Projekt Diskussion:Altes Bernburg

Feuerstein

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Projekt Diskussion:Altes Bernburg/Kupferbergbau

Steinkohle

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Projekt Diskussion:Altes Bernburg/Steinkohlenbergbau

Braunkohle

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Projekt Diskussion:Altes Bernburg/Braunkohlenbergbau

Projekt Diskussion:Altes Bernburg/Salzbergwerke

Höhlenwohnungen Langenstein

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w:de:Höhlenwohnungen Langenstein

 
"Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 447"

Im Jahre 1855 suchten 12 junge Familien in Langenstein bei Halberstadt eine Wohnung. Da das Geld knapp war und Kredite nicht gewährt wurden, wandten sie sich an den Gemeinderat. Dieser empfahl den Wohnungssuchen, sich ihre Unterkunft in den am Schäferberg zu Tage tretenden Sandstein zu schlagen. Dieser Rat war ernst gemeint – und zudem pragmatisch, denn in Langenstein gab es bereits seit 1787 in der Nähe der Altenburg oberhalb der heutigen Dorfstraße eine Felsenwohnung. Die neuen Wohnungen wurden mit Hammer und Meißel in den relativ weichen Sandstein getrieben. Die Wohnungen bestanden aus aus Wohnzimmer, Küche, meist mehreren Schlafräumen oder Schlafnischen und einer kleinen Vorratskammer.

Die Bewohner dieser Höhlenwohnungen waren in die Dorfgemeinschaft integriert und wurden nicht etwa als Außenseiter oder Elende angesehen. Das Wohnklima in den Höhlen dürfte im Jahresrhythmus von heißen Sommern und kalten Wintern angenehm gewesen sein ((Meine Großmutter – sie ist Jahrgang 1928 und hatte 8 Geschwister – erzählt noch heute gern die Geschichte, wie im Winter oft Schnee auf ihrer Daunendecke lag. Sie sowie ihre Brüder und Schwestern hatten ihr Bett auf dem Dachboden direkt unter den Ziegeln. Sie betont noch heute, dass dies abgehärtet hat (wenn man nicht von Haus aus eine schlechte Gesundheit hatte …).)). Die Wohnungen waren durch ihre Lage unter der Erde im Sommer angenehm kühl und im Winter konnten sie durch Öfen beheizt werden. Bei der Beurteilung der Platzverhältnisse in den Höhlenwohnungen sollten heutige Besucher bedenken, dass zu dieser Zeit auch in gebauten Häusern oft mehrere Generationen in zwei Zimmern lebten – und die Menschen damals kleiner und weit schmächtiger waren. Das grandios geschriebene Buch PREUSSENS KRIEG UND FRIEDEN gibt beredte Auskunft über diese Zeit ((Geschichtlich interessierten sei das Buch PREUSSENS KRIEG UND FRIEDEN empfohlen. S. Fischer-Fabian: Preußens Krieg und Frieden – Der Weg ins Deutsche Reich, Bergisch Gladbach, 2008 – Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG – ISBN 978-3-404-64229-8. Das Buch beschäftigt sich intensiv mit der Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches um das Jahr 1850.)).

Diese Höhlenwohnungen wurden etwa 40 Jahre lang bewohnt. In dieser Zeit entstanden oft – für heutige Verhältnisse – malerische Vorgärten mit einer schönen Aussicht auf das Dorf und die Umgebung. Dann bauten die meisten der Bewohner sich feste Häuser im Ort – ein Zeichen gestiegenen Wohlstandes in der Kaiserzeit vor den Ersten Weltkrieg. Die Höhlen wurden als Vorratsräume weiter genutzt. Die letzte Höhlenwohnung in Langenstein – es war die des Karl Rindert an der Altenburg. Sie wurde erst im Jahre 1916 aufgeben. Seine Wohnung dürfte eine der ältesten sein und möglicherweise bis in das späte 12. Jahrhundert und die Erbauung der Burg zurückgehen ((Im Jahre 1177 ließen die Bischöfe von Halberstadt am LANGEN STEIN eine Burg erbauen. In diese bezogen sie Höhlen aus germanischer Zeit ein. Diese Burg wurde 1653 planmäßig demoliert und die Steine in die Domhütte zu Halberstadt verbracht.)).

Um die touristische Nutzung der Höhlenwohnungen in Langenstein kümmert sich heute der Verein Langensteiner Höhlenwohnungen e.V. Die restaurierten und zum großen Teil eingerichteten Höhlenwohnungen machen das Leben ihrer Bewohner für die Besucher erlebbar – und zu einem Erlebnis. Bei den kompetenten Führungen von Siegfried Schwalbe bleibt keine Frage über die vielfältige Geschichte des Ortes Langenstein unbeantwortet.

Unrühmliche Geschichte schrieb der Ort Langenstein vom April 1944 bis 1944 mit dem Konzentrationslager Langenstein-Zwieberge. Dieses KZ war ein Außenlager des KZ Buchenwald. Hier waren mehr als 7000 Häftlinge interniert, von denen die meisten traurige Berühmtheit durch das KOMMANDO MALACHIT erlangten. Ihre Aufgabe war die Schaffung eines unterirdischen Stollens für die Produktion der JUNKERS WERKE. Das Kommando MAIFISCH hatte der Firma KRUPP zu dienen. Ein Teil der Häftlinge wurde bei der Annäherung der US Armee am 9. April 1945 in einen Todesmarsch in Richtung Norden gehetzt. Auch das gehört zur Geschichte Mitteldeutschlands!

LANGENSTEIN UND SEINE EINZIGARTIGEN HÖHLENWOHNUNGEN ODER FELSENWOHNUNGEN

Schweizer Käsehöhlen

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Schollberg
 
Schollberg
 
Schollberg
 
Schollberg

In römischer Zeit war die rechtsrheinische Strasse über den St. Luzisteig die Nord-Süd-Hauptverbindung. Die linksrheinische führte über den Saumpass Matug bei Trübbach, da der Rhein bis etwa 1850 (Rheinkorrektion) an den Fuss des Schollbergs reichte. Als einzigartige Sperrpunkte waren Luzisteig und Matug schon frühzeitig befestigt.

Mit der Übernahme der Grafschaften Sargans und Werdenberg durch die sieben eidgenössischen Orte 1483 benötigten diese eine bessere Verbindung mit den neu erworbenen Gebieten jenseits des Schollberges. Die Schollbergstrasse von Sargans durch die Howand nach Trübbach sollte den über 200 m höher gelegenen Saumpfad über Matug ersetzen. Die Eidgenössischen Orte beschlossen 1490 an der Tagsatzung in Luzern, eine Fahrstrasse als Handels- und Militärstrasse über den Schollberg zu bauen.

Die 1492 fertig gestellte, 2,5 Meter breite Strasse wurde für den Auftragnehmer Michel Prentel aus dem Etschtal ein Verlustgeschäft. Die hohen Kosten für den Unterhalt konnten die Dreizehn Alte Orte durch Zolleinnahmen kaum decken. Die Strasse, die von der rechtsrheinischen Strasse über die Luziensteig konkurrenziert wurde, musste immer wieder den Wünschen der Kaufleute entsprechend angepasst werden (Verbreiterung wegen grösserer Fuhrwerke usw.). Das steile und rutschige Gelände führte oft zu Schäden. Die erste grössere Sanierung der Strasse am Schollberg erfolgte 1790.

In Vild, in der Nahe der Schlüsselstelle der Schollbergstrasse, wurden eine Pferdewechselstelle, eine Salzfaktorei und eine Zollstation zum Einzug der Zollgebühren errichtet. Der Zoll zu Vild wurde bereits 1490 in einer der ersten Amtsrechnungen des Sarganser Landvogts erwähnt.[2]

Der Kanton St. Gallen, der 1803 der Eidgenossenschaft beigetreten war, konnte 1822 im Rahmen des Ausbaus der Verbindung auf der linken Rheintalseite die neue Schollbergstrasse auf einem Damm am Fuss des Schollbergs eröffnen.

Das Trassee der nicht mehr benützten alten Schollbergstrasse wurde mit der Zeit verschüttet und überwuchert. Steinabbau und Festungsbauten setzten dem Weg zu und beim grossen Steinbruch wurde die Linienführung gänzlich unterbrochen. Die Alte Landstrasse ist dort erhalten geblieben, wo sie erhöht über der Rheinebene angelegt wurde, wie beim Holenweg (Abschnitt SG 3.1.2) und am Schollberg (Maziferchopf, Abschnitt SG 3.1.3). Die durch die Rheinebene verlaufenden Teile sind im 19. Jahrhundert durch die Staatsstrasse SG 3.2 überformt oder im Zuge der umfassenden Melioration des Rheintals reurbarisiert worden.


Schlacht am Welfesholz

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Das Denkmal für die Schlacht am Welfesholz in Welfesholz.
 
Denkmal für die Schlacht am Welfesholz in Welfesholz (Stadt Gerbstedt)

DIE SCHLACHT AM WELFESHOLZ – SPUREN DER GESCHICHTE: HOYERSTEIN, JODUTE, STEINKREUZ UND ALTBERGBAUHALDEN

Welfesholz liegt im Herzen des Mansfelder Landes, unweit der Stadt Hettstedt. Das Dorf hat heute etwa 220 Einwohner und gehört zur Verwaltungsgemeinschaft Gerbstedt. Der Ortsname war vielfältigen Wandlungen unterworfen: 1290 lignum catuli, 1362 Welpsholt, 1590 Gwelfers holtz. Welfesholz war früher ein großes Rittergut, das durch die Familie von Stromberg bewirtschaftet wurde. Ein weiterer Erwerbszweig der Bewohner war der Bergbau. Viele Halden, zum Beispiel die des Hornickelschachtes oder des Rosskunstschachtes, auf der Feldflur von Welfesholz erinnern noch heute an die große Zeit des Mansfelder Kupferschieferbergbaues.

Als weitere Sehenswürdigkeit steht an der Hauptstraße ein großes Steinkreuz aus vorreformatischer Zeit. Welfesholz ist historisch durch die Schlacht am Welfesholz am 11. Februar 1115 bekannt geworden.

In der Nähe des Ortes, auf dem Lerchenfeld, trafen Ritter des Kaisers Heinrich V. unter dem Befehl des Grafen Hoyer von Mansfeld auf die Gefolgsleute des Sachsenherzogs Lothar, der sich gegen den Kaiser aufgelehnt hatte. Die Schlacht endete mit der totalen Zerschlagung des kaiserlichen Heeres und einem grandiosen Sieg der Sachsen. Graf Hoyer von Mansfeld wurde im Zweikampf mit Wiprecht von Groitzsch getötet. Die Schlacht muss für die Bewohner der umliegenden Orte ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein, denn sie gedachten der Schlacht mit dem Hoyerstein und der Jodute.

Der Hoyerstein oder Löchrige Stein

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Gerbstedt, der Hoyerstein, Erinnerung an die Schlacht von Wefelsholz 1115

w:de:Menhir von Gerbstedt

Graf Hoyer hat vor der Schlacht am Welfesholz siegesbewusst – so erzählt es zumindest die Legende – seine Faust in den Stein gesteckt und folgenden Ausspruch gemacht:

„Ich, Hoyer, ungeboren,

Habe noch keine Schlacht verloren.

So wahr ich greif in diesen Stein,

Auch diese Schlacht muss meine sein.“

Früher hat sich der Hoyerstein oder Löchrige Stein etwa einhundert Meter neben seinem jetzigen Standort befunden. Im Jahre 1898 wurde er an die heutige Stelle, eine markante baumbestandene Erhebung, gebracht und auf einen gemauerten Sockel gestellt. In die Vorderseite des Sockels ist eine Platte eingelassen, die auf die Schlacht von Welfesholz und den legendären Spruch des Grafen Hoyer verweist. Der Stein selbst ist eine Braunkohlequarzitplatte, die auf der Vorderseite rau ist und viele kleine Löcher hat. Die Rückseite ist dagegen einigermaßen glatt. Charakteristisch ist das etwa faustgroße durchgehende Loch.

Eusebius Franke schrieb 1723 über eine weitere Merkwürdigkeit des Steines: „… sind sehr viele Nägel und Stifte darein geschlagen, welche man nicht vermögend ist, wieder herauszuziehen. Noch viel weniger ist man capabel itzo einen Nagel darein zu bringen, es wäre denn, dass ein starcker Landregen käme, da dann genannter Stein, dem Vorgeben nach, gantz weich werden soll …“. Von den erwähnten Nägeln ist heute nichts mehr zu sehen. Leider wurde am Hoyerstein vor einigen Jahren eine Mauer aus Mansfeldschlacke errichtet, die dem ansonsten mythischen Ort einiges von seinem Reiz nimmt.

Die Jodute

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thumb|Gutskapelle Welfesholz (Stadt Gerbstedt) Nach der Schlacht errichteten die Sachsen zu Ehren ihres Sieges über den Kaiser eine Gedenksäule. Auf dieser Säule soll das Standbild eines sächsischen Ritters in voller Rüstung gestanden haben. Der Ritter trug in der linken Hand einen Schild mit dem sächsischen Wappen, in der rechten Hand einen mächtigen Morgenstern. Diese Denksäule wurde bald Jodute genannt. Der eigentümliche Name der Bildsäule geht wahrscheinlich auf den alten Schlachtruf der Sachsen tiod-ute – „Zu den Waffen!“ – zurück. Später entstand die Sage, dass die Bildsäule selbst die Sachsen zur Schlacht gerufen haben soll.

Die Jodute wurde bald nach ihrer Aufstellung zum Wallfahrtsort. Es muss sich bald ein solcher Rummel um das Bild entwickelt haben, dass sich Kaiser Rudolf von Habsburg im Jahre 1289 gezwungen sah, die Jodute entfernen zu lassen. Die Jodute wurde ins Kloster Wiederstedt gebracht und an ihrem alten Standort eine Kapelle errichtet. Bald jedoch errichtete man einen neuen Bildstock in der Kapelle, der alten Jodute nicht unähnlich. Über den Grund kann nur spekuliert werden. Möglicherweise wurde die Wichtigkeit Jodute als Wirtschaftsfaktor erkannt. Diesem Bildstock wurden heilende Kräfte nachgesagt und so kam es, dass von den Wallfahrern häufig kleine Späne aus dem Stock geschnitten wurden. 1570 muss der Bildstock bereits derart verstümmelt gewesen sein, dass er entfernt wurde. Er wurde dann auch nicht wieder erneuert. Die Kapelle wurde im 16. Jahrhundert Teil des späteren Rittergutes zu Welfesholz.

Steinkreuze Welfesholz

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Aus Richtung Hettstedt beziehungsweise Sandersleben kommend, findet man unmittelbar am Ortseingang von Welfesholz ein Steinkreuz oder Sühnekreuz von beeindruckender Größe. Auf der Rückseite des Kreuzes ist großes Rad mit zehn Speichen eingemeißelt. Weshalb dieses Kreuz errichtet wurde, ist heute nicht mehr bekannt. Es gibt mehrere Deutungsmöglichkeiten. Es besteht die Möglichkeit, dass das Steinkreuz eine Grenzmarkierung des Erzbistums Mainz war. Das Wahrzeichen des Erzbistums war ein zehnspeichiges Rad. Das Erzbistum Mainz reichte vor der Gründung des Erzbistums Halberstadt so weit nach Norden. Es kann aber auch sein, dass es sich um ein Sühnekreuz handelt. Solche Sühnekreuze sind im Mansfelder Land gar nicht so selten zu finden. Sie wurden in vorreformatorischer Zeit als Sühne für ein begangenes Verbrechen errichtet.

Altbergbauhalden

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Eine Wanderung durch die Feldflur von Welfesholz lohnt allemal. Die herbe Schönheit dieser uralten Kulturlandschaft erschließt sich vielleicht erst auf den zweiten Blick, denn die zahlreichen schwarzen Bergbauhalden in den weiten Getreidefeldern haben schon etwas Abweisendes an sich. Nur sehr alte Halden sind bereits be- oder überwachsen. Aber diese abweisend wirkenden Halden sind Zeugen der alten Bergbautradition im Mansfelder Revier. Und eben dieser Bergbau hat Generationen von Menschen ernährt – und das nicht schlecht. Im Sommer bildet die schwarze Farbe der Halden einen schönen Kontrast zu den weiten und goldgelb wogenden Getreidefeldern, den sattgrünen Bauminseln und zum tiefblauen Himmel. Diese Landschaft ist vielleicht erst auf den zweiten Blick traumhaft schön. Wer sie aber einmal für sich entdeckt hat, den lässt sie auch nicht wieder los …

Posthausschild des “Russisch Kayserl. Post-Amtes” in Jever [09]

post1Schild des “Russisch Kayserlichen Postamtes” in Jever, um 1805. Goldfarbener Auftrag auf grünem Grund. Tafel aus vier 2,7 cm starken Nadelholzbrettern zusammengefügt, von schwarzem profiliertem Holzrahmen eingefaßt. H. 91 cm, B. 78 cm.

Das “Objekt des Monats” ein Posthausschild, spiegelt wie nur wenige andere Sachquellen die jeverländische Geschichte zwischen 1793 und 1806 wider, die Zeit als Erbherrschaft unter der Herrschaft der russischen Zaren. Dieses – wie bis zur Einführung von Zinkgußschildern in der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich – hölzerne Wappenschild wurde wahrscheinlich 1805 im Auftrag des Postmeisters Hinrich Gerhard Krieg (1759 – 1811) hergestellt und kennzeichnete das 1804 in die St.-Annen-Straße verlegte Posthaus in Jever nach außen.

Dargestellt ist in veränderter Form das russische Wappen mit der Unterschrift “Russisch Kayserl. Post-Amt”: ein Doppeladler, dessen Köpfe jeweils mit einer Spangenkrone, der russischen Zarenkrone, gekrönt sind. Vom Betrachter aus gesehen hält die linke Kralle das russische Zepter, die rechte den Reichsapfel. Zwischen den beiden Köpfen schwebt die russische Krone. Insoweit entspricht die Darstellung dem in der zeitgenössischen heraldischen Literatur beschriebenen Wappen der Zarin Katharina II. Im Unterschied zum russischen Wappen trägt der Adler aber auf der Brust nicht das von der Kette des Andreasordens umgebene Moskauer Schild mit dem heiligen Georg als Drachentöter. Ebenfalls fehlen auf den Flügeln des Adlers die sechs Provinzialwappen von Kiew, Nowgorod, Astrachan, Wladimir, Kasan und Sibirien, die aber auf verschiedenen russischen Wappendarstellungen vom Ende des 18. Jahrhunderts, z.B. auf mehreren Regimentsfahnen der Jahre 1797/98, weggelassen wurden. Anstelle des herkömmlichen Brustschildmotivs ist ein großes A angebracht, das für den seit 1805 regierenden russischen Zaren Alexander I. steht. Eine analoge Veränderung findet sich auf der Fahne des Großfürsten Konstantin, des Bruders Alexanders I., der Statthalter des seit 1815 mit Rußland in Personalunion verbundenen Königreichs Polen (“Kongreß-Polen”) war. Hier wurde das russische Brustschild durch das polnische Wappen ersetzt.

Die Unterschiede zwischen dem russischen Wappen und dem Wappen auf dem Jeverschen Postschild lassen sich durch das besondere staatsrechtliche Verhältnis des Jeverlandes gegenüber Rußland erklären. Im Jahre 1667 hatte Graf Anton Günther von Oldenburg die Herrschaft Jever mit der Maßgabe an seinen Neffen Johann von Anhalt-Zerbst vererbt, es fortan in männlicher und weiblicher Linie vererben zu können. Die männliche Zerbster Linie starb 1793 mit dem Tode Friedrich Augusts von Anhalt-Zerbst aus. Anhalt-Zerbst selbst wurde zwischen Anhalt-Bernburg, Anhalt-Köthen und Anhalt-Dessau aufgeteilt, während die Erbherrschaft Jever als Kunkellehen, d.h. als auch in weiblicher Linie vererbbares Lehen, an die mittlerweile als russische Zarin Katharina II. regierende Zerbster Prinzessin Sophie Auguste fiel. Sie setzte die aus der Linie Anhalt-Bernburg stammende Witwe des verstorbenen Fürsten, Friederike-Auguste-Sophie, als “kaiserlich russische Statthalterin ” ein, die die Regierung der Erbherrschaft weiterführte. Das Jeverland wurde also kein Teil Rußlands, sondern befand sich lediglich in einer Personalunion. Die Verbindung wurde nur durch den Herrscher bzw. die Herrscherin hergestellt, staatsrechtlich hatte beide Territorien nichts miteinander zu tun.

Gleichermaßen hatte die russische Post keinerlei Verbindung zum Jeverland. Die Jeverschen Postverhältnisse waren ähnlich diffus wie das Postwesen im gesamten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Obwohl ursprünglich die Post eine alleinige Reichssache gewesen war, deren Geschäfte die Familie Taxis betrieb, entwickelte sich vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg eine konkurrierende Posthoheit verschiedener Reichsstände. In seinem Wahlversprechen von 1658 mußte Kaiser Leopold I. anerkennen, daß Territorien mit landesherrlichem Postregal keine Nachteile erleiden durften. Der oldenburgische Graf Anton Günther ließ 1650 eine eigene reitende Post von Aurich nach Oldenburg einrichten, an die Jever angeschlossen war. Ab 1741 führte eine oldenburgische Reitpost direkt von Oldenburg über Varel nach Jever, hinzu kam eine ostfriesische Botenpost von Wittmund nach Jever. Die Tarife waren nicht einheitlich, sondern für jeden Ort gesondert berechnet. Die Post wurde nicht täglich befördert, sondern nur am “Posttag”, der z.B. bei der erwähnten Botenpost zweimal wöchentlich angesetzt war.

Bereits seit 1661 gab es in Jever eine Niederlassung der oldenburgischen Post. Hinrich Gerhard Krieg, der Auftraggeber des Posthausschildes, wurde 1798 von Johann Georg von Hendorff, der die Konzession für den Betrieb des oldenburgischen Postwesens besaß, als Postverwalter in Jever eingestellt. 1799 wurde er von der Regierung in Jever zum Regierungsregistrator und Copisten bestellt.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es in allen Ländern Deutschlands, vor allem unter fiskalischen und militärischen Aspekten, die Tendenz zur Verstaatlichung der Post. So wurde im Herzogtum Oldenburg nach dem Tode v. Hendorffs 1800 das Postwesen von staatlicher Seite organisiert. Krieg wurde als Postverwalter in Jever, aber nicht in den oldenburgischen Staatsdienst übernommen. Im Rahmen seiner Tätigkeit versuchte er durch Reformen das Postwesen in Jever zu erneuern. Er entwickelte Pläne für eine staatliche Landbotenpost und Fahrpost zwischen Jever und Wittmund bzw. Jever und Oldenburg. Nach der Bestellung Kriegs im Mai 1804 zum Kaiserlich russischen Postmeister für die Herrschaft Jever wurde im August 1804 eine Postordnung für die Erbschaft Jever erlassen, die die Post- und Frachttarife festlegte und die Übernahme der Landbotenpost in herrschaftliche Regie regelte. Obwohl noch 1808 der Weg Zwischen Jever und Wittmund von den Amsterdamer Prediger Hebelius Potter als “wirklich erbärmlich schlecht” beschrieben wurde, konnte im Mai 1805 das schon seit 1775 diskutierte Projekt einer zweimal wöchtlich verkehrenden Fahrpost zwischen Jever und Wittmund realisiert werden, die von der preußischen und der jeverschen Post auf gemeinsame Rechnung getragen wurde. Die Ernennung Kriegs zum Postmeister durch die Regierung in Jever kam in den Bezeichnungen des Postamtes zum Ausdruck. Nannte es sich 1803 noch “Herzogl. Oldenburgisches Post-Comtoir” und 1804 “Jeversches Postcomtoir”, so fungierte es 1805 bereits als “Russisch-Kayserliches Postamt”. In diesem Zusammenhang entstand das beschriebene Posthausschild mit der entsprechenden Aufschrift. Ähnlich bezeichneten sich die hannoverschen Postämter nach 1815 als “Königlich Großbritannisches Hannoversches Post-Amt”, da der englische König gleichzeitig König von Hannover war, wenn auch dadurch Hannover nicht Teil Großbritanniens wurde.

Mit dem 1. Januar 1806 endete der zusätzliche Dienst Kriegs für die oldenburgische Post, da sich Oldenburg durch die Übernahme der Landbotenpost in Staatsregie in seinen althergebrachten Rechten beeinträchtigt sah. Er wurde durch einen oldenburgischen Postverwalter, Peter Wilhelm Friedrich Hansen, mit Sitz in Jever ersetzt, mit dem es schnell zu Konflikten kam. Hansen umging fortan den Postmeister Krieg und übergab die oldenburgischen Postsachen dem Landboten direkt, der wiederum die für Oldenburg bestimmte Post Hansen und nicht Krieg auslieferte. Die Einnahmen der Jeverschen Post wurden durch dieses Verfahren in erheblichem Maße geschmälert.

Im Jahre 1807 kam das Jeverland durch den Tilsiter Frieden und den Vertrag von Fontainebleau an das Königreich Holland. Die holländische Regierung beließ es im neuen Department “Oostvriesland” trotz aller Vorsätze und Planungen bei den alten Zuständen in der Postverwaltung. Auf Verlangen der holländischen Regierung wurde jedoch die oldenburgische Post in Jever aufgehoben, Hansen nach Neuenburg versetzt und Krieg die Möglichkeit gegeben, die Taxen für die Landbotenpost drastisch zu erhöhen. Die Schilder an den Posthäusern wurden ebenfalls ausgewechselt. Für das bis dahin preußische Ostfriesland ist belegbar, daß Schilder lediglich mit dem Posthorn, dem Ortsnamen und der Aufschrift “Postamt” in Gebrauch waren. Erst als 1810 das Jeverland französisch wurde und dem Department de l’Ems Oriental zugeteilt wurde, kam es mit dem Dekret vom 18. Oktober 1810, das das Postwesen nach französischen Verhältnissen regelte, zu nachhaltigen Veränderungen.

Napoleonische Post in Norddeutschland: Nach einem Dekret aus Fontainebleau vom 18. Oktober 1810 entstanden sieben Postämter und zwar in Aurich, Emden, Esens, Jever, Leer, Norden und ... [1]

Die Posthausschilder wechselten abermals, diesmal zeigten sie für die Personenpost – wie in Rethem (Aller) nachgewiesen – den französischen Adler mit der Aufschrift “Empire Francais – Poste aux Chevaux”. Eine solche Post existierte seit 1812, verwaltet vom Gastwirt de Boer, in Jever. Krieg war bis zu seinem Tode 1811 als kaiserlich-französischer Postdirektor tätig. Dieses Amt führte seine Frau Wendelina Krieg (um 1776 – 1820) weiter, auch nachdem 1813 der russische Zar das Jeverland wieder in Besitz genommen hatte, dem oldenburgischen Herzog Peter Friedrich Ludwig als “regierenden Landes-Administrator von Oldenburg” bis zur endgültigen Abtretung 1818 an Oldenburg die Verwaltung übergab und das Jeverland somit in das oldenburgische Postwesen einbezogen wurde.

Es zeigt sich, daß bis hinunter auf die lokale Ebene die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Umbruchzeit war. Wir wissen bis heute noch zu wenig über die Alltagswirklichkeit in Jever, z.B. wer, wie, wann und warum die Einrichtungen der Post benutze. Das gilt ebenso für die Biographie Kriegs selbst, dessen Wirken als Mitinhaber eines Lotteriehandels und Mitglied der Freimaurerloge über das Postwesen hinausging. Obendrein sind die angesprochenen biographischen, heraldischen, rechts- und verkehrsgeschichtlichen Fragen in ihrem wechselseitigen Zusammenhang nicht untersucht. Die Antwort auf die Frage, in welchem Ausmaß die politischen und institutionellen Veränderungen in den Alltag der damals lebenden Menschen einschnitten, muß also späteren Forschungen vorbehalten bleiben.

Joachim Tautz

Literatur:

Eßlinger, C.: Das Postwesen in Ostfriesland in der Zeit von 1744 bis 1806. Aurich 1908

Orth, Friedrich/Thole, Fritz: 300 Jahre Postamt Jever. In: Postgeschichtliche Blätter Weser-Ems, Bd. 2, 1960/65, S. 133-144

Rüthning, Gustav: Geschichte der oldenburgischen Post. Oldenburg 1902

Scheer, Hermann: Die Herrschaft in Jever unter Anhalt-Zerbstischer Verwaltung. In: Oldenburger Jahrbuch 29, 1925, S. 202-215

Thole, Fritz: Ostfriesland und Jever im Königreich Holland (1806-10). In: Postgeschichtliche Blätter Weser-Ems, Bd. 1, 1955/59, S. 179-180, 200-202, 233-235; Bd. 2, 1960/65, S. 18-20, 65-68

https://www.schlossmuseum.de/sammlungen/kaleidoskop/kaleidoskop-01-10/09-posthausschild-des-russisch-kayserl-post-amtes-in-jever/

https://www.schlossmuseum.de/sammlungen/kaleidoskop/kaleidoskop-01-10/09-posthausschild-des-russisch-kayserl-post-amtes-in-jever/

Generation und Radikalisierung: die Mitglieder der NSDAP im Kreis Bernburg 1921-1945

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Kupfer, Torsten

Berlin 2006



2 Inhaltsverzeichnis TEIL A: DARSTELLUNG _____________________________________________ 4

1. VORBEMERKUNGEN __________________________________________ 4
2. PROLOG: DER KREIS BERNBURG UM 1900 _______________________ 7
3. 1921-1926: DIE ÄRA HÖLZKE___________________________________ 23
3.1 Erste Organisationsgründungen _______________________________ 23
3.2 Mitgliederstruktur und Eintrittsmotivationen der frühen
NSDAP-Mitglieder____________________________________________ 36
3.3 Biographisches Beispiel: Emma Hentschel (Dessau)_______________ 46
4. 1930/31: DER DURCHBRUCH ___________________________________ 53
4.1 Reorganisation und politischer Aufstieg ________________________ 53
4.2 Struktur der Mitgliedschaft und Platz der NSDAP im Parteiensystem _ 62
4.3 Eintrittsmotivationen _______________________________________ 74
4.3.1 Die „überflüssige Generation“: Angestelltenarbeitslosigkeit
in der Weltwirtschaftskrise __________________________________ 81
4.3.2 „Volksgemeinschaft“ als verklammerndes Element __________ 96
4.3.3 Biographische Beispiele: Ulrich von Bothmer, Kurt Kleinau,
Alfred F.________________________________________________ 103
5. 1932/33: VORAUSEILENDER GEHORSAM_______________________ 111
5.1 Nationalsozialistische Machtübernahme in Anhalt _______________ 111
5.2 Eintrittsmotivationen ______________________________________ 135
5.3 Mitgliederstruktur_________________________________________ 153
5.4 Die Verdrängung der „alten Kämpfer“_________________________ 159
6. 1937-40: NACHHOLENDER GEHORSAM ________________________ 165
6.1 Eintrittsmotivationen ______________________________________ 168
6.2 Mitgliederstruktur_________________________________________ 187
6.3 Der Funktionärskörper Ende der 30er/ Anfang der 40er Jahre ______ 197
7. DIE 40ER JAHRE: GENERATIONSWECHSEL ____________________ 201
8. „VOLKSPARTEI“ NSDAP? ____________________________________ 211

3 TEIL B: DOKUMENTATION ________________________________________ 230 TEIL C: ANHANG __________________________________________________ 298

Nachweis der ungedruckten Quellen_________________________________ 298
Nachweis der Literatur und gedruckten Quellen________________________ 299
Gedruckte Quellen ___________________________________________ 299
Literatur ___________________________________________________ 302
Abkürzungsverzeichnis ___________________________________________ 311

Teil A: Darstellung 1. Vorbemerkungen Diese Studie handelt von den Tätern. Gemeint sind jedoch nicht Täter in einem juristischen Sinne, sondern Täter in moralischer Hinsicht, als Mitverantwortliche in einem der verbrecherischsten von der Menschheit überhaupt hervorgebrachten Systeme, als Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Ausschließlich dieser Mitverantwortlichkeit, dem „Wer?“ und dem „Warum?“ widmet sich dieses Buch. So bleiben denn die Verbrechen des Nationalsozialismus in dieser sich gleichermaßen an ein wissenschaftliches Fachpublikum wie an Geschichtsinteressierte ohne wissenschaftliche Vorbildung richtenden Ausschnittsdarstellung weitestgehend ausgeblendet. Der Leser erfährt nichts über die „T4-Aktion“, den tausendfachen Mord an geistig kranken Menschen in Bernburg,1

nichts über die Verfolgung der Juden, nichts über die auch

im Kreis Bernburg in erheblichem Maße bestandene Zwangsarbeit und nur am Rande etwas über den physischen Terror gegen Andersdenkende. Die Verbrechen, die auch von Einwohnern des Kreises Bernburg während des Zweiten Weltkrieges innerhalb und außerhalb Deutschlands begangen wurden, bleiben ebenfalls außerhalb der Betrachtung. Und doch behandelt das Buch eine für das Verständnis des Nationalsozialismus eminent wichtige Kernfrage, die Frage nach dem Umfang und den Gründen für die Zugehörigkeit zur Staatspartei des „Dritten Reiches“, der NSDAP. In der wissenschaftlichen Diskussion führt die Beschäftigung mit der Mitgliederstruktur der NSDAP – gemessen am Gesamtausstoß an Literatur – eher ein Schattendasein. Trotz einer Flut von Veröffentlichungen zum Gesamtkomplex des Nationalsozialismus liegt bisher keine einzige Monographie zur Mitgliederstruktur der NSDAP in deutscher Sprache vor. Gleichfalls gibt es bisher – einschließlich der über eine Reihe von Fachzeitschriften und Sammelbänden verteilten Aufsätze – keine Studie, die die NSDAP in der Entwicklung ihrer Mitgliederstruktur in einem fest umrissenen Gebiet von ihren Anfängen bis 1945 zu rekonstruieren versucht.2


1

Vgl. Dietmar Schulze, „Euthanasie“ in Bernburg. Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg / Anhaltische Nervenklinik in der Zeit des Nationalsozialismus, Essen 1999; Ute Hoffmann (Hg.), Psychiatrie

des Todes. NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Freistaat Anhalt und in der Provinz Sachsen, Teil 1, Magdeburg 2001. 2

Der gegenwärtige Forschungsstand wird ausführlicher in Kapitel 8 dargestellt.

5 Eine solchermaßen erkannte Forschungslücke zieht gleichwohl nicht zwangsläufig eine diese Lücke ausfüllende Untersuchung nach sich. Für deren Durchführung bedarf es sowohl hinreichender Quellenbestände als auch einer ausreichenden Finanzierung der Forschungstätigkeit. Auf erste Quellenbestände – umfangreiche Listen von NSDAP-Mitgliedern der Stadt und des Kreises Bernburg, die zwischen 1945 und 1948 im Umfeld der Entnazifizierung angelegt worden waren – stieß ich schon 1990/91 im Stadtarchiv Bernburg während der Arbeit an meiner Dissertation zur Geschichte der anhaltischen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik.3

Im Laufe der folgenden Jahre zeigte es sich, dass auch an anderen

Orten umfangreiche Quellenbestände überliefert sind und eine Rekonstruktion der NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg auf der Grundlage massenstatistischer Daten realisierbar sein würde. In letzter Instanz ermöglicht wurde diese Untersuchung jedoch erst mit der Förderung des zwischen 1999 und 2002 an der Universität Bielefeld (Lehrstuhl Prof. H. G. Haupt) angesiedelten Projektes „Staatsparteien im Vergleich. Die Mitglieder von NSDAP und SED im Kreis Bernburg (1921-1952)“ durch die Stiftung Volkswagenwerk.4 Selbstredend ist die Auswahl des Kreises Bernburg für diese Untersuchung auch pragmatisch begründet. Generell lässt sich eine solche Studie mit vertretbarem Aufwand nur als Fallstudie ausführen. Der (seinerzeitige) Kreis Bernburg hat in dieser Hinsicht gewisse Vorzüge bzw. unabdingbare Voraussetzungen aufzuweisen. Er bietet einerseits die besondere soziale und politische Konstellation eines exorbitant hohen Arbeiteranteils innerhalb der Gesamtbevölkerung und der Dominanz der SPD in der Arbeiterbewegung vor 1933. Dadurch steht der Kreis Bernburg in hohem Maße für den mitteldeutschen Raum insgesamt.5

Andererseits muss das zu untersuchende Territorium relativ

geschlossen sein, so dass Verzerrungseffekte durch Fluktuationen (wie sie z. B. bei der Untersuchung von Berliner Stadtbezirken auftreten könnten) verhältnismäßig gering

3

Torsten Kupfer, Sozialdemokratie im Freistaat Anhalt 1918-1933, Weimar-Köln-Wien 1996.

4

Die Tatsache, dass sich innerhalb des vorgesehenen Untersuchungszeitraumes von drei Jahrzehnten –

also innerhalb eines (biologischen) Generationenabstandes – drei politische Systeme abwechselten, die zu großen Teilen mit dem gleichen „Personalbestand“ zu arbeiten hatten, wirft neben der Frage nach strukturellen Kontinuitäten auch die nach personellen Kontinuitäten zwischen den Systemen auf. Eine gleichfalls aus diesem Projekt hervorgegangene Untersuchung zur Sozialstruktur der SED und der Blockparteien im Kreis Bernburg bis 1952 befindet sich in der Fertigstellung. Von Ursula Breymayer (seinerzeit gleichfalls im betr. Projekt tätig) ist eine Studie zur politischen Orientierung der anhaltischen Lehrerschaft zwischen Weimarer Republik und früher DDR zu erwarten. 5

Eine Untersuchung stärker ländlich strukturierter Kreise, wie z. B. des anhaltischen Kreises Zerbst,

hätte dies nicht leisten können. 6 bleiben. Trotzdem muss es andererseits eine starke innere Differenzierung aufweisen, also städtische und ländliche Teilgebiete umfassen. Auf der institutionellen Ebene ist der Erfolg des Projektes zu nicht unerheblichen Teilen der konstruktiven Mitarbeit fast aller beteiligten Archive und Privatpersonen zuzuschreiben. Hierbei ist insbesondere – mit sehr wenigen Ausnahmen – die wissenschaftsfreundliche Ausschreitung des den Archivaren mit den Archivgesetzen im Falle von personenbezogenen Daten in die Hand gegebenen Entscheidungsrahmens hervorzuheben. Freilich konnten – trotz einer im allgemeinen guten Quellenlage – nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Insbesondere eine größere Zahl an zeitgenössischen originären Aussagen unterhalb der partei- und zeitungsoffiziellen Ebene wäre erstrebenswert gewesen. Auch eine Analyse der Mitgliedschaft der Anhangsorganisationen ließ sich – mit Ausnahme des Nationalsozialistischen Lehrer-Bundes (NSLB) – mangels verläßlicher Quellen nicht ausführen. Im Zentrum der vorliegenden Studie steht die Rekonstruktion der NSDAPMitgliedschaft im Kreis Bernburg mittels eines aus allen relevanten verfügbaren Archivalien zusammengestellten Datensatzes von mehr als 9.000 Mitgliedern von den Anfängen der Partei bis 1945.6

Durch dessen Verknüpfung mit weiteren Quellenbeständen

gelingt die Herausarbeitung eines konsistenten Bildes von der Parteimitgliedschaft und wird eine retrospektive Motivationsanalyse ermöglicht. Vor dem Hintergrund des mit diesem Verfahren verbundenen hohen materiellen, zeitlichen und auch persönlichen Aufwandes stellt sich die Frage, ob dieser letztendlich gerechtfertigt war. Die Frage ist uneingeschränkt zu bejahen. Die Untersuchung kommt im Ergebnis zu einer in der Literatur bisher nicht vertretenen und auch für den Bearbeiter überraschenden völlig neuen Charakterisierung der NSDAP jenseits der bisher mehrheitlich vorzufindenden Kennzeichnung als „Volkspartei“. Weiterhin konnte hinsichtlich ihrer Mitgliederstruktur erstmalig der gesamte Existenzzeitraum für ein fest umrissenes Gebiet – den Kreis Bernburg – abgedeckt werden; die Ableitung von Analogien zumindest für den mitteldeutschen Raum ist jedoch durchaus zulässig.

