungen um 225 Euro steigen. Der Regelsatz würde demnach für einen alleinstehenden Erwachsenen 657,55 Euro im Monat betragen. Dagegen plant die Bundesregierung im kommenden Jahr lediglich eine Erhöhung um sieben Euro. Die größte Summe in Heils Etat sind die Ausgaben für »Rentenversicherung und Grundsicherung im Alter sowie bei Erwerbsminderung«. Diese belaufen sich auf 114,58 Milliarden Euro. Trotzdem grassiert hierzulande nach wie vor die Altersarmut. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben 17,4 Prozent aller Frauen und 13,5 Prozent aller Männer über 64 unterhalb der Armutsschwelle und haben weniger als 1074 Euro zur Verfügung. Ursachen sind frühere Erwerbslosigkeit und niedrige Löhne. Auch die vielerorts steigenden Mieten machen den älteren Menschen das Leben schwer. Die für kommendes Jahr geplante Grundrente wird unter anderem nach Berechnungen der Grünen nur wenige Menschen aus der Armut und der Grundsicherung holen. Und wer knapp darüber liegt, muss auch finanzielle Engpässe fürchten. Woher die 1,3 Milliarden Euro für die Grundrente kommen sollen, ist noch unklar. Sicher ist nur, dass sie aus Steuermitteln finanziert wird.
Politik Haushalt. Sparen an den Ärmsten. Die Große Koalition gibt viel Geld aus. Aber nicht genug für die, die es besonders nötig haben. Von Aert van Riel. ND vom 1. Oktober 2020.
Rückgang der Tarifbindung
BearbeitenDieser Tage wurde wegen der Warnstreiks im Nahverkehr und öffentlichen Dienst wieder viel geschimpft über die Gewerkschaften. Manch einen Maulhelden wird es da freuen, dass die Gewerkschaften für immer weniger Beschäftigte Tarifverträge durchsetzen können: Arbeiteten zur Jahrtausendwende noch 68 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit Tarifbindung, so waren es zuletzt nur noch 52 Prozent, wie eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) ergeben hat. Doch solange man nicht in einem Chefsessel sitzt oder genügend Kapital hat, um andere für sich arbeiten lassen zu können, sollte man sich fragen, ob die Entwicklung so gut ist. Denn die WSI-Studie zeigt auch: Wer keinen Tarifvertrag hat, arbeitet im Schnitt 53 Minuten länger in der Woche und bekommt elf Prozent weniger Gehalt als Beschäftigte mit einem von Gewerkschaften ausgehandelten Vertrag. Auch haben Beschäftigte mit Tarifbindung meist mehr Urlaubstage. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Müssen alle einzeln über Gehalt und Arbeitszeit verhandeln, so weiß sich der Chef meist am längeren Hebel. Das drückt natürlich aufs Gehalt. Was kann man schließlich als einzelner Angestellter gegen die Übermacht des Kapitals ausrichten? Anders sieht es natürlich aus, wenn sich die Beschäftigten zusammenschließen, gewerkschaftlich organisieren und auch mal die Produktion mit einem Streik lahmlegen. Dann sind die Karten plötzlich neu gemischt. Insofern sollte sich jeder, der sich diese Woche über den Warnstreik in der U-Bahn aufgeregt hat, überlegen, ob sein Hass auf die Gewerkschaften gerechtfertigt ist. Wie wäre es vielleicht auch mal mit selber streiken?
Kommentare Tarifbindung. Vielleicht selbst mal streiken? Simon Poelchau über den Rückgang der Tarifbindung. Von Simon Poelchau. ND vom 1. Oktober 2020.