6

Vgl. die Beschreibung des Datensatzes im Teil B: Dokumentation.

2. Prolog: Der Kreis Bernburg um 1900 Die Geschichte der NSDAP im Kreis Bernburg setzt weit vor der ersten formalen Gründung einer Ortsgruppe im Herbst 1923 ein. Eine Reihe von Indizien deuten sogar auf die Existenz einer Vorlaufphase seit den 1890er Jahren hin. In den Jahren vor der Jahrhundertwende verfestigten sich die bis zum Ende der Weimarer Republik gültigen und dann (scheinbar) zerschlagenen politischen Grundkonstellationen in Form zweier sich feindlich gegenüberstehender politischer Lager; gleichzeitig trifft man in Bernburg in dieser Zeit auf die ersten Spuren völkisch-nationalistischer Organisation. Und nicht zuletzt wurde – soviel kann schon vorweggenommen werden – die reichliche Hälfte aller jemals in die NSDAP eintretenden Personen in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1900 geboren, wobei die Jahrhundertwende den Gipfelpunkt späterer NSDAP-Neigung markierte.7

Diese späteren Nationalsozialisten wurden in eine industrielle Arbeitswelt hineingeboren, die mehr und mehr von einem Unternehmen, den Deutschen Solvay-Werken Bernburg, einem Ableger des belgischen Solvay-Konzerns, dominiert wurde. Zwar war der Kreis Bernburg schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts industriell sehr gut entwickelt,8

auch hatten 1881, im Jahre der Konzessionierung des Kalisalzabbaus für die späteren Deutschen Solvay-Werke, bereits 16 Unternehmen mit jeweils mehr als 100 Beschäftigten bestanden (darunter allein zwölf Zuckerfabriken),9
doch jetzt bekam die

industrielle Entwicklung eine völlig andere Dimension. Die für den Kreis Bernburg auch weiterhin typische Verbindung von Großgrundbesitz bzw. Domänenpächtertum10 mit Zuckerfabriken, Braunkohlengruben, Ziegeleien und Steinbrüchen trat ökonomisch

7

Vgl. das Diagramm „Mit Geburtsjahr im NSDAP-Datensatz erfasste Mitglieder (unbereinigt)“ im Teil

B: Dokumentation. 8

Vgl. Torsten Kupfer, Das rückständige Anhalt? Anmerkungen zum wirtschaftlichen Entwicklungsstand

in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde, Köthen, 2 (1993), S. 144-151. 9

Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Regierung Dessau, Abt. d. Innern, VIIIa,

Nr. 12, pass. 10 1907 wurden 60 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Kreis Bernburg von Wirtschaften mit einer Betriebsgröße von mehr als 100 ha bewirtschaftet. Vgl. Freie Scholle, Dessau, 14.11.1925. Ende des 19. Jahrhunderts wurde rund ein Fünftel der Ackerfläche in den anhaltischen Kreisen Bernburg und Cöthen für den Zuckerrübenanbau genutzt, eine Größenordnung, die nur noch von den preußischen Kreisen Wanzleben und Oschersleben leicht übertroffen wurde. Vgl. S. Goldschmidt, Die Landarbeiter in der Provinz Sachsen, sowie den Herzogtümern Braunschweig und Anhalt, Tübingen 1899, Anhang: Tabelle 1. 8 ins zweite Glied zurück. Der Personalbedarf der Solvay’schen Kalibergwerke und der Sodafabrik ließ die Einwohnerzahl Bernburgs von 18.600 im Jahre 1880 auf 34.400 im Jahre 1900 ansteigen. Doch die Bevölkerungsexpansion infolge der Ansiedlung der Solvay-Werke gliederte sich nur in den schon lange zuvor begonnenen Prozess der Industrialisierung ein. In den sechs Jahrzehnten zwischen 1840 und 1900 hatte sich die Einwohnerschaft Bernburgs jeweils pro Jahrzehnt zwischen 20 und reichlich 50 % vermehrt. Auch die Städte und Gemeinden im Landkreis erfuhren einen erheblichen Bevölkerungszuwachs, jedoch nicht annähernd in dem Maße wie die Kreisstadt.11 Die Deutschen Solvay-Werke wurden mit ihrem Stammsitz Bernburg und ihren über das Reich verteilten weiteren Werken der bedeutendste Konzern der Kali- und Sodaindustrie in Deutschland, was auch seinen äußeren Ausdruck darin fand, dass das Kalisyndikat seinen Sitz direkt bei den Deutschen Solvay-Werken nahm. Bernburg war nun vollends eine Industriestadt. In und um Bernburg beschäftigten die Deutschen Solvay-Werke Ende 1899 3.200 Arbeiter, 110 kaufmännische und 80 technische „Beamte“.12 Neben den Deutschen Solvay-Werken und den vor allem im Landkreis bedeutenden Zuckerfabriken bestanden eine Reihe anderer Unternehmen, insbesondere auch der Metallindustrie. Eine Statistik des Kartells der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften vermerkt für Ende 1900 in Bernburg 7.111 beschäftigte Arbeiter: 4.000 davon als (unund angelernte) Fabrikarbeiter, 1.522 als Metallarbeiter und Schmiede, 913 in den verschiedenen Bau- und Holzhandwerksberufen, 600 als Berg- und Hüttenarbeiter.13 Eine weitere Konzentration von Kalibergbau und chemischer Industrie bestand schon seit den 1850er Jahren in der preußisch-anhaltischen Grenzdoppelstadt Staßfurt-Leopoldshall am Westrand des Kreises. Insgesamt setzte sich die Bevölkerung des Kreises Bernburg zu deutlich mehr als der Hälfte aus Arbeitern zusammen, wobei deren Anteil in den Gemeinden und Städten im Landkreis noch höher ausfiel als in Bernburg selbst. Die Jahre um die Jahrhundertwende treten jedoch nicht nur als Geburtsjahre späterer Nationalsozialisten hervor, sondern auch als Jahre verschärfter politischer Auseinander-

11 Vgl. Torsten Kupfer, Der Weg zum Bündnis. Entschieden Liberale und Sozialdemokraten in Dessau und Anhalt im Kaiserreich, Weimar-Köln-Wien 1998, S. 47. 12 Vgl. Volksblatt für Anhalt (im Folgenden: VbA) 15.12.1899. 13 Vgl. Jahres-Bericht des Gewerkschafts-Kartells zu Bernburg für das Geschäftsjahr 1900, Dessau o. J., S. 16 f. Eine andere Aufstellung vermerkt abweichend für 1900 im Salzwerk Solvayhall 1.168 und in der Saline Bernburg 123 Arbeiter. Vgl. VbA 19.10.1901. Möglicherweise wurden in der Aufstellung des Gewerkschaftskartells die Arbeiter des Übertagebetriebes als Fabrikarbeiter gezählt. 9 setzung und des ersten (retrospektiv sichtbaren) Auftretens einer völkischnationalistischen Strömung im Kreis Bernburg im Umfeld der 1898 abgehaltenen Reichstagswahlen. Die überaus große Konzentration von Arbeitern in der Bevölkerung hatte schon in den 80er Jahren und erst recht nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 fast zwangsläufig zur Stärkung der Sozialdemokratie geführt. Das gesellschaftliche Klima war daher von einer deutlichen Zuspitzung gekennzeichnet. Insbesondere das in der Landeshauptstadt Dessau erscheinende sozialdemokratische „Volksblatt für Anhalt“ vermittelt einen plastischen Eindruck von der bestehenden politischen Konfrontation. Im Halbjahr vor der Reichstagswahl 1898 beherrschten vor allem zwei Themenkomplexe dessen lokalpolitische Berichterstattung über den Kreis Bernburg. Zum einen beleuchtete das „Volksblatt“ die in der Tat skandalösen Arbeitsbedingungen der Arbeiter in etlichen Betrieben des Kreises und die dazu in einem engen Verhältnis stehenden unzureichenden Bemühungen der anhaltischen Gewerbeinspektion. Parallel dazu versuchte es, seinen Lesern die moralische Verkommenheit der besitzenden und herrschenden Schichten zu verdeutlichen. Heranzuziehende Beispiele für letztere gab es zuhauf: Der Bernburger Staatsanwalt Pannier musste wegen jahrelanger Misshandlung seiner Tochter vom Dienst suspendiert werden; ein Offizier wollte zu einer inzwischen nicht mehr am bisherigen Orte wohnenden Hure, und weil er sie nicht antraf schlug er wütend die jetzt dort wohnende Arbeitersfrau, woraufhin er wiederum von deren Mann zusammengeschlagen wurde (die Berichterstattung über diesen Fall brachte dem verantwortlichen „Volksblatt“-Redakteur einen Strafantrag ein); ein früherer Direktor der Nienburger Eisengießerei im Kreis Bernburg musste wegen Unterschlagungen in Haft genommen werden. Die „bürgerlichen“ Zeitungen hingegen ignorierten in ihrer Berichterstattung Sozialdemokratie und Arbeiterschaft so weit als möglich, wenn nicht ein herausragendes Ereignis wie ein die Stimmung weiter aufheizender Korbmacherstreik im ersten Halbjahr 1898 dies unmöglich machte. Nach wie vor war – trotzdem das Sozialistengesetz vor mehr als sieben Jahren gefallen war – antisozialdemokratische Repression seitens des Staates aber auch seitens der Arbeitgeber die Regel. So wusste das „Volksblatt für Anhalt“ aus Sandersleben zu berichten, dass 1898 eine sozialdemokratische Unterbezirkskonferenz für Anhalt II in Sandersleben durch den anwesenden Polizeibeamten aufgelöst und der örtliche SPDVertrauensmann später zu einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt wurde. Weiterhin würden die Sandersleber Bergleute bei der Reichstagswahl wohl für die Sozialdemokratie stimmen, sich aber aus Angst vor Repressalien nicht in sozialdemokratische Ver- 10 sammlungen trauen. Aus diesen Gründen soll auch der im Herbst 1899 ins Leben gerufene Arbeiterbildungsverein Sandersleben, anders als der zuvor gegründete Bernburger, nicht als „Sozialdemokratischer Verein“ bezeichnet worden sein. Man hätte sich in Sandersleben für die „unpolitische“ Form des Arbeiterbildungsvereins entschieden und gedenke somit, dem großen Repressionsdruck seitens der Arbeitgeber besser begegnen zu können.14 Die Gründung von Sozialdemokratischen Vereinen neben dem in Dessau schon bestehenden war überhaupt erst nach der Reichstagswahl 1898 in Angriff genommen worden. Das zuvor bestehende Verbot des In-Verbindung-Tretens von politischen Vereinen hatte bis dahin anscheinend ein zu hohes Risiko für den Bestand der zu begründenden Vereine bedeutet. Anonyme Denunziation gegen einen Arbeiter der Deutschen Solvay-Werke 189415 „Bernburg d. 12.11.1894. An den Herrn Direktor Kießel. Hiermit wollen wir Ihnen benachrichtigen das ein Mann aus ihrem Betrieb Namens Kochlin bei der vorigen Wahl und ebenfalls bei dieser Wahl Flugblätter für die Socialdemukraten zur Viloupe [?] aus getragen hat in der ganzen Umgegend von Bernburg, Güsten und Leopolds hall und auch zu gleicher Zeit den Süddeutschen Posttillion verbreitet welcher in Berlin beschlagnahmt ist. Sollten der Herr Direktor dieses Schreiben keinen Glauben schenken möchten der Herr Direktor Nachsuchung in den Kochlin seiner Behausung machen lassen dann würden die ganzen Socialischen Schriften und Untrieb zu Tage befördert werden. Und als der Kochlin von seiner Flugblatt verbreitung zurück gekommen ist das vorige mahl hat er sich im hiesigen Sociallischen Lokal recht nobel auf geführt wo er sich folgende Redensarten bedient umme mit d[ie] ganzen Großkaptalisten [...]eien müssen sie noch für [oder „nach hier“] un[d] ich bin Annarchist Ein Socialist ist noch viel zu langweilig und wie wir erfahren haben soll dieser Kochlin auch für den Annarchisten Verband steuern.“ Der sich in schnellen Zunahme der Wählerstimmen ausweisende Aufstieg der Sozialdemokratie konnte durch die staatliche und arbeitgeberseitige Repression bestenfalls verzögert werden. Um die Jahrhundertwende wurde sie zudem spürbar zurückgefahren. Bezeichnend für einen beginnenden Wandel in der Einstellung zur Sozialdemokratie ist das Verhalten der Direktion der Solvay-Werke anlässlich der Bernburger Stadtverordnetenwahlen 1899 und 1901. Bei der ersten Teilnahme der SPD seit 1891 im Jahre 1899

14 Vgl. VbA 08.07.1902; 24.06.1899; 04.10.1899. 15 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Deutsche Solvay-Werke, Nr. 1099, Bl. 1 (teilweise unleserlich). Für die Repression Anfang der 1890er Jahre vgl. auch Deutsche MetallarbeiterZeitung, Nürnberg, 19.12.1891, S. 4 (Entlassung von zwei Vorstandsmitgliedern der Bernburger Zahlstelle des Deutschen Metallarbeiterverbandes durch die Firma Siedersleben nach einer Denunziation). 11 hatte es noch massive Behinderungen gegeben. 80 Wählern der Tagschicht im Bergwerk Solvayhall war die frühere Ausfahrt zur Wahlteilnahme verweigert worden. Da der bestplatzierte Sozialdemokrat, Viktualienhändler Wilhelm Voigt, nur mit 30 Stimmen unterlag, ist anzunehmen, dass diese Verweigerung den ersten Einzug eines Sozialdemokraten in die Stadtverordnetenversammlung verhinderte. Auch wurden Arbeiter zur Überwachung der Stimmauszählung nicht zugelassen.16 Bei der folgenden Stadtverordnetenwahl 1901, bei der die Sozialdemokratie erstmals fünf Kandidaten durchbringen konnte, durften die Arbeiter der Frühschicht auf den Kali-Schächten der SolvayWerke erstmals so zeitig ausfahren, dass sie noch vor Wahlschluss um 14.00 Uhr ihre Stimmen abgeben konnten. Nachdem der Magistrat nicht bereit war, einer zeitlichen Ausdehnung der Wahl zuzustimmen, hatte ein Schreiben des Vorsitzenden des Sozialdemokratischen Vereins, Wilhelm Voigt, an den Generaldirektor der Solvay-Werke und späteren nationalliberalen Reichstagsabgeordneten für den Wahlkreis Bernburg-CöthenBallenstedt, Carl Wessel, diese gravierende Änderung bewirkt.17 Die ländlichen Arbeitgeber vollzogen diesen Sinneswandel nicht mit, sie versuchten weiterhin, ihre ökonomische Macht auszuspielen. So berichtete das „Volksblatt“ noch nach der Reichstagswahl 1912 aus Giersleben, dass auf dem Rittergut alle Frauen, deren Männer nicht auf dem Rittergut beschäftigt waren, dort nicht mehr zur Arbeit zugelassen wurden. Hintergrund der Maßnahme war der begründete Verdacht gegen ihre Männer, sozialdemokratisch gewählt zu haben.18 Der direkte politische Einfluss der Sozialdemokratie im Lande war in den 90er Jahren noch gering. Wahlerfolge für die Sozialdemokratie blieben bis 1898 vorerst aus; die bis dahin das politische Leben beherrschenden Honoratiorengruppen suchten mit allen Mitteln, ihre Vorrangstellung zu erhalten. Mittels einer 1895 durch den Landtag verabschiedeten Wahlrechtsverschlechterung wurde die Sozialdemokratie anfänglich mehr als der Hälfte ihrer potentiellen Wählerschaft zu den Landtags- und Stadtverordnetenwahlen beraubt. Sie hatte somit aus eigener Kraft keinerlei Aussicht auf Erfolg, verzichtete bei den Landtagswahlen 1896 folgerichtig auch auf eine Beteiligung und nahm auch an den Bernburger Stadtverordnetenwahlen erstmals wieder 1899 teil.19 Ein Ausbrechen

16 Vgl. VbA 24.11.1899. 17 Vgl. VbA 28.11.1901. 18 Vgl. VbA 01.02.1912. 19 Nach dem seit 1873 gültigen, ständisch geprägten indirekten Mehrheitswahlrecht wurden bis dahin von folgenden Personengruppen Landtagsabgeordnete gewählt: zwei vom Herzog, acht von den höchstbesteu- 12 der Linksliberalen aus der „bürgerlichen“ Blocksolidarität und Zusammengehen mit der Sozialdemokratie – wie in Dessau von 1900 bis 1904 geschehen20 – hat es in Bernburg nicht gegeben. So nahm zwar der freisinnige Justizrat Fiedler in der Landtagswahl 1902 die sozialdemokratischen Wahlmännerstimmen an, ließ sich dafür auch von der Rechten als „auf den Krücken der Sozialdemokratie“ in den Landtag gelangt beschimpfen, doch Gegenleistungen gab es dafür nicht. Nur im Falle eines lokal bisher übermächtigen konservativen Gegners – wie in Sandersleben 1902, als man sich ‚von der Domäne emanzipierte‘ – kam es zu Bündnissen. In den nach allgemeinem, gleichem und direktem Mehrheits-(Männer-)Wahlrecht ausgetragenen Reichstagswahlen im Wahlkreis Anhalt II (Bernburg-Cöthen-Ballenstedt) gestalteten sich die Chancen der Sozialdemokratie deutlich besser. Zwar hatten in den Reichstagswahlen in Anhalt II von Anbeginn bis 1898 regelmäßig die nationalliberalen Kandidaten gesiegt, doch wurden bis einschließlich 1894 auch linksliberale und konservative Kandidaten aufgestellt. In den jeweils zwischen Nationalliberalen und Sozialdemokraten als stärksten Parteien der Hauptwahl ausgetragenen Stichwahlen unterstützten linksliberale und konservative Wähler dann ‚natürlich‘ den Nationalliberalen, so dass dessen Sieg aufgrund der besseren Mobilisierung des „bürgerlichen“ resp. „nationalen“ Wählerlagers gesichert war. Die Reichstagswahlen 1898 wichen insofern schon im Vorfeld vom geschilderten Muster ab, als die Linksliberalen und die Konservativen in der Voraussicht eines knappen Wahlausgangs von der Aufstellung eigener Kandidaten absahen. Es hatte sich gezeigt, dass ein einfaches Aussitzen des Sozialdemokratie-Problems wie in den Stadtverordneten- und Landtagswahlen und wie auch noch in den vorherigen Reichstagswahlen für das „bürgerliche“ Lager aufgrund der Gleichbehandlung aller Stimmen und der inzwischen voraussehbaren besseren Mobilisierung der sozialdemokratischen Wähler nicht

erten Grundbesitzern, zwei von den höchstbesteuerten Handels- und Gewerbetreibenden, 14 von den Wählern der städtischen Wahlkreise, zehn von den Wählern der ländlichen Wahlkreise. Um der Sozialdemokratie jegliche Wahlchancen in den Landtags- und Stadtverordnetenwahlen abzuschneiden, wurde im Jahre 1895 den geltenden Bestimmungen ein Wahlzensus in Höhe eines zu versteuernden Einkommens von 1.050 Mark (Stadt) bzw. 600 Mark (Land) hinzugefügt. Der Bernburger Oberbürgermeister Pietscher erklärte 1895 im Landtag, dass von 700 Arbeitern der Solvay-Werke, deren Lohnlisten ihm vorgelegen hätten, 580 über mehr als die zur Wahlteilnahme berechtigenden 1.050 Mark Einkommen verfügten. Er vergaß aber zu erwähnen, dass insbesondere die Kalibergarbeiter eine der bestentlohnten, wenn nicht sogar die absolut bestverdienende Arbeitergruppe der Stadt waren, so dass deren Verhältnisse nicht auf die Arbeiterschaft insgesamt zu übertragen waren. Vgl. VbA 26.10.1901; Fritz Darmstädter, Die Lage der Arbeiter im Kalisalzbergbau, München 1911, S. 39; Jahres-Bericht des Gewerkschafts-Kartells zu Bernburg für das Geschäftsjahr 1900, Dessau o. J., S. 16 f. 20 Vgl. Kupfer, Weg, pass. 13 mehr möglich sein würde. Den städtischen Honoratioren im Nationalliberalen Verein Bernburg, d. h. dem Kommerzienrat, dem Fabrikbesitzer, dem Amtsgerichtsrat, dem Buchbindermeister, dem Amtmann,21 oblag es als stärkster „bürgerlicher“ Kraft daher, die vor allem im Landkreis zu findenden Konservativen und die mehr kleinbürgerlichakademischen Linksliberalen der Städte auf einen gemeinsamen Kandidaten, den bisherigen nationalliberalen Mandatsinhaber Prof. Friedberg aus Halle, festzulegen. Damit sollte der „bürgerliche“ Erfolg schon im Hauptwahlgang gesichert werden. Doch dieses Vorhaben wurde durch die antisemitische „Sonderkandidatur“ eines der Deutsch-Sozialen Reformpartei angehörenden Apothekers Brox aus Glauchau in Sachsen, der dort Stadtverordneter und Vorsitzender des Gewerbevereins war, durchkreuzt. Im Ergebnis der Hauptwahl fehlten dem Nationalliberalen Prof. Friedberg die antisemitischen Stimmen zur absoluten Mehrheit. In der Stichwahl triumphierte dann infolge besserer Mobilisierung der Wählerbasis äußerst knapp der gleichfalls in Halle wohnende sozialdemokratische Schneidermeister Albrecht über Prof. Friedberg und gewann den Wahlkreis erstmalig für die Sozialdemokratie.22 In der Reichstagswahl 1903 sollte der Wahlkreis aber aufgrund einer jetzt tatsächlichen Einheit des „Bürgertums“ gegen die Sozialdemokratie dieser wieder verloren gehen. Zur Erzielung dieser „bürgerlichen“ Einheit bediente man sich in Anhalt jetzt allein diesem Zwecke dienender sogenannter „Reichstreuer Wahlvereine“.23 Siegreicher Kandidat der 1903 sowohl Linksliberale als auch Konservative unter ihrer Flagge wieder vereinenden Nationalliberalen war im übrigen der Generaldirektor der Deutschen Solvay-Werke, Carl Wessel. Er versinnbildlichte jetzt sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Dominanz der Deutschen Solvay-Werke in Bernburg. Erst 1912 sollte das Reichstagsmandat in Anhalt II, wiederum infolge einer Abspaltung aus dem „bürgerlichen“ Wählerlager, erneut an die Sozialdemokratie übergehen. Bei der dafür verantwortlichen „Demokratischen Vereinigung“ handelte es sich um die am weitesten links stehende „bürgerliche“ Gruppierung des Kaiserreichs. Ihre Wähler votierten in der Stichwahl dann auch zum Teil für die Sozialdemokratie.

21 Von den Mitgliedern von Vorstand und Ausschuss (ein knappes Fünftel der Vereinsmitglieder) sind 60 % dem Besitzbürgertum und 21 % dem höheren öffentlichen Dienst zuzurechnen. Vgl. Wahlplakat, in Stadtarchiv Bernburg eingebunden hinter Bernburger Wochenblatt vom 05.06.1898. 22 In der Stadt Bernburg hatte Albrecht schon in der Hauptwahl 63 % der gültigen Stimmen erzielt. 23 Vgl. „Satzungen des reichstreuen Wahlvereins im Kreise Bernburg“ und Beitragsliste der Hohenerxleber Mitglieder dieses Vereins im Gemeindearchiv Hohenerxleben. 1907 fungierte als Vorsitzender dieses Vereins praktischerweise gleich der Kreisdirektor [= Landrat] von Krosigk. Vgl. Wilhelm Weber (Hg.), Adreß-Buch der Stadt Bernburg für 1. Juli 1907 bis 1. Juli 1908, Bernburg 1907, S. 36. 14 Die Sozialdemokratie hatte ihren Wahlsieg von 1898 also indirekt den nominell beinahe unbedeutenden Antisemiten zu verdanken. Angesichts eines Stimmenvolumens von 3 % der gültigen Stimmen im Kreis könnte man dies leicht als ‚antisemitischmittelständlerischen Bodensatz‘ abtun. Es lohnt jedoch ein genauerer Blick auf die lokale Verteilung der Wählerschaft dieser Partei. Diese konzentrierte sich in der 4.700 Einwohner zählenden Kleinstadt Güsten (19 % für Brox) und den benachbarten Gemeinden Giersleben, Osmarsleben und Rathmannsdorf (10 bzw. 9 %).24 Der tiefere Grund dieser Konzentration ist in den politischen Konflikten in der Stadt Güsten selbst zu suchen, die auch auf die nähere Umgebung ausstrahlten. Bis 1893 war das politische Leben Güstens ausschließlich von der vor den Toren der Stadt ansässigen Rittergutsbesitzerfamilie Kraaz bestimmt worden. Nach dem „Volksblatt für Anhalt“ wären die Mitglieder der Familie die „Güstener Repräsentanten des Systems Stumm“ gewesen. So, wie der Freiherr von Stumm und Halberg an der Saar in fast unumschränkter Weise über seine Bergarbeiter herrschte, so hätte auch die Familie Kraaz ihre ökonomische Allmacht für politische Zwecke hemmungslos ausgespielt. Konkret wurde ihren Untergebenen z. B. der jeweils abzugebende Wahlzettel direkt von den Arbeitsinspektoren zugestellt.25 Um die politische Herrschaft der Familie Kraaz zu brechen war 1893 in Güsten ein Bürgerverein gegründet worden. Im Ergebnis dessen nahm das Stadtverordnetenkollegium jetzt eine unabhängige Stellung ein. Über geschickt vorgebrachte Drohungen verstand es aber der Güstener Vertraute der Familie Kraaz, Sanitätsrat Dr. Schettler, die gerade organisierte Opposition vorerst wieder abzuwürgen. Anscheinend war von ihm auch der Kreis-Schulrat Rümelin unter Druck gesetzt worden, so dass dieser sich im März 1896 genötigt sah, den Austritt des Rektors und der Lehrer aus dem Bürgerverein zu verlangen. Um der Sache weiteren Nachdruck zu verleihen, streute Schettler das Gerücht, dass bei einem eventuellen Rückzieher Rümelins die Angelegenheit dem herzoglichen Minister vorgetragen werde. Daraufhin traten sämtliche Lehrer aus dem Bürgerverein aus. Trotzdem wurden der Rektor und zwei weitere Lehrer, einer davon stellvertretender Stadtverordnetenvorsteher, aus der Stadt versetzt. Im Januar 1898

24 Quelle: VbA 21., 28.06.1898. Die im Bernburger Wochenblatt am 26.06.1898 veröffentlichten Ergebnisse weisen kleinere Abweichungen auf, es wird unterstellt, dass die Ergebnisse im VbA schon die Korrekturen beinhalten. 25 Im Kaiserreich oblag die Herstellung und Verteilung der Wahlzettel den Parteien selbst. Aufgrund der zwangsläufig unterschiedlichen Gestalt der Wahlzettel boten sich auch zu den Reichstagswahlen erhebliche Möglichkeiten zur Durchbrechung des Wahlgeheimnisses und der Ausübung sozialer Disziplinierung. 15 musste ein weiterer Lehrer wegen Versetzung sein Stadtverordnetenmandat niederlegen. Doch von den Repressionen waren nicht nur die Lehrer betroffen; ein Güterinspektor und ein Bahnmeister, beide etwa 18 Jahre in Güsten ansässig, wurden ebenfalls versetzt. Weiterhin erschienen die Güstener Chausseewärter beim Vorstand des Bürgervereins, um ihren Austritt mitzuteilen und eine Bescheinigung über ihren Austritt, die sie der Kreisdirektion in Bernburg vorzulegen hatten, entgegenzunehmen. Wohlgemerkt, es handelte sich hier weder um einen sozialdemokratischen noch um einen freisinnigen Verein! Auch im Jahr 1897 hielt der Mitgliederrückgang des Bürgervereins weiter an. Der trockene Kommentar des sozialdemokratischen „Volksblattes für Anhalt“ zu diesen Verhältnissen der politischen Terrorisierung lautete dahingehend, dass einem die Güstener Liberalen angesichts der anderenorts auch von ihnen gezeigten Illiberalität nicht so recht leid tun könnten.26 Trotz der andauernden Schwächung des als Repräsentanten des liberalen Lagers anzusehenden Bürgervereins kam es Anfang 1898 zum offenen Konflikt mit dem als Repräsentanten der Konservativen zu verstehenden Bürgermeister, aus dem die beiden Vorstände des Bürgervereins, Ingenieur Rothe und Kaufmann Boas, siegreich als Stadtverordnetenvorsteher und Stellvertreter hervorgingen.27 Doch die Auseinandersetzung schwelte weiter, zumal auch beide Lager in der Stadtverordnetenversammlung fast gleich stark waren. Das sehr gute Wahlergebnis der antisemitischen Deutsch-Sozialen Reformpartei war eine direkte Folge dieser Güstener Verwerfungen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen war es anscheinend – wie sonst üblich – versäumt worden, die unteren Angestellten und Beamten effektiv in die „bürgerliche“ Front einzubinden, sie waren ‚sich selbst überlassen‘ worden und suchten sich eine ihnen geeignet erscheinende Parteirichtung. Zumindest legen die Berufe des Einberufers und des Leiters der antisemitischen Wahlversammlung in Bernburg diesen Schluss nahe; es handelte sich um

26 Vgl. VbA 15.03.1898; Bernburger Wochenblatt 23.01., 26.05.1898. Notiz über eine Wahlversammlung der Sozialdemokratie im VbA 26.05.1898: „In Güsten sprach am Sonnabend, den 21. d., Genosse Landtagsabgeordneter Käppler aus Altenburg [Thüringen] über die kommenden Reichstagswahlen. Die Versammlung war nur von einigen 80 Personen besucht, weil zu viele Arbeiter so ängstlich sind, in eine sozialdemokratische Versammlung zu gehen. Einige anwesende Gegner zogen es vor, sich nicht zum Wort zu melden und auch nicht gegen die am Schluß der Versammlung zur Abstimmung gelangende Resolution zu stimmen, so daß wohl bei der Wahl auch sie dem Genossen Albrecht ihre Stimme geben werden.“ Tatsächlich bekam Albrecht in Güsten schon in der Hauptwahl 50 % der gültigen Stimmen. 27 Vgl. Bernburger Wochenblatt 23.01, 14.05., 26.05.1898. 16 einen Bahnassistenten und einen Postassistenten, beide aus Güsten.28 Bemerkenswerterweise wäre für die Reichstagswahlen der lokale Konflikt eigentlich irrelevant gewesen, die Konservativen unterstützten den nationalliberalen Kandidaten wegen des vorauszusehenden knappen Ausgangs von Anfang an und an der antisozialdemokratischen Haltung der Antisemiten dürfte es auch keinen Zweifel geben. Doch stand den einer Mittelstandsideologie nachhängenden29 Wählern der Deutsch-Sozialen Reformpartei in Güsten und Umgebung 1898 die Bedienung ihrer Aufstiegserwartungen näher als das sich in der Bekämpfung der Sozialdemokratie artikulierende ‚bürgerliche Gesamtinteresse‘. Welche Rolle der Antisemitismus der Deutsch-Sozialen Reformpartei dabei spielte, ist schwer zu beurteilen, er erscheint aber, auch wenn schon im Jahre 1893 in Güsten ein „Antisemitischer Verein” (eventuell auch „Verein gegen das Judentum” genannt) gegründet worden sein soll30 – eher nachgeordnet. Es gibt zumindest keine Hinweise darauf, dass er die herausragende Motivation gewesen sein könnte, so wie auch von einer organisatorischen Verfestigung des Antisemitismus im Kreis Bernburg insgesamt bis dahin nichts bekannt ist. Beleg dafür ist auch die erwähnte Wahlversammlung in Bernburg, anscheinend verfügte die Partei in der Kreisstadt über keinerlei organisatorische Basis, anderenfalls hätte nicht ein Güstener als Einberufer fungieren müssen. Auch die Zusammensetzung des Güstener Stadtverordnetenkollegiums im Jahre 1899 aus drei Kaufleuten, zwei Zimmermeistern, jeweils einem Ingenieur, Sanitätsrat, Schlossermeister, Uhrmacher(meister?), Fleischermeister und Maurerpolier spiegelt die Tatsache wider, dass die städtische Politik nach wie vor eine Angelegenheit der Honoratioren war.31 Die hier nicht repräsentierten Arbeiter fanden ihre politische Heimat in der Sozialdemokratie, waren aber durch den Wahlrechtsraub von 1895 weitestgehend vom Wahlrecht zur Stadtverordnetenversammlung ausgeschlossen. Doch wo gliederten kleine Angestellte und Beamte sich ein? Der Weg zur Sozialdemokratie war ihnen aus ideo-

28 Vgl. Bernburger Wochenblatt 12.06.1898. 29 Der Berichterstatter des Anhalter Kurier sah die Deutsch-Soziale Reformpartei in der direkten Nachfolge der in der vorigen Reichstagswahl 1894 kandidierenden Mittelstandspartei. Vgl. Anhalter Kurier (im Folgenden: AK) 12.06.1898. Vgl. auch die Versammlungsberichterstattung in: Bernburger Wochenblatt 15.04. und 12.06.1898. 30 Vgl. Carl Reichert, Ortschronik der Stadt Güsten und ihres Ortsteiles Osmarsleben, Güsten 1965 (Ms. Stadtarchiv Güsten), S. 56. 31 Vgl. Adreßbuch für sämmtliche Ortschaften des Kreises Bernburg (ausschließlich der Kreisstadt) 1899, Bernburg 1899, 2. Teil, S. 9. Vgl. auch M. Grey und H. Schmidt (Hg.), Adreß-Buch des Landkreises Bernburg 1907, Bernburg 1906, S. 198 (Vorsitzende der allen Berufsgruppen offenstehenden Vereine in Güsten: je ein Buchdruckereibesitzer, Fleischermeister, Schlossermeister, Tischlermeister, Rektor, Lehrer, Schachttischler). 17 logischen Gründen – Aufstiegserwartung hier, Verproletarisierungsprognose dort – versperrt. In der Regel ließen sie sich in das „nationale“ Wählerlager integrieren, und auch 1898 war dies im Kreis Bernburg die Regel – nur eben Güsten, Giersleben, Osmarsleben und Rathmannsdorf zeigten, dass die Bindungen des „neuen Mittelstandes“ an das „nationale“ Wählerlager eher schwach waren, weil eine Artikulation eigener Interessen innerhalb dieses antisozialdemokratischen Zweckbündnisses nur schwer zu bewerkstelligen war. Nach Harold D. Lasswell hat es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine „psychologische Verarmung der unteren Mittelklasse“ infolge ihrer Einklemmung zwischen den das politische und gesellschaftliche Geschehen dominierenden Arbeitern und Großbürgern gegeben. Diese „psychologische Verarmung“ sei die Basis „für die vielen Massenprotestbewegungen [gewesen], durch die sich die Mittelklassen rächen können.“ Er bezog allerdings seine Beschreibung der „unteren Mittelklasse“ auf die „kleinen Kaufleute, Lehrer, Pastoren, Rechtsanwälte, Ärzte, Bauern und Handwerker“.32 Unter Kenntnis der lokalpolitischen Verhältnisse im Kreis Bernburg wäre dazu anzumerken, dass die genannten Berufsgruppen nur zum Teil für die benannte „psychologische Verarmung“ in Beschlag zu nehmen sind. Rechtsanwälte, Ärzte, Pastoren und auch Lehrer sowie Handwerksmeister zählten zumindest in Teilen zur lokalen Honoratiorenschaft; es muss also auf jeden Fall die innere Differenzierung dieser Gruppen beachtet werden. Eine andere Sozialschicht jedoch, für die diese eingeklemmte Stellung zwischen Arbeiter und Großbürger wie für keine andere zutrifft, wird von Lasswell nicht in diese Reihe gestellt. Diese Schicht ist die der mit großen Aufstiegserwartungen angetretenen Angestellten und unteren Beamten. Dem sozialen Status nach größtenteils nicht besser als die Arbeiter gestellt, erwarteten sie vom „bürgerlichen“ Lager, dem sie sich größtenteils zugehörig fühlten und das auch gezwungen war, sie für seine Ziele in Anspruch zu nehmen, vor allem eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Geltung, ihres Ansehens. Die fortdauernde Verweigerung dieses Geltungsgewinns musste, unabhängig von parallel dazu sich eventuell vollziehenden Statusverlusten, zu Konflikten führen. Dies schon deshalb, weil die Angestelltenschaft seit Beginn des Jahrhunderts die einzige noch absolut wachsende Sozialschicht war. Der Tag war absehbar, an dem Angestellte und Beamte die Mehrheit eines politischen Lagers stellen würden, das ihnen die nötige Geltung

32 Harold D. Lasswell, Politik und Moral. Analyse des politisch-sozialen Verhaltens, Stuttgart und Düsseldorf 1957, S. 272. 18 verweigerte. Tatsächlich brach dieser Konflikt nach der Novemberrevolution auch offen aus. Eine die lokalpolitischen Verhältnisse kurz nach der Jahrhundertwende widerspiegelnde Erzählung des seinerzeitigen Bernburger Oberlehrers Gerhard Heine,33 verdeutlicht die spezifische Stellung der neuen Mittelschichten. In Heines Erzählung werden die unteren Beamten als durch die den Honoratioreninteressen dienende antisozialdemokratische Blockpolitik vernachlässigt dargestellt, ihre Interessen fänden keine angemessene Vertretung34 und sie verfügten auch über keine anerkannten profilierten Führungspersonen. Während die Beamten aber durchaus noch als vertretungswürdig wahrgenommen werden, kommen bei Heine – analog zur Darstellung bei Lasswell – kaufmännische, Büround Handels- sowie technische Angestellte, als eigenständig handelnde Subjekte der Politik – abgesehen von ihrem Wählerstatus – überhaupt nicht vor. Da Heines Erzählung mit Andeutungen und Überzeichnungen der Bernburger und anhaltischen Politik jener Jahre geradezu gesättigt ist und die in der Erzählung dargestellte politische Konstellation sogar nach Vergleich mit den lokalen Ereignissen auf das Jahr 1903 datiert werden kann, besteht kein Grund zu der Annahme, dass er in diesem Falle die bestehenden Verhältnisse nicht korrekt widergespiegelt haben könnte. Doch gerade in jenen Jahren beginnt in Bernburg unter dieser Schicht mit dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband eine Organisation aktiv zu werden, die sich als einer der Aktivposten des Antisemitismus in Deutschland profilieren und das politische Feld für die NSDAP vorbereiten sollte. Als größte nichtsozialistische Gewerkschaft dominierte der DHV das Berufsfeld der kaufmännischen Angestellten und war zudem in der Provinz allgemein stärker vertreten als in den Großstädten. In seiner Rundumversorgung von Tarifvertragsgestaltung, Stellenvermittlung, Weiterbildung, Versicherung (Kranken- und Begräbniskasse), Geselligkeit, politischer Orientierung, Verbands-Sparkasse, Sportgruppen- und Jugendarbeit sowie Rechtsschutz boten sich durchaus Anknüpfungspunkte für die spätere nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“.

33 Vgl. Gerhard Heine, Kleinkrieg in Weisenberg, Dresden 1907. Heine ist im Jahre 1900 als Delegierter zum Vertretertag des Nationalsozialen Vereins nachgewiesen, der sich in jenen Jahren seiner politischen Stellung nach an der Schnittstelle beider Blöcke wiederfand. In den Landtagswahlen des Jahres 1902 konnte der dem Nationalsozialen Verein angehörende Leopoldshaller Pfarrer Baumecker mit Unterstützung der ansonsten aussichtslosen Sozialdemokratie den Wahlkreis Güsten-Neundorf im Westen des Kreises Bernburg gewinnen. 34 Vgl. Heine, Kleinkrieg, S. 75. 19 Die Bernburger DHV-Ortsgruppe wurde 1899 gegründet und profilierte sich sofort mit Aktionen gegen die Sonntagsarbeit, für den 8-Uhr-Ladenschluss, für die Einrichtung einer kaufmännischen Fortbildungsschule und kaufmännischer Schiedsgerichte.35 Mit dem DHV begann in der Kreisstadt Bernburg auch die Geschichte des organisierten Antisemitismus. Über die ‚normale‘ antisemitische Beeinflussung der Mitglieder hinaus ist 1907 das Bestehen des „Germanenhorts“, einer „engere[n] Vereinigung in der [DHV-]Ortsgruppe“ überliefert.36 Es dürfte sich hierbei um eine Untergliederung des reichsweit agierenden „Bundes der Unbedingten“ im DHV, der in besonderer Weise den deutschnationalen Gedanken zu fördern beabsichtigte und eine Elite der Organisation darstellen sollte, gehandelt haben.37 Auch eine Grabschändung auf dem jüdischen Friedhof 190438 könnte auf das Bestehen antisemitisch-völkischer Gruppierungen hindeuten. Doch handelt es sich hier sämtlich um Vorgänge, die gleichsam unter der Oberfläche abliefen und so z. B. auch von Heine in seiner Erzählung aus der Perspektive eines politisch aktiven aber dieser Angestelltenschicht fernstehenden Beobachters nicht aufgegriffen wurden. Überhaupt gibt es in dieser ansonsten sehr kritisch die Zeitverhältnisse spiegelnden Erzählung keinen einzigen Hinweis auf die zeitgenössische gesellschaftliche Relevanz von Antisemitismus. Letzteres erlaubt die Vermutung, dass das Hervortreten des Antisemitismus in Güsten 1898 nur die Oberfläche des Geschehens markiert. Der Antisemitismus wurde lediglich als Medium benutzt, war aber nicht das Wesen der Sache selbst. Hinzu kommt, dass der Fokus der Aufmerksamkeit eben auf der Konfrontation beider politischer Lager lag und nicht auf deren inneren Widersprüchen. Zumal auch die Arbeiterschaft den Höhepunkt ihrer Ausdehnung gerade erreichte, die Expansion der Angestelltenschaft aber erst begonnen hatte.39

35 Vgl. Deutsche Handelswacht. Blätter für deutschnationale Handelspolitik und soziale Reform im Kaufmannsstande. Zeitschrift für Angelegenheiten der Berufsgenossenschaft Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Verband, Hamburg, 5-8 (1898-1901), pass. Mitgliederzahl der DHV-Ortsgruppe Bernburg 1901/1907/1909: 57/106/96. 36 Sächsisch-Anhaltische Wacht. Monatsschrift des Gaues Sachsen-Anhalt des deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, Magdeburg, 7 (1907), S. 13. 37 Vgl. Bundesarchiv Berlin, R 1507, Nr. 451, Bl. 25. 38 Vgl. Volker Ebersbach, Geschichte der Stadt Bernburg in zwei Bänden, Bd. 2, Dessau 2000, S. 68. 39 In der von einer Arbeiterbevölkerung geprägten anhaltischen Kleinstadt Roßlau stieg z. B. zwischen 1890 und 1910 der Anteil der Angestellten und Beamten unter den Steuerpflichtigen von 10 auf 18%. Vgl. Oswald Koltzenburg, Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Stadt Roßlau, Dessau 1914, S. 31. Vergleichszahlen für Bernburg liegen nicht vor. 20 Doch auch die nach außen auf den ersten Blick so monolithisch erscheinende Sozialdemokratie war keinesfalls frei von inneren Spannungen. Freilich wurden diese angesichts der fortbestehenden Repressionen seitens des Staates und auch seitens der Arbeitgeber von der Öffentlichkeit ferngehalten. Waren es im „nationalen“ resp. „bürgerlichen“ Lager die unteren Angestelltenschichten, deren Loyalität gegenüber dem eigenen politischen Lager als am geringsten einzuschätzen ist und die potentiell auszubrechen drohten, so waren es auf der Gegenseite im „sozialistischen“ resp. „proletarischen“ Lager die den Angestellten sozial benachbarten hochqualifizierten industriellen Facharbeiterschichten, deren Loyalität gegenüber dem eigenen Lager brüchig war. Waren Metallarbeiter noch um 1890 als die Aktivposten der sozialdemokratischen Bewegung in Bernburg hervorgetreten, so hatte sich dies innerhalb eines Jahrzehnts stark verändert. Verantwortlich dafür dürften einerseits die von den Arbeitgebern ausgehende Repression, andererseits aber auch die Organisationserfolge des ca. 1889/90 gegründeten Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereins der Maschinenbau- und Metallarbeiter gewesen sein.40 Die Kandidatenliste zu den Vertreterwahlen zur Allgemeinen Ortskrankenkasse Bernburg im Jahre 1902 weist denn auch die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften als vor allem durch ungelernte Arbeiter und handwerkliche Facharbeiter vor allem des Bau-Holz-Gewerbes vertreten aus. Deren (Hirsch-Dunckersche?) „Gegner“ waren vor allem Metallfacharbeiter und Korbmacher. Überschneidungen in der Berufsstruktur der Listen gab es kaum.41 Die bei der örtlichen Polizei eingereichten An- und Abmeldungen zum Sozialdemokratischen Verein Bernburg zeichnen ein analoges Bild und weisen für die Jahre 1902/03 45 % ungelernte Arbeiter und nur 13 % Metallfacharbeiter aus. Bis 1907/08 ging der Anteil ungelernter Arbeiter zwar auf 33 % zurück, der Anteil der Metall-Facharbeiter blieb mit nunmehr 12 % aber nahezu konstant. Zweitgrößte Gruppe waren nunmehr die Korbmacher mit 19 % (1902/03: 4 %); an Bedeutung verloren hatten die Bauhandwerker mit 10 % der Mitglieder (1902/03: 15 %).42

40 Der Verein soll vor allem aus Arbeitern der erst 1891 gegründeten Dampfkesselbau-Firma Keilmann und Voelcker bestanden haben. Vgl. Wilhelm Trebing, Das entscheidende Jahrzehnt (Auszug aus der Geschichte der Bernburger Arbeiterbewegung [1890-98]), in: Bernburger Heimatkalender 1957, S. 37. 41 Die Berufe der Kandidaten im einzelnen (Freie Gewerkschaften / „Gegner“): Werkmeister 0/2, Schlosser, Schmied, Former, Stellmacher, Maschinensetzer jeweils 0/1, Dreher 0/3, Korbmacher 1/4, Arbeiter 7/2, Tischler, Drechsler, Maler, Zimmermann, Schneider, Zigarrenmacher, Kellermeister, Expedient jeweils 1/0. Quelle: VbA 29.11.1902. 42 Ermittelt nach: Stadtarchiv Bernburg 7/S34, 7/S33. 21 Bei einer Übertragung der Organisationsraten der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften43 auf die politische Ebene deutet sich in der Gesamtschau der Quellen an, dass der Kern der sozialdemokratischen Anhängerschaft von handwerklichen Arbeitern gebildet wurde, während die industriellen Arbeiter eher an deren Peripherie zu finden waren. Diese Situation war für Deutschland um die Jahrhundertwende insgesamt typisch.44 Auch Verluste aus dem proletarischen Wählerpotential an die „bürgerlichen“ Parteien waren durchaus die Regel und fielen hier, wie auch in industriellen Zentren anderswo, angesichts der bloßen Masse der Arbeiterschaft kaum ins Auge. Sicher spielten bei dieser marginalen Bedeutung der Metallarbeiter innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung aber auch schichtenspezifische Abgrenzungsbedürfnisse und Interessenkonflikte eine Rolle. Im Gewerkschaftskartell der Freien Gewerkschaften in Bernburg kam es z. B. 1900 zu einem nicht weiter aufzuklärenden Konflikt der Metallarbeiter mit der Kartellmehrheit, wie er durchaus auch an anderen Orten Anhalts vor dem Ersten Weltkrieg an der Tagesordnung war. Dahinter stand in der Regel die Auffassung, dass den Metallarbeitern nicht die ihnen ihrer Meinung nach zukommende Beachtung (was meint: die Führung) gewährt wurde. Der Blick auf die Zeit um die Jahrhundertwende zeigt, dass gerade wegen der starken Polarisierung innerhalb der beiden politischen Blöcke Spannungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen bestanden, die perspektivisch eine Abspaltung ganzer Gruppen bewirken konnten. Jedoch traten diese Spannungen nur punktuell zu Tage, beispielsweise als Unterstützung der Antisemiten gegen den „bürgerlichen“ Einheitskandidaten in Güsten und Umgebung 1898 oder als Konflikt der Metallarbeiter mit der freigewerkschaftlichen Kartellmehrheit in Bernburg 1900.

43 Vgl. Jahres-Bericht des Gewerkschafts-Kartells zu Bernburg für das Geschäftsjahr 1900, Dessau o. J., S. 16 f. 44 Vgl. Torsten Kupfer, Geheime Zirkel und Parteivereine. Die Organisation der deutschen Sozialdemokratie zwischen Sozialistengesetz und Jahrhundertwende, Essen 2003, S. 79-92.

3. 1921-1926: Die Ära Hölzke 3.1 Erste Organisationsgründungen Schon 1912/13 hatte sich die Bürgerblockpolitik des Kaiserreiches überlebt. Sowohl der Reichstagswahlkreis Anhalt II (Bernburg-Cöthen-Ballenstedt) als auch die Mehrheit in der Bernburger Stadtverordnetenversammlung waren trotz „bürgerlicher“ Sammlungspolitik an die Sozialdemokratie verlorengegangen. Schon bei den Bernburger Stadtverordnetenwahlen 1911 war eine gemeinsame Liste der SPD und der Demokratischen Vereinigung – der am weitesten links stehenden „bürgerlichen“ Gruppierung des Kaiserreichs – mit Erfolg angetreten. 1912 hatte die Demokratische Vereinigung auch zu den Reichstagswahlen einen eigenen Kandidaten aufgestellt. Zumindest ein Teil der demokratischen Wähler votierte in der Stichwahl auf Anraten ihrer Partei für den sozialdemokratischen Kandidaten und verhalf ihm damit zum Sieg über den Nationalliberalen. Aus der Bernburger Stadtverordnetenwahl des Jahres 1913 schließlich gingen die Sozialdemokraten als Sieger und mit jetzt 16 von 30 Mandaten als Inhaber der absoluten Mehrheit hervor. Diese Wahlniederlagen stellten für das „Bürgertum“ schwere Demütigungen dar. Der 1895 zur Verhinderung von sozialdemokratischen Wahlerfolgen eingeführte Wahlzensus hatte im Zuge der allgemeinen nominellen Lohnsteigerung nunmehr seine Wirksamkeit verloren. In Reaktion darauf war vom anhaltischen Landtag eine erneute, ab 1914 wirksame Wahlrechtsverschlechterung beschlossen worden.45 Durch die Aussetzung sämtlicher Wahlen während des Weltkrieges kam dieser erneute Wahlrechtsraub jedoch nicht mehr zur Anwendung. In den schon reichlich einen Monat nach dem Novemberumsturz im Dezember 1918 durchgeführten Wahlen zur verfassunggebenden Landesversammlung triumphierte die SPD mit 58 % der gültigen Stimmen und bildete zusammen mit der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (34 %) eine Koalition, die – mit einer viermonatigen Bürgerblock-Unterbrechung 1924 – bis zum Frühjahr 1932 Bestand haben sollte. Die Novemberrevolution hatte die Demütigung des „Bürgertums“ weiter verstärkt; der ehemalige Korbmacher, sozialdemokratische Parteizeitungsredakteur und vormalige Stadtverordnetenvorsteher Max Günther wurde zum Kreisdirektor (Landrat) gewählt

45 Zwischen 1909 und 1918 gab es unter den 36 Abgeordneten des Landtages in Auswirkung des 1895er Wahlrechtes lediglich einen Sozialdemokraten, den Bernburger Wilhelm Voigt. Dies bedeutete eine völlige Verkehrung der in den Reichstagswahlen erzielten Ergebnisse. 24 und die bis dahin vor allem als städtische Angelegenheit angesehene „Politik“ hielt Einzug in die Landgemeinden.46 In der Mehrzahl der Landgemeinden übernahmen die Sozialdemokraten die Mehrheit im Gemeinderat. Im Gegensatz zu Bernburg sollte auf dem Lande die Bürgerblockpolitik meist bis zum Ende der Weimarer Republik Bestand haben – schon wegen des allgemeinen Mangels an politischer Profilierung einerseits und wegen der übermächtigen Stellung einzelner Personen auf der „bürgerlichen“ Seite andererseits. In den ersten Stadtverordnetenwahlen nach der Novemberrevolution Anfang 1919 gelangte die Bürgerblockpolitik, in deren Mittelpunkt die Interessen der (meist nationalliberalen) Honoratioren standen, auch nach außen hin deutlich sichtbar an die Grenzen ihrer Bindungskraft. Das „Bürgertum“ der Städte saß nunmehr in der selbst geschaffenen Ausgrenzungsfalle und angesichts der Zusammensetzung der Einwohnerschaft gab es auch kaum Aussicht, in überschaubaren Zeiträumen wieder in den Alleinbesitz der politischen Macht zu gelangen. Nichtsdestotrotz wurde die Feindschaft zur Sozialdemokratie in großen Teilen des „Bürgertums“ weiterhin kultiviert. Anstelle von Parteienpolitik wurde weiterhin Lagerpolitik getrieben, eine „bürgerliche“ Einheitsliste wurde nach wie vor als das Mittel angesehen, mit dem man der Bedrohung aus dem in der Nachkriegskrise schon bald in drei Parteien gespaltenen „sozialistischen“ Lager beikommen wollte. Dieser Vorrang antisozialdemokratischer Politikausrichtung reproduzierte sich in der Weimarer Zeit ständig aufs neue; intransigentes Verhalten ging nicht von der seit 1918 im Land in Koalition mit der DDP regierenden SPD aus, sondern von den „bürgerlichen“ Parteien. Zur Bernburger Stadtverordnetenwahl im Februar 1919 traten neben der jetzt politisch dominanten SPD und der zu dieser Zeit noch unbedeutenden USPD sowie dem die rechtsliberalen und konservativen Kreise des „Bürgertums“ repräsentierenden Bürgerverein auch die Deutsche Demokratische Partei und eine Angestelltenliste an. Die beiden letzteren kündigten somit die ‚bürgerliche Solidarität‘ auf. Zur Verteidigung seiner Partei gegen die daraufhin erhobenen Vorwürfe brachte der der DDP angehörende Lehrer Fritsche vor, es wären naturgemäß „die rechtsstehenden Parteien, die ein leidenschaftliches Interesse an der Aufstellung der Kandidaten durch den ‚Bürgerverein‘ [in Form einer Einheitsliste – T. K.] bekunden. Für sie hat die laut verkündete Devise ‚Ei-

46 Bernburgische Zeitung 11.01.1919: „Bründel, 10. Jan. Die gestrige Wählerversammlung der deutschen demokratischen Partei war die erste politische Versammlung in hiesigem Orte.“ 25 nigkeit macht stark‘ erfahrungsgemäß viel Verlockendes, da die erstrebte Einigkeit eben sie stark macht.“47 Im Prinzip hätte auch die hinter der Angestelltenliste stehende Arbeitsgemeinschaft der Angestelltenverbände Bernburgs diese Argumentation unterschreiben können. Warum hätte es ohne beträchtliche Interessendivergenzen mit dem Bürgerverein sonst einer gesonderten Liste bedurft? An dieser Feststellung ändert auch die Tatsache nichts, dass die Angestellten und der Bürgerverein eine Listenverbindung eingegangen waren, und die Aufstellung einer gesonderten Angestelltenliste nach außen hin mit dem vorherigen Ausbrechen der DDP aus der ‚bürgerlichen Solidarität‘ zu legitimieren versucht wurde.48 Die nächste Stadtverordnetenwahl im Jahre 1921 brachte den ersten direkten Vorläufer der NSDAP hervor, die Deutsch-soziale Partei.49 Deren Ortsgruppe war kurz vor der Wahl gegründet worden und konnte ohne großen Wahlkampf sofort ein Mandat erringen. Entgegen der Angestelltenliste des Jahres 1919 gab es jetzt auch keine Listenverbindung mit der erneut aufgestellten „bürgerlichen“ Einheitsliste mehr. Der Bruch mit dem etablierten „Bürgertum“ war offensichtlich. Mit der Deutsch-sozialen Partei des Jahres 1921 trat erstmalig ein amorphes völkisch-nationalistisches Spektrum an die Öffentlichkeit, das in den Folgejahren an personellem Zulauf und organisatorischer Vielfalt gewinnen und 1923 in der erstmaligen Gründung einer NSDAP-Ortsgruppe münden sollte. Zwischen 1921 und 1923 und teilweise auch noch darüber hinaus existierten im Kreis Bernburg neben der Deutsch-Sozialen Partei der eher noch stärker antisemitische und schon durchweg das Hakenkreuz als Erkennungszeichen benutzende Deutschvölkische Schutz- und Trutz-Bund, der Jungdeutsche Orden,50 der Bund Oberland, eine

47 Bernburgische Zeitung 04.02.1919 („Sprechsaal“). 48 Vgl. Bernburgische Zeitung 11.02.1919. 49 Ob die Akteure sich noch des Auftretens einer gleichnamigen und auch gleichartigen Partei in der Reichstagswahl 1898 erinnerten oder sie sich sogar in deren Tradition sahen, ist nicht bekannt. Die Partei selbst war 1921 in Berlin gegründet worden und stellte somit keine Fortsetzung der seinerzeitigen Deutsch-sozialen Partei dar. Vgl. Dieter Fricke u.a. (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), Bd. 2, Köln 1984, S. 538. Der spätere Ortsgruppenleiter Bernburg-Martinsplatz, Fritz Spangenberg (Platz 6 der o. a. Kandidatenliste), gab 1938 an, dass er als Mitgründer der Deutschsozialen Partei in Bernburg mit dieser Ortsgruppe im Sommer 1923 zur NSDAP übergetreten sei. Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, PK 1110068065. 50 Im Kreis Bernburg nur in Sandersleben existent, im Reich jedoch einer der bedeutendsten Träger der frühen rechten Radikalisierung. Vgl. Helge Matthiesen, Bürgertum und Nationalsozialismus in Thüringen. Das bürgerliche Gotha von 1918 bis 1930, Jena und Stuttgart 1994. 26 gleichfalls das germanische Sonnenrad als Symbol benutzende Treuschaft Lützow, deren Benennung eine Bedrohungslage analog der antinapoleonischen Befreiungskriege vor mehr als 100 Jahren simplifizierte51 und aus der später die SA hervorgehen sollte, und ein Bund Wehrwolf, dessen Symbol ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen war. Auch der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und der deutschnationale Stahlhelm Bund der Frontsoldaten wie auch der Marineverein Bernburg sind zumindest in Teilen dieser Gruppe zuzurechnen. Der „Ring der Getreuen“ im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband, eine geheime Vereinigung von Mitgliedern, die mindestens fünf Jahre Mitglied sein mussten, einen besonderen Beitrag bezahlten und selbst den Ortsverwaltungen als Mitglieder dieses Ringes nicht bekannt waren, verwandte zudem im Zentrum seines Emblems zwischen 1921 und 1925 das Hakenkreuz.52 Alle diese Organisationen waren durch Mehrfachmitgliedschaften bzw. durch ständigen Mitgliederaustausch und informelle Bündnisse miteinander und mit dem vor allem im Jahre 1923 im ländlichen Raum schnell an Boden gewinnenden nationalistischen Stahlhelm Bund der Frontsoldaten und den örtlichen Krieger- und Militärvereinen verbunden53 und erneuerten ihren Zusammenhalt permanent durch zahlreiche „nationale“ Feierlichkeiten wie Fahnenweihen neugegründeter Ortsgruppen, „Deutsche Tage“ und dgl. Auch starke Querverbindungen zur „bürgerlichen“ Jugendbewegung scheint es gegeben zu haben. So war der spätere NSDAP-Reichstagsabgeordnete und SA-Gruppenführer Rudolf Michaelis aus Hecklingen zwischen 1917 und 1923 Führer in der Deutschen Pfadfinderbewegung, im gleichen Zeitraum aber auch 1920 Angehöriger der Marinebrigade Ehrhardt und 1923 Mitglied der Schwarzen Reichswehr und der NSDAP.54 Die

51 Auch eine Identifikation mit dem 1919 in Berlin aufgestellten Freikorps Lützow ist wahrscheinlich. Vgl. Freikorps Lützow 1813 1919, Berlin o. J. (1920). 52 Für die Landeshauptstadt Dessau ist die Existenz des Ringes 1921/22 nachgewiesen, für Bernburg ist sie zu vermuten. Vgl. Bundesarchiv Berlin, R 1507, Nr. 451, Bl. 28, 34 f.; Führer-Briefe für die Mitglieder des Ringes der Getreuen im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, Hamburg, 1921-1929. 53 So begegnet uns z. B. Hans Hattwich im Jahre 1924 sowohl als Stahlhelmaktivist und Mitglied des Marinevereins wie auch als als Mitglied der Treuschaft Lützow und Spitzenkandidat der Nationalsozialistischen Freiheitspartei zur Stadtverordnetenwahl und nachfolgend 1925 ff. als deren Abgeordneter. 54 Vgl. Bundesarchiv Berlin, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZB II 5125, Bl. 21. Hermann Henselmann, Sohn eines Bernburger Holzbildhauers und Möbeltischlereibesitzers sowie später Architekt der Berliner Stalinallee, kam auf seinen Wanderungen in den nahen Harz anscheinend ohne jede Vorahnung mit der völkischen Bewegung in Berührung. „Einer schenkte mir um das Jahr 1921 nach einer Fahrt ein kleines silbernes Ding zum Anstecken. Es sollte eine uralte germanische Rune sein - ein Sonnenzeichen. Ich freute mich darüber und steckte es an. Einige Tage später besuchte uns die anmutige jüdische Freundin meiner Schwester, die ich heimlich verehrte. Sie sah mich, brach in Tränen aus und kam nie wieder in unser Haus. Ich hatte ein Hakenkreuz getragen, dessen ganz andere Bedeutung ich nicht kannte.“ Hermann Henselmann, Drei Reisen nach Berlin, Berlin 1981, S. 29 f. Eine genaue Zuordnung ist hier nicht 27 Zugehörigkeit zur jeweiligen konkreten Organisation wurde in erster Linie nicht durch deren politisch-ideologische Zielsetzungen sondern eher durch Bekanntschaftskreise und durch die Loyalität bestimmten Führungspersonen gegenüber bestimmt. Im Zentrum dieses völkisch-nationalistischen Spektrums stand bis 1923 die DoppelOrganisation aus Deutsch-sozialer Partei und 1922 gegründeter Treuschaft Lützow. Während die Deutsch-soziale Partei als legales politisches Instrument agierte, blieben die Existenz und paramilitärische Struktur der Treuschaft Lützow der Öffentlichkeit zumindest vorerst verborgen. Doch gerade sie wird, wenn man den späteren Ermittlungen Glauben schenkt, die mitgliederstärkere gewesen sein. Eine legale und auch öffentlich sichtbare Korona um diese beiden Organisationen herum dürfte Der Wehrwolf Bund deutscher Männer gebildet haben. Er stellte vor allem ideologisch eine vorweggenommene NSDAP im kleinen dar und hob sich aus dem restlichen völkischnationalistischen Spektrum durch die Betonung des Volksgemeinschafts-Gedankens heraus.55

Insofern erinnert er an das Gleichnis Ingmar Bergmans vom „Schlangenei“, durch dessen dünne Schale man das schon fertig ausgebildete Reptil erblicken könne. Der Gründer und Führer dieses seit seiner Gründung im Januar 1923 in Halle/Saale residierenden Bundes, der Gymnasiallehrer Fritz Kloppe, stammte im übrigen aus Bernburg.56 Seit Anfang 1924 stand der Wehrwolf auch in einem formellen Bündnis mit dem Stahlhelm und sollte möglich; das Hakenkreuz wurde in jener Zeit von einer Reihe von Organisationen nicht nur des dezidiert völkischen Spektrums verwandt. Das erwähnte Abzeichen könnte daher sowohl auf den Wandervogel als auch auf den Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bund oder die Treuschaft Lützow zurückgehen. 55 Vgl. Fritz Kloppe, Wesensfragen für die Zukunft des deutschen Volkes. Im Lichte der WehrwolfBewegung, Halle/Saale 1926. 56 Numerisch war der Wehrwolf nur von geringer Bedeutung; die „Volkswacht“ berichtete von „60-80 jungen Leuten, die sich [anlässlich einer Veranstaltung] um die schwarze Fahne des Wehrwolfs scharten.“ Volkswacht (im Folgenden: Vw) 16.07.1923. Eine Protestkundgebung gegen die Entwaffnungsnote der Entente zählte im Juni 1925 nur noch 30 Teilnehmer (die Mitgliederzahl dürfte aber doch deutlich darüber gelegen haben). Vgl. Vw 12.06.1925. Zum Vergleich der Größenordnung: die Ortsgruppe Bernburg 28 jene Personen organisieren, die durch ihre Jugend am Fronteinsatz gehindert worden waren. 57 In den turbulenten Herbsttagen des Jahres 1923, als der Kreis Bernburg das Zentrum sowohl der links- als auch der rechtsradikalen Bewegung in Anhalt war,58 kam es zur ersten formellen Gründung einer Bernburger NSDAP-Ortsgruppe. In gewisser Weise wirkte sich hier auch die Nähe des deutlich radikalisierteren (preußischen) Staßfurt aus. Die Angaben über den genauen Termin dieser Ortsgruppengründung bewegen sich zwischen dem 11. September und dem 9. November. Auf jeden Fall wäre eine Bestätigung durch die Reichsleitung aufgrund des nach dem fehlgeschlagenen Münchener HitlerPutsch erlassenen NSDAP-Verbotes nicht mehr möglich gewesen. Eine erneute Ortsgruppengründung, d. h. eine Legalisierung der bestehenden Gruppe, soll mit 67 Mitgliedern wahrscheinlich unter dem Namen Nationalsozialistische Freiheitspartei im März/April 1924 erfolgt sein.59 Die Treuschaft Lützow, die unter das seit 1923 bestehende reichsweite SA-Verbot fiel, wurde in Anhalt im September 1924 unter Umgehung dieses Verbotes und unter Ausbildung von militärischen Strukturen in den neu gegründeten Frontbann überführt, der zudem als Dachorganisation aller völkischen Wehrverbände gedacht war. Damit war eine neue Qualität der Organisationsanbindung erreicht; während die Treuschaft Lützow nur im mitteldeutschen Raum aktiv gewesen war handelte es sich bei dem von Ernst Röhm gegründeten Frontbann um eine reichsweite Organisation. Die Ausbildung der

des Stahlhelm zählte im Mai 1925 nach Angaben des „Anhalter Kurier“ 700 Mitglieder, zum „Großdeutschen Tag“ traten etwa 350 an. Vgl. Vw 25.05.1925. 57 Vgl. Volker R. Berghahn, Der Stahlhelm Bund der Frontsoldaten 1918-1935, Düsseldorf 1966, S. 33. Zur Mitgliederwerbung des Stahlhelm allgemein vgl. Vw 12., 14., 15.02.1924. 58 Vgl. u. a. Wilhelm Ersil, Aktionseinheit stürzt Cuno. Zur Geschichte des Massenkampfes gegen die Cuno-Regierung 1923 in Mitteldeutschland, Berlin 1963, pass.; Kampf und Sieg der NSDAP in Anhalt, Dessau 1933, S. 9 (parteioffiziöse Darstellung). 59 Vgl. AK 11./12.06.1938 (Festbeilage); 800-Jahrfeier Bernburg. 11.-19.Juni 1938. Festschrift, Bernburg 1938, S. 78; Hans Peper, Geschichte der Stadt Bernburg, Bernburg 1938, S. 413; Bundesarchiv Berlin, BDC, PK 1200021814. Vgl. auch Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Anhalt. Regierung Dessau, Abtl. Schulwesen, Nr. 211, Bl. 142: Brief eines Bernburgers aus dem Jahre 1939, der für sich in Anspruch nahm, 1923 zu den Gründern der NSDAP-Ortsgruppe gehört zu haben. Die NSDAPOrtsgruppe in der Landeshauptstadt Dessau soll am 2.9.1923 gegründet worden sein, insofern erscheint der 11.9. in Bernburg plausibel. Vgl. H. Sander, Chronik der Gauhauptstadt Dessau, Dessau 1940 (Ms. Stadtarchiv Dessau). Noch im Frühjahr 1923 hatte es in Anhalt insgesamt erst sieben bei der NSDAPReichsleitung registrierte Einzelmitglieder gegeben. Vgl. Bundesarchiv Berlin, NS 5 VI / 288 (Der Mitteldeutsche 09.11.1937). Unter den auswärtigen (d. h. nur formal dort gemeldeten) Mitgliedern der NSDAP-Ortsgruppe München findet sich im Jahre 1923 ein Schriftsetzer mit Wohnsitz Bernburg. Doch wird er vorher und auch in der Folgezeit in Bernburg nicht auffällig und ist auch in der (mit dem Jahr 1925 einsetzenden) Mitgliederkartei der NSDAP nicht nachzuweisen. 29 Frontbann-Mitgliedschaft, die zu großen Teilen mit der NSDAP-Mitgliedschaft identisch gewesen sein wird, erfolgte in Bernburg teilweise durch aktive Unteroffiziere der Reichswehr. Gegenüber dem Wehrwolf, dessen Gauleitung Anhalt sich bis Anfang 1926 weiterhin in Bernburg befand, bestand aber anscheinend wegen seiner Anbindung an den Stahlhelm inzwischen ein Unvereinbarkeitsbeschluss.60 Das stabilisierte rechtsradikale Spektrum konnte in den beiden anhaltischen Landtagswahlen des Jahres 1924 unter den Firmierungen Völkisch-Sozialer Freiheitsblock bzw. Nationalsozialistische Freiheitspartei zwei bzw. eines der 36 Mandate erlangen.61 Auch in der Bernburger Stadtverordnetenwahl erlangten die Völkischen jetzt zwei Mandate.62 Doch der Höhepunkt rechter Radikalisierung war vorerst überschritten, in den verschiedenen Wahlen des Jahres 1924 ging in Bernburg der Anteil der NSDAPVorläuferorganisationen von 11 % (4. Mai) auf 7 % der gültigen Stimmen (7. Dezember) kontinuierlich zurück. Öffentliche NSDAP-Versammlungen erzielten im „Bürgertum“ keine Resonanz mehr.63 Die Beruhigung der Verhältnisse in der „relativen Stabilisierung“ in der zweiten Hälfte der 20er Jahre verfehlte auch seine Wirkung auf den rechten Rand des politischen Spektrums nicht. Nach der Aufhebung des NSDAPVerbots 1925 wurden zwar im Kreis Bernburg erneut NSDAP-Ortsgruppen gebildet. Doch vorläufigen Bestand hatten nur die in Aderstedt (sogar noch vor der Bernburger Ortsgruppe gegründete64) und die in der Kleinstadt Güsten; die Ortsgruppe Freckleben ging nach kurzer Zeit wieder ein. Auch in Bernburg selbst stagnierte die Mitgliederzahl der Ortsgruppe 1925/26 bei etwa 70 Mitgliedern,65 verminderte sich wahrscheinlich sogar, und spätestens nach dem Weggange des Ortsgruppenleiters Hölzke kam 1928

60 Vgl. Vw 10.12.1926 (enthält auch Organisationsstruktur des Frontbann in Anhalt). 61 Zur Landtagswahl im Juni 1924 gab es weiterhin einen erfolglos bleibenden Wahlvorschlag der Deutsch-Sozialen Partei, dessen sieben Kandidaten mit Ausnahme des Listenführers aus den im Kreis Bernburg nahe beieinander liegenden Städten Leopoldshall, Güsten und Hecklingen kamen. Zumindest ein Teil dieser Personen ist später auch in der NSDAP nachweisbar. 62 Die bürgerliche Volksgemeinschaft ging mit ihnen in der Bernburger Stadtverordnetenversammlung eine Arbeitsgemeinschaft ein. Vgl. Vw 03.01.1925. 63 Vgl. den Bericht über die Versammlung mit Hans Esser als Referenten in: AK 22.10.1925. 64 Aderstedt 23.04.1925, Bernburg Juli 1925. 65 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG 3408001294. Hans Henningsen, Unser Hauptmann Loeper. Leben und Sterben eines Kämpfers, Magdeburg 1936, S. 89, gibt für 1924 300 Mitglieder (wohl der Nationalsozialistischen Freiheitspartei) in Anhalt insgesamt an. Per 31.10.1925 werden für Anhalt insgesamt 232 Mitglieder vermerkt. Vgl. Bundesarchiv Berlin, NS 51, Dienststelle Bouhler, Nr. 204, o. Bl. Laut Vw 11.09.1924 hätte es im preußischen Staßfurt an der Kreisgrenze 500 Nationalsozialisten gegeben (unklar bleibt jedoch, wer hier als Nationalsozialist gezählt wurde). 30 deren Tätigkeit wohl gänzlich zum Erliegen. Auch in der Landeshauptstadt Dessau stand die Organisation der NSDAP in jener Zeit vor dem Zusammenbruch, die Mitgliederzahl ging dort gleichfalls auf ein Minimum zurück. Neben der NSDAP selbst wurde schon 1925 in Bernburg ein – freilich mitgliederschwacher – Völkischer Frauenbund gegründet, der 1926 in den Deutschen Frauenorden, eine Vorläuferorganisation der Nationalsozialistischen Frauenschaft, überführt wurde.66 Die NSDAP blieb im ersten Mitgliederaufschwung bis 1926 im wesentlichen auf die Kreisstadt beschränkt. In den Landgemeinden konnten in jenen Jahren Radikalisierungstendenzen noch durch die Deutschnationalen, resp. den Stahlhelm aufgefangen werden, zumal auch der Wehrwolf 1924 zumindest zeitweise in diese Front eingebunden war. In Oberpeißen z. B. bestand eine allem Anschein nach sehr starke Wehrwolf-Gruppe, ohne dass Tendenzen zur Bildung einer NSDAP-Ortsgruppe zu erkennen wären. Von 124 Personen, für die im Zeitraum 1921 bis 1926 im Untersuchungsgebiet eine Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Vorgängerparteien nachgewiesen werden konnte, wohnten allein 84 in Bernburg, weitere 25 in Aderstedt vor den Toren der Kreisstadt, 12 in Güsten und Amesdorf. Eine weitere relativ starke Mitgliedschaft bestand in StaßfurtLeopoldshall, der wohl auch die drei Mitglieder der Nachbarstadt Hecklingen zuzurechnen sind.67 Es wäre verfehlt, diese frühen Mitglieder der Jahre 1921 bis 1926 durchweg auch späterhin in Aktivistenfunktionen der NSDAP zu erwarten; zum einen gab es schon in dieser Periode eine starke Mitgliederfluktuation, zum anderen trat ein großer Teil der einmal ausgetretenen, ausgeschlossenen oder gestrichenen Mitglieder der Partei überhaupt nicht mehr oder erst relativ spät wieder bei. Zentrale Figuren der Organisationsphase zwischen 1921 und 1926 waren der Justizsekretär am Amtsgericht Bernburg, Gustav Hölzke, und der Syndikus der land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgeberverbände in Bernburg, Dr. Robert Tesch. Hölzke hatte seit 1921/22 den Aufbau der Treuschaft Lützow betrieben und fungierte parallel dazu 1923 als Gauvorsitzender Anhalt des Wehrwolf. Dr. Tesch – völkisch organisiert seit 1910 – war seit 1921 Ortsgruppenführer Bernburg und Gauleiter Sachsen-Anhalt-Thüringen des dann 1922 formell aufgelösten Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes und

66 Vgl. 800-Jahrfeier Bernburg. 11.-19.Juni 1938. Festschrift, Bernburg 1938, S. 78 f. 67 Zum Datensatz der NSDAP-Mitglieder im Kreis Bernburg siehe die Erläuterungen im Teil B: Dokumentation. Unter „Untersuchungsgebiet“ wird hier das Territorium des Kreises Bernburg in den Grenzen der Jahre 1946 bis 1950 verstanden, d. h. ohne die Orte Leopoldshall, Unterwiederstedt, Groß- und Kleinmühlingen. 31 Verleger des bis April 1925 zwei mal wöchentlich erscheinenden anhaltischen Parteiorgans „Der Freiheitskampf“. Die Rivalität zwischen Hölzke und Dr. Tesch führte 1925 zum zeitweiligen Bestehen zweier NSDAP-Ortsgruppen in Bernburg, die jeweils den Anspruch erhoben, die ‚wahre‘ nationalsozialistische Organisation zu sein. Als Führer der NSDAP-Ortsgruppe setzte sich schließlich Hölzke in erster Linie wegen der Protektion des anhaltischen NSDAP-Führers, Gaugeschäftsführer Hauptmann a. D. Loeper, und dessen Verbindungen zur NSDAP-Reichsleitung gegen seinen Konkurrenten durch.68 Die Oppositionsgruppe um Dr. Tesch wurde von der Reichsleitung, obwohl ihre Mitgliedschaftsanmeldungen dort eher eingingen als die der Hölzke-Gruppe, nicht anerkannt.69 Seit 1926 verloren die Bernburger Nationalsozialisten ihre Führungspersönlichkeiten. Dr. Tesch verließ nach weiteren persönlichen Scharmützeln mit Hölzke, ausgetragen in der lokalen Presse und auch öffentlich handgreiflich vor der Post,70 Bernburg im April 1926 und ging nach Schlesien.71 Hölzke wurde 1928 im Ergebnis einer Reihe von Disziplinarverfahren aus dem anhaltischen Staatsdienst entlassen. Zuvor schon war er auch in der eigenen Partei wegen seines – aus der Sicht der Opponenten – amoralischen Lebenswandels und nicht ausreichender Vorbildhaftigkeit stark in die Kritik geraten und hatte, offensichtlich, um die innerparteilichen Wogen zu glätten, schon 1926/27 den Vorsitz in der Ortsgruppe zeitweise zumindest formal abgeben müssen.72 Auch der Führer der Aderstedter NSDAP-Ortsgruppe, der Steiger Karl Möhring, verließ Aderstedt

68 Die offizielle NSDAP-Geschichtsdarstellung stilisierte ihn schon für das Jahr 1924 zum Bernburger Führer. Vgl. AK 11./12.06.1938 (Festbeilage). Hölzke selbst datierte seine NSDAP-Mitgliedschaft wahlweise auf verschiedene Daten im Zeitraum 1920-1922. Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, Partei Kanzlei Correspondence, Hölzke, Gustav, 14.10.92. 69 Vgl. AK 01.08.1925. 70 Dr. Tesch bezichtigte Hölzke in der von ihm seit Mai 1925 herausgegebenen „Mitteldeutschen Tagespost” des Denunziantentums. Vgl. Vw 01.10.1925. Hölzke wiederum, verstärkt durch drei Getreue, verprügelte Dr. Tesch am 30. Januar 1926 nachmittags vor der Bernburger Post. Vgl. Vw 01.02.1926. 71 Ein 1873 geborener und 1930 als in die NSDAP eingetreten vermerkter Betriebsleiter Robert Tesch wurde in Schlesien 1933 aus der NSDAP ausgeschlossen. Eine Identität der Personen ist wahrscheinlich, aber nicht mit letztendlicher Sicherheit festzustellen. Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, ehem. NSDAPGaukartei. 72 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG 3408001294; Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Staatsministerium Dessau 3, Lit. H, Nr. 92. Hölzke war in der Folge als Gaugeschäftsführer des Gaues Ost-Hannover, Reichsredner und verantwortlicher Schriftleiter des „Niedersachsen-Stürmer“ in Buchholz bei Harburg für die NSDAP tätig. Im November 1930 wurde er als Unterlegener einer innerparteilichen Fronde aus der NSDAP ausgeschlossen, im Herbst 1932 aber auf Betreiben des Gauleiters Loeper wieder in die NSDAP und den anhaltischen Justizdienst aufgenommen. 1933 zum hauptamtlichen Stadtrat der Stadt Jeßnitz in Anhalt ernannt, rückte er dort 1938 zum Bürgermeister auf. Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, Partei Kanzlei Correspondence: Hölzke, Gustav, 14.10.92. 32 1926. Innerhalb kurzer Zeit war die Organisation ihrer Führerschaft entkleidet, was neben der allgemeinen Beruhigung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse als mitverursachend für deren Niedergang angesehen werden muss. Die Bernburger NSDAP brachte in der Folgezeit keine regional bzw. überregional bedeutsamen Persönlichkeiten mehr hervor, worin der hauptsächliche Grund für ihre relativ späte Reorganisation erst 1930 zu suchen ist. In der dauerhaften Existenz völkisch-nationalistischer Gruppen in Bernburg spiegelte sich lediglich in extremer Weise die Verfassung des „Bürgertums“ insgesamt. So trat unter den Angestellten des Bernburger Amtsgerichts nicht nur der NSDAPOrtsgruppenführer Gustav Hölzke mit einer extremen politischen Positionierung hervor, sondern auch die augenscheinlich weit auf der Rechten stehenden Amtsgerichtsräte Hachtmann und Dr. Röver, letzterer auch als lokaler Wehrwolfführer. Der von den völkisch-nationalistischen Gruppen gepflegte und weithin auf Resonanz stoßende Stil der politischen Auseinandersetzung dokumentiert sich in der „Mitteldeutschen Presse“ (Staßfurt), dem Organ des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, mit der insbesondere ländliche Arbeitgeber im Kreis Bernburg auch ihre Beschäftigten flächendeckend ‚versorgten’, und zu deren Standardrepertoire Leitartikel wie „Der jüdische Wurm an der Wurzel der deutschen Eiche” gehörten.73 In einem relativ kurzen, gegen die Bernburger sozialdemokratische „Volkswacht“ gerichteten Artikel vom 10. Januar 1922 wurde z. B. deren Redakteur Budnarowski mit den Titulierungen „Jude mit dem Runkelrübenkopf“, „Maulheld und Dreckjude“, „Lumpenjude“, „galizischer Jude“ bedacht. Nur am Rande sei bemerkt, dass Budnarowski kein Jude war und es dem Redakteur der „Mitteldeutschen Presse“ nur darum ging, alle Feindesmerkmale vereinigt auf eine Hassperson darzustellen. Schon 1923/24 wurden Juden, aber auch politisch links stehende Einwohner in den Straßen der Stadt Bernburg wie auch in den Orten des Kreisgebietes von nicht selten mit „Spazierstöcken“ (und mitunter auch anderen Waffen) ausgerüsteten Gruppen von Jugendlichen und jungen Männern belästigt und verprügelt. Die Täter sind in erster Linie dem Wehrwolf, aber auch der „Treuschaft Lützow“, der die Jugendarbeit für den Stahlhelm besorgenden Halbwüchsigen-Vereinigung Scharnhorst (Bund der Jungmannen) und dem Stahlhelm selbst zuzuordnen. Die flä-

73 Vgl. Mitteldeutsche Presse, 29.12.1921 ff. Die Zeitung wurde in den ländlichen Orten des Kreises Bernburg oftmals von den Großgrundbesitzern für ihre Belegschaft abonniert (von Krosigk - Hohenerxleben) oder, nachdem sie vorab von unerkannt bleiben wollenden Personen bezahlt worden war, gratis zugeschickt (Ilberstedt). Vgl. Vw 14.01.1922. 33 chendeckende Gründung von Reichsbanner-Ortsgruppen im gesamten Kreis Bernburg ist als Abwehrmaßnahme gegen derartige Vorfälle anzusehen, es gab in jedem Falle ein zeitliches Nacheinander von Stahlhelm, der nach eigenen Angaben schon Ende 1924 in allen Orten Anhalts festen Fuß gefasst hatte,74 und Reichsbanner.75 Ein Stahlhelmeigener Rückblick aus dem Jahre 1926 bekannte sich dann auch nur wenig verblümt dazu, die politische Polarisierung erst in das bis dahin in der Nachkriegskrise gemäßigte und im wesentlichen erschütterungsfreie Anhalt hineingetragen zu haben.76 Noch während des sogenannten Kapp-Putsches im März 1920 war es in Bernburg und Umgebung völlig ruhig geblieben.77 Die besagte, vor allem über den Stahlhelm hereingetragene, politische Polarisierung und Radikalisierung bedeutet jedoch nicht, dass unter dem Bestehen dieser Polarisierung nicht auch vom Reichsbanner an der Gewaltspirale gedreht worden wäre; die Kultivierung gegenseitiger Feindschaft dürfte in den meisten Fällen lokal eine starke Eigendynamik erlangt haben. Der in diesem Zusammenhang schwerwiegendste gewalttätige Vorfall ereignete sich im Juli 1923. Der Stahlhelm und die rechts von ihm stehenden Organisationen glaubten zu wissen, dass anlässlich des „Antifaschistentages“ am 29. Juli die Revolution in Bernburg ausgelöst werden sollte. Kommunisten und Sozialdemokraten wussten freilich nichts davon, was den Stahlhelm und Gefolgschaft jedoch nicht daran hinderte, in Anmaßung von Polizeibefugnissen in der ganzen Stadt Patrouille zu gehen und die Passanten auf Waffen zu untersuchen. Nachdem sich keiner der politischen Gegner provozieren ließ schoss in der Nacht schließlich ein dem Stahlhelm angehörender 43-jähriger

74 Vgl. Sechs Jahre Stahlhelm in Mitteldeutschland, Halle 1926, S. 204. 75 So berichtete die Vw am 28.03.1924 aus Freckleben, dass die dortige Domäne offensichtlich zu einer Sammelstelle des Wehrwolf geworden sei, am 01.04. wird die Gründung einer Reichsbanner-Ortsgruppe mit 50 Mitgliedern gemeldet; per 15.04. war sie schon auf über 100 Mitglieder angewachsen. 76 Vgl. Sechs Jahre Stahlhelm in Mitteldeutschland, Halle 1926, S. 202 ff. 77 Vgl. Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeinde-Angelegenheiten in der Stadt Bernburg für die Zeit vom 1. April 1920 bis 30. März 1924, Bernburg o. J., S. 175 (Stadtarchiv Bernburg). Der Bernburger Raum ordnete sich in dieser Zeit hinsichtlich der politischen Konfrontation zwischen der Radikalität des Halle-Merseburger Raumes und dem gemäßigten politischen Klima, wie es über einige Zeit im Dessauer Raum und in Teilen Thüringens bestand, ein. Die geringere allgemeine Radikalisierung ging einher mit einer auch kleinräumig zu beobachtenden höheren Integrationsfähigkeit der SPD im „sozialistischen“ Lager. Diese ist selbst in der ein einheitliches Siedlungsgebiet bildenden preußischanhaltischen Grenzdoppelstadt Staßfurt-Leopoldshall festzustellen. Im preußischen Staßfurt konnten in der Reichstagswahl 1920 USPD und KPD die deutliche Mehrheit für sich verbuchen; im anhaltischen Leopoldshall hingegen dominierte noch deutlicher die SPD. Die SPD erhielt im preußischen Staßfurt das 0,7fache, im anhaltischen Leopoldshall das 1,6fache der Stimmenzahl von USPD und KPD. Das „sozialistische“ Lager erreichte mit 67 % bzw. 60 % der gültigen Stimmen insgesamt fast identische Werte. Berechnet nach StDR 291.2, Berlin 1920, S. 23. 34 Bankbote, Teilnehmer des Chinafeldzuges 1900/01 und des Weltkrieges seit 1914, mit seinem mitgeführten Dienstrevolver auf eine Gruppe Kommunisten. Er verletzte einen von ihnen und erhielt im nachfolgenden Handgemenge mit einem Passanten, einem ehemaligen Kommunisten, der ihm die Waffe zu entringen versuchte, selbst einen Schuss aus der eigenen Waffe, an dessen Folgen er ein halbes Jahr später verstarb.78 Der Einfluss der völkisch-nationalistischen Gruppen reichte in Bernburg bis in die rechtsliberale Deutsche Volkspartei, deren Parteisekretär Joseph Schmid von der „Volkswacht“ sogar als geistiger Kopf des völkischen Spektrums angesehen wurde. Er machte durch Aussagen wie: „Die Familie Cohn regiert die Republik, aber die Volkserhebung kommt, der Sturm bricht los.“ von sich reden.79 Nach längerer Zeit wurde er durch die Deutsche Volkspartei entlassen und fand als Stahlhelm-Kreisleiter neue Beschäftigung. Ein weiterer prominenter Überläufer aus der DVP war der Ingenieur und Fabrikbesitzer August Schweinefuß, der 1919 im Vorstand der DVP-Ortsgruppe und 1921 noch auf der „Vereinigten Bürgerliste“ zur Stadtverordnetenwahl zu finden war80 und 1924 für die Nationalsozialistische Freiheitspartei – so die Firmierung während des NSDAP-Verbots – in die Stadtverordnetenversammlung einzog. Zur Zeit des Münchener Hitlerputsches im Oktober 1923, als Angehörige des Stahlhelm, des Wehrwolf und der Treuschaft Lützow aus Bernburg und anderen Orten mit unbekanntem bzw. geheimgehaltenem Ziel verschwanden und sich in die Schwarze Reichswehr einreihten,81 sah selbst der der DVP nahestehende und die „bürgerliche“ Mehrheitsmeinung vorgebende „Anhalter Kurier“ in Bayern den „Sammelpunkt all derer, die noch an den deutschen Gedanken glaubten“ und die „undeutschen Ideen des Marxismus“ zu bekämpfen beabsichtigten. Deshalb: „hinaus aus der Regierung mit allen, die von Marx nicht los können und ihrem internationalen demokratischen [! – T.K.] Anhang. Berlin hat die letzte Staatsnotwendigkeit nicht in Erbpacht, wenn dort kein

78 Vgl. AK 30., 31.07.1923; Vw 30.07.1923; Sechs Jahre Stahlhelm in Mitteldeutschland, Halle 1926, S. 212; Der Wehrwolf, Halle/Saale, 21.01.1924. 79 Schmid auf einer Stahlhelmfeier in Peißen. Vw 02.08.1923. Für den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband fungierte er 1922 außerdem als regional einsetzbarer Referent zum Thema „Volkstum und Wirtschaftsfragen“. Vgl. Mitteldeutsche Kaufmannspost, 1922, Heft 9, S. 9. Schreibweise des Namens hier Josef Schmidt. 80 Vgl. Bernburgische Zeitung, 15.02.1919; AK 23.11.1921. 81 Vgl. Vw 19.10.1923; Bundesarchiv Berlin, BDC, Partei Kanzlei Correspondence, Hölzke, Gustav, 14.10.92; Kampf und Sieg der NSDAP in Anhalt, Dessau 1933, S. 11. 35 Sinn mehr ist für das, was Deutschland nottut, oder kein Mut, es durchzuführen, dann soll eben München führen.“82

82 AK 23.10.1923. 36 3.2 Mitgliederstruktur und Eintrittsmotivationen der frühen NSDAP-Mitglieder Die soziale Zusammensetzung der NSDAP und ihrer Vorgänger- bzw. Ersatzorganisationen im Zeitraum zwischen 1921 und 1926 gestaltete sich im Untersuchungsgebiet nicht einheitlich, sondern wies zwei unterschiedliche Ausprägungen auf: den „Normalfall“ Bernburg/Güsten/Amesdorf/Hecklingen und die „Ausnahme“ Aderstedt. War die Partei im „Normalfall“ ihrer Berufsstruktur nach mehrheitlich eine Partei der neuen und alten Mittelschichten, in der allein schon die kaufmännischen Angestellten und die Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes jeweils ein Fünftel der Mitgliedschaft ausmachten, so war die NSDAP in Aderstedt eine fast reine Arbeiterpartei. Auch hinsichtlich des Durchschnittsalters gibt es große Differenzen: 30 Jahre im „Normalfall“ Bernburg/Güsten/Amesdorf/Hecklingen, 42 Jahre in Aderstedt. Und schließlich gab es in Aderstedt keine Frauen in der Organisation, im „Normalfall“ aber wenigstens 7 % (die jedoch alle aus Bernburg kamen).83 Diese unterschiedlichen Ausprägungen von Parteimitgliedschaft bedürfen differenzierter Erklärungen, für Aderstedt bestanden offensichtlich andere Entstehungsbedingungen. Im Kern war die NSDAP – auf den „Normalfall“ Bernburg/Güsten/Amesdorf/Hecklingen bezogen – eine Partei der unteren Angestellten und Beamten, in denen wiederum die kaufmännischen Angestellten eine zentrale Position einnahmen. Für die Existenz der NSDAP und die Dominanz der unteren Angestelltenund Beamten in ihr war eine Kombination aus verweigerter gesellschaftlicher Anerkennung, angespannter Erwerbslage und erheblicher völkisch-antisemitischer Vorbelastung ebendieser unteren Angestellten- und Beamtenschichten, insonderheit der kaufmännischen Angestellten, maßgeblich. Obwohl die Angestelltenliste zu den Bernburger Stadtverordnetenwahlen 1919 noch keine direkte organisatorische oder personelle Verbindungslinie zum bald darauf in Bernburg agierenden völkisch-nationalistischen politischen Spektrum aufweisen sollte war mit ihr doch schon dessen sozialer Rahmen

83 Die Angaben beziehen sich ausschließlich auf die Personen, für die im betr. Zeitraum eine Mitgliedschaft innerhalb des Untersuchungsgebietes definitiv nachgewiesen werden konnte (Zustimmungsunterschriften zu den Kandidatenvorschlägen allein wurden nicht als Mitgliedschaft gewertet). Verwertbare Berufsangaben insgesamt: 112; Berechnung des Durchschnittsalters für 1926. Die für das nicht zum Untersuchungsgebiet zählende Leopoldshall vorliegenden unvollständigen Angaben zeigen eine soziale Zusammensetzung analog zum „Normalfall“. Vgl. auch Tabelle „Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944“ im Teil B: Dokumentation. 37 umrissen: von den elf Kandidaten der Angestelltenliste waren sieben kaufmännische Angestellte.84 Die Kandidatenliste der Deutsch-sozialen Partei zu den Stadtverordnetenwahlen 1921 bewegte sich im gleichen Rahmen und zeigte eine unterbürgerliche Profilierung mit proletarischem Einschlag. Ihre sechs bisher in der lokalen Politik nicht hervorgetretenen Kandidaten gaben als Berufe Wagenschreiber, Materialienverwalter, Vorarbeiter, Reserve-Lokomotivführer, Angestellter und Kontorist an.85 Die Liste der Deutsch-sozialen Partei repräsentierte jene Schichten, die auf der „Vereinigten Bürgerliste“ zu kurz kamen, und dokumentierte damit auch eine soziale Trennlinie innerhalb des gegenüber der Arbeiterbewegung einig sein sollenden „Bürgertums“. Die Zusammensetzung des Bernburger „Bürgertums“ scheint nämlich im 1921er Wahlvorschlag „Vereinigte Bürgerliste“86 auf den Kopf gestellt. Dieser liest sich wie eine Fortsetzung der Honoratiorenpolitik des Kaiserreiches: allein 17 der 30 Kandidaten waren Fabrikbesitzer, Firmeninhaber, Direktor, Handwerksmeister, Händler, Apotheker, Gastwirt, Arzt oder Rechtsanwalt. Selbst bei großzügiger Auslegung der Berufsangaben sind jedoch insgesamt nur neun Angestellte, Beamte und Lehrer auf der Liste auszumachen (vier weitere Kandidaten waren Frauen bzw. Rentner). Wie schon für 1919 stellt sich auch für das Jahr 1921 wieder die Frage, ob die Differenzen der rechten ‚Abweichler‘, in diesem Falle der Deutsch-sozialen Partei, inhaltlicher oder personeller Natur waren. Einen direkten Hinweis darauf gibt es nicht. Einige Indizien deuten jedoch darauf hin, dass es sich im Kern tatsächlich um inhaltliche Differenzen handelte. Die sozialdemokratische Lokalzeitung „Volkswacht“ berichtete, die programmatische Kernaussage der Deutsch-Sozialen in Bernburg liefe auf die Abwehr einer ‘jüdisch-marxistisch-imperialistischen Weltverschwörung’ hinaus. Doch hätte es deswegen nicht eines eigenständigen Auftretens bedurft. Antisemitismus und Antisozialdemokratismus sowieso waren auch links von der Deutsch-Sozialen Partei in über-

86 Vgl. für analoge Reaktionsweisen des Bürgertums in „Thalburg“ (= Northeim): William Sheridan Allen, „Das haben wir nicht gewollt!“ Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930-1935, Gütersloh 1966, S. 46. 84 Im einzelnen: je ein(e) Geschäftsführer, Stadtbauassistent, Werkmeister, Einkäuferin, Prokurist, Kontorist, Handlungsgehilfe, Handlungsgehilfin, Maschinentechniker, Buchhalter, Werkführer. Vgl. Vw 19.02.1919. Die Frage nach den sachlichen Gründen der Absonderung muss allerdings unbeantwortet bleiben, der bulletinartige Charakter der Berichterstattung in der bürgerlichen Lokalpresse (die Vw zeigte sich sogar vollkommen uninteressiert) lässt keine weiteren Schlüsse zu. 85 Vgl. Anhalter Kurier, 23.11.1921. Bei dem Wagenschreiber handelt es sich offensichtlich um einen gehobenen Arbeiterberuf in einem Betrieb der Solvay-Werke. Der Angestellte firmiert in den Adressbüchern für 1920 und 1924 als Decksoffizier bzw. Marineingenieur a. D. 38 reichlichem Maße anzutreffen. So zeigte sich denn auch die „Volkswacht“ weniger wegen der Deutsch-Sozialen als wegen der Präsenz einiger schon als „Judenfresser” bekannter Persönlichkeiten auf der 1921er „bürgerlichen“ Einheitsliste, die sie im übrigen ob ihrer Profillosigkeit in ihrer Spannweite von linksliberal bis konservativ als „Kreuzung aus Karpfen und Kaninchen” bezeichnete, äußerst besorgt. Tatsächlich scheint von einem nicht unbedeutenden Teil des „Bürgertums“ die doppelte Demütigung des Jahres 1918 – Weltkriegsniederlage und innenpolitischer Machtverlust – mit einer Aktivierung unterschwellig vorhandener antisemitischer Denkmuster verarbeitet worden zu sein. Einzig die linksliberale Deutsche Demokratische Partei kann unter den „bürgerlichen“ Parteien in Bernburg als frei von Antisemitismus bezeichnet werden.87 Sie war jedoch innerhalb des Bernbürger „Bürgertums“ unbedeutend und ordnete sich seit 1921 wieder eher dem ‚bürgerlichen Gesamtinteresse‘ unter, unternahm also nicht – wie in der Landeshauptstadt Dessau – den Versuch, eine die politischen Lager partiell überbrückende Funktion einzunehmen.88 Die Existenz der Deutsch-Sozialen wäre daher nur zu einem geringeren Teil daraus zu erklären, dass diejenigen, denen der in der „bürgerlichen“ Einheitsliste vertretene ‚normale‘ Nationalismus und Antisemitismus als nicht ausreichend erschien, in der Gemeinderatswahl 1921 die radikalere DSP unterstützten. Viel bedeutender war die mangelnde Bereitschaft des „vereinigten Bürgertums“, den unterbürgerlichen Schichten über eine adäquate Präsenz auf der Liste auch eine entsprechende Geltung nach außen zu verschaffen. Dies provozierte die Gründung der DSP mit einem von Beginn an erheblichen Masseneinfluss.89 Die von der DSP vertretenen sozialdemagogischen Forderungen bildeten nicht die eigentliche Grundlage, sondern lediglich die Legitimierung

87 Insgesamt war der Antisemitismus Anfang der 20er Jahre gesellschaftsfähig. Siehe auch Friedrich Jacob (Bearb.), Festschrift zur 50jährigen Jubelfeier der Johannisloge Ludwig zum Palmbaum Or. Köthen, Köthen 1929, S. 43: „Ein Zugeständnis an den Zeitgeist war wohl auch die durch die antisemitische völkische Welle, die über Deutschland hinwegging, vor einigen Jahren veranlaßte Änderung unserer Großlogenstatuten, wonach in Zukunft nicht nur Juden nicht mehr aufgenommen werden dürfen, sondern auch das bestimmte christliche Bekenntnis von den Mitgliedern verlangt wird; was aber nicht gehindert hat, daß die Freimaurerei in der verlogensten Weise als jüdisch beschimpft wurde.“ 88 Die im Vergleich zur Landeshauptstadt Dessau nur marginale Rolle linksliberaler Demokraten in Bernburg vor und nach 1918 resultierte aus einer geringeren Durchlässigkeit der Lagergrenzen infolge einer im Vergleich zu Dessau stärkeren politischen Konfrontation. Für die Linksliberalen verblieb keine Übergangszone innerhalb derer sie ihren Platz hätten finden können. Obwohl unter dem Etikett der bürgerlichen Sammlung völlig zurechtgestutzt brachen sie auch zur Stadtverordnetenwahl 1921 nicht aus dem Bündnis aus. 89 Die erste Versammlung der DSP in Bernburg hätte etwa 1.000 Teilnehmer gehabt. Vgl. Mitteldeutsche Presse 19.11.1921. 39 ihrer Existenz, die Möglichkeit, sich von den anderen „bürgerlichen“ Parteien abzuheben.90 Die Zusammensetzung der Kandidatenliste entsprach dabei jedoch nicht der selbstbenannten Zielgruppe, der Arbeiterschaft.91 Wenn auch über die erste öffentliche Versammlung berichtet wurde, dass noch am selben Abend eine Anzahl Arbeiter der Partei beigetreten sei,92 so sagt das – so es denn der Wahrheit entsprach – über die tatsächliche Zusammensetzung der Mitgliedschaft nicht viel aus. Zudem befanden sich die unteren Angestelltengruppen, insbesondere wieder die kaufmännischen Angestellten, bereits seit Kriegsende in einer schwierigen sozialen Lage, die geeignet war, eine Radikalisierung hervorzurufen. Schon Anfang 1919 warnte der Arbeitsnachweisverband Sachsen-Anhalt vor weiterem Zustrom in die völlig überlaufenen kaufmännischen Angestelltenberufe, sei es von aus dem Heeresdienst oder auch von aus der Schule Entlassenen. In Bernburg selbst gelang es nicht, die aus dem Heeresdienst entlassenen Angestellten wieder in ihre ehemaligen Tätigkeiten einzugliedern; die während des Krieges eingestellten Hilfskräfte waren anscheinend nicht bereit, ihre Positionen zu räumen. Durch den Städtischen Arbeitsnachweis Bernburg gemachte Arbeitsangebote wie Ochsentreiben in Dröbel, Kohlenschaufeln auf der Zuckerfabrik Ilberstedt oder Arbeit beim Wegebau wurden als offene Brüskierung empfunden. Das Vaterland wäre dem nun stellungslosen Kriegsteilnehmer zu Dank verpflichtet, aber stattdessen würden andere Menschen ihm seine Arbeit streitig machen, die diesen Erwerb noch nicht einmal dringend nötig hätten, und die Stadtverwaltung würde sich weigern, solche Personen zu entlassen und Kriegsteilnehmer dafür einzustellen.93 Diese angespannte Erwerbslage erfuhr im Übergang von der Nachkriegskrise zur allgemeinen Stabilisierung noch eine weitere zeitweilige Verschärfung. In Bernburg und Umgegend herrschte 1923/24 eine im Vergleich zum Reich exorbitant hohe Arbeitslosigkeit, die auch die Angestellten nicht verschonte. Die entsprechenden Zahlen lagen seit Anfang 1923 über dem Reichsdurchschnitt und erreichten bis zum elfeinhalbfachen des Reichswertes (Anfang 1924)!

90 Vgl. das Programm der Deutsch-sozialen Partei in: Bundesarchiv Berlin, R 1507 / 306, Bl. 68 f. (Abschrift aus Braunschweig 1922). 91 Vgl. Vw, 15.11.1921; Mitteldeutsche Presse 19.11.1921. 92 Vgl. Mitteldeutsche Presse 19.11.1921. 93 Vgl. Bernburgische Zeitung 14.01., 04.03., 21.03.1919. 40 Unterstützte Erwerbslose pro 1.000 Einwohner im ersten Halbjahr 1924 im Arbeitsamtsbezirk Bernbur g und im Deutschen Reich 4,9 4,3 5,6 9,7 6,6 9,5 13,6 93,6 99,8 76,1 45 35,8 35 35 0 20 40 60 80 100 120 Januar Februar März April Mai Juni Juli Unt. Erwerbsl. Deutsches Reich AAB Bernburg 41 Verantwortlich für diesen Extremwert zeichneten in erster Linie Entlassungen in der Kaliindustrie. Nachdem in der Inflation noch gute Geschäfte zu machen waren wurden mit der Währungsstabilisierung und der damit verbundenen Verteuerung der Arbeitskraft seit Ende 1923 die Belegschaftszahlen rapide reduziert.94 Für die bereits benannte Verbindung von verschärftem Antisemitismus mit unbefriedigtem Geltungsbedürfnis spricht, dass der auf der „bürgerlichen“ Einheitsliste kandidierende Bernburger Sekretär des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes durch die sozialdemokratische „Volkswacht“ als „Oberhäuptling der Antisemiten” angesehen wurde.95 Daraus wäre vorsichtig auf ein überproportionales Vorhandensein einer antisemitischen Grundeinstellung in den Kreisen der unteren Angestelltenschaft zu schließen, Weiterhin erscheint es möglich, dass sich einige extreme Vertreter nicht mit der Kandidatur des DHV-Sekretärs zufrieden geben wollten. Der im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband traditionell stark verankerte Antisemitismus ließ sich auch durch die Frontlinien in den Arbeitskämpfen ständig aufs neue legitimieren. Aus Bernburg ist vom Jahresende 1921 der Vorgang überliefert, dass sich die Firmen des Textilhandels – im Gegensatz zu denen des Lebensmittel- und des Eisenwarenhandels – unter ihren Wortführern Baruch und Levy der Allgemeinverbindlichkeit des Landestarifvertrages widersetzten und erst durch den Schlichtungsausschuss zu dessen Einhaltung gezwungen werden mussten. Außerdem wären die Verhandlungen durch das unkooperative und betrügerische Verhalten des Bernburger Vorsitzenden des sozialdemokratischen Zentralverbandes der Angestellten (ZdA) verschleppt worden.96 Selbst wenn sich dieser Arbeitskampf nicht so, wie hier durch die „Mitteldeutsche Kaufmannspost“, das Organ des DHV, kolportiert, abgespielt haben sollte, so kommt es doch auf die propagandistische Wirkung der Nachricht an. Bekräftigt wurden zwei

94 Vgl. Heinz Scheel, Zu einigen Problemen der Entwicklung der chemischen Industrie von 1919 bis 1929, unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung der Deutschen Solvay-Werke AG Bernburg, Diss. Berlin 1970, S. 70-72, 158. Die schlechte Ernährungslage begünstigte die Ausbreitung von Krankheiten, schon im Oktober 1922 gab es die ersten Fälle von Typhus in der Stadt. Vgl. Mitteldeutsche Presse 20.10.1922. Quelle für das vorstehende Diagramm: Vw 26.08.1924. Die Statistik gibt keine Auskunft über die hohe Zahl „ausgesteuerter“ Erwerbsloser. Vgl. weiterhin zur andauernden Kalikrise und ihren Folgen für die einzelnen Orte: Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 19 B Neu, Nr. 664, pass. Angaben zur spezifischen Angestelltenarbeitslosigkeit liegen nicht vor. 95 Vw 22.11.1921. Weiter wurden ein selbständiger Apotheker und ein Fabrikbesitzer als entschieden antisemitisch herausgestellt. Vgl. auch Mitteldeutsche Presse, 17.01.1922: Dominanz der Kaufleute im Vorstand der Ortsgruppe Staßfurt-Leopoldshall (preußisch-anhaltische Grenzdoppelstadt) des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes. 96 Vgl. Mitteldeutsche Kaufmannspost, 1922, Heft 1, S. 3 f. 42 Grundüberzeugungen, die vom „raffenden jüdischen Kapital“ und die vom ehrlosen „Marxismus“, der den notleidenden Angestellten in den Rücken fällt. In einem anderen Fall sahen sich die industriellen kaufmännischen Angestellten Anfang 1922 im Schlichtungsausschuss einer fast geschlossenen Front von Arbeitgebervertretern und Arbeitnehmervertretern (Arbeiter) gegenüber, die – auf Vorschlag der letzteren – Töpferverdienste zur Bemessungsgrundlage bei der Festlegung „angemessener Gehälter“ für Angestellte nahmen.97 Auch hier war es wieder der „Marxismus“, der verhindern half, dass der Angestellte ein seiner Leistung entsprechendes Einkommen erhält. Der Zentralverband der Angestellten hat denn auch angesichts solcher Frontstellungen unter den kaufmännischen Angestellten kaum Fuß fassen können; bei den Kaufmannsgerichtswahlen des Jahres 1921 in Bernburg entfielen auf ihn gerade zwei der zehn Sitze, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband (DHV) und der liberale Gewerkschaftsbund der Angestellten (GdA) erlangten jeweils vier.98 Es ist kaum überraschend, dass unter den lokalen Angestelltengewerkschaften in dieser Zeit eine deutliche positive Resonanz auf den Nationalsozialismus nur für den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband nachzuweisen ist. Unter den neun Kandidaten des im wesentlichen vom DHV repräsentierten Gesamtverbandes deutscher Angestelltengewerkschaften (Gedag) zu den Angestelltenversicherungswahlen im Januar 1922 finden sich zwei Personen (ein Handlungsgehilfe und ein Buchhalter), die im Jahre 1924 Unterstützungsunterschriften für die Liste der Nationalsozialistischen Freiheitspartei zu den Stadtverordnetenwahlen leisten sollten. Für die beiden anderen Richtungen – AfABund und GdA – ist in zu dieser Zeit eine Parteinahme für den Nationalsozialismus noch nicht zu beobachten.99 Bei einer Analyse der Kandidatenaufstellung der SPD zu den Gemeinderatswahlen kann zudem das Jahr 1921 als der Beginn eines sich über den weiteren Verlauf der Weimarer Republik fortziehenden Rechtstrends in der Angestelltenschaft ausgemacht werden. Kamen in Bernburg, Nienburg, Neundorf und Rathmannsdorf summarisch 1919 noch

97 Vgl. Mitteldeutsche Kaufmannspost, 1922, Heft 2, S. 5. Das anhaltische Landeswirtschaftsamt ordnete im Februar 1922 Neuverhandlungen an, wobei zuvor der Forderung des DHV nach „berufsständischen“ Beisitzern nachgegeben worden war. Vgl. ebenda, Heft 3, S. 3. 98 Vgl. ebenda, 1922, Heft 4, S. 3. Für eine weitere politische Auseinandersetzung zwischen ZdA und DHV im Umfeld des Rathenau-Mordes vgl. ebenda, Heft 8, S. 4. 99 Vgl. für die Kandidatenlisten Vw 02.01.1922, für die Zustimmungsunterschriften 1924 Stadtarchiv Bernburg, 6/1285. Auch die 1922er Spitzenkandidaten des AfA-Bundes und des GdA traten späterhin in die NSDAP ein, dies jedoch erst 1932 bzw. 1933, also unter einer (unterstellten) opportunistischen Motivation. 43 26 % aller SPD-Gemeinderatskandidaten aus der Angestelltenschaft, so ging ihr Anteil schon 1921 auf 22 % zurück, um dann bei 17 % (1924) bzw. 18 % (1927/31) zu stagnieren. 100 Der Abwendung der Angestellten von der Sozialdemokratie ist selbst in deren Domänen schon sehr früh nachzuverfolgen. Stimmten im Versicherungsamt Bernburg in der Betriebsratswahl vom Dezember 1921 noch 22 der 23 Wählenden für den sozialdemokratischen Zentralverband der Angestellten und nur einer für die gemeinsame Liste von Deutschnationalem Handlungsgehilfenverband und liberalem Gewerkschaftsbund der Angestellten, so waren schon ein halbes Jahr später im Juni 1922 nur noch 17 der 21 Wählenden für den ZdA zu gewinnen.101 Die Entstehung der Aderstedter NSDAP folgt einem gänzlich anderen Schema als im Rest des Kreises. Einzig in Aderstedt wurde die NSDAP zur Arbeiterpartei. Sie wies damit eine Sozialstruktur auf, wie sie auch bei ländlichen deutschnationalen Ortsgruppen in jenen Jahren vorgekommen sein soll.102 Bei einer Arbeiterbevölkerung von reichlich zwei Dritteln der Einwohnerschaft hatte es die Sozialdemokratie in Aderstedt nur in den Wahlen zwischen 1918 und 1920 geschafft, dieses Potential auszuschöpfen bzw. sogar zu überschreiten (78 % bzw. 68 %). Danach pendelte sich ihr Wählerstimmenanteil wieder auf die schon aus dem Kaiserreich bekannten Werte um 50 % ein. Die anscheinend relativ geschlossene Gruppe derjenigen Arbeiter, die die SPD vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht hatte erreichen können, wandte sich jetzt wieder von ihr ab und sah in der NSDAP ihren Vertreter.103 Von dem schon in der Vorkriegszeit in der lokalen Politik in Gegnerschaft zur SPD tätigen Steinmetz, Landwirt und späteren Bürgermeister Karl Wilhelm sen. ist überliefert, dass er zwischenzeitlich bis Anfang der 20er Jahre der SPD angehörte, bevor er vor allem unter dem Einfluss seines Sohnes, des Elektrikers Karl Wilhelm jun. (später NSDAP-Ortsgruppenleiter in Aderstedt) zum Na-

100 Nur diese vier Orte sind über alle Wahlen nachzuverfolgen. Zu beachten ist, dass ein Teil dieser Angestellten außerdem von Organisationen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung beschäftigt wurden. Vgl. auch Kupfer, Sozialdemokratie, S. 192 ff. 101 Die Beteiligung an der Wahl ging von 96 % auf 70 % zurück. Vgl. Mitteldeutsche Kaufmannspost, 1922, Heft 8, S. 6. 102 Vgl. z. B. Mitteldeutsche Presse, 05.08.1921: Der vor einigen Tagen gegründete Ortsverein Hohenerxleben der Deutschnationalen Volkspartei zähle schon über hundert Mitglieder „aus allen Ständen und Berufen”, auch Arbeiter. Vgl. ebenda, 30.04.1922: Die Mitglieder der DNVP in Schackenthal wären hauptsächlich Arbeiter. 103 In der Gemeinderatswahl 1927 entfielen auf die SPD 48 % und auf die NSDAP 23 % der gültigen Stimmen, was in der Summe den Anteil der proletarischen Wähler nur leicht überstiegen haben dürfte. 44 tionalsozialismus übertrat.104 Die Abgrenzung beider Aderstedter Arbeitergruppen ist nach außen hin etwas unscharf, es scheint jedoch ein schwacher Trend dahingehend bestanden zu haben, dass bei der SPD tendenziell eher die besser qualifizierten und nach Bernburg einpendelnden Arbeiter zu finden waren, während die NSDAP eher als die Vertreterin der niedriger qualifizierten und in den Steinbrüchen, in der Landwirtschaft und im Kalischacht direkt am Orte beschäftigten Arbeiter anzusehen ist. Die „Volkswacht“ wusste zur Gemeinderatswahl 1927 aus Aderstedt zu berichten, dass die neunköpfige „Nationale Liste” der NSDAP mit zwei Ausnahmen aus Beschäftigten der örtlichen Steinbruchfirmen Meißner und Hoier bestand.105 Von einem eventuell ausgeübten Druck seitens dieser Arbeitgeber zur Präsentierung einer gewünschten politischen Haltung ist jedoch nichts bekannt, auch sind die Betriebsinhaber selbst zu keinem Zeitpunkt als Nationalsozialisten nachweisbar, so dass eher von besonderen engen Kommunikationsbeziehungen in dieser Beschäftigtengruppe ausgegangen werden muss. Die NSDAPListe aus der Gemeinderatswahl des Jahres 1927 wies mit der gleichfalls Steinbruchbeschäftigte enthaltenden SPD-Liste doppelt so häufig Überschneidungen in den Berufsangaben auf wie mit der „Unpolitischen Liste“ und stand sozialstrukturell faktisch zwischen beiden, einzig ein Kandidat, ein kaufmännischer Angestellter, fand keine berufliche Entsprechung auf den benachbarten Listen.106 Neben den lokalen politischen Konstellationen und der politischen Meinungsbildung in Großgruppen sind es im einzelnen aber erst Faktoren der Persönlichkeit und der Biographie, die die Hinwendung zur NSDAP wesentlich mitbestimmten. Für die Mehrzahl der frühen NSDAP-Mitglieder war der Erste Weltkrieg das einschneidendste Erlebnis in ihrem Leben gewesen. Es ist nun interessant zu sehen, dass die Personen an der Spitze der NSDAP im militärischen Bereich keinesfalls Mannschaftsdienstgrade innehatten: Hölzke war Vizewachtmeister, der Aderstedter Ortsgruppenleiter Möhring Oberleutnant. Interessant ist in dieser Hinsicht auch die Mitgliederliste des Marinevereins Bernburg. Für den Mitgliederbestand des Jahres 1930 sind – über den gesamten Zeitrum der Existenz der NSDAP – 25 Parteibetritte nachzuweisen. Knapp ein Viertel dieser Personen (6) findet sich schon unter den bis 1926 erstmalig eintretenden NSDAP-

104 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, PK 1200021814. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre werden ihre Berufe als Steinbruchmeister und Elektromeister angegeben. 105 Vgl. Vw 23.11.1927. 106 Vgl. Kreisarchiv Bernburg, Aderstedt, Kapitalismus, Nr. 13, Bl. 45-55. 45 Mitgliedern, darunter die Spitzenkandidaten zu den Stadtverordnetenwahlen 1921 und 1924.107 Es liegt der Schluss nahe, dass auch ein Äquivalent für die ehemals in militärischen Führungspositionen gefundene Bestätigung jetzt in der NSDAP gesucht wurde. Im Gegenzug liegen keine Indizien dafür vor, dass es eventuell gesellschaftliche Entwurzelung resp. Schwierigkeiten bei der Führung eines normalen zivilen Lebens waren, die in dieser Frühphase der lokalen Entwicklung ausschlaggebend für die Hinwendung zur NSDAP gewesen wären. Andersherum konnte aber das Engagement in der NSDAP in dieser Hinsicht Schwierigkeiten verursachen, wie z. B. die vermehrten Disziplinarverfahren Hölzkes ausweisen. Diesem beschriebenen Geltungsdrang benachbart ist der unbedingte Aufstiegswille, der in diesen Kreisen – unbeschadet tatsächlich vorhandener Kenntnisse und Fähigkeiten – immer wieder zu beobachten ist. Nichts illustriert diesen unbedingten Aufstiegswillen besser als das nachfolgende Inserat aus der „Mitteldeutschen Presse“ im Oktober 1922, das sich schon optisch durch zwei einleitende Hakenkreuze von anderen Inseraten abhob: „19jähriger, sehr solider, strebsamer national und völkisch denkender junger Mann sucht irgendwelche Stellung als Arbeiter in der Technik im Büro oder eine Vertrauensstellung in einem Ort wo selbiger ein Technikum oder Ingeneur oder Fachschule nebenbei besuchen kann[.] Arbeitet seit 1919 praktisch als Schlosser, Dreher, Elektromonteur und hat beim Eisenbahnerstreik im Febr. ds. J. als Technischer-Nothelfer eine Lokomotive geführt und hat oberrealschulbildung. Arbeitet augenblicklich als Arbeiter auf einem großen Werke da er sich sein Studium selbst verdient und ist nicht organisiert. Gefällige Angebote an die Exp. der Mitteldeutschen Presse unter ‚Hakenkreuz‘.“108

107 Vgl. für die Mitgliederliste Emmerich/Schwabe, Geschichte, S. 8. Insgesamt erwarben mindestens 28 % seiner dort aufgeführten Mitglieder zu irgendeinem Zeitpunkt die Mitgliedschaft der NSDAP. Beim Marineverein Bernburg handelte es sich – auch ausweislich des späten Gründungsdatums – nicht um einen Kriegerverein im herkömmlichen Sinne. Emmerich/Schwabe, Geschichte, pass., versuchen in ihrer Schrift den Eindruck zu erwecken, dass der Nationalsozialismus wie ein Unwetter über Deutschland im allgemeinen und den damaligen Marineverein Bernburg im besonderen hereingebrochen sei. Die faschistische Ideologie sei in alle Organisationen und Vereine getragen worden und auch der Marineverein Bernburg habe sich dem nicht entziehen können. Um es zu überspitzen: Es habe zwar Nationalsozialismus, aber keine Nationalsozialisten gegeben. Tatsächlich jedoch wies der Mitgliederkreis des Marinevereins eine überdurchschnittliche Sättigung auch mit frühen Mitgliedern auf. Nur am Rande sei erwähnt, dass es zumindest instinktlos war, dem Verein bei seiner Wiedergründung 1991 auch noch jenen Namen zu geben – nämlich „Marinekameradschaft“ – der ihm erst in der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ verordnet worden war (später wurde daraus „Marine-SA“). 108 Mitteldeutsche Presse, 17. und 18.10.1922. Die Angaben zeigen starke Parallelen zum Profil eines Otto N. aus Güsten, der zum Zeitpunkt seines erstmaligen NSDAP-Beitritts 1926 als Student und zum Zeitpunkt seines zweiten NSDAP-Beitritts 1930 als Ingenieur in der NSDAP-Mitgliederkartei geführt wurde. Unter der gleichen Adresse war auch der Güstener Ortsgruppenleiter von 1925, ein Eisenbahnsekretär, zu finden, der wohl Bruder oder Vater des eventuellen Inserenten war. 46 3.3 Biographisches Beispiel: Emma Hentschel (Dessau) Insgesamt ist es aufgrund des weitgehenden Fehlens biographischer Quellen kompliziert, die Eintrittsmotivationen der frühen Mitgliedschaft darzustellen. Aus dem gesamten Kreis Bernburg steht keine einzige illustrierende Biographie zur Verfügung, was angesichts einer Zahl von weniger als 200 bis zum Jahre 1928 von der „Bewegung“ erfasster Personen auch kaum erstaunt. Ersatzweise ist es jedoch möglich, auf die Biographie einer frühen Nationalsozialistin aus der Landeshauptstadt Dessau zurückzugreifen, deren Entwicklungsgang eine Reihe von Rückschlüssen auf die Bernburger Situation zulässt. Die 1936 – also äußerst zeitnah und ohne den späteren Zwang zu Retuschen – niedergeschriebenen Erinnerungen Emma Hentschels stellen daher einen Glücksfall für die historische Forschung dar.109 Emma Hentschel wurde 1881 in Heyersdorf in der preußischen Provinz Posen geboren und entstammte einem alten schlesischen Bauern- und Mühlenbesitzergeschlecht. Man kann also unterstellen, dass die Familie nicht ganz unvermögend, wenn nicht sogar tonangebend im Dorfe war.111 Über die Zahl der Geschwister ist nichts überliefert; auf jeden Fall erbte sie aber nicht den Hof und zog 1905 nach ihrer Heirat mit einem Lokführer in die Großstadt Posen. Dort kam sie – zuvor schon glühende BismarckVerehrerin – mit den Ideen des ehemaligen Hofpredigers Adolf Stöcker in Berührung, die in ihrer Mischung aus Antisemitismus und sozialkonservativer Reformpolitik sie weiterhin beeinflussen sollten. Nach außen hin trat sie jedoch politisch nicht hervor, was jedoch nicht weiter verwundert; ihr Mann war Beamter, schon von daher war ZurückEmma Hentschel (um 1925)110

109 Emma Hentschel, Zehn Jahre Frauenleben in der Gefolgschaft Adolf Hitlers, o. O. o. J. (Dessau 1936). Weitere herangezogene Quellen: Bundesarchiv Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei; Ortsgruppenkorrespondenz Dessau 3905000023; PK 1040030777; PK 1040031013; RWA Country 3601000261; Bundesarchiv Berlin, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZE, 53435, A.26; ZB II, 1194, A.8. 110 Quelle: Bundesarchiv Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei. 111 Der durchschnittliche Grundsteuerreinertrag lag in Heyersdorf 1905 fast doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Provinz Posen. In konfessioneller Hinsicht setzte sich das Dorf aus 280 evangelischen und 16 katholischen Einwohnern zusammen, wobei nur unter den letzteren zwei polnischsprachig waren. Vgl. Gemeindelexikon für die Provinz Posen. Auf Grund der Materialien der Volkszählung vom 1. Dezember 1905 und anderer amtlicher Quellen, Berlin 1908, S. 30 f. 47 haltung geboten, außerdem wurden jeweils im Jahresabstand drei Kinder geboren und schließlich war im Deutschen Reich Frauen eine politische Aktivität überhaupt erst seit 1908 erlaubt. Weiter radikalisieren sollte sich ihre politische Haltung im Gefolge des Ersten Weltkrieges, als Posen in Erfüllung des Versailler Vertrages an Polen abgetreten wurde. In dieser Zeit wurden sie und ihr Mann nach eigenem Bekunden infolge der von polnischer Seite gegenüber dem deutschen Bevölkerungsteil forcierten scharfen Repression und systematischen Verdrängungspolitik Fanatiker; „wilder Hass“ gegen die „verräterische marxistische Regierung“ in Berlin, die sie an die Polen ausgeliefert hätte, hätte von ihnen Besitz ergriffen. Über konkrete Verfolgungen seitens der Polen gegenüber den Hentschels ist jedoch nichts bekannt. Um der zweifellos auch ohne konkrete persönliche Pressionen diskriminierenden Lebenslage zu entgehen schloss sich die Familie Hentschel 1920 dem Massenexodus an und kehrte, wie der größte Teil der deutschen Bevölkerung Posens,112 ‚heim ins Reich‘, nach Dessau. In Dessau trafen sie auf eine relativ entspannte Atmosphäre, die kaum etwas von den in der Nachkriegskrise nur wenige Kilometer entfernt sich abspielenden auch bewaffneten Kämpfen ahnen ließ. Vielmehr wehte hier – so Emma Hentschel – „noch ein verspätetes Hoflüftchen“. Dass diese Ruhe gerade von den verhassten ‚Marxisten‘ in der Landesregierung gewährleistet wurde, die einerseits jeden Streik schnell vor einer eventuellen Radikalisierung zu beenden suchten und andererseits mit hohem Einsatz bemüht waren, die im restlichen Mitteldeutschland stark präsente Reichswehr aus dem Lande fernzuhalten, realisierten die Hentschels anscheinend nicht. Die Katastrophe traf die Familie 1923: der Mann starb an den Folgen eines Arbeitsunfalls. Emma Hentschel stand allein mit drei minderjährigen Kindern und musste in der Folge zusehen, wie das Familienvermögen in der Hyperinflation wertlos wurde und auch die Witwenpension zum Leben nicht mehr ausreichte. In dieser Situation brachte ihr gerade 16 Jahre alt werdender Sohn Walter im November 1923 den nationalsozialistischen „Völkischen Beobachter“ mit den Berichten über Hitlers fehlgeschlagenen Putsch an der Münchener Feldherrnhalle mit nach Hause. Walter Hentschel hatte wohl schon länger im völkisch-nationalistischen Spektrum verkehrt. Ansprechpartner für ihn war der SA-Vorläufer „Treuschaft Lützow“. Emma Hentschel hatte von alldem infolge

112 1910 betrug der deutsche Bevölkerungsanteil in Posen 41,7 %, 1921 nur noch 5,5 %, 1926 gar nur 3,5%. Vgl. Hermann Rauschning, Die Abwanderung der Deutschen aus Westpreußen und Posen nach dem Ersten Weltkrieg, Essen 1988 (Berlin 1930), S. 341. 48 von Trauer und Inflation – wie auch vom Bestehen einer NSDAP-Ortsgruppe in Dessau seit September 1923 – anscheinend nichts wahrgenommen, es ist aber auch nicht anzunehmen, dass sie es missbilligt hätte. Jedenfalls entschied sie nun, dass dies in Zukunft die politische Richtung der Familie sein sollte, las alle verfügbare Literatur und begann, die nationalsozialistischen Versammlungen zu besuchen. Emma Hentschel hatte in ihrem Lebensverlauf bislang zwei gesellschaftliche Abstiege hinnehmen müssen: den ersten von der Tochter des Dorfpatriarchen zur Frau eines im wesentlichen in der Anonymität der Großstadt untergehenden Lokführers, den zweiten von der materiell zumindest auskömmlich lebenden Beamtenehefrau zur um ihre und ihrer Kinder materielle Existenz kämpfenden und letztlich doch am Rande der Gesellschaft stehenden Witwe. Die Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Bewegung sollte ihr, deren bisheriger Lebensweg durchaus auch als Abfolge von Zurücksetzungen und Demütigungen gesehen werden kann, neues Selbstvertrauen geben. Die Erlangung dieses neuen Selbstbewusstseins beschreibt sie anlässlich des geschlossenen Auszugs der nationalsozialistischen Versammlungsteilnehmer aus einer öffentlichen Versammlung der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, als man den nationalsozialistischen Diskussionsredner nicht sprechen lassen wollte: „Es war ein wundervolles Gefühl, zum ersten Male unmittelbar die Gemeinschaft zu spüren, als wir mit den anderen um einer gemeinsamen Idee willen demonstrativ den Saal verliessen.“ Im Spätsommer 1924 wurde sie dann formell Mitglied der Nationalsozialistischen Freiheitspartei und nach Aufhebung des NSDAP-Verbots findet sich im März 1925 in der Meldung über die ersten Mitglieder der neugebildeten Ortsgruppe neben dem späteren Gauleiter Wilhelm Loeper und 13 anderen auch ihr Name. Sie erhielt damals die sehr niedrige Mitgliedsnummer 6.992. In der Folge sollte sie völlig in der Bewegung aufgehen. Emma Hentschel, die sich und die Familie mit Näharbeiten über Wasser hielt, wurde zu einer Art ‚Mutter der Kompanie‘, die Organisationsarbeiten besorgte, anfallende Näharbeiten ausführte, auswärtige prominente Redner und durchreisende Parteigenossen beherbergte, später auch Waffen und belastende Dokumente versteckte.113 Daneben besuchte sie natürlich die Parteitage und -treffen.

113 Tatsächlich wurde sie selbst bei der Aufdeckung der nationalsozialistischen Putschpläne durch die Dessauer Polizei im Dezember 1931 nicht auffällig. Vgl. Bundesarchiv Berlin, 15.01 RMdI, Nr. 26140, Bl. 292 ff. Vgl. auch Anhaltischer Landtag. 4. Wahlperiode 1928/32, Drucksache Nr. 215 (Förmliche Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion vom 19. Februar 1932 an das Staatsministerium, ob es zutreffe, dass die Polizeiverwaltung Dessau im Dezember 1931 bei Mitgliedern der NSDAP Ermittlungen über 49 Anmeldung der Dessauer NSDAP-Neugründungsmitglieder 1925 bei der Parteizentrale114

Teilnahme an hochverräterischen Umtrieben vorgenommen habe und ggf. welches Ergebnis diese Ermittlungen zu Tage gefördert haben.). 114 Quelle: Bundesarchiv Berlin, BDC, 3905000023 (Ortsgruppenkorrespondenz Dessau). 50 Auch ihre Kinder, die neben dem Studium eigenen Erwerbstätigkeiten nachgehen mussten, schlossen sich, sobald sie die staatlichen anhaltischen Gymnasien und die dort gewährte Schulgeldfreiheit hinter sich gelassen hatten, der NSDAP an. Die Tochter Dorothea wurde 1926 vom „Völkischen Beobachter“ als erste nationalsozialistische Lehrerin bezeichnet, der Sohn Walter sollte später während eines Studienaufenthaltes in den USA die dortige NSDAP-Auslandsorganisation mit aufbauen. Insgesamt schaffte sie es, den selbst erlittenen sozialen Abstieg durch ihre Kinder wieder zu kompensieren. Tochter Dorothea avancierte im Dritten Reich zur Gaugeschäftsführerin des Nationalsozialistischen Lehrerbundes in Magdeburg-Anhalt und später zur Funktionärin des NSLB an dessen Sitz in Bayreuth, Sohn Walter erreichte im Reichsluftfahrtministerium die Stufe eines Oberregierungsrates und Tochter Katharina wurde Auslandslehrerin in Guatemala und später wohl auch in Spanien. Doch es wäre zu kurz gegriffen, die seinerzeitige Hinwendung Emma Hentschels zum Nationalsozialismus und ihr dauerhaftes Verbleiben in der Bewegung nur aus der Enttäuschung über die eigene Lebenslage erklären zu wollen. Vielmehr verfolgte sie sehr konkrete Gesellschaftsvorstellungen für das kommende „Dritte Reich“. Diese verbanden sich mit der von ihr in der Rückschau verklärten Stellung ihres Vaters in ihrem Heimatdorf. Sie sah ihren Vater, in jungen Jahren preußischer Garde-Ulan, als den allseits gerechten und wohltätigen Patriarchen des Dorfes, der bei allen Arbeiten im weißen Hemd – eine Lichtgestalt! – voranging und deren Beginn mit dem Satz „Das walte Gott“ anwies. Ein Patriarch, in dessen Obhut man sich stets begeben konnte, weil seine Entscheidungen stets richtig waren. Diese Rolle übertrug sie auf Adolf Hitler, der die von Klassenkämpfen zerrissene deutsche Gesellschaft so organisieren sollte wie die aus ihrer Sicht heile Welt ihres kleinen idyllischen Dorfes. Diese Sichtweise auf die Zukunft Deutschlands entsprach der von der NSDAP propagierten „Volksgemeinschaft“. Auch die übliche irrationale ekstatische Führerverehrung war ihr nicht fremd. Noch 1936 bezeichnete sie eine halbminütige Begegnung mit Adolf Hitler während des Reichsparteitages 1927, dem sie zuvor regelrecht hinterhergerannt war, als den erhebendsten Augenblick ihres Lebens. Emma Hentschel hat – mit Ausnahme eines kurzen Intermezzos als Kassenwartin – nie eine Funktion in der NSDAP bekleidet. Doch daraus eine relative Bedeutungslosigkeit schließen zu wollen wäre völlig verfehlt. Gerade Personen ihres Zuschnitts halfen in ihrem ausdauernden und fanatischen Wirken und in ihrer ständigen Verfügbarkeit die 51 Organisationskontinuität einer von inneren Streitigkeiten und großer Mitgliederfluktuation zerrissenen Partei besonders in den Jahren vor der Weltwirtschaftskrise zu sichern. Ohne diese Aktivisten wäre der rasante Mitglieder- und Wähleraufschwung der NSDAP 1930 und schließlich der nationalsozialistisch-rechtsbürgerliche Wahlsieg in den anhaltischen Landtagswahlen vom April 1932 nicht möglich gewesen. Gleichzeitig wird auch anhand des Lebenslaufes Emma Hentschels deutlich, dass die im Kaiserreich und im Umfeld des Ersten Weltkrieges erfahrenen Prägungen von großer Bedeutung für eine spätere Hinwendung zum Nationalsozialismus waren. Nach 1933 spielte Emma Hentschel, auch infolge von Krankheit, in der Dessauer NSDAP kaum mehr eine Rolle. 1937 verzog sie mit einer ihrer Töchter nach Bayreuth und ist auch 1943 dort noch nachweisbar. Dann verliert sich ihre Spur.

4. 1930/31: Der Durchbruch 4.1 Reorganisation und politischer Aufstieg Die beiden Bernburger Lokalzeitungen, die sozialdemokratische „Volkswacht“ und der liberale „Anhalter Kurier“, meldeten im Januar 1930, dass sich die Ortsgruppe Bernburg des Bundes Oberland aufgelöst und ihre Mitglieder sich einer anderen „nationalen Gruppe“ angeschlossen hätten. Sie würden aber weiterhin im alten Heim, dem Hause des Hauptmanns a. D. Freiherrn Ulrich von Bothmer, Prokurist bei den Metallwerken Kessler & Sohn, zusammenkommen wollen. Beiden Zeitungen war entgangen, dass es sich bei der „anderen nationalen Gruppe“ um die NSDAP handelte, die in den vergangenen drei Jahren aus dem öffentlichen Leben Bernburgs verschwunden und nunmehr völlig unbedeutend war.115 In der Zeit des „Dritten Reiches“ verfasste Darstellungen der lokalen NSDAP-Geschichte versuchen zwar, eine ungebrochene Organisationskontinuität und bedeutende Aktivität zu suggerieren, doch handelt es sich hier durchgängig um Übertreibungen.116 1927/28 hatte es funktionierende NSDAP-Ortsgruppen im Kreis

115 Vgl. Vw 18.01.1930; AK 16.01.1930. Auf Reichsebene löste sich der Bund Oberland erst ein Jahr später auf, drei Viertel seiner zu dieser Zeit etwa 2.000 Mitglieder gingen zur NSDAP über. Vgl. Fricke, Lexikon, Bd. 2, S. 680. 116 Vgl. 800-Jahrfeier Bernburg. 11.-19.Juni 1938. Festschrift, Bernburg 1938, S. 79 (angeblich „rege Propagandatätigkeit“ der Bernburger NSDAP-Mitglieder anlässlich der Anti-Young-Plan-Kampagne 1929). Eine besondere Rolle in diesen Darstellungen spielt ein Treffen im Jahre 1927, hier geschildert von Emma Hentschel: „Sonnwendfeier im Steinbruch von Bernburg [es handelte sich höchstwahrscheinlich um einen der Aderstedter Steinbrüche – T.K.]! Auch Pg. Feder war anwesend und unser Hauptmann Loeper sprach zündende Worte beim lodernden Feuer. Unvermutet und von allen jubelnd begrüsst traf am Sonntag Dr. Goebbels ein. Nachmittags begleiteten wir den Propagandazug zwei Stunden lang durch Bernburgs Strassen. Voran marschierte die Quedlinburger Schalmeienkapelle, die wenig schön, dafür aber laut und aufreizend spielte. Der Marsch ging durch das Arbeiterviertel, wo sonst die Marxisten herrschten und in den Strassen erklangen unsere revolutionären Lieder. Auf dem Karlsplatz sprach zunächst Pg. Feder, ohne die richtige Fühlung mit den Zuhörern zu bekommen. Immer dringender rief daher die SA. im Sprechchor: ‚Goebbels soll reden‘. Und dann sprach Dr. Goebbels und verstand es sofort, Freund und Feind aufzurütteln. Ich konnte das deutlich beobachten. Die dabeistehenden Gegner hatten erst gelangweilt mit spöttisch ablehnendem Gesichtsausdruck zugehört. Jetzt aber merkten sie auf und lauschten auf jedes Wort.“ Hentschel, Jahre, S. 17; vgl. auch 800-Jahrfeier Bernburg, S. 79. Merkwürdigerweise nahm die zeitgenössische (Zeitungs-)Öffentlichkeit keine Notiz von diesem Aufmarsch. Die offiziöse Darstellung Kampf und Sieg der NSDAP in Anhalt, Dessau 1933, S. 23, zeigt ein Photo Goebbels im Umfeld dieses Aufmarsches, doch ist er dort lediglich zusammen mit anhaltischen Pfadfindern abgebildet, die in der retrospektiven Darstellung Emma Hentschels nicht vorkommen. Es ist daher anzunehmen, dass es sich bei diesem angeblichen nationalsozialistischen Aufmarsch um eines jener schon seit der Nachkriegskrise bekannten ‚normalen‘ Treffen des völkisch-nationalistischen Spektrums unter Beteiligung einer Vielzahl von Gruppierungen handelte und dieses Treffen erst später für Legitimationszwecke umgewidmet wurde. Die Tatsache, dass dessen Teilnehmer späterhin wahrscheinlich zu einem großen Teil schon in der NSDAP zu finden waren, dürfte bei dieser nachträglichen Umwidmung nur hilfreich gewesen sein. 54 Bernburg lediglich noch in Aderstedt vor den Toren Bernburgs und wahrscheinlich auch in der Eisenbahner-Kleinstadt Güsten an der Bahnstrecke Staßfurt-Aschersleben gegeben. Zu den 1927 stattgefundenen Bernburger Stadtverordnetenwahlen und den Kreistagswahlen war die NSDAP nicht mehr angetreten. In dieser Zeit kann das vor den Toren Bernburgs gelegene Aderstedt als der Wahrer der nationalsozialistischen Organisationskontinuität im Kreis Bernburg gelten. Nicht nur, dass dort zur Gemeinderatswahl 1927 die einzige nationalsozialistische Liste im Kreis aufgestellt wurde, auch die zehn Positionen umfassende Kandidatenliste der NSDAP zur anhaltischen Landtagswahl 1928 enthielt zwei Kandidaten aus Aderstedt, jedoch keinen aus Bernburg!117 In dieser Wahl konnte sie wiederum eines der 36 Mandate erlangen, das an den Dessauer Gauleiter und späteren Reichsstatthalter Hauptmann a. D. Wilhelm Loeper fiel.118 Auch der Stahlhelm unterlag im Kreis Bernburg zur gleichen Zeit einer ähnlichen Organisationskrise, ohne dass die NSDAP dies für sich hätte ausnutzen können.119 In den Jahren vor 1930, als die NSDAP im völkisch-nationalistischen Spektrum des Kreises Bernburg eher eine untergeordnete Rolle spielte, wurde dieses Spektrum in erster Linie vom Wehrwolf Bund deutscher Männer und Frontkrieger repräsentiert. Auf dem Höhepunkt seiner Organisationsentwicklung lassen sich 1927 im Kreis Bernburg 13 Wehrwolf-Ortsgruppen nachweisen. Nach einer vorübergehenden Schwäche 1928/29 waren 1930/31, mit erneut einsetzender Radikalisierung, wiederum acht Ortsgruppen, teilweise auch mehrere Orte umfassend, existent. Mit dem Aufstieg der NSDAP verschwanden diese jedoch. In der Kreisstadt Bernburg scheint die Neugründung vom Frühjahr 1930 keinen langen Bestand gehabt zu haben und ist schon 1931 nicht mehr nachweisbar. 1932 gab es im Landkreis nur noch Ortsgruppen in Güsten und Gerbitz, 1933 nur noch die Gerbitzer. Die Mitgliedschaft des Wehrwolf diffundierte in andere Organisationen, zu einem größeren Teil zur NSDAP, zu einem geringeren Teil auch

117 Die Aderstedter NSDAP wurde von einer Krise erst 1930/31 ereilt, als die sich häufenden Austritte dazu führten, dass die Ortsgruppe aufgelöst wurde und die verbliebenen Mitglieder sich der nunmehr wieder aktiven Bernburger Ortsgruppe anschlossen. Zur Gemeinderatswahl des Jahres 1931 trat die NSDAP in Aderstedt nicht mehr mit einer eigenen Liste an, sondern stellte – Ausdruck ihrer nunmehrigen relativen Schwäche – vier Vertreter auf der bürgerlichen Einheitsliste. 118 In Stadt und Landkreis Bernburg entfielen auf die NSDAP jeweils knapp zwei Prozent der gültigen Stimmen. 119 Vgl. Bundesarchiv Berlin, R 72 / alt 61 Sta 1. 55 zum Stahlhelm. Von einem mehrheitlichen, direkten und organisierten Übergang der Mitglieder zur NSDAP kann jedoch nicht die Rede sein.120 In Bernburg selbst war weiterhin mindestens seit 1927 der in der Freikorps-Tradition der Nachkriegszeit stehende Bund Oberland wieder aktiv. Allerdings dürfte auch er kaum mehr als 20 bis 30 Mitglieder umfasst haben. Beiden, dem Wehrwolf und dem Bund Oberland, die im übrigen eng kooperierten, kommt somit aus retrospektiver Sicht eine Platzhalterfunktion für die NSDAP zu, sowohl was die personellen als auch was die programmatischen Kontinuitäten betrifft.121 Mit dem Übergang des größten Teiles der Mitglieder des Bundes Oberland zur NSDAP bestand Anfang 1930 in Bernburg wieder eine Keimzelle für die Reorganisation der NSDAP. Die formelle NSDAPMitgliedschaft des vorherigen Oberland-Führers von Bothmer datiert vom 1. April 1930.122 Kurz darauf fungierte er als SA-Führer in Bernburg. Ein Grund für die vorherige relative Schwäche der NSDAP in Bernburg noch Ende 1929 dürfte im Fehlen einer geeigneten Führungspersönlichkeit gelegen haben, erst von Bothmer scheint diese Lücke ausgefüllt zu haben. Auch waren die politischen Unterschiede zwischen den einzelnen Organisationen nur gradueller Natur, so dass die augenscheinlich größere Aktivität von Wehrwolf und Bund Oberland über eine gewisse Zeit für diese den Ausschlag gegeben hatte. Angesichts der noch kurz zuvor zu beobachtenden Schwäche der Partei stellte der NSDAP-Wahlerfolg in den Reichstagswahlen vom 15. September 1930 zumindest eine sehr große Überraschung dar. Von lediglich 2 % der gültigen Stimmen in der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 hatte sie sich innerhalb von zwei Jahren auf jetzt 14

120 Auch vom Deutschnationalen Arbeiterbund, im September 1929 in Bernburg mit 62 und im Mai 1930 noch mit 43 Mitgliedern vertreten, dazu temporär mit einigen Ortsgruppen im Kreisgebiet, sind direkte Übergänge zur NSDAP nicht bekannt. Vgl. Bundesarchiv Berlin, R 8005, Nr. 102, 167, 243. 121 Vgl. Paul Dall’Asta, Wir stehen ahnend an der Wende. Eine kurzgefaßte Dokumentation zur Geschichte des Bundes „Der Wehrwolf e.V.“ v. 1923-1933, o. O. o. J., S. 15; Der Wehrwolf, Halle, 1-10 (1924-33), pass.; AK 10., 20.01.1930. 122 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei. Vgl. auch ebenda, BDC, RS 6010007878: direkter Übergang des 1908 geborenen kaufmännischen Angestellten und späteren SS-Rottenführers Alfred F. vom Bund Oberland bei dessen Auflösung zur NSDAP (formelles Eintrittsdatum 01.01.1930); zuvor hatte er von 1924 bis 1926 nacheinander schon dem Bund Scharnhorst, dem Jungwolf und dem Bund Werwolf angehört. Andererseits ist überliefert, dass der spätere Rechtsanwalt Wolfgang H. bei der Auflösung des Bundes Oberland zum Stahlhelm wechselte und erst 1937 in die NSDAP eintrat. Auch Rechtsanwalt Karl Pietscher hatte 1928 den Bund Oberland nicht in Richtung NSDAP, sondern in Richtung Stahlhelm und DNVP verlassen und trat erst 1936 in die NSDAP ein. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127 Anhang: Justiz PA, H, Nr. 180; P, Nr. 142. 56 % steigern können und wurde faktisch aus dem Nichts drittstärkste Partei im Kreise hinter der SPD und der KPD. Woher kamen aber plötzlich diese Wähler? Eine populäre Legende, dass vor allem die vorherigen Nichtwähler den Aufstieg der NSDAP ermöglicht hätten, kann hier von vornherein ausgeschlossen werden. Selbst unter der Annahme, dass sämtliche der gegenüber 1928 neu hinzugekommenen Wählerstimmen der NSDAP zugefallen wären, hätten sie lediglich ein reichliches Drittel des NSDAPStimmenvolumens bilden können. Vielmehr rekrutierte sich der Stimmenzuwachs der Nationalsozialisten zum größten Teil aus dem Wählerpotential der Parteien des restlichen „nationalen“ Wählerlagers. Doch nicht alle „bürgerlichen“ Parteien waren gleichmäßig von dieser Wählerwanderung in Richtung der Nationalsozialisten betroffen. Während Deutsche Volkspartei, Deutschnationale Volkspartei und Deutsche Staatspartei jeweils zwischen einem Drittel und der Hälfte ihres vorherigen Wählerpotentials verloren, blieben Zentrumspartei und Wirtschaftspartei stabil. Stabil zeigte sich in der Summe auch das „sozialistische“ Wählerlager. SPD und KPD hatten zusammen 1928 56 % der gültigen Stimmen bekommen, jetzt 55%. Lagerintern hatte die SPD leicht an die deutlich kleinere KPD abgeben müssen. Zwischen den Ergebnissen in der Kreisstadt, wo SPD und KPD beide noch leicht hatten gewinnen können, und den Ergebnissen im Landkreis tat sich jedoch eine Schere auf. Angesichts auch deutlicherer Verluste der SPD im Landkreis muss davon ausgegangen werden, dass dort auch ehemalige SPD-Wähler in geringerem Umfang zum Wahlerfolg der NSDAP beitrugen. Nur in einem Falle jedoch (Neundorf) hatten ehemalige KPD-Wähler offensichtlich einen beträchtlichen Anteil am Aufstieg der lokalen NSDAP.123

123 Ungeachtet der Tatsache, dass die Quellenlage eine seriöse Nachverfolgung der Wählerwanderungen und vor allem der Entscheidung der Jungwähler nicht erlaubt, sind die jeweiligen Summenrelationen so eindeutig, dass sie die vorstehenden Aussagen als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen. Siehe auch die Tabelle „Reichstagswahlergebnisse im Untersuchungsgebiet am 14. September 1930“. 57 Reichstagswahlergebnisse im Untersuchungsgebiet am 14. September 1930, Anteil der Parteien in % der gültigen Stimmen124 KPD SPD Deutsche Staatspartei Zentrum DVP Wirtschaftspartei DNVP Deutsches Landvolk Deutsche Bauern- partei Konservative Volkspartei NSDAP Gewinn/ Verlust des „sozialistischen“ Lagers (KPD + SPD) gegenüber 20. Mai 1928 in Prozentpunkten Bernburg 11,1 39,6 2,0 2,0 16,1 8,0 3,3 0,8 0,0 0,9 16,2 0,9 „5 Orte“125 24,9 32,8 1,9 1,8 8,9 8,9 5,5 2,4 0,1 0,4 12,5 -3,5 „Dörfer“126 13,4 46,0 1,2 1,2 8,0 2,7 5,5 9,9 0,6 0,3 11,2 0,7 Gesamt 15,5 39,4 1,8 1,8 12,0 6,8 4,5 3,6 0,2 0,6 13,9 -0,4 124 Quelle der Berechnung: Vw 15.09.1930, Die Wahlen zum Anhaltischen Landtage und zum Deutschen Reichstage am 20. Mai 1928 nebst Zusammenstellungen über die Wahlen zum Anhaltischen Landtage in den Jahren 1924 und 1928, Dessau o. J. (1928). 125 Güsten, Hecklingen, Nienburg, Neundorf, Sandersleben; sämtlich über mehr als 2.000 Wahlberechtigte verfügend. 126 Alle Orte mit weniger als 1.200 Wahlberechtigten. 58 Reichstagswahlen vom 14.09.1930: Verluste und Gewinne der NSDAP und des restlichen "nationalen Lagers" im Kreis Bernburg (Orte in Prozentpunkten gegenüber 20.05.1928) -5 0 5 10 15 20 25 -20 -15 -10 -5 0 5 "nationales Lager" (ohne NSDAP) NSDAP 59 Obwohl die Wahlergebnisse des Vorjahres noch etwas anderes auszusagen schienen befand sich die SPD außerhalb der Kreisstadt auch ohne das Vorhandensein einer politisch ins Gewicht fallenden NSDAP schon Ende 1929 in der politischen Defensive. Ein Teil der Bevölkerung des Kreises Bernburg war zu diesem Zeitpunkt schon wieder auf den Stand des Kaiserreichs zurückgeworfen worden, das eine freie politische Meinungsäußerung nicht zugelassen hatte. Der Güstener Holzhausfabrikant und StahlhelmOrtsgruppenführer Lohmüller ‚überzeugte‘ z. B. im Dezember 1929 die bei ihm beschäftigten Arbeiter von der Notwendigkeit des Besuchs einer Anti-Young-PlanVersammlung.127 Auch ein in der sozialdemokratischen Zeitschrift „Das Freie Wort“ veröffentlichter Bericht aus dem Nachbarkreis Köthen dürfte durchaus Gültigkeit für die Verhältnisse im Kreis Bernburg beanspruchen: „Landarbeiter im Joch! Die Einzeichnungen zum Volksbegehren [gegen den Young-Plan] auf dem Lande sind in viel größerem Umfang unter Zwang erfolgt, als selbst die Zahl der ungültigen Stimmen vermuten läßt. Auch hier in Mitteldeutschland war das Hauptwerbemittel für Hugenbergs Volksentscheid die Drohung mit der Entlassung. Und davor zittert der Landarbeiter; denn er hat meistens einen Schein unterschrieben, durch den er sich selbst aus der Arbeitslosenversicherung herausgebracht hat.“128 So findet sich denn auch unmittelbar vor dem Volksentscheid gegen den Young-Plan in der „Volkswacht“ folgender Aufruf: „Wen Terror zwingt, wer bestimmt damit zu rechnen hat, daß wirtschaftlich starke Elemente so gewissenlos sein werden, ihm unerträgliche wirtschaftliche Schädigung zuzufügen, falls er sich am 22. Dezember nicht an der Abstimmung über das ‚deutsche‘ Volksbegehren beteiligt, der macht den Stimmzettel ungültig! [...] Keine Stimme den Hugenbergern!“129 Die NSDAP konnte während des Jahres 1930 ihre Mitgliedschaft verdoppeln. Sind per Ende Dezember 1929 im Untersuchungsgebiet 87 registrierte Mitglieder nachweisbar – was in etwa wieder dem Mitgliederstand des Jahres 1925 entsprach – so waren es ein Jahr später bereits 192.130 Diese Steigerung vollzog sich relativ gleichmäßig. Zwar ist

127 Vgl. Vw 16.12.1929. Ergebnisse des Volksbegehrens: Anhalt gesamt 21 %, Stadt Bernburg 10 %, Landkreis Bernburg 20%. Vgl. Vw 23.12.1929. 128 Das Freie Wort. Sozialdemokratisches Diskussionsorgan, 2 (1930), Heft 2, S. 21 (Ernst Hampe, Edderitz). 129 Vw 16.12.1929. 130 Die Zahlen beziehen sich auf die Mitglieder, die in dem für die Zwecke der Untersuchung zusammengestellten NSDAP-Datensatz erfasst wurden (siehe auch die Beschreibung des Datensatzes im Teil B: 60 zum 1. September 1930 – also im unmittelbaren Reichstagswahlkampf – eine deutliche Häufung von Eintritten festzustellen, doch fielen dafür in den beiden Monaten davor und danach die Eintrittszahlen schwächer aus. Es trat also unter dem Eindruck der Zuspitzung im Reichstagswahlkampf niemand ein, der nicht auch sonst eingetreten wäre. 131 Der entscheidende Impuls der Radikalisierung ging von Bernburg aus. Waren unter den Mitgliedern Ende 1929 erst 49 % Bernburger (und ein weiteres Viertel Aderstedter), so kamen von den während des Jahres 1930 im Untersuchungsgebiet Eintretenden bereits 71 % aus der Kreisstadt. Gleichzeitig gewann die Partei aber auch immer mehr Positionen im ländlichen Raum; für elf weitere Orte sind Eintritte registriert. 1931 stieg die NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg weiter; es konnten im Untersuchungsgebiet 242 Personen mit Neu- bzw. Wiedereintritten nachgewiesen werden.132 Die Partei wuchs jetzt ins Territorium hinein: Waren 1930 noch 71 % der Eintritte in Bernburg erfolgt, so sind 1931 der Kreisstadt nur noch 44 % der Neueintritte zuzuschreiben. Der Rest verteilt sich auf die Kleinstädte und Dörfer des Landkreises, wo im Vorfeld der Kommunalwahlen im Herbst 1931 einige Ortsgruppen gegründet wurden. Zur schnellen Ausbreitung der NSDAP in der Kreisstadt Bernburg 1930/31 dürfte die kleinstädtische Siedlungsweise entscheidend beigetragen haben. Anders als in Großstädten wohnten die Aktivisten der politischen Lager eng beieinander, im Einzelfall sogar im selben Haus. Zwar war der Süden der Stadt – wie für 1931 anhand der Wohn-

Dokumentation). 28 bzw. 45 der o. a. Mitglieder waren während des Jahres 1930 im Untersuchungsgebiet noch nicht ortsansässig. Da aber angenommen werden muss, dass über die Bevölkerungsfluktuation dem Untersuchungsgebiet späterhin nicht mehr nachweisbare frühe Mitglieder in gleichem Maße verlorengegangen sind wurden die „Zugezogenen“ an dieser Stelle mit erfasst. Hinzuzurechnen sind außerdem jeweils ein ortsansässiges und ein später zugezogenes Mitglied, für die 1930 sowohl Eintritt als auch Austritt vermerkt sind. Als „Untersuchungsgebiet“ versteht sich der Kreis Bernburg in den Grenzen der Jahre 1946-1950, d. h. ohne Leopoldshall, Groß- und Kleinmühlingen, Unterwiederstedt. 131 Ein knappes Viertel aller Eintritte des Jahres 1930 wurde zum 01.09.1930 registriert. Nach der offiziösen Darstellung seitens der NSDAP soll der Mitgliederaufschwung 1930 vor allem erst nach den erfolgreichen Reichstagswahlen im September eingesetzt haben. Vgl. 800-Jahrfeier Bernburg. 11.-19.Juni 1938. Festschrift, Bernburg 1938, S. 79. Die Datenlage liefert keine Hinweise auf eine solche Sogwirkung des Wahlerfolges über den ‚normalen‘, auch keinesfalls unerheblichen, Zustrom hinaus. 132 Es handelt sich hier wiederum um die 1931 im Untersuchungsgebiet eingetretenen zuzüglich der später zugezogenen und 1945 noch im Untersuchungsgebiet ansässigen Personen. Eine Trennung beider Personengruppen ist aufgrund der Quellensituation und des Arbeitsaufwandes nicht mehr möglich. Zwischen 1931 und 1945 zu- und wieder wegziehende Personen wurden jedoch nicht einbezogen. In Einzelfällen wurden zeitgenössisch in der Presse benannte NSDAP-Gemeinderatskandidaten auf bürgerlichen Sammellisten trotz auf zum Teil deutlich späteren Eintritt lautender Vermerke in der NSDAPMitgliederkartei hier für 1931 als Mitglieder geführt. Vgl. die ausführliche Beschreibung des Datensatzes im Teil B: Dokumentation. 61 straßen der Stadtverordnetenkandidaten und der Zustimmungsunterschriften Leistenden festzustellen ist – deutlich stärker von Aktivisten der SPD und der KPD bewohnt und das Stadtzentrum sowie dessen westliche Erweiterung mehr ein Einflussgebiet der „bürgerlichen“ Parteien, doch eine Konstituierung politisch ‚reiner‘ Wohn- bzw. Quartiersmilieus erfolgte nicht. Selbst in den Gebieten, in denen die Dominanz eines Lagers am weitesten fortgeschritten war – für das „sozialistische“ Lager das von Grönaer und Hallescher Straße gebildete Dreieck südlich des Waisenhausplatzes, für das „nationale“ Lager das Karree Annenstraße-Kaiserstraße-Schloß-Saale – wohnten jeweils auch Aktivisten der Gegenseite. Eine eindeutige Konzentration auf bestimmte Quartiere ist von daher auch für die NSDAP nicht festzustellen. 62 4.2 Struktur der Mitgliedschaft und Platz der NSDAP im Parteiensystem Die Mitgliederzahl der NSDAP erscheint, gemessen an der größten Partei im Gebiet, der SPD, und auch gemessen an dem in der Reichstagswahl 1930 aktivierten Wählerpotential als sehr gering; auf ein SPD-Mitglied entfielen sechs Wähler, auf ein NSDAPMitglied 36.133 Insgesamt ist diese Mitglieder-Wähler-Relation jedoch typisch für eine radikale Partei in der Aufstiegsphase. Die NSDAP des Jahres 1930 kann als fast vollständig aus Aktivisten bestehend angesehen werden, während im Gegensatz dazu der größere Teil der SPD-Mitglieder als eher inaktiv einzuschätzen ist.134 Diese nationalsozialistischen Parteiaktivisten waren die Meinungsmultiplikatoren, mit deren Wirken sich in erster Linie der Wahlerfolg des 15. September 1930 verband. Eine Analyse dieser Personengruppe ermöglicht es, den „Explosionsherd“ resp. jene Schichten zu finden, von denen die Radikalisierung im „nationalen“ Lager 1930/31 ausging. In einer ersten Draufsicht weist sich die NSDAP-Mitgliedschaft jener Jahre (fast) durchgängig als männlich und protestantisch aus. Geschlecht und Konfession scheiden daher als Merkmale, mit denen die Mitgliedschaft gegenüber der Durchschnittsbevölkerung zu differenzieren wäre, aus. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei der NSDAP um eine radikale Partei im Aufstieg handelte, überrascht es nicht, sie im Kreis Bernburg als eine fast reine Männerpartei vorzufinden. Nur 4,6 % der Ende 1929 vorhandenen Mitglieder und 2,5 % bzw. 2,1 % der 1930 bzw. 1931 Eintretenden waren Frauen.135 Auch nicht überraschend ist – angesichts eines Protestantenanteils unter der Bevölkerung von etwa neun Zehnteln – das Fehlen von Hinweisen auf eine nennenswerte Mitgliedschaft von Katholiken.136

133 Auf ein KPD-Mitglied entfielen ca. 10-15 Wähler. 134 Vgl. Kupfer, Sozialdemokratie, S. 134-138 (Statistik der Versammlungsbeteiligung). 135 Trotz dieser homogenen Männlichkeit der Partei gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich die Frauen prinzipiell anders politisch orientiert hätten als die Männer in ihrem Umfeld. Schließlich waren sie als Töchter und Ehefrauen in die bestehenden Kommunikationszusammenhänge einbezogen. In vereinzelt nach Geschlechtern separiert ausgezählten Kommunal- und Kreistags-Wahlen in Anhalt 1921 zeigt sich sogar ein deutlich konservativeres Frauenwahlverhalten. Auch der NSDAP-Vorgänger Deutsch-Soziale Partei profitierte in der Kreistagswahl 1921 von einer leicht höheren Zustimmung der weiblichen Wähler. Vgl. Kupfer, Sozialdemokratie, S. 250. 136 Religionsstruktur des Kreises Bernburg 1910/25/33: 93/90/88 % Angehörige evangelischer Kirchen und Religionsgesellschaften, 6/6/5 % Angehörige der römisch-katholischen Kirche usw., 0,4/0,3/0,2 % Israeliten bzw. „Glaubensjuden“, 0,4/4/7 % Sonstige. Vgl. Mitteilungen des Herzoglich Anhaltischen Statistischen Bureaus Nr. 51, Dessau 1912, S. 5 f.; Die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung auf Grund der Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1925, Dessau 1926, S. 4 f. 63 Eine eindeutige Eingrenzung des „Explosionsherdes” 1930/31 gestattet hingegen die Analyse der Altersstruktur der Mitgliedschaft. Die altersmäßige Zusammensetzung stellt den Schlüssel zum Verständnis der NSDAP vor 1933 dar. Mit einem Durchschnittsalter von 32 Jahren unter allen Mitgliedern Ende 1929, von 30 Jahren unter den 1930 Eintretenden und von 33 Jahren unter den Eintretenden 1931 war die NSDAP relativ jugendlich und in dieser Jugendlichkeit – wie anderswo auch – nur mit der KPD zu vergleichen.137 Den beiden Geburtsjahrzehnten von 1893 bis 1912 entstammten von den 1929er Mitgliedern 75 %, von den 1930 bzw. 1931 Neueintretenden 81 % bzw. 69 %, wobei die größte Verdichtung der Mitgliedschaft unter den Geburtsjahrgängen von 1901 bis 1910 anzutreffen war. Diesen zehn Jahrgängen gehörten 53 % der Mitglieder Ende 1929, sowie 43 % bzw. 40 % der Neueintretenden 1930 bzw. 1931 an.138 Die Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912, aus denen die NSDAP ihren Mitgliederkern rekrutierte, umfassten 45 % aller männlichen Einwohner im Kreis (1933).139 Somit lieferte die Existenz dieser geburtenstarken Jahrgänge den „Sprengstoff“ für die „Explosion“ in den Jahren 1930/31. Es ist davon auszugehen, dass die innergenerationelle Kommunikation die Ausprägung der spezifischen Altersstruktur der NSDAP in diesen Jahren und ihre nachfolgende schnelle Ausbreitung innerhalb des „bürgerlichen“ Lagers zumindest begünstigt hat. Ihr kam noch vor der nationalsozialistischen Versammlungsaktivität die größere Bedeutung für den Aufstieg der NSDAP zu.140

(= Mitteilungen des Anhaltischen Statistischen Landesamtes Nr. 58); Die wichtigsten Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 in Anhalt, Dessau 1936, S. 75 (= Mitteilungen des Anhaltischen Statistischen Landesamtes Nr. 61). 137 Die NSDAP war somit wohl um einige Jahre „jünger“ als die SPD. Vgl. Kupfer, Sozialdemokratie, S. 242 f. Für alle anderen Parteien ist eine Aussage wegen fehlender Quellen nicht möglich. Die Kandidaten zur Stadtverordnetenwahl 1931 in Hecklingen waren auf Seiten der NSDAP durchschnittlich 37 Jahre alt, auf Seiten der SPD 43 Jahre (für einen NSDAP-Kandidaten konnte kein Geburtsjahr ermittelt werden). Vgl. Archiv der Verwaltungsgemeinschaft Bördeblick in Cochstedt, Stadt Hecklingen, Kasten 7/3. In dem über die längste NSDAP-Tradition im Landkreis verfügenden Aderstedt hingegen waren die SPDKandidaten mit 39 Jahren durchschnittlich sogar um ein Geringes jünger als die NSDAP-Kandidaten (40 Jahre). Vgl. Kreisarchiv Bernburg, Aderstedt, Kapitalismus, Nr. 13; NSDAP-Datensatz. 138 Vgl. auch das Diagramm „Anteil der Kernjahrgänge an den jährlichen Neueintritten in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944“ im Teil B: Dokumentation. Von einer Versammlung mit dem Gauleiter Loeper im Februar 1930 berichtet die „Volkswacht“, das Publikum hätte sich vor allem aus alten Frauen, wildgewordenen Spießern und unreifer Jugend zusammengesetzt. Sofern man von den „alten Frauen“ absieht bestätigt sich damit die statistisch ermittelte Mitgliederstruktur. Vgl. Vw 19.02.1930. 139 Berechnet nach: Die wichtigsten Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 in Anhalt, Dessau 1936, S.74. 140 Dem Verdacht, dass sich die NSDAP vor allem entlang der ehemaligen Schulklassen ausbreitete, konnte mangels erhaltener Klassenlisten nicht nachgegangen werden. 64 Im Vergleich der verschiedenen unter der Mitgliedschaft vertretenen Berufsgruppen zeigen sich weitere Verjüngungen auf der proletarischen Seite der Mitgliedschaft. Die geschlossene Jugendlichkeit der Mitglieder aus handwerklich ausgebildeten Facharbeitergruppen, denen zudem eine gewisse Exklusivität zu eigen war, wie Schlosser, Schmiede, Dreher, Tischler, Bildhauer, Elektriker, Kraftfahrer und Autoschlosser, überstieg die vorerwähnten Durchschnittswerte noch erheblich.141 Auf der „bürgerlichen“ Seite der Mitgliedschaft waren von dieser Auffälligkeit nur einzelne Berufsgruppen betroffen, so im Jahre 1930 die kaufmännischen Angestellten, Ingenieure und restlichen Angestellten (Laborant, Gutsbeamter, Landmesser, Betriebsleiter, Bauführer, Krankenwärter, Zahntechniker, Steiger) sowie Kleinfabrikanten und Ärzte. Relativ schwach in den Geburtsjahrgängen 1901 bis 1910 vertreten waren dagegen v. a. Landwirte und Gutsbesitzer, selbständige Handwerks- und Gewerbetreibende sowie Angestellte/Beamte des öffentlichen Dienstes, wobei hier zumindest für die ersten beiden Gruppen in Rechnung zu stellen ist, dass diese Berufe in der Regel nicht schon mit 19 Jahren (Geburtsjahrgang 1910) ausgeübt wurden. Unter den Eintretenden des Jahres 1931 zeigt sich über alle Arbeitergruppen hinweg (mit Ausnahme der Arbeiter im öffentlichen Dienst) eine noch stärkere Präsenz der proletarischen Mitglieder in den Geburtsjahrgängen 1893 bis 1912 und 1901 bis 1910.142 In gleichem Maße jugendlich waren auf der „bürgerlichen“ Seite in diesem Jahre lediglich die landwirtschaftlichen Angestellten. Die noch größere Jugendlichkeit der proletarischen Mitglieder ist im Zusammenhang mit den kürzeren Ausbildungszeiten zu sehen; Arbeiter wurden dadurch früher mit dem Arbeitsmarkt konfrontiert, früher wirtschaftlich selbständig und folgerichtig auch politisch eher mündig. Die Resonanz auf die NSDAP unter jungen Facharbeitern korrespondierte zudem zumindest zum Teil mit einem Rückgang des Einflusses der SPD unter diesen Personengruppen.143

141 Siehe die Tabelle „Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944“ und das Diagramm „Anteil der Geburtsjahrgänge 1901 bis 1910 unter den in die NSDAP im Untersuchungsgebiet eintretenden Personen nach Eintrittsjahrgängen und sozialer Zugehörigkeit“ im Teil B: Dokumentation. 142 Unter allen Eintretenden 1931, für die Beruf und Geburtsjahr ermittelt werden konnten, befanden sich 41 % Arbeiter. Unter den Geburtsjahrgängen 1893-1912 stellten sie jedoch 53 %, unter den Geburtsjahrgängen 1901-1910 sogar 55 % (Angestellte und Beamte insgesamt: 35 % / 29 % / 29 %). 143 Vgl. Kupfer, Sozialdemokratie, S. 192 f., 241-245. Es deutet sich auch ein Zusammenhang mit der Dominanz des „bürgerlichen“ Vereinswesens in der Stadt an. Summarisch erreichten per 01.12.1929 die „bürgerlichen“ Jugendpflege treibenden Vereine 2.605 Jugendliche, die „proletarischen“ lediglich 1.085 (= 2,4 : 1). Eine Aufstellung über die Sportvereine der Stadt vom Mai 1928 ermittelte für die Mitglieder von 14 bis 18 Jahren ein Verhältnis von 1,7 : 1 (607 : 352), für die Mitglieder über 18 Jahre eine Relation von 2,7 : 1 zugunsten der „Bürgerlichen“. Damit war das „bürgerliche“ Vereinswesen immens stärker als 65 Hinsichtlich des Berufsprofils der Mitgliedschaft hatte die NSDAP ihren Platz an der Grenzlinie der beiden relativ stark gegeneinander abgeschotteten politischen Lager, des „sozialistischen“/„proletarischen“ und des „nationalen“/„bürgerlichen“ Lagers. Doch – und das ist sehr bedeutsam – sie entstand zumindest in Bernburg auf der „nationalen“ Seite der Lagergrenze, eine andere Interpretation lassen das vorstehend dargestellte Wahlergebnis der Reichstagswahlen 1930 und auch die nachfolgend dargestellten Mitgliederverhältnisse der Bernburger Parteien nicht zu. Im Landkreis gelang es ihr unter der Vorbedingung nicht so scharf gezogener Lagergrenzen eher als in Bernburg, Wähler und eventuell auch Mitglieder aus dem „sozialistischen“ Lager zu gewinnen. Die Positionierung an der Lagergrenze erklärt denn auch zum Teil die hohe Wachstumsgeschwindigkeit schon vor 1933; sie konnte sich – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – in zwei Richtungen gleichzeitig ausbreiten. Im Regelfall lässt sich eine solche interpretative Einordnung der NSDAP in die Parteienlandschaft deshalb nicht belegen, weil es nicht gelingt, ausreichende Belege für die Zusammensetzung der restlichen Parteien zu erbringen. Das ist auch für Bernburg der Fall, doch ist es möglich, anhand der überlieferten Kandidatenlisten zur Stadtverordnetenwahl im Herbst 1931 und der Zustimmungsunterschriften zu den einzelnen Wahlvorschlägen leistenden Personen die beschriebene Quellenlücke zu füllen. Somit lässt sich der Kreis der jeweiligen Parteiaktivisten im Herbst 1931 hinreichend beschreiben. Unterstellt werden muss jedoch, dass sich die Verhältnisse in der Gesamtmitgliedschaft der Parteien im groben Rahmen jeweils so verhielten, wie unter den hier erfassten Parteiaktivisten und Unterstützern. Im Falle der NSDAP ist eine Überprüfung möglich, die nur geringe Abweichungen ergibt; für die anderen Parteien muss es bei der Annahme bleiben. Der Vergleich der Kandidatenlisten und Zustimmungsunterschriften in Bernburg 1931 präsentiert sich die NSDAP in einer Mittelstellung, wie sie schon anhand der Wahlergebnisse seit 1924 zu vermuten war. Sie stand nicht nur in einer summarischen Betrachtung, sondern auch im detaillierten Nachvollzug sozialstrukturell an der Grenzlinie der

es nach den Bevölkerungs- und politischen Verhältnissen zu vermuten wäre. Berechnet nach: Stadtarchiv Bernburg, 6/751; 6/628. Unter den proletarischen Mitgliedern der „bürgerlichen“ Vereine sind in überproportionalem Maße junge, hochqualifizierte Facharbeiter zu vermuten. Der Anteil der Jugendlichen an der Vereinsmitgliedschaft (ohne Kinder) betrug im sozialdemokratischen Arbeiter-Turnverein Vorwärts Bernburg Ende 1931 bzw. Ende 1932 lediglich 24 bzw. 19%. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, V/1A/57 (Arbeiter-Turnverein Vorwärts E. V. Bernburg. Mitteilungsblatt Nummer 1, 15. Januar 1933). 66 beiden überkommenen politischen Lager. Unter den acht zur Bernburger Stadtverordnetenwahl im Herbst 1931 aufgestellten Listen kann unter formalen sozialstatistischen Kriterien – aber eben nur nach diesen ! – lediglich die „Katholische Gemeinde“ (d. h. die Zentrumspartei) den Charakter einer allumfassenden „Volkspartei“ für sich beanspruchen. Die innere Strukturierung ihrer Aktivisten bildete die Relation der Bevölkerungs-Großgruppen fast spiegelbildlich ab. Das erstaunt insofern nur wenig, als soziale Statuszuweisungen für das Bekenntnis zu dieser anderswo ein eigenes politisches Lager bildenden Partei nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben dürften. Die Anordnung der übrigen sieben Parteien nach dem durchschnittlichen sozialen Status der auf ihren Listen vertretenen Kandidaten sowie der für diese Listen Zustimmungsunterschriften leistenden Personen zeigt in aufsteigender Linie von „niedrigem“ bis „hohem“ Sozialstatus zwei Arbeiterparteien (KPD und SPD)144, drei Parteien des neuen Mittelstandes (NSDAP, „Bürgerliste“ – d. h. DVP – und Deutsche Staatspartei), eine Partei des alten Mittelstandes ( „Mittelstandsvereinigung“ – d. h. Wirtschaftspartei) und eine Partei, die von altem Mittelstand und Oberschicht geprägt wurde („Nationale Liste“ – d. h. DNVP).145

144 Die die Listen durchnummerierende amtliche Kandidatenaufstellung kennt keine Liste Nr. 2. Da für die SPD die Nr. 1 und für die KPD die Nr. 3 vergeben wurde drängt sich der Verdacht auf, dass es eine in letzter Minute zurückgezogene Liste der Sozialistischen Arbeiterpartei unter der Nr. 2 gegeben haben könnte. 145 Siehe die Tabelle „Soziale Zusammensetzung der Kandidaten und Zustimmungsunterschriften Leistenden zur Stadtverordnetenwahl in Bernburg Herbst 1931“ und das Diagramm „Stadtverordnetenwahl in Bernburg 1931: Die Stellung der NSDAP zwischen den traditionellen politischen Lagern“. Quellen der Untersuchung (Diagramm und Tabelle): Vw 17.10.1931; Stadtarchiv Bernburg., 6/1275. Konkretisierende Angaben wurden den Adressbüchern entnommen. 67 Soziale Zusammensetzung der Kandidaten und Zustimmungsunterschriften Leistenden zur Stadtverordnetenwahl

in Bernburg 1931 (in %)146

KPD Deutsche Staatspartei SPD DNVP [Nationale Liste] NSDAP147 DVP [Bürgerliste] Wirtschaftspartei [Mittelstandsvereinig.] Zentrumspartei [Katholische Gemeinde] Bevölkerungsanteil 1933 (ml. Erwerbstätige und Erwerbslose)148 1-9: Arbeiter gesamt 98 86 37 2 10 21 15 64 64 1 Landarbeiter 6 0 0 0 0 3 2 2 2 ungelernte Arbeiter 55 33 13 0 0 6 0 19 3 Hausangestellte 0 0 0 0 0 6 0 0 4-9 Facharbeiter und Angelernte gesamt 37 52 24 2 10 6 12 43 4 Metallfacharbeiter und -angelernte 16 26 9 0 6 3 5 15 5 Bau- und Holzfacharbeiter und -angelernte 10 10 1 0 0 0 0 8 6 Facharbeiter und Angelernte des polygraphischen Gewerbes 0 1 0 0 0 3 0 0 7 Bergleute 0 4 1 0 0 0 2 0 8 andere Facharbeiter 12 11 11 2 0 0 2 17 9 Arbeiter im öffentlichen Dienst 0 1 1 0 3 0 2 4 146 Quellen der Berechnung: Vw 17.10.1931; Stadtarchiv Bernburg, 6/1275; NSDAP-Datensatz. Es fanden nur Personen Berücksichtigung, für die eine relevante Berufsangabe ermittelt werden konnte. 147 Zur Berufsstruktur aller Bernburger NSDAP-Mitglieder Ende 1931 bestehen nur geringe Abweichungen. 148 Berechnet nach: Die wichtigsten Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 in Anhalt, Dessau 1936, S. 80-92. Die mithelfenden Familienangehörigen unter den Bernburger Erwerbstätigen wurden zu vier Fünfteln den Beamten und Angestellten und zu einem Fünftel den Arbeitern zugeschlagen. Berufslose Selbständige (in der Hauptsache Rentner und Pensionäre) nicht in die Berechnung einbezogen, Schüler und Studenten galten nicht als Erwerbstätige, Beamte und Angestellte in leitender Stellung verzeichnete die Volkszählung als Selbständige. 68 KPD Deutsche Staatspartei SPD DNVP [Nationale Liste] NSDAP Wirtschaftspartei [Mittelstandsvereinig.] DVP [Bürgerliste] Zentrumspartei [Katholische Gemeinde] Bevölkerungsanteil 1933 (ml. Erwerbstätige und Erwerbslose) 10-15 Angestellte gesamt 2 13 50 71 68 21 17 25 23 10 kaufmännische Angestellte und Handlungsgehilfen 2 1 30 38 13 3 10 8 11 Lehrer 0 0 0 2 39 6 0 2 12 Angestellte und Beamte öffentlicher Dienst (außer Lehrer) 0 4 5 29 13 3 7 6 13 landwirtschaftliche Angestellte 0 0 0 0 0 0 0 0 14 Werkmeister 0 0 0 2 3 3 0 4 15 andere Angestellte 0 8 14 0 0 6 0 6 16-19 Selbständige gesamt 0 1 13 26 23 55 68 11 13 16 Handwerk und Gewerbe 0 0 12 17 16 39 66 8 17 Fabrikbesitzer und Direktoren 0 0 0 7 3 6 2 2 18 Landwirte und Gutsbesitzer 0 0 0 0 0 0 0 0 19 freie Berufe 0 1 1 2 3 9 0 2 20 Schüler und Studenten 0 0 0 0 0 3 0 0 Summe 1-20 100 100 100 100 100 100 100 100 100 absolut 51 84 76 42 31 33 41 53 --- 69 Stadtverordnetenwahl in Bernburg 1931: Die Stellung der NSDAP zwischen den traditionellen politischen Lagern 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Arbeiter (Summe 1-9) Angestellte und Beamte (Summe 10-15) Eigentümer und freie Berufe (Summe 16-19) % sozialistisches Lager NSDAP nationales Lager (ohne Zentrum) Die NSDAP bildete in Bernburg 1931 den „Brückenkopf“ des „bürgerlichen“ Lagers direkt gegenüber der SPD und half somit, die Lagergrenze weiter in das bisherige ‚Territorium‘ des Feindes hinein zu verschieben. Ihre Schnittstellenfunktion zwischen SPD und DVP dokumentiert sich an den Arbeiter- und Angestelltenanteilen auf den jeweiligen Listen. Hatte die SPD 86 % Arbeiter aufzuweisen, so waren es bei der NSDAP 37 % und bei der DVP 2%. Anders im Sektor der Angestellten und Beamten: 13 % bei der SPD, 50 % bei der NSDAP und 71 % bei der DVP. Hinzuweisen ist außerdem darauf, dass bei der NSDAP sich die Relation von Facharbeitern/Angelernten zu Ungelernten sich noch etwas günstiger als bei der SPD gestaltete und die NSDAP tendenziell ihre Arbeiter-Aktivisten stärker aus anderen Facharbeitergruppen bezog als die SPD, insbe- 70 sondere aus solchen nichtindustrieller Ausrichtung.149 Angesichts der ins Höchstmaß gesteigerten Feindschaft nach links kann von einer Erosion der bestehenden Lagergrenze trotz der sozialstrukturellen Schnittstellenfunktion der NSDAP zwischen SPD und DVP nicht die Rede sein. Sozialstrukturell am ähnlichsten war der NSDAP zudem die „Bürgerliste“, d.h. die DVP. Das dokumentiert sich nicht nur in einer Angestellten- und Beamten-Mehrheit, die es im übrigen auch noch bei der Deutschen Staatspartei gab, sondern in erster Linie darin, dass bei beiden Parteien die kaufmännischen Angestellten die numerisch dominierende Gruppe bildeten.150 Auch die Deutsche Staatspartei hatte noch gewisse sozialstrukturelle Ähnlichkeiten zur NSDAP aufzuweisen. Beide „liberale“ Parteien wurden zudem in starkem Maße auch von sozialen Gruppen getragen, die zu diesem Zeitpunkt unter den hier erfassten Aktivisten der NSDAP noch relativ schwach vertreten waren (Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes bei der DVP, Lehrer bei der Staatspartei), andererseits aber in bedeutendem Maße für die Eintrittswelle in den Jahren 1932/33 verantwortlich zeichnen sollten.151 Offensichtlich hat die NSDAP vor allem im Generationenübergang das Erbe der liberalen Parteien übernommen und mehrheitlich Personen an sich angezogen, die selbst oder deren Eltern unmittelbar nach der Novemberrevolution Parteigänger der Deutschen Demokratischen Partei und später der Deutschen Volkspartei waren. Die massive Option für die NSDAP anfangs der 30er Jahre erscheint so in erster Linie als Umorientierung des in seiner Mehrheit über keine traditionelle Loyalitätsbindung an eine Partei verfügenden „neuen Mittelstandes“, also hauptsächlich der Angestellten und Beamten.152 In diese Umorientierung waren augenscheinlich auch Personen sozial benachbarter Schichten durch

149 Siehe Kategorie 8 „andere Facharbeiter und Angelernte“ in der Tabelle „Soziale Zusammensetzung der Kandidaten und Zustimmungsunterschriften Leistenden zur Stadtverordnetenwahl in Bernburg Herbst 1931“. 150 Auch in der Landeshauptstadt Dessau bestand die größte sozialstrukturelle Ähnlichkeit zwischen NSDAP und DVP. Vgl. Torsten Kupfer, Umfeldbedingungen des Aufstiegs der anhaltischen NSDAP zur Regierungspartei (1918-1932), in: Werner Freitag u.a. (Hg.), Politische, soziale und kulturelle Konflikte in der Geschichte von Sachsen-Anhalt. Beiträge des landesgeschichtlichen Kolloquiums am 4./5. September 1998 in Vockerode, Halle (Saale) 1999, S. 175-194, hier S. 191-193. 151 Zwischen der hier vorgestellten Sozialstruktur der NSDAP-Kandidaten sowie Zustimmungsunterschriften für die NSDAP-Liste leistenden Personen im Herbst 1931 und der für Ende 1931 ermittelten Sozialstruktur der Bernburger NSDAP insgesamt bestanden nur geringe Differenzen. 152 Beispiel für den relativ direkten Übergang von der DVP zur NSDAP: der mit dem Eintrittsdatum 01.05.1932 vermerkte selbständige Kaufmann, spätere Ortsgruppenleiter und ehrenamtliche Stadtrat Oskar Zieseke (geb. 1894). Zieseke gehörte seit 1921 dem Kyffhäuserbund und dem Stahlhelm (diesem bis 1926) und um 1931 der Deutschen Volkspartei an. Vgl. Bundesarchiv Berlin, Zwischenarchiv DahlwitzHoppegarten, ZB II, 1193, A.18. 71 Kommunikationszusammenhänge wie Arbeitsplatz, Verwandtschaft, früheren gemeinsamen Schulbesuch und gemeinsame Freizeitaktivitäten eingebunden, die subjektiv ihre soziale Lage als gleichartig einschätzten. Die NSDAP begann ihren Siegeszug unter den zahlenmäßig den größeren Teil des „nationalen“ Lagers stellenden unteren Angestellten und Beamten. Ihre Besonderheit lag jedoch darin, dass sie in schneller Folge bis 1933 alle Sozialschichten, die mehrheitlich dem „nationalen“ politischen Lager zuzurechnen waren, dominieren konnte, während die Arbeiterschaft und die Katholiken nur an der Peripherie erfasst wurden. Es handelt sich bei der für Bernburg 1931 festgestellten Zwischenstellung der NSDAP an der politischen Lagergrenze um keinen Zufallsbefund; sondern um den auch in weiteren Orten des Untersuchungsgebietes festzustellenden Normalzustand. So finden sich in Aderstedt vor den Toren Bernburgs bei der gleichen Gemeinderatswahl 1931 analoge Verhältnisse. Der Arbeiteranteil unter den Kandidaten lag bei 100 % im „sozialistischen“ Lager, 40 % bei der NSDAP und 14 % im restlichen „nationalen“ Lager.153 Auch unter den Güstener Gemeinderatskandidaten waren gleiche Relationen vorzufinden: 86 % Arbeiter im „sozialistischen“ Lager, 25 % bei der NSDAP, 16 % auf den Listen des „nationalen“ Lagers. In Güsten hatte die NSDAP außerdem mit 63 % den höchsten Angestelltenanteil aller Listen aufzuweisen.154 Einzig die Stadtverordnetenkandidaten und Zustimmungsunterschriften Leistenden in Hecklingen folgen nicht diesem Muster. Zwar bestätigt sich in der Kategorie der Selbständigen auch hier die Zwischenstellung der NSDAP; im „sozialistischen“ Lager gab es einen Selbständigenanteil von 3 %, in der NSDAP von 23 % und im restlichen „nationalen“ Lager von 45 %, doch ordnete sich die NSDAP, was den Arbeiter- und den Angestelltenanteil angeht, zwischen KPD und SPD ein. Allerdings bezog die NSDAP ihre Arbeitermitglieder vor allem aus den Reihen der Landarbeiter und der handwerklichen Facharbeiter, während SPD und KPD ihren eindeutigen Schwerpunkt bei ungelernten Arbeitern und Metallfacharbeitern hatten, so dass sich hier eine Entgegensetzung von im Orte beschäftigten Arbeitern (NSDAP) und in das nahe Staßfurt-Leopoldshall auspendelnden Arbeitern und Angestellten (SPD und KPD) andeutet.155 Die Verhältnisse in den kleine-

153 Vgl. Kreisarchiv Bernburg, Aderstedt, Kapitalismus, Nr. 13; AK 06.10.1931, 13.10.1931 (Benennung der NSDAP-Kandidaten auf der Bürgerlichen Einheitsliste). 154 Vgl. Anhaltische Bürger-Zeitung (Güstener Zeitung) 12.10.1931 (amtliche Anzeige). 155 Vgl. Archiv der Verwaltungsgemeinschaft Bördeblick in Cochstedt, Stadt Hecklingen, Kasten 7/3. Arbeiteranteil: KPD 100 %, SPD 66 %, NSDAP 70 %, Bürgerliche Arbeitsgemeinschaft 39 %; Angestelltenanteil: KPD 0, SPD 29 %, NSDAP 7 %, Bürgerliche Arbeitsgemeinschaft 15%. 72 ren Orten des Landkreises sind durch die geringere Ausprägung von Partei- und Milieustrukturen und die Praxis der Aufstellung von „bürgerlichen“ Einheitslisten nicht in einer solchen Eindeutigkeit aufzuklären wie hier für Bernburg, Aderstedt, Güsten und Hecklingen geschehen. Insgesamt konnte die NSDAP im Herbst 1931 erst in neun von 34 Wahlorten des Kreises Bernburg eigenständige Kandidatenlisten präsentieren. Die relative Schwäche der NSDAP außerhalb der Kreisstadt erklärt sich einerseits aus einer allgemein geringeren Organisationsneigung ländlicher Bevölkerung, andererseits aber augenscheinlich auch aus der geringeren Präsenz spezifischer – zumeist städtisch angesiedelter – Trägerschichten der Partei. Für Sandersleben z. B. ist überliefert, dass die NSDAP-Ortsgruppe erst wenige Tage vor der Wahl im Oktober 1931 gebildet worden war und sich aufgrund ihrer personellen Schwäche nicht in der Lage sah, eine eigene Liste aufzustellen.156 Die Sozialstruktur der NSDAP im gesamten Untersuchungsgebiet deckt sich im wesentlichen mit den für die Bernburger Stadtverordnetenwahlen 1931 vorgestellten Angaben für die Parteiaktivisten. Ende 1929 betrug der Anteil der Angestellten und Beamten an der Parteimitgliedschaft insgesamt 48 %, sank dann jedoch unter den Neueintritten 1930 und 1931 auf 41 % bzw. 36%. Der Arbeiteranteil hingegen stieg von 40 % unter allen Mitgliedern Ende 1929 auf 46 % unter den Neueintritten 1930, um dann wieder auf 40 % unter den Neueintritten 1931 abzufallen. Die restlichen Mitglieder verteilen sich auf Selbständige aller Art, v. a. Handwerksmeister, Kleinfabrikanten und selbständige Kaufleute, sowie Schüler und Studenten. Auch für den im Zeitraum 1929 bis 1931 vorliegenden Höchststand proletarischer Einfärbung der Partei ist somit eine „bürgerliche“ Parteimehrheit zu konstatieren. Bei näherer Untersuchung erweist es sich, dass die willkürliche Grenzziehung zwischen den (versicherungsrechtlich definierten) Großgruppen Arbeiter und Angestellte/Beamte eher geeignet ist, den Blick für die Gemeinsamkeiten der NSDAP-Mitgliedschaft zu verstellen. Immerhin stellten in der Summe Facharbeiter und Angestellte/Beamte jeweils genau zwei Drittel der 1930 und 1931 Eintretenden, unter den Ende 1929 vorhandenen Mitgliedern waren es sogar drei Viertel. Auf der proletarischen Seite hat es den Anschein, als wenn es in erster Linie Arbeiter mit handwerklicher Ausbildung aus Klein- und Mittelbetrieben, also „untypische“ Arbeiter waren, die der NSDAP angehör-

156 Vgl. Sanderslebener Zeitung 10., 13., 20., 24.10.1931. 73 ten. Oftmals kam ihnen auch eine gewisse Exklusivität zu (Elektriker, Autoschlosser, Kraftfahrer). Bei einigen besteht zudem der Verdacht bzw. ist nachgewiesen, dass sie späterhin selbständige Handwerksbetriebe führten. Weiterhin sind bestimmte Facharbeiter-Berufsgruppen nur sehr gering vertreten (Bergleute, Maurer) oder fehlen ganz (Druckereiberufe, Facharbeiter und Angelernte der Produktionsbereiche in der Chemischen Industrie). Zwei der insgesamt elf Schlosser des Jahres 1930 sind späterhin als Lokführer bzw. Reservelokführer registriert. Auch bei den als Landarbeiter in der Statistik aufgeführten Mitgliedern handelt es sich in der Regel nicht um einfache Landarbeiter, sondern mehrheitlich um solche etwas herausgehobener Funktionen (Geschirrführer, Gärtner, Bereiter, Schafmeister) oder um „landwirtschaftliche Gehilfen“, d. h. in der Familienwirtschaft beschäftigte Söhne von Landwirten. Die erstellte Statistik berücksichtigt zudem nur den momentanen beruflichen Status, nicht aber den beruflichen Entwicklungsgang. Insbesondere auf der proletarischen Seite der Mitgliedschaft gab es jedoch einige Mitglieder mit deutlich ausgeprägten wechselhaften Erwerbsbiographien. Beispielhaft dafür soll Otto Tauchmann aus Bernburg, geboren 1893, stehen. Tauchmann trat der nationalsozialistischen Bewegung spätestens 1924 bei und war Kandidat des Völkisch-Sozialen Freiheitsblocks in der Landtagswahl vom Juni 1924. Zu dieser Zeit gab er an, Arbeiter zu sein. 1925 zählte er zur Oppositionsgruppe des Dr. Tesch. Da diese Gruppe nicht anerkannt wurde bedurfte es eines erneuten (erfolgreichen) Eintrittsversuchs im August 1926. Die Mitgliederkartei vermerkte ihn anlässlich dieses Eintritts als „Boten“. Nach einem Austritt im April 1929 erfolgte ein Wiedereintritt zum Jahresbeginn 1930 und bald darauf ein Ausschluss zum 1.6.1930. In dieser Zeit und in den nächsten Jahren firmierte er als „Handelsmann“. Bei seinem Wiedereintritt 1940 schließlich gab er als Beruf „Helfer“ an. Die sich in den Parteiein- und -austritten Tauchmanns dokumentierende Diskontinuierlichkeit in der Zugehörigkeit zur Partei war durchaus ein allgemeines Kennzeichen der Jahre vor 1933. Von den 118 für das Jahr 1930 nachgewiesenen neueingetretenen Mitgliedern konnten für 18 vorherige Mitgliedschaften und für 34 ein späterer Austritt, Ausschluss bzw. eine Streichung sowie für 25 von den letzteren ein noch späterer Wiedereintritt nachgewiesen werden.157

157 Die Angaben beziehen sich auf die 1930 im Untersuchungsgebiet wohnenden und die später zugezogenen und bei Kriegsende 1945 noch dort wohnenden Mitglieder. Der Hauptgrund für spätere Unterbrechungen der Mitgliedschaft lag in unkontinuierlicher Beitragszahlung, über deren Motivation nur in Einzelfällen Klärung geschaffen werden kann. 74 4.3 Eintrittsmotivationen Angesichts der über lange Zeit geringen gesellschaftlichen Akzeptanz der NSDAP auch in „bürgerlichen“ Kreisen stellt sich die Frage, was den Massenzulauf in sehr kurzen Zeiträumen auslöste. Eine monokausale Antwort darauf gibt es nicht, vielmehr scheint nicht nur ein Weg zur NSDAP geführt zu haben. Eintritte während der Reorganisationsperiode von 1929 bis einschließlich 1931 waren vorwiegend ideologisch fundiert, wobei die Empfänglichkeit für nationalsozialistische Ideologie mit einer bestimmten Lebenslage stark zunahm. Als Elemente dieser Lebenslage schälen sich heraus: ein Geburtsjahrgang in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende, eine Herkunftsfamilie ohne Affinität zur sozialdemokratischen oder kommunistischen Arbeiterbewegung, ein Mittelschul- oder Realgymnasiumsbesuch, ein kleinstädtisches Lebensumfeld, eine berufliche Tätigkeit als unterer bis mittlerer Angestellter oder handwerklich-nichtindustrieller Facharbeiter vorwiegend in Klein- oder Mittelbetrieben und ein Jahreseinkommen vor der Weltwirtschaftskrise zwischen 1.200 und 1.500 Mark.158 Jenseits dieser objektivierbaren Faktoren der Lebenslage sind für eine frühe Affinität zur NSDAP auch Faktoren der Persönlichkeitsstruktur und der Biographie verantwortlich. Hierunter fallen eine bereits länger andauernde Organisierung im völkischen Umfeld oder in der „bürgerlichen” Jugendbewegung, eine eventuelle Beteiligung an Freikorps-Aktionen in der Nachkriegskrise, eine durch ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis geprägte Persönlichkeit, eine deutliche Aufstiegsorientierung bei gleichzeitiger Wahrscheinlichkeit des dauerhaften gesellschaftlichen Abstiegs gegenüber der Vätergeneration, die Erfahrung von gravierenden Zurücksetzungen im bisherigen biographischen Verlauf und – vor allen anderen Faktoren am bedeutsamsten – eine auch jenseits von eventuell bestehender eigener Arbeitslosigkeit subjektiv wahrgenommene akute soziale Unsicherheit infolge der einsetzenden Weltwirtschaftskrise.159 Keiner der

158 42 % der Lohnsteuerpflichtigen in der Stadt Bernburg hatten ein versteuerbares Jahreseinkommen von weniger als von 1.200 M und blieben unbesteuert, 32 % bildeten mit einem Einkommen von 1.200- 1.500 M die unterste Gruppe der überhaupt Steuern zahlenden Personen. Vgl. Vw 20.01.1930. Als dortige Quelle wurde das Statistische Reichsamt ohne Jahresangabe benannt. Es ist kaum anzunehmen, dass Anfang 1930 schon die Statistik für 1929 fertiggestellt war, so dass es sich hier wohl um das letzte krisenfreie Jahr – 1928 – handeln wird. 159 Auch im Kreis Bernburg bestätigt sich der Befund, dass die NSDAP 1930 den Wandel von einer völkischen Sektiererpartei zu einer Partei der wirtschaftlich Verzweifelten vollzog. Vgl. David Schoenbaum, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln 1980, S. 73. 75 Nationalsozialisten der Jahre 1930/31 wird alle diese Merkmale auf sich vereinigt haben. Doch je mehr von ihnen auf eine Person zutrafen, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit einer NSDAP-Mitgliedschaft anzusetzen. Im übrigen gelten, bezogen auf eine bloße Anhängerschaft zum Nationalsozialismus, diese Merkmale analog auch für die von einer Mitgliedschaft noch weitestgehend ferngehaltenen Frauen. Die beschriebene, für eine NSDAP-Mitgliedschaft prädestinierende Lebenslage war vor allem bei Angestellten und Beamten anzutreffen. Die Angestelltenschaft war die einzige Beschäftigtengruppe in Deutschland, die im Gefolge weiter fortschreitender betrieblicher Arbeitsteilung noch einen erheblichen reellen Zuwachs verbuchen konnte, insgesamt hatte sich ihre absolute Zahl in Deutschland in weniger als einer Generation mehr als verdoppelt.160 Gleichzeitig büßte der Angestelltenberuf dadurch, dass er zum Massenberuf geworden war, seine Exklusivität ein. Diametral entgegengesetzt dazu standen die Aufstiegserwartungen der größtenteils jungen Angehörigen dieser Berufsgruppe. Die Aufstiegsfixierung dieser Klientel wird anhand der Kandidatenlisten und Zustimmungsunterschriften der NSDAP und ihrer Vorläufer zu den Stadtverordnetenwahlen in Bernburg sinnfällig. Bei der Überprüfung der dortigen Berufsangaben mit Hilfe des Adressbuches stellen sich einige Personen, die in den Listen sich selbst als „Angestellte“ bezeichneten, im Adressbuch als schlichte Handlungsgehilfen heraus. Auch unter den „Kaufleuten“ war nur der geringere Teil tatsächlich selbständige Händler. Ein auf der Kreisseite der „Volkswacht“ im Mai 1932 erschienener Artikel zeigte sich erstaunlich gut über die Motive des NSDAP-Mitgliederkerns orientiert: „Die jungen Nationalsozialisten sind die aktivsten und fanatischsten Anbeter des Hakenkreuzes. Sie sind aber auch der radikalste und am schwersten zu befriedigende Trupp im Gefolge Adolf Hitlers. Diese jungen Menschen aus zumeist wohlbehüteten Familien, die nun nicht als Kaufmann oder Bankangestellter, nicht als Techniker oder Landwirt, nicht als Beamte oder Lehrer eine Existenz finden können, wurden in ihrer Erregtheit darüber und in ihrer politischen Unerzogenheit (Schule und Eltern haben hier völlig versagt) die leichte Beute politischer Abenteurer. Die Naziapostel haben dieser Jugend alles und jedes Erdenkliche verheißen: je weniger konkret die Versprechungen waren, desto stärker ist die stimmungsmäßige Zuneigung. Diese Jugend will nicht wissen, wie

160 Die Angestelltenschaft im Deutschen Reich insgesamt wuchs von 1907 bis 1925 um 133 %, die Arbeiterschaft um 24 %, die Gesamtbevölkerung um 14 %. Vgl. Hans Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Sozialstruktur 1918-1933, Frankfurt am Main 1989, S. 198. 76 wir aus unserer Not herauskommen, sie will glauben, nur glauben [! – T.K.] an ein schöneres Reich.”161 Der Angestellte wünschte sich deutlich vom Arbeiter abzuheben; die Forderung der Angestelltenverbände in der Weimarer Republik lautete einhellig dahin, den Angestellten einen „standesgemäßen“ Lebenswandel zu ermöglichen. In der Realität aber war das in den wenigsten Fällen gewährleistet. Der Angestellte mochte zwar mehr scheinen wollen als der Arbeiter, tatsächlich war er ihm aber materiell mehr oder weniger gleichgestellt, er war, was seine Einkommenssituation anging, letztlich ein Prolet mit weißem Kragen. Eine für Bernburg 1920 zusammengestellte Einkommensübersicht zeigt, dass lediglich die höchste Kategorie der gewerblichen Angestelltenentlohnung keine proletarische Entsprechung mehr kannte. Insbesondere die hochqualifizierte Metallarbeiterschaft, aber auch die meistenteils lediglich angelernten und zuvor andere Berufe ausübenden Fabrikarbeiter der chemischen Industrie ließen in ihren Einkünften große Teile der Angestelltenschaft weit hinter sich. Zudem zeigt die Statistik hohe Unterschiede zwischen den verschiedenen Angestelltenkategorien. Während den „technischen Angestellten“ und mit Abstrichen auch der Kategorie der „Betriebsbeamten, Werkmeister und ähnlichen Angestellten“ von der Einkommensseite her tatsächlich eine gewisse Exklusivität zukam, konnten andererseits schon 1920 „kaufmännische Angestellte“ mehrheitlich und „Büroangestellte“ sogar fast ausschließlich lediglich Facharbeiterlöhne der Metallindustrie für sich beanspruchen.162

161 Vw 20.05.1932. Hervorhebung T. K. Der Artikel ist hinsichtlich seiner Urheberschaft nicht eindeutig zuzuordnen; er erschien ohne Verfasserangabe, so dass keine Aussage darüber möglich ist, ob er auf lokalen Beobachtungen (des Redakteurs Budnarowski?) beruhte oder im Zuge des üblichen Artikelaustausches in die „Volkswacht“ gelangte. 162 Vgl. Tabelle „Einkommen von Angestellten und Arbeitern in der gewerblichen Wirtschaft Bernburgs 1920“. Quellen aus späteren Jahren als 1920 konnten nicht ermittelt werden, es besteht aber kein Grund zur Annahme, dass sich wesentliches an den dargestellten Relationen geändert haben könnte. Die Einkommensverhältnisse von Angestellten aus anderen Bereichen, vor allem aus dem hier nicht erfassten Handel, müssen teilweise als noch niedriger liegend angenommen werden. 77 Einkommen von Angestellten und Arbeitern in der gewerblichen Wirtschaft Bernburgs 1920 (nur männliche Beschäftigte)163 Monatsein- Angestellte in % kommen Gesamt kaufmännische Ang. technische Angestellte Betriebsbeamte, Werkmeister und ähnliche A. Büroangestellte innerhalb der betreffenden Einkommensstufe liegende durchschnittliche Arbeiterlöhne bis 200 M 1 3 0 0 0 Eisen und Metall: Lagerarbeiter (jung) 201 bis 250 M 1 0 3 1 0 Eisen und Metall: Hilfsarbeiter, Kern macher, Gießer, Handarbeiter für Metall (alle jung), Transportarbeiter 251 bis 300 M 1 2 0 0 0 301 bis 400 M 4 6 0 4 5 Baugewerbe: Bauhilfsarbeiter (jung); Eisen und Metall: Schlosser, Dreher, Schmied (alle jung), Schweißer, Hilfsarbeiter, Maschinenarbeiter für Holz, Handarbeiter, Dreher; Holzgewerbe: Hilfsarbeiter 401 bis 500 M 11 16 5 6 14 Eisen und Metall: Lagerarbeiter, Maler, Former für Eisen u. Stahl (jung), Schlosser (jung, Stücklohn), Gießer, Fräser, Schmiede, Hobler; Chemie: Handwerker (jung); Nahrungs- und Genußmittelindustrie - Müllereien: Speichereiarbeiter, Lagerarbeiter, Kutscher 501 bis 600 M 13 11 5 12 62 Eisen und Metall: Kernmacher, Mechaniker, Schmelzer, Maschinenwärter, Gußputzer (auch im Stücklohn), Schlosser (auch im Stücklohn), Bohrer (auch im Stücklohn), Handarbeiter für Holz, Handarbeiter im Stücklohn, Werkzeugmacher, Tischler, Former für Rot- und Gelbguß, Tischler, Schleifer (alle im Stücklohn); Chemie: Fabrikarbeiter (auch im Stücklohn) 601 bis 750 M 26 29 15 27 14 Holzgewerbe: Maschinenarbeiter; Eisen und Metall: Monteure, Klempner (beide auch im Stücklohn), Dreher, Handarbeiter für Holz, Kernmacher, Former für Rot- und Gelbguß, Tischler, Schleifer (alle im Stücklohn); Chemie: Fabrikarbeiter (auch im Stücklohn) 751 bis 1.000 M 31 24 47 36 5 Baugewerbe: Poliere; Holzgewerbe: Tischler, Polierer (beide im Stücklohn); Chemie: Handwerker im Stücklohn über 1.000 M 12 8 26 14 0 163 Berechnet nach: StDR 293. Die Quelle enthält auch Angaben für weitere Orte des Kreises Bernburg. Für die Stadt Bernburg deutet sich weiterhin eine materielle Besserstellung der Angestellten der chemischen Industrie gegenüber denen der Metallindustrie an. 78 Die Chance des Angestellten auf eine „standesgemäße“ Abhebung von der Arbeiterschaft lag nur im allmählichen Aufstieg im Betrieb und in der in den Tarifverträgen festgelegten steigenden Vergütung mit zunehmendem Lebensalter. Beides wurde aber schon vor der Weltwirtschaftskrise immer unwahrscheinlicher. Zum einen gab es in der Industrie wie auch im Handel immer weniger Aufstiegspositionen, zum anderen begannen die Betriebe, Angestelltenpositionen wegzurationalisieren und nur noch befristete Einstellungen vorzunehmen. Schon vor dem „Schwarzen Freitag“ 1929 bestand eine starke Angestelltenarbeitslosigkeit, die dann sprunghaft zunahm. Die Folge war, dass eine ganze junge Angestelltengeneration potentiell zu verelenden drohte und – sehr wichtig – aus Geldmangel einfach keine Familie gründen konnte. Hans Fallada hat die Lebensumstände dieses unteren Angestelltenmilieus in seinem 1932 erschienenen Roman „Kleiner Mann – was nun?“ eindringlich geschildert. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, vor der Vereinzelung und dem Ausgeliefertsein an ein Schicksal, das kaum zu beeinflussen schien, führte große Teile der Angestelltenschaft – und von ihnen ausstrahlend auch benachbarter sozialer Schichten – auf der Suche nach einer positiven Zukunftsgewißheit dahin, die Verantwortung für das eigene Leben an eine höhere Instanz zu delegieren. Als diese bot sich die NSDAP und v. a. ihr „Führer“ Adolf Hitler an. Dabei dürfte in den Wahlen bis dahin der größte Teil der anhaltischen Angestelltenschaft für die liberalen Parteien votiert haben: 1918/19 für die Deutsche Demokratische Partei und seit 1920 zur Deutschen Volkspartei überwechselnd, von der sie seit 1930 zur NSDAP überging. Die liberalen Parteien hatten den Angestellten schon die „standesgemäße Lebensführung“ nicht ermöglichen könne, als nun die Arbeitslosigkeit um sich griff orientierten sie sich neu. Dabei wirkte sich aus, dass die Angestelltenschaft schon von jeher stark nationalistisch eingestellt war, der die Mehrheit der kaufmännischen Angestellten repräsentierende Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband auch stark antisemitisch. Außerdem verfügten die Angestellten über keine traditionelle politische Loyalitätsbindung an eine bestimmte Parteirichtung; auch das erleichterte den Übergang zur NSDAP. Der unter den kaufmännischen Angestellten tonangebende und schon in seinem Statut die Aufnahme von Juden ausschließende Deutschnationale Handlungsgehilfenverband164 hatte der nationalsozialistischen Bewegung – wie schon für die Nachkriegskrise

164 1928 zählte er in Bernburg 345 Mitglieder, daneben bestanden Ortsgruppen in Nienburg, Neundorf (1921) und Güsten (ab 1929). Vgl. Mitteldeutsche Kaufmannspost, Halle 1928, Heft 10/11, S. 41. Von den 46 regelmäßigen Versammlungs- und Vortragsbesuchern der Ortsgruppe im Herbst 1928 waren 28 bis 30 Jahre alt. Eine Parallele zur NSDAP-Altersstruktur deutet sich an. Seit 1907 hatte sich die Mitglie- 79 dargestellt – das Bett bereitet. Es verwundert daher nicht, dass sich einzig unter den in Bernburg im Herbst 1931 neu gewählten elf NSDAP-Stadtverordneten auch zwei DHVMitglieder befanden.165 In der NSDAP-Gesamtmitgliedschaft Bernburgs Ende 1931 war immerhin ein Viertel aller Mitglieder kaufmännische Angestellte. Die massive Option von Handels- und Buchhaltungsangestellten für den Nationalsozialismus wird auch auf die Bekanntschafts- und Verwandtschaftskreise und die dort zu findenden Angestellten und Beamten anderer Berufsfelder durchgeschlagen haben. Wie die Ergebnisse der Angestelltenversicherungswahlen ausweisen unterlag die gesamte Angestelltenschaft in der Weimarer Zeit einem deutlichen Rechtstrend. Herrschte in der Stadt Bernburg insgesamt noch 1922 Gleichstand zwischen allen drei Gewerkschaftsrichtungen, so war schon 1927 der sozialdemokratische AfA-Bund eindeutig auf den letzten Platz verwiesen – und das trotz anzunehmender relativer Verbesserung der sozialen Lage der Angestellten zumindest der älteren Jahrgänge in der relativen Stabilisierung.166 Der Rechtstrend unter den Angestellten dürfte sich auch nach 1927 weiter fortgesetzt haben. Im Landkreis Bernburg hingegen scheinen sich die Umschichtungen vorerst zwischen dem liberalen GdA und dem konservativen Gedag vollzogen zu haben. Aus dem Jahre 1932 sind dann jedoch verstärkte Eintrittsbewegungen in die GdA-Ortsgruppen berichtet, die als „Flucht” der Angestellten aus dem AfABund in den GdA gedeutet werden können.167

derzahl des DHV in Bernburg etwa verdreifacht; diese Erhöhung folgte dem Trend der Mitgliederentwicklung, den auch die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften aufzuweisen hatten. 165 Vgl. Mitteldeutsche Kaufmannspost, Halle 1931, Heft 12, S. 143. In Nienburg wurde ein DHVMitglied auf bürgerlicher Liste gewählt, dieses war aber – nach den Mitgliedsnummern zu urteilen – etwa doppelt so alt wie die Bernburger. 166 Siehe nachstehende Tabelle. Der Abfall der Angestellten von der Sozialdemokratie ist selbst in deren Domänen schon sehr früh nachzuverfolgen. Stimmten im Versicherungsamt Bernburg in der Betriebsratswahl vom 15.12.1921 noch 22 der 23 Wählenden für den ZdA und nur einer für die DHV-GdA-Liste, so waren es ein halbes Jahr später am 29.06.1922 nur noch 17 der 21 Wählenden für den ZdA. Die Beteiligung an der Wahl ging von 96 % auf 70 % zurück. Vgl. Mitteldeutsche Kaufmannspost, 1922, Heft 8, S. 6. 167 Vgl. Mitteldeutsche Angestellten-Rundschau. Monatszeitschrift des Gaues Mitteldeutschland im Gewerkschaftsbund der Angestellten (G.D.A.), Magdeburg, 9 (1932), Heft 10. Von 1929 auf 1930 sank der Anteil des AfA-Bundes an den im Bereich der DHV-Kreisgeschäftsstelle Anhalt vergebenen Angestelltenratsmandaten von 39 % auf 33 %. Vgl. ebenda, 6 (1929), Heft 8/9, S. 81; 7 (1930), Heft 7/8, S. 64. 80 Die Wahl der Vertrauensmänner zur Angestelltenversicherung in Stadt und Kreis Bernburg 1922 und 1927 (in % der gültigen Stimmen)168 Jahr AfA-Bund GdA Gedag Bernburg 1922 35 34 31 1927 21 37 42 Landkreis Bernburg169 1922170 33 44 22

1927 32 32 36

darunter:

- Bernburg-Land 1927 17 10 73
- Güsten 1927 4 52 44
- Nienburg 1927 27 38 35
- Sandersleben 1927 52 15 33
- Hecklingen 1927 53 12 35

Auch die Kandidatenaufstellung der SPD zu den Gemeinderatswahlen dokumentiert den beschriebenen Rechtstrend in der Angestelltenschaft. Kamen in Bernburg, Nienburg, Neundorf und Rathmannsdorf zusammen171 1919 noch 26 % aller SPD-Kandidaten aus der Angestelltenschaft, so ging ihr Anteil schon 1921 auf 22 % zurück, um dann bei 17 % (1924) bzw. 18 % (1927/31) zu stagnieren. Auch die in der NSDAP sichtbar überproportional vertretenen nichtindustriellhandwerklichen Arbeiter, die in Teilen der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung von jeher fern standen, waren in den Kommunikationszusammenhang der niederen Angestellten- und Beamtenschaft einbezogen. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass in Teilen der Facharbeiterschaft, insbesondere unter den Metallfacharbeitern und -Angelernten ein ähnlicher Rechtstrend oder zumindest eine partielle Abwendung von der sozialistischen Arbeiterbewegung existierte wie unter den Angestellten. Bis 1927 hatte es eine beständige Zunahme des Anteils der Metallfacharbeiter und -Angelernten an den Kandidaten der SPD zu den Gemeinderatswahlen 168 Quellen: Vw 11., 18.01.1922; 21., 24.11., 14.12.1927; Bernburger Zeitung 24.11. 1927 ff. 169 Kreis Bernburg einschließlich der im Untersuchungsgebiet nicht vertretenen vier Orte. 170 In der Quelle wird nur die Mandatszahl genannt, hier zurückberechnet. 171 Nur diese vier Orte sind über alle Wahlen nachzuverfolgen. 81 und -Angelernten an den Kandidaten der SPD zu den Gemeinderatswahlen gegeben; in den kontinuierlich mit Quellen zu belegenden Orten Bernburg, Nienburg, Neundorf und Rathmannsdorf zusammen 1919 13 %, 1921 16 %, 1924 20 %, 1927 27%. Im Jahr 1931 jedoch fiel ihr Anteil wieder deutlich auf 20 % zurück. Es ist davon auszugehen, dass Entwicklungen an der Basis mit einer gewissen Verzögerung bis in die Parteiorganisationen und die hier dokumentierte untere Funktionärskategorie ‚durchgereicht’ wurden. Inwieweit nun aber Teile der hochqualifizierten Facharbeiterschichten – für die hier die Metallfacharbeiter exemplarisch stehen – sich in ihrer politischen Haltung direkt am Beispiel der Angestellten orientierten, ist angesichts der Unkenntnis über die konkreten Komunikationszusammenhänge im sozialen und politischen „Grenzgebiet“ kaum zu beurteilen. Zumindest scheint sich aber ihre Bindung an die sozialdemokratische Partei gelockert zu haben, wenn auch offene Übergänge zum Gegner schon aufgrund des internen Gruppendrucks gering blieben.172 4.3.1 Die „überflüssige Generation“: Angestelltenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise Schon im vorhergehenden Kapitel konnte exemplarisch für Emma Hentschel aus der Landeshauptstadt Dessau gezeigt werden, dass die Mitgliedschaft in der NSDAP zur Kompensation erlittener persönlicher Zurücksetzungen, Misserfolge, Frustrationen oder dgl. benutzt werden konnte. In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs treten diese jedoch kaum hervor und die Zahl der sich subjektiv als ‚Verlierer’ verstehenden ist überschaubar, so dass auch der Zulauf für extremistische Parteien gering bleibt. Das kennzeichnete die Situation in Bernburg zwischen 1925 und 1929. Die Weltwirtschaftskrise jedoch zerstörte massenhaft Aufstiegshoffnungen und löste durch Massenarbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Konkurse massenhafte soziale Abstiegsbewegungen aus. In späteren Befragungen, in erster Linie in den Entnazifizierungsverfahren nach 1945, wurde seitens der Anfang der 30er Jahre eingetretenen Parteimitglieder immer wieder die Bedeutung der grassierenden Arbeitslosigkeit und des damit verbundenen drohenden oder realen sozialen Abstiegs für diesen Schritt unterstrichen. Man könnte das durchaus als Versuch der nachträglichen Reinwaschung ansehen, wenn nicht auch andere zeitgenös-

172 Vw 21.07.1931: Die Bernburger Metallarbeiter wären „fast restlos“ im Deutschen Metallarbeiterverband organisiert. 82 sische Quellen, die noch nichts von einer späteren Entnazifizierung wissen konnten, dies bestätigen würden. Aus gesamtdeutscher Sicht hat Peukert die zwischen Jahrhundertwende und Beginn des ersten Weltkrieges geborenen Jahrgänge, die auch im Untersuchungsgebiet die stärkste NSDAP-Neigung aufzuweisen hatten, als die „überflüssige Generation“ gekennzeichnet. Sie gehörten „zum größten Geburtenberg, den die deutsche Geschichte überhaupt verzeichnet“173 und trafen bei Eintritt in das Erwerbsalter auf einen nicht mehr aufnahmefähigen Arbeitsmarkt, der ihrer nicht bedurfte: „Das demographische und sozioökonomische Signum dieser Generationserfahrung ist die Überflüssigkeit und Unbrauchbarkeit des Einzelnen, gemessen an der Kluft zwischen der geringeren Arbeitskräftenachfrage und dem dramatisch angeschwollenen Arbeitskräfteangebot.“174 Die „Jungerwachsenenarbeitslosigkeit“ konzentrierte sich am stärksten bei qualifizierten Jungarbeitern in industriellen Hochburgen, also bei der Personengruppe, die auch im Untersuchungsgebiet den proletarischen Anteil der NSDAP-Mitgliedschaft charakterisiert. „Fragt man nun, was diese Struktur der Erwerbslosigkeit lebensgeschichtlich für einen Jugendlichen des Jahrgangs 1914 etwa bedeutete, so ist offensichtlich, dass seine eigene Lebensperspektive sich, wenn er Gleichaltrige oder etwas Ältere in seiner näheren Umwelt betrachtete, mit jedem Lebensjahr zu verschlimmern drohte. Ihm musste daher klar sein, dass die folgenden 10-15 Lebensjahre für ihn zu den arbeitsmarktmäßig ungünstigsten überhaupt in der damaligen deutschen Gesellschaft zählen mussten. Die von ihm überschaubare nächste biographische Zeitspanne nach Schulentlassung und Lehrabschluß war sozusagen abschüssig und endete ohne Zukunftsperspektive. Dies charakterisiert in ganz zentralem Maße die Erfahrungen der Massenarbeitslosigkeit dieser Altersgruppe, für die sich der allgemeine demographische Überhang und die sozioökonomische Krisensituation bedrohlich verknüpften.“175 Peukert wäre vor dem Hintergrund der ermittelten NSDAP-Eintrittszahlen hinzuzufügen, dass diese Beschreibung nicht nur auf die nach der Jahrhundertwende, sondern auch auf die im Jahrzehnt davor geborenen Jahrgänge, und nicht nur auf die tatsächlich arbeitslos werdenden jungen Erwachsenen, sondern auch auf die ständig von Arbeitslosigkeit Bedrohten zutraf.

173 Detlev J. K. Peukert, Alltagsleben und Generationserfahrungen von Jugendlichen in der Zwischenkriegszeit, in: Dieter Dowe (Hg.), Jugendprotest und Generationenkonflikt in Europa im 20. Jahrhundert. Deutschland, England, Frankreich und Italien im Vergleich, Bonn 1986, S. 145. 174 Ebenda, S. 146. 175 Ebenda, S. 147. 83 Die Angehörigen dieser Jugendgeneration waren nach Peukert „in einen sozialen Leerraum gestoßen, auf den sie selbst reagieren mussten, wenn sie nicht in Depression verfallen wollten.“176 Sowohl die Zugehörigkeit zu sogenannten „Wilden Cliquen“ als auch die massenhafte Zugehörigkeit zu den militarisierten Männerbünden aller Weltanschauungsrichtungen ist demzufolge als Versuch zu sehen, diese Leere zu füllen. Peukert weist darauf hin, „daß der totale Erfassungsanspruch, den diese Organisationen an ihre Mitglieder stellten, und die ideologische Perspektive einer totalen Alternative zum als bankrott erfahrenen ‚System‘ angesichts der lebensweltlichen Erfahrungen dieser Generation Attraktivität besaßen. Es ist ganz charakteristisch, daß gerade die Altersgruppen der Jungerwachsenen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr überproportional in diesen Kampforganisationen vertreten waren, wie sie auch überproportional in der Statistik der Erwerbslosigkeit auftauchten.“177 Es ist davon auszugehen, dass auch die nicht von Arbeitslosigkeit betroffenen Angehörigen dieser Generation über die unter Altersgenossen intensivierte Kommunikation an dieser Erfahrung von Perspektivlosigkeit Anteil hatten und sich – relativ unabhängig vom tatsächlichen Status – in einer subjektiv gleichartigen Lage sahen. Für einen Zeitgenossen wie Sebastian Haffner konnte die von Peukert beschriebene Sinnsuche dieser „überflüssigen Generation“ sich durchaus als Abenteurertum darstellen. In seinen 1939 niedergeschriebenen Beobachtungen vermerkte er, dass gerade von den nicht mehr zur Einberufung gelangten Jahrgängen, die aber im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegskrise, als sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse ins Rutschen kamen, sozialisiert worden waren, der ungewohnte Frieden als Verunsicherung empfunden und auf der Suche nach Orientierung der Nationalsozialismus als Ordnungsfaktor interpretiert worden wäre: „Ungefähr zwanzig Jahrgänge junger und jüngster Deutscher waren daran gewöhnt worden, ihren ganzen Lebensinhalt, allen Stoff für tiefere Emotionen, für Liebe und Hass, Jubel und Trauer, aber auch alle Sensationen und jeden Nervenkitzel sozusagen gratis aus der öffentlichen Sphäre geliefert zu bekommen – sei es auch zugleich mit Armut, Hunger, Tod, Wirrsal und Gefahr. Nun, da diese Belieferung [nach 1923 – T.K.] plötzlich ausblieb, standen sie ziemlich hilflos da, verarmt, beraubt, enttäuscht und gelangweilt. Wie man aus eigenem lebt, wie man ein kleines

176 Ebenda. 177 Ebenda, S. 148. Vgl. zum Komplex der sozialen Unsicherheit unter den Angehörigen der jungen Generation auch Barbara Stambolis, Der Mythos der jungen Generation. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Weimarer Republik, phil. Diss. Bochum 1982, S. 179-187. 84 privates Leben groß, schön und lohnend machen kann, wie man es genießt und wo es interessant wird, das hatten sie nie gelernt. So empfanden sie das Aufhören der öffentlichen Spannung und die Wiederkehr der privaten Freiheit nicht als Geschenk, sondern als Beraubung. Sie begannen sich zu langweilen, sie kamen auf dumme Gedanken, sie wurden mürrisch – und sie warteten schließlich geradezu gierig auf die erste Störung, den ersten Rückschlag oder Zwischenfall, um die ganze Friedenszeit zu liquidieren und neue kollektive Abenteuer zu starten.“178 Für den Nationalsozialismus hätten gerade diese seit der Jahrhundertwende geborenen Jahrgänge eine leichte Beute bedeutet: „Die Massenseele und die kindliche Seele sind sehr ähnlich in ihren Reaktionen. Man kann sich die Konzeptionen, mit denen Massen gefüttert und bewegt werden, gar nicht kindlich genug vorstellen. Echte Ideen müssen, um massenbewegende historische Kräfte zu werden, im allgemeinen erst bis auf die Fassungskraft eines Kindes heruntersimplifiziert werden. Und eine kindische Wahnvorstellung, gebildet in den Köpfen von zehn Kinderjahrgängen und vier Jahre hindurch in ihnen festgenagelt, kann sehr wohl zwanzig Jahre später als tödlich ernsthafte ‚Weltanschauung‘ ihren Einzug in die große Politik halten. Der Krieg als ein großes, aufregend-begeisterndes Spiel der Nationen, das tiefere Unterhaltung und lustvollere Emotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu bieten hat; das war 1914 bis 1918 die tägliche Erfahrung von zehn Jahrgängen deutscher Schuljungen; und das ist die positive Grundvision des Nazitums geworden. Von dieser Vision her bezieht es seine Werbekraft, seine Simplizität, seinen Appell an Phantasie und Aktionslust; und von ihr bezieht es ebenso seine Intoleranz und Grausamkeit gegen den innerpolitischen Gegner: weil der, der dieses Spiel nicht mitmachen will, gar nicht als ‚Gegner‘ anerkannt, sondern einfach als Spielverderber empfunden wird. Und schließlich bezieht es von ihr seine selbstverständlich kriegsmäßige Einstellung gegen den Nachbarstaat: weil jeder andere Staat wiederum nicht als ‚Nachbar‘ anerkannt wird, sondern nolens volens Gegner zu sein hat – sonst könnte ja das ganze Spiel nicht stattfinden! Vieles hat dem Nazismus später geholfen und sein Wesen modifiziert. Aber hier liegt seine Wurzel: nicht etwa im ‚Fronterlebnis‘, sondern im Kriegserlebnis des deutschen Schuljungen. [...] Die eigentliche Generation des Nazismus aber sind die in der Dekade 1900 bis 1910 Geborenen, die den Krieg, ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit, als

178 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart-München 2000, S. 69. 85 großes Spiel erlebt haben.“179 „Jenseits der bloßen Demagogie und der Programmpunkte versprach er [Hitler – T.K.], deutlich und fühlbar ehrlich, zweierlei: die Wiederherstellung des großen Kriegsspiels von 1914-18; und die Wiederholung des großen sieghaft-anarchischen Beutezuges von 1922. Mit anderen Worten: seine spätere Außenpolitik und seine spätere Wirtschaftspolitik. Er brauchte dies nicht wörtlich zu versprechen; er konnte ihm sogar scheinbar widersprechen (wie in den späteren ‚Friedensreden‘): man verstand ihn doch. Und das schuf ihm seine wirklichen Jünger, den Kern der eigentlichen Nazipartei. Es appellierte an die beiden großen Erlebnisse, die sich der jüngeren Generation eingeprägt hatten. Es sprang als elektrischer Funke auf alle über, die heimlich diesen Erlebnissen nachhingen.“180 Auffällig ist, dass Haffner hier die Wirkungen der Massenarbeitslosigkeit weitestgehend ausblendet, was möglicherweise mit seiner eigenen, materiell gesicherten Herkunft in Verbindung steht. Für das Untersuchungsgebiet fehlen originäre Aussagen, die dieses Muster bestätigen würden. Trotzdem ist es auch hier plausibel. Schließlich ist die höchste Sättigung an Nationalsozialisten in den betreffenden, von Haffner benannten Jahrgängen evident, sie stellten 1930/31 immerhin fast die Hälfte der Mitglieder und somit deren Alters-Kern. Die vom Flensburger Gerhard M., geboren 1914 und Sohn eines geschäftlich durchaus erfolgreichen Fahrradhändlers, geschilderte Motivation seines Eintritts in die nationalsozialistische Bewegung 1931 bestätigt die Beobachtungen Haffners und dürfte in dieser oder ähnlicher Form auch für viele junge Parteimitglieder im Kreis Bernburg zu veranschlagen sein: „Da Vater mit dieser Partei sympathisierte, wurde auch ich diesen Gedankengängen nahegebracht. Anläßlich einer Versammlung, in die Vater mich mitnahm, sah ich dann die recht schneidigen Männer der SA zum ersten Male. Und ich muß sagen, dieses schneidige Exakte zog mich sofort an. Als ich dann hörte, daß diese Männer öfter Saalschlachten gegen Kommunisten schlugen, war ich gleich mit Begeisterung dabei, denn nichts haßte ich mehr als die Kommunisten, und zwar, weil ich mir unter diesen immer diese banditenhaft aussehenden Erwerbslosen vorstellte, bekleidet mit Schlägermütze, die Hände in den Taschen, [die] faul und pöbelnd an den Ecken standen. Und diese SA-Männer standen nun in meinen Augen in wohltuendem Gegensatz zu diesem Gesindel, das ich immer aus tiefstem Herzen haßte. Außerdem lernte ich noch

179 Ebenda, S. 21 f. Vgl. auch Stambolis, Mythos, S. 250 f. 180 Haffner, Geschichte, S. 89. 86 die Männer des Reichsbanners kennen, die der Sozialdemokratischen Partei nahestanden, auch diese waren mir sympathisch, denn auch hier herrschte anscheinend ein etwas disziplinierterer Dienst und besserer Ton. Da ich jedoch glaubte, als zukünftiger Geschäftsmann kein ‚Sozi‘ sein zu können, neigte ich eben mehr zu den Nazis. Die Hauptsache: gegen die Kommunisten. [...] Vater hatte mich Ende 1931 einmal mit nach ‚Bellevue‘ genommen, wo eine NS-Versammlung stattfand. Es sollte ein Pg. Kaufmann sprechen (der spätere Gauleiter Hamburgs). Der Saal war voll, und kurz vor Beginn marschierte eine Gruppe sogenannter SA-Männer geschlossen in den Saal und formierte sich vorn vor der Bühne. Diese Männer trugen alle Stiefelhosen und lange Stiefel, Koppel und Schulterriemen über ein weißes Hemd. Es waren alles gutgewachsene, große Kerle und hielten strenge Disziplin. Sie standen vorn, mit ernsten Gesichtern, entschlossen, jeden Ruhestörer sofort aus dem Saal zu werfen. Ich schaute wie gebannt auf diese Männer: Nun wußte ich, was mein Ideal eines jungen Menschen war: soldatische Haltung, soldatisches schneidiges Aussehen, Ernst und Entschlossenheit. Nun wußte ich auch, was ich haßte: Albernheit, Lässigkeit, überlanges Haar, zu saloppe Kleidung, kurz: den sogenannten ‚Tanzbodentyp‘. Weichliches Wesen, Albernheiten, zuvieles Lachen und Flachsen habe ich von jeher gehaßt, nur kannte ich den Gegenpol noch nicht. Aber was ich hier sah, entsprach meinem Wunschbild. Im selben Augenblick war mein Entschluß gefaßt: Ich wollte SA-Mann werden. Ich haßte die an den Straßenecken herumstehenden jungen Menschen, die für mich eben ‚Strolche‘ waren. Sie hatten beide Hände bis an die Ellenbogen in den Taschen, die Mütze recht schief auf dem überlangen Haar, so standen sie zigarettenrauchend in Gruppen an den Straßenecken und pöbelten gelegentlich Vorübergehende an. Diese Menschen habe ich von jeher mit starker Abneigung bedacht. Und hier: Hier stand der Gegenpol. Ernst, diszipliniert, einheitlich, aber nett gekleidet. Am selben Abend habe ich mich dann gemeldet und mußte gleichzeitig Mitglied der NSDAP werden. Im Februar 1932 [mit gerade 18 Jahren – T.K.] wurde ich dann offizielles Mitglied. Die Aufgabe der SA-Stürme war der Schutz der Versammlungen, bei denen es meistens zu Schlägereien mit den Kommunisten kam.“181 An diesem Beispiel wird auch ein Stück Zeitgeist sichtbar, die Tatsache, dass die deutsche Gesellschaft sich partout nicht vom Patriarchalismus und insbesondere auch nicht vom Militarismus des Kaiserreiches trennen wollte, sondern ihn im Gegenteil weiter

181 Zitiert nach: Heinrich Breloer, Mein Tagebuch. Geschichten vom Überleben 1939-1947, Köln 1984, S. 30. 87 kultivierte. Die „bürgerlichen“ Zeitungen dieser Jahre vermitteln oft den Eindruck, dass der Weltkrieg nicht vorbei, sondern nur kurz angehalten worden sei. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise in die NSDAP eingetretene Personen haben immer wieder auf die Bedeutung der Massenarbeitslosigkeit für diesen Schritt hingewiesen. Angesichts der überproportionalen Mitgliedschaft von Angestellten in der Partei muss daher die Angestelltenarbeitslosigkeit als wesentlich die Ausbreitungsgeschwindigkeit und die Zusammensetzung der Partei beeinflussend angesehen werden. Die allgemeine Wahrnehmung der Arbeitslosigkeit war schon vor der Weltwirtschaftskrise zwischen Arbeitern einerseits und Angestellten andererseits sehr verschieden. In großen Teilen der Arbeiterschaft galten diskontinuierliche Erwerbsbiographien durchaus nicht als ehrenrührig, sondern waren auch außerhalb von Krisenzeiten Bestandteil des normalen Erwerbslebens, so z. B. allgemein bei ungelernten Arbeitern und saisonal bedingt bei Landarbeitern, Bauhandwerkern, Ziegelei- und Steinbrucharbeitern. Die Angestellten hingegen waren psychisch auf eine akut eintretende oder auch nur mittelbar drohende Arbeitslosigkeit nicht vorbereitet, sie traf sie somit wesentlich stärker. Schließlich waren sie unter anderem auch deshalb Angestellte geworden, um diesem Proletarierschicksal zu entgehen. Es ist hier allerdings zwischen verschiedenen Angestelltenkategorien zu differenzieren. Während auf technische Angestellte (und Beamte sowieso) die erstrebte Arbeitsplatzsicherheit auch tatsächlich zutraf, fanden sich kaufmännische und Büro-Angestellte schon vor der Weltwirtschaftskrise in einer deutlich unsichereren Stellung; fast zwei Drittel aller arbeitsuchend gemeldeten Angestellten im Bereich der Arbeitsamtsbezirke Dessau, Bernburg und Wittenberg kamen Ende 1928 aus der Kategorie der männlichen kaufmännischen und Büro-Angestellten.182 Auch wenn ein statistischer Beleg mangels lokaler zeitgenössischer Erhebung an dieser Stelle nicht möglich ist, dürfte die Arbeitsplatzsicherheit eines Stammarbeiters in der Metallindustrie höher einzuschätzen sein als die eines kaufmännischen Angestellten. Freilich änderte dies nichts am Anspruch des letzteren auf soziale Absicherung. Genaue Angaben über die konkrete Höhe der Arbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise liegen erst für Juni 1933 vor, als deren Maximum schon leicht überschritten war. In den Städten des Kreises Bernburg wurden zu diesem Zeitpunkt zwischen 22 % (Bernburg) und 33 % (Güsten) aller männlichen Angestellten als arbeitslos gezählt. Diese

182 Vgl. Stadtarchiv Nienburg, Aktenverzeichnis 2, Nr. 13/2. 88 Werte lagen immer noch deutlich unter den Werten für die männlichen Arbeiter, die sich zwischen 36 % (Bernburg) und 53 % (Leopoldshall) bewegten.183 Insgesamt war Anhalt nach Sachsen (der Höhe des Arbeiteranteils an der Bevölkerung folgend) das Flächenland mit der höchsten Wohlfahrtserwerbslosigkeit, wobei die Werte für Stadt und Kreis Bernburg ihrerseits wiederum über dem anhaltischen Durchschnitt lagen.184

183 Berechnet nach: Die wichtigsten Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 in Anhalt, Dessau 1936, S. 80-83. 184 Vgl. Bundesarchiv Berlin, R 43 II / 1312, Bl. 42 f., 58 f. (Stand vom 31.07.1932). Siehe auch das Diagramm „Registrierte Arbeitslose im Arbeitsamtsbezirk Bernburg zwischen 1929 und 1937“. Berechnet nach: Stadtarchiv Nienburg, Aktenverzeichnis 2, Nr. 13/2. Anmerkungen zu den Diagrammen „Registrierte Arbeitslose im Arbeitsamtsbezirk Bernburg zwischen 1929 und 1937“, „Allgemeine Entwicklung der Arbeitslosigkeit und Entwicklung der Angestelltenarbeitslosigkeit im AAB Bernburg 1929 bis 1932“ und „Zusammensetzung der in den Arbeitsamtsbezirken Dessau, Bernburg und Wittenberg als arbeitsuchend gemeldeten Angestellten nach Großgruppen 1928 bis 1932“ sowie zur Tabelle „Altersstruktur der Angestelltenarbeitslosigkeit in den Arbeitsamtsbezirken Dessau, Bernburg und Wittenberg 1930/31 (in % der als arbeitsuchend gemeldeten Angestellten in der jeweiligen Altersgruppe)“: - Die Quelle der Berechnungen bilden die für den betr. Zeitraum überlieferten Originale der vom Arbeitsamt Bernburg bzw. von der Abteilung für Angestellten-Vermittlung Dessau (zuständig für die Arbeitsamtsbezirke Bernburg, Dessau und Wittenberg) halbmonatlich bzw. monatlich herausgegebenen Pressemeldungen (Stadtarchiv Nienburg, Aktenverzeichnis 2, Nr. 13/2; ergänzt um VbA 15.10.1929 und Vw 15.01., 17.05., 14.06.1930). - Die vom Arbeitsamt Bernburg in seinen Berichten bis Ende 1937 nach einem gleichbleibenden Raster publizierten Angaben über die allgemeine Arbeitslosigkeit lassen außer der Geschlechtszugehörigkeit und der Verteilung auf die einzelnen Nebenstellen (Hauptamt Bernburg, Nebenstellen Köthen, Nienburg, Calbe, Staßfurt) keine weiteren Aussagen zu. Die Alters- wie auch die Qualifikationsstruktur der Arbeitslosen wurden gar nicht bzw. in einer analytisch nicht verwertbaren Form ausgewiesen. Zudem wurden bis zum Juni 1933 nicht die Arbeitslosen, sondern die beim Arbeitsamt als arbeitsuchend gemeldeten Personen gezählt. Im Juli 1933 fielen alle Notstands- und Fürsorgearbeiter, kurzfristig beschäftigte Arbeitsuchende und Arbeitsdienstwillige im Freiwilligen Arbeitsdienst aus der Statistik heraus, wie schon im September 1932 ein Teil der Wohlfahrtserwerbslosen. Generell geben die Zahlen daher nicht die volle Höhe der Arbeitslosigkeit wider. - Die Berichte der Abteilung für Angestellten-Vermittlung Dessau berücksichtigen in ihrem statistischen Teil regelmäßig neben dem Stand der Arbeitslosigkeit die Zugehörigkeit zu den drei Großgruppen „männliche kaufmännische und Büro-Angestellte“, „männliche technische Angestellte“ und „weibliche Angestellte“ auch die Alterszusammensetzung. Eine weitere territoriale Untersetzung der summarisch für die drei Arbeitsamtsbezirke ausgewiesenen Zahlen ist jedoch nicht erfolgt, was darauf schließen lässt, dass dieses Gebiet als ein relativ geschlossener regionaler Arbeitsmarkt angesehen wurde. Die Benennung jeglicher statistischer Angaben in den Berichten bricht nach dem Oktober 1932 abrupt ab. Auch in diesen Berichten widerspiegeln die Zahlen nicht den vollen Bestand der Arbeitslosen, sondern wiederum die als arbeitsuchend gemeldeten Angestellten. Aus der Statistik fiel eine nicht quantitativ zu erfassende Menge an arbeitslosen und nicht mehr unterstützten männlichen Angestellten. Nach einer im Juli 1932 durchgeführten Hilfsbedürftigkeitsprüfung bei weiblichen Angestellten verringerte sich auch deren Zahl in der Statistik. In beiden Fällen dürften die betroffenen Personengruppen nach der Einstellung der Unterstützungszahlungen keinen Sinn mehr in einer Meldung auf dem Arbeitsamt gesehen haben und wurden demzufolge auch von der Statistik nicht mehr erfasst. 89 Registrierte Arbeitslose im Arbeitsamtsbezirk Bernburg zwischen 1929 und 1937 0 5.000 10.000 15.000 20.000 25.000 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 31.12. des Jahres ... Arbeitslose 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Unterstützungsempf. (%) Arbeitslose Unterstützungsempfänger (%) 90 Bedeutsamer als die absolute Höhe der Arbeitslosigkeit scheint jedoch ihre Steigerung seit Beginn der Weltwirtschaftskrise gewesen zu sein. Gegenüber dem Stand vom 31.12.1929 stieg im Arbeitsamtsbezirk Bernburg die Zahl aller arbeitsuchend Gemeldeten (Angestellte inbegriffen) in der Spitze auf 231 % (14. Januar 1933). Die Zahl der arbeitsuchend gemeldeten Angestellten innerhalb der Arbeitsamtsbezirke Dessau, Bernburg und Wittenberg erhöhte sich in der Spitze jedoch auf 460 % (31. Juli 1932) des Wertes von Ende 1929!185

185 Berechnet nach: ebenda. Eine Erhebung der arbeitsuchend gemeldeten Angestellten für den Arbeitsamtsbezirk Bernburg allein wurde nicht veröffentlicht. Die Veröffentlichung von statistischen Angaben über die Angestelltenarbeitslosigkeit bricht zudem mit dem Oktober 1932 ab. Siehe auch nachstehendes Diagramm „Allgemeine Entwicklung der Arbeitslosigkeit und Entwicklung der Angestelltenarbeitslosigkeit im AAB Bernburg 1929 bis 1932“. 91 Allgemeine Entwicklung der Arbeitslosigkeit und Entwicklung derAngestelltenarbeitslosigkeit im AAB Bernburg 1929 bis 1932 0 5.000 10.000 15.000 20.000 25.000 31.01.1929 31.03.1929 31.05.1929 31.07.1929 30.09.1929 30.11.1929 31.01.1930 31.03.1930 31.05.1930 31.07.1930 30.09.1930 30.11.1930 31.01.1931 31.03.1931 31.05.1931 31.07.1931 30.09.1931 30.11.1931 31.01.1932 31.03.1932 31.05.1932 31.07.1932 30.09.1932 30.11.1932 Arbeitsuchende AAB Be. gesam t 0 500 1.000 1.500 2.000 2.500 3.000 3.500 arbeitsuch.Angestellte De.-Be.-Wi. Arbeitsuchende AAB Be. gesamt arbeitsuch.Angestellte De.-Be.-Wi. 92 Die hiervon ausgehende Traumatisierung dürfte nicht nur aktuell für die Radikalisierung in der Weltwirtschaftskrise, sondern auch nachfolgend im „Dritten Reich“ bedeutsam gewesen sein. Die allgemeine Nachgiebigkeit im Falle von politisch motivierten Bedrohungen mit dem Hinweis auf einen möglichen Arbeitsplatzverlust ist nur vor dem Hintergrund der in der Weltwirtschaftskrise gemachten Erfahrungen vollends zu verstehen. Doch die Arbeitslosigkeit erfasste nicht alle Angestelltenkategorien zeitgleich und insgesamt auch nicht gleichmäßig. Die männlichen kaufmännischen und BüroAngestellten stellten zu keinem Zeitpunkt weniger als 47 % der Arbeitsuchenden, während die männlichen technischen Angestellten in der Spitze einen Wert von 28 % erreichten; die weiblichen Angestellten belegten einen zwischen 21 % und 30 % schwankenden Anteil. Tendenziell wurden männliche technische Angestellte später von der Arbeitslosigkeit betroffen als männliche kaufmännische und Büro-Angestellte.186

186 Siehe nachstehendes Diagramm „Zusammensetzung der in den Arbeitsamtsbezirken Dessau, Bernburg und Wittenberg als arbeitsuchend gemeldeten Angestellten nach Großgruppen 1928 bis 1932“. Berechnet nach: ebenda. Eine genauere Analyse der Arbeitslosigkeit von Arbeitern ist nicht möglich, da seitens des Arbeitsamtes Bernburg nur vereinzelt die Herkunfts-Gewerbezweige, nicht aber die konkreten Qualifikationsstufen sowie auch nicht die Altersstufen der Arbeitsuchenden ausgewiesen wurden. 93 Zusammensetzung der in den Arbeitsamtsbezirken Dessau, Bernburg und Wittenberg als arbeitsuchend gemeldeten Angestellten nach Großgruppen 1928 bis 1932 0 10 20 30 40 50 60 70 31.12.1928 28.02.1929 30.04.1929 30.06.1929 31.08.1929 31.10.1929 31.12.1929 28.02.1930 30.04.1930 30.06.1930 31.08.1930 31.10.1930 31.12.1930 28.02.1931 30.04.1931 30.06.1931 31.08.1931 31.10.1931 31.12.1931 29.02.1932 30.04.1932 30.06.1932 31.08.1932 31.10.1932 % ml. kaufm. und Büro-Angestellte ml. technische Angestellte weibliche Angestellte 94 Noch charakteristischer als die Verteilung auf die Angestellten-Großgruppen gestaltete sich die Altersverteilung der arbeitsuchenden Angestellten. Zudem wies sie starke Parallelen zur Alterstruktur der Angestellten in der NSDAP im Untersuchungsgebiet auf. Nach dem Stand vom 31. Dezember 1930 zählten 68 % der männlichen arbeitsuchenden Angestellten und 73 % der mit einer NSDAP-Mitgliedschaft 1929/30 registrierten Angestellten zur Kerngruppe der Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912. Bei einer weiteren Eingrenzung auf die beschriebenen Kernjahrgänge 1901 bis 1910 ergeben sich Werte von 41 % zu 43%.187

187 Berechnet nach: ebenda; NSDAP-Datensatz. Es ist zu beachten, dass die dem Vergleich zugrunde liegenden Gebiete aufgrund der nur groben Ausweisung der Arbeitslosenstatistik nicht deckungsgleich sind. Siehe nachstehende Tabelle „Altersstruktur der Angestelltenarbeitslosigkeit in den Arbeitsamtsbezirken Dessau, Bernburg und Wittenberg 1930/31“. 95 Altersstruktur der Angestelltenarbeitslosigkeit in den Arbeitsamtsbezirken Dessau, Bernburg und Wittenberg 1930/31 (in % der als arbeitsuchend gemeldeten Angestellten in der jeweiligen Altersgruppe)188 Altersgruppe männliche Angestellte weibliche Angestellte gesamt kaufmännische und Büro-Angestellte technische Angestellte gesamt 31.12.30 31.12.31 31.12.30 31.12.31 31.12.30 31.12.31 31.12.30 31.12.31 bis 18 J. 3 2 4 2 12 6 über 18 bis 21 J. 13 10 16 15 6 2 24 21 über 21 bis 25 J. 17 19 19 21 13 16 22 27 über 25 bis 30 J. 20 17 18 14 24 20 15 15 über 30 bis 40 J. 24 27 25 28 22 25 19 19 über 40 bis 45 J. 8 8 5 6 11 10 3 5 über 45 bis 60 J. 12 15 9 12 17 21 4 6 über 60 J. 4 3 3 2 7 5 1 Summe 100 100 100 100 100 100 100 100 188 Berechnet nach: ebenda. 96 Eine unter dem Schlagwort des „Problems der älteren Angestellten“ in der Weimarer Republik allgemein diskutierte besondere Notlage „älterer“ Angestellter jenseits eines Alters von 30 oder 35 Jahren ist anhand der vorliegenden Arbeitslosigkeitsstatistik nicht zu erkennen. Sie waren keinesfalls stärker von Arbeitslosigkeit und Deklassierung betroffen als ihre jüngeren Kollegen (so man davon ausgeht, dass sie sich in gleichem Maße wie diese erwerbslos meldeten).189 Die beschriebene zeitgenössische Diskussion ist wohl in erster Linie als Forderung dahingehend zu verstehen, dass vor den jungen Angestellten erst die „älteren“ Angestellten zu versorgen wären. Neben der allgemeinen Krise am Arbeitsmarkt und dem gleichzeitigen Auftreten geburtenstarker Jahrgänge auf diesem wird auch die Umsetzung dieser Forderung durch Arbeitgeber zu den überproportionalen Arbeitslosigkeitswerten unter der jungen Generation beigetragen haben.190 4.3.2 „Volksgemeinschaft“ als verklammerndes Element Die Hinwendung zur NSDAP hat – aus einer Außensicht heraus – gemeinhin etwas irrationales. Die Weltwirtschaftskrise stellte jedoch einen großen Teil vor allem junger und vor allem „bürgerlicher“ Menschen vor eine solche existentielle Bedrohung, dass sie dafür aus ihrer Erziehung und ihrer eigenen Lebenserfahrung heraus keine Bewältigungsmuster entwickeln konnten und eine ‚Endzeitstimmung‘ entwickelten. In Reflektion dieser ‚Endzeitstimmung‘ bestanden in der „bürgerlichen“ Gesellschaft eine Reihe von Deutungsangeboten, die im wesentlichen von den drei Säulen Ablehnung des Versailler Vertrages, Volksgemeinschafts- und Führerglaube getragen wurden. Diese mussten von der NSDAP lediglich aufgegriffen, komprimiert und am geradlinigsten vertreten werden.

189 Letzteres bezieht sich nur auf die sich in der Arbeitslosigkeitsstatistik dokumentierende, unmittelbar in der Weltwirtschaftskrise eingetretene Arbeitslosigkeit, nicht jedoch auf längerfristige Verdrängungsmechanismen am Arbeitsmarkt, die ein Ausweichen in andere Berufsfelder zum Ergebnis hätten. So ist z. B. auffällig, dass in den Betrieben der anhaltischen Metallindustrie Ende 1928 der Anteil der Angestellten in einem Alter bis einschließlich 40 Jahren – seit 1914 nahezu unverändert – 73 % betrug. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 34 Magdeburg, Nr. 17, Bd. 2, Bl. 16. 190 Die kaufmännische Stellenvermittlung des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes für den Gau Mitteldeutschland vermerkte per 31.12.1930 und 31.12.1931 jeweils 66 %, per 31.12.1932 56 % und per 31.12.1933 49 % der Bewerber in einem Alter bis einschließlich 30 Jahre. Vgl. Mitteldeutsche Kaufmannspost 1932, Heft 3, S.24; 1933, Heft 4/5, S.33; 1934, Heft 2/3, S.16. Die Vergleichswerte für die männlichen kaufmännischen und Büro-Angestellten im Bereich der Arbeitsamtsbezirke Dessau, Bernburg und Wittenberg betrugen per 31.12.1930 57 % und per 31.12.1931 53 %. Berechnet nach: Stadtarchiv Nienburg, Aktenverzeichnis 2, Nr. 13/2. 97 Die Grundlage dieses vom Nationalsozialismus ausgeformten Deutungsmustergebäudes bildete die vorhandene verfestigte nationalistische Grundeinstellung und die Stilisierung des Versailler Vertrages zum Universalschuldigen für alle negativen Entwicklungen der Nachkriegszeit – einschließlich der persönlichen Misserfolge, Enttäuschungen und Demütigungen. Also: Weil das Land vom „internationalen jüdischen Kapital“ geknechtet ist gibt es Klassenkampf in Deutschland und geht es den Deutschen schlecht. Ergo: ich als Angestellter, Handwerker usw. bin schlecht bezahlt bzw. ohne Aufträge weil Deutschland vom feindlichen Ausland geknechtet wird. Oder in den Worten des NSDAP-Gauleiters Loeper 1930: „Die Quelle allen Elendes sei das Diktat von Versailles, das müsse beseitigt werden, wenn eine Wandlung zur Gesundung eintreten solle.“191 Die strikte Ablehnung des Versailler Vertrages, dokumentiert am eindrucksvollsten im Volksentscheid gegen den Young-Plan 1929, aber auch in lokalen Aktionen symbolischer Art, wie in der Abhaltung eines den Protest zum Ausdruck bringenden „Deutschen Abends“ durch die Deutsche Volkspartei in Bernburg 1929 oder in der symbolischen öffentlichen Verbrennung des Young-Planes durch den Wehrwolf Güsten im März 1930,192 war „bürgerliches“ Gemeingut. Darauf ließ sich aufbauen, wie beispielsweise die Verlesung des Buches „Revolution 1933“ von Martin Bochow in der Januar-Versammlung 1931 der Hecklinger Ortsgruppe des deutschnationalen Bundes Deutscher Frauen-Dienst (Königin-Luise-Bund) zeigt.193 Die Botschaft des in belletristischer Form gehaltenen Propagandawerkes war ebenso simpel wie eingängig: Provoziert durch die Begehrlichkeiten des internationalen – insbesondere des amerikanischen – Kapitals und durch die Unfähigkeit einer republikanischen Politikerkaste würden sich die Lebensbedingungen des deutschen Volkes, v. a. der unteren Schichten (Arbeiter, Bauern, Kleingewerbetreibende), rapide verschlechtern. Eine letztendlich scheiternde kommunistische Revolution würde Deutschland in ein noch größeres Chaos stürzen und es letztendlich völlig dem Ausland ausliefern.194 Hatte man einmal diese Prognose akzeptiert, so war man weiterhin bereit zu akzeptieren, dass Abhilfe nur dann geschaffen

191 Anhalter Anzeiger, Dessau, 01.11.1930. Für die Gültigkeit dieser Sichtweise auch jenseits der NSDAP: Deutsches Frauenblatt. Zeitschrift für Frauen aller Stände und Berufe. Nachrichtenblatt des Bundes Deutscher Frauen-Dienst e.V., Magdeburg, Scheiding (September) 1930: „Es gibt nur zwei Lager im deutschen Volke, so zahlreich auch die Parteien sein mögen: Für oder gegen Young, mit oder gegen die feige und gemeine Verständigungspolitik.“ 192 Vgl. Bundesarchiv Berlin, R 45 II alt Vo 1/1, Nr. 74; Vw 18.03.1930. 193 Deutsches Frauenblatt. Zeitschrift für Frauen aller Stände und Berufe. Nachrichtenblatt des Bundes Deutscher Frauen-Dienst e.V., Magdeburg Hornung (Februar) 1931. 194 *** [Martin Bochow], Revolution 1933, Berlin 1930, pass. 98 werden kann, wenn die inländischen Agenten der „jüdisch-bolschwewistischenimperialistischen Weltverschwörung“ kaltgestellt werden und das in der Folge dieses Vorgangs einige deutsche Volk auch gegen den äußeren Feind zusammensteht und die Ketten des Versailler Vertrages abwirft. Selbstredend war angesichts einer solcherart empfundenen Unrechtslage Gewaltanwendung jeglicher Art – natürlich immer in „Notwehr“ – in jedem Falle legitimiert. Und ganz nebenbei wurde auch der Antisemitismus legitimiert. Bezogen auf die in einem Konkurrenz- oder auch Abhängigkeitsverhältnis zu Juden stehenden Personengruppen (z. B. Händler, kaufmännische Angestellte, Ärzte, Rechtsanwälte) bedeutet dies, dass in deren Projektion die ‚unsauberen Praktiken‘ der jüdischen Konkurrenz bzw. Arbeitgeber für bestehende Arbeitslosigkeit und Aufstiegsblockierung verantwortlich zeichnen würden. Diese Sichtweise war beispielsweise für einen Handlungsgehilfen insofern naheliegender, als es dann noch einen Ausweg gab, die Beseitigung der „Judenherrschaft”. Würde er aber andersherum (in marxistischer Denkrichtung) die zunehmende Konzentration als gesetzmäßig ansehen, sähe seine persönliche Perspektive schon subjektiv viel negativer aus. In der subjektiven Sicht der sich Radikalisierenden konnte sich der persönliche Aufstieg nur noch über einen radikalen gesellschaftlichen Wandel vollziehen; darin unterschied sich der NSDAPAngestellte nicht wesentlich vom ungelernten KPD-Arbeiter. Das in dieser Sichtweise nötige Zusammenstehen gegen den äußeren und inneren Feind wurde in den Begriff der „Volksgemeinschaft“ gegossen, der im übrigen auch keine Erfindung des Nationalsozialismus war, sondern sich schon seit dem Weltkrieg in Gebrauch befand und von allen „bürgerlichen“ Richtungen befürwortet wurde; die Unterschiede im Gebrauch dieses Terminus zwischen den rechten Organisationen waren lediglich gradueller Natur. Die Fiktion der „Volksgemeinschaft“ wurde zum kleinsten gemeinsamen Nenner, zur verbindenden Klammer für recht unterschiedliche gesellschaftliche Interessen: „In ihrem, von vielen Schlagworten umgegebenen Rahmen konnte nahezu jeder die Erfüllung seiner sozialen Sehnsüchte erwarten: von den enttäuschten Kriegsheimkehrern über die Jugend zu den Angestellten, Beamten und Bauern bis zu den Großagrariern, der Wirtschaft und dem Militär.“195 Der Gemeinschaftsgedanke hatte in Deutschland einen theoriegeschichtlichen und Rezeptions-Vorlauf seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufzuweisen196 und war nach dem

195 Franz Janka, Die braune Gesellschaft. Eine soziologische Thematisierung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, phil. Diss. Regensburg 1993, S. 6. 196 Vgl. ebenda, S. 57-88. 99 Weltkrieg in unterschiedlicher Intensität zum „bürgerlichen“ gedanklichen Allgemeingut avanciert: „Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass es ab der Jahrhundertwende, besonders aber nach 1918 nur noch ein beherrschendes geisteswissenschaftliches Thema gab: Die Gemeinschaft. Dabei soll die Streuung der Vorstellungen und Ziele nicht verwischt werden, die sich mit einer solchen Idee verknüpften. Gemeinschaftsutopien entwarfen die sozialistischen Gruppierungen genauso wie die nationalistischen, die völkischen wie die rassistischen, die berufsständischen wie die kirchlichen Verbände. Gerade diese Bandbreite unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen lässt sich als Indiz für die starke Hinwendung zum gemeinschaftlichen Ethos werten. Sie alle verband untereinander kaum ein ideologischer, weltanschaulicher oder religiöser Zusammenhang und doch ist bei so vielen dieser Traum von Einheit und Zusammengehörigkeit vorhanden. Die ‚große Sehnsucht nach Gemeinschaft‘ hatte das deutsche Volk ergriffen.“197 Die von der NSDAP offerierte Volksgemeinschaft wurde nicht etwa zufällig von den potentiellen Anhängern aufgegriffen, sondern man suchte v. a. innerhalb der „bürgerlichen“ Schichten angesichts der zunehmenden Krisensymptome nach einer Bewegung, die den nationalistischen Rausch des August 1914 und das verklärte Schützengrabenerlebnis des Ersten Weltkrieges, als es „nur noch Deutsche, und keine Parteien mehr“ gab und der Klassenkampf beseitigt schien, wiederaufleben lassen könnte.198 Insofern handelt es sich bei der Option für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft um das Unvermögen zur und die Angst vor der individuellen Wahrnehmung der eigenen Interessen, oder, wie der deutsche Soziologe Erich Fromm 1943 im amerikanischen Exil schrieb, die „Furcht vor der Freiheit“. Man wollte keine Konflikte mehr lösen müssen; die Volksgemeinschaft sollte alle Unterschiede in Herkunft, Stand, Beruf, Vermögen, Bildung, Wissen und Kapital einebnen. Und eventuell auch einen Ausweg aus dem abzusehenden individuellen „Versagen“ im Kampf um gesellschaftliche Positionen bieten, die eigene Niederlage ungeschehen machen. Der Gemeinschaftsgedanke erfuhr seine Verbreitung vor allem durch die Jugendbewegung seit Beginn des Jahrhunderts.199 Anhand der von Emma Hentschel200 und dem

197 Vgl. ebenda, S. 74. 198 „Der Krieg, die Erinnerung daran und das idealisierte Gefühl eines großen, tiefen Erlebnisses waren ein wichtiger Meilenstein für das Gemeinschaftsdenken. Die Frontgemeinschaft diente als Modell der Volksgemeinschaft, die Schicksalsgemeinschaft von 1914 als erster Ansatz einer alle Schranken und Klassenkämpfe überwindenden nationalen Gemeinschaft.“ ebenda, S. 85. 199 Vgl. ebenda, S. 78 ff. 200 Siehe Kapitel 3.3. 100 Bernburger Ortsgruppenleiter Kurt Kleinau bekannten Daten bzw. ihrer eigenen Aussagen ist exemplarisch nachzuverfolgen, dass das in der Jugend aktiv rezipierte Liedgut der zeitgenössischen Laienspielbewegung in seiner Propagierung des Idylls, des kleinen Glücks, den Boden für die Annahme des Volksgemeinschaftsgedankens vorbereitet hat.201 Im Kreis Bernburg trat mit der expliziten Betonung der „Volksgemeinschaft“ besonders der Bund Wehrwolf hervor, der zeitweilig auch die Führungsfunktion im völkischen Organisationsspektrum übernahm und der NSDAP von allen Gruppierungen auch am ähnlichsten war. Es steht außer Frage, dass die NSDAP äußerst aktiv für ihre Ziele geworben hat, doch hätte sie nie eine solche Bedeutung erlangt, wenn ihre späteren Trägerschichten nicht nach einer Partei dieses „volksgemeinschaftlichen“ Zuschnitts gesucht hätten. Auch die anderen „bürgerlichen“ Parteien, allen voran die Deutsche Volkspartei, spürten diese irrationale Massenstimmung und versuchten ihr zu entsprechen. Schon zu den Landtagswahlen im November 1924 hatte die „bürgerliche“ Sammlungsliste (ohne NSDAP) als „Bürgerliche Volksgemeinschaft“ firmiert, und im Kreis Bernburg trat z. B. die gemeinsame Liste der Rechten (incl. NSDAP) zu den Gemeinderatswahlen in Rathmannsdorf 1931 als Liste „Volksgemeinschaft“ auf. Doch die „bürgerlichen“ Parteien liefen den Ereignissen hinterher, die NSDAP war mit der aufkommenden Weltwirtschaftskrise letztendlich schneller und entschiedener. Der unbedingte Glaube an die „Volksgemeinschaft“ hob die Mitgliedschaft der NSDAP von der der übrigen „bürgerlichen“ Parteien und auch von der SPD ab. Sehr häufig vorkommende persönliche Angriffe wegen der Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Bewegung scheinen unter frühen Nationalsozialisten selbst dann noch diesen Glauben verstärkt zu haben, wenn sie in der Rücksichtnahme auf die eigene soziale Lage den erzwungenen zeitweiligen Austritt aus der Partei zum Ergebnis hatten.202

201 Gudrun Brockhaus, Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1997, pass.: Die Zustimmung zum NS gründete nicht in der nationalsozialistischen Ideologie, sondern im Alltäglichen, in der Dominanz „unpolitischer“ („deutscher“) Normen und Werte. Vgl. auch Hentschel, Jahre, S. 12. 202 Die Bemerkung des Gauschatzmeisters des Gaues Magdeburg-Anhalt 1934, dass „Arbeiter [...] als Bekenner zum Nationalsozialismus schnellstens aus Lohn und Brot getrieben wurden“ dürfte angesichts der sozialdemokratischen Übermacht in den Industriebetrieben nur wenig bis gar nicht übertrieben sein. Bundesarchiv Berlin, BDC, PK 1200021814. Otto Knapp, Schmied aus Aderstedt, Parteimitglied seit 1925, offiziell gestrichen bzw. ausgetreten per 30.4.1930, wiedereingetreten 1.5.1933, gab in der Beantragung zur Wiederzuteilung seiner alten Mitgliedsnummer im November 1933 an, dass er „im Jahre 1929 von seinen Arbeitskollegen derartig mißhandelt [wurde], dass es ihm nicht länger möglich war, öffentlich als Parteimitglied hinzutreten. Er ging, um seine Partei-Zugehörigkeit nicht ganz aufzugeben, in den Opferring, umso in finanzieller Hinsicht die Partei zu unterstützen.“ Bundesarchiv Berlin, BDC, PK 1060010528 (Formulierung des Gauschatzmeisters). 101 Nur am Rande sei bemerkt, dass auf der Seite des politischen Feindes die KPD ein analoges Heils-Modell anzubieten hatte und auch in der Sozialdemokratie zwar nicht der Volksgemeinschafts-Gedanke, doch aber der Führer-Begriff eine gewisse Konjunktur erlebte. Es ist weiterhin darauf hinzuweisen, dass die relativ große Resistenz der stark katholisch und kommunistisch durchsetzten Milieus gegenüber dem Nationalsozialismus aus der Sättigung mit Glaubensinhalten eigener Heilslehren herrührte. In einem gewissen Gegensatz zur Anbetung der „Volksgemeinschaft“ stand eine weit verbreitete unterschwellige Verklärung des Kaiserreiches, artikuliert nicht nur von Älteren, die damit die Hoffnung auf die Wiederherstellung einmal gehabter Privilegien und verlorenen Sozialprestiges verbanden,203 sondern auch von Jüngeren, die das Kaiserreich im Friedenszustand gar nicht mehr hatten wahrnehmen können. Die Tatsache, dass ein Teil der jetzt eintretenden NSDAP-Mitglieder die „goldenen“ Vorkriegs-Zeiten des Kaiserreichs mangels Alters nicht mehr bewusst erlebt hatte, tat dieser Projektion keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: um so leichter konnte an das Bild glauben, wer die seinerzeitige Wirklichkeit nicht kannte. Freilich, das Kaiserreich hatte den betroffenen Schichten tatsächlich gesicherte Lebenspositionen geboten. Brief eines Bernburger Kaufmanns an den Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei 1931 „Bernburg, den 13 Sept. 1931. An den Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei Herrn Dr. Dingeldey

in Berlin.

Sehr geehrter Herr Dr. Dingeldey. Sie werden entschuldigen daß ich Sie mit Schreiben belästige. Ich bin ein kleiner Mann des Volkes, als Geschäftsmann dem kleinen Mittelstand angehörend bin ich z. Zt. 47 Jahre alt. Solange ich wahlberechtigt bin habe ich immer nur volksparteilich gewählt und dabei sieht es nun so aus als hätte man sich nur das eigene Grab gegraben. Bei den ganzen Parteigezänk, welches ich ja nur aus der Zeitung erlese sehe ich bisher niemals daß auch nur des kleinen Mannes gedacht wird, und grade dies ist doch ein sehr hoher Prozentsatz der volksparteilichen Wähler, und lebt und strebt in diesen Sinne. Da aber nun gar nicht einmal nach denen gefragt oder auch nur einmal zu deren Rettung auch nur einmal etwas getan wird, höre ich aus immer weiteren Krei-

203 Vgl. zur Verklärung des Kaiserreiches auch den nachgestellten „Brief eines Bernburger Kaufmanns an den Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei 1931“. 102 sen es ist das letzte mal daß Sie in diesen Sinne gewählt haben. Mir liegt es fern zu tadeln oder Vorschläge zu machen nur gestatte ich mir einmal für den kl. Mittelstand darauf aufmerksam zu machen, die dauernde Steuerpressung hat den Kleinbetrieb gänzlich zum Erliegen gebracht. Treten Sie nun endlich einmal dafür ein daß der kleine Besitz und Betrieb durch Abgabenermäßigung geholfen wird, und durch Abgabe von Betriebskapital auf längere Frist geholfen wird. Wie schön war es in Deutschland in früherer Zeit. Da lies einer den anderen leben, der große und der kleine, und beide standen sich gut dabei, heute drängt sich alles nur an die Krippen und sucht einen Posten zu erwischen beileibe nur nicht arbeiten. Wielange soll dies noch dauern, wo sollen zuletzt noch Steuerzahler herkommen, dann doch nur kurz ein schreckliches Ende als ein Ende ohne Schrecken. Ich selbst benötige dringend ein kl. Kapital von 400 Mk. Vielleicht unterstützt die Volkspartei einmal einen langjährigen Wähler und guten Deutschen. Als Gegenleistung werde ich auch weiterhin bemüht sein wie bisher im Volksparteilichen Sinne in meinen Kreißen zu wirken. Es ist dies nicht nur ein Scherz grade unter Uns kleinen Leuten ist ein sehr guter Kern, der müste aber auch erhalten werden es ist ungefähr das Rückgrat der Armen[.] Nehmen Sie es nicht für ungut Herr Dr. Die Not for den Untergang treibt mich Namens des kleinen Mittelstandes zu diesen ungewöhnlichen Schritt. Ich hoffe Sie werden einen aufrechten deutschen Manne dies Vorgehen verzeihen, sowie mir geht es z. Zt. 100 000 kleiner Existenzen. Helfen Sie mir und ich wirke weiter im kleinen zum Wohle der Partei und das Ganzen. In besonderer Hochachtung Hermann Haase

Bernburg, Saale, Stiftstr.53“204

Noch fragwürdiger als der Volksgemeinschaftsgedanke in seiner völligen Negierung gesellschaftlicher Widersprüche zeigte sich die darauf aufsetzende quasi-religiöse Überhöhung des „Führers“.205 Die Person des gesamtnational auftretenden „Führers“ Adolf Hitler hob die NSDAP im Kreis Bernburg spätestens seit 1929 von den anderen völkischen Organisationen ab und sicherte ihr ihnen gegenüber auch in dieser Hinsicht einen nicht mehr aufzuholenden Vorteil, zumal es auch gelang, einen Teil des Hitler’schen Abglanzes auf den regionalen Stellvertreter, Gauleiter Wilhelm Loeper, zu

204 Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 45 II alt Vo 1/1, Nr. 78, Bl. 42 f. Hermann Haase ist im Adressbuch 1930 als „Kaufmann“ vermerkt und scheint Bernburg Anfang der 30er Jahre verlassen zu haben oder verstorben zu sein. Als NSDAP-Mitglied ist er nicht nachgewiesen. Die geschilderte materielle Lage scheint typisch für das ganze Untersuchungsgebiet gewesen zu sein. Laut Vw 03.03.1930 zahlten in der Stadt Bernburg 52 % und im Landkreis 54 % der Gewerbetreibenden keine Steuern. Die restlichen würden zu einem großen Teil lediglich einem Satz von jährlich 20 Mark unterliegen. 205 An den Besuch einer Rede des „Führers“ in Flensburg im Sommer 1932 erinnert sich Gerhard M.: „Ich verstand von der Rede nicht viel. Ich war von der sagenhaften Persönlichkeit aber so beeindruckt, daß das auch gar nicht notwendig war. Wir jungen SA-Männer hatten uns dem Führer eben mit Leib und Seele verschrieben. Er hätte den größten Quatsch reden könne, das hätte uns nicht angefochten. Er war eben ‚unser Führer‘.“ Zitiert nach: Breloer, Tagebuch, S. 31. 103 übertragen. Hinzu kommt, dass z. B. der Wehrwolf als eigentlich ernst zu nehmender regionaler Konkurrent sich nicht annähernd so professionell zeigte wie die NSDAP und dessen aus Bernburg stammender „Führer“ Fritz Kloppe in Halle nach wie vor einer Tätigkeit als Gymnasiallehrer nachging und es ablehnte, sich an Wahlen mit einer eigenen Liste zu beteiligen. 4.3.3 Biographische Beispiele: Ulrich von Bothmer, Kurt Kleinau, Alfred F. In der Hinwendung des Bund Oberland- und späteren Bernburger SA-Führers Hauptmann a. D. Freiherr Ulrich von Bothmer (geb. 1889) zur NSDAP wird die Zugkraft des Volksgemeinschafts-Gedankens deutlich. Bis 1929 war der Genralstabsoffizier des Ersten Weltkrieges, der es abgelehnt hatte, in die Reichswehr der Weimarer Republik übernommen zu werden und seit 1921 als kaufmännischer Angestellter der Metallwerke L. Kessler & Sohn in Bernburg tätig war, Parteigänger der Deutschnationalen Volkspartei gewesen. In seinen in den 50er Jahren niedergeschriebenen Erinnerungen bezeichnete er sich selbst aus seinem „ganzen Werdegang heraus [als] ein Kaisertreuer, treu dem Königshaus der Hohenzollern. Wohl sprachen mich die Ziele der NSDAP an. Ich sah in ihr den einzigen aussichtsreichen Gegner gegen Marxismus und Kommunismus und sah in dem Wollen der bürgerlichen Parteien einen Schrittmacher für den Marxismus, dem diese Parteien die breite Masse des Volkes über Not und Verzweiflung in die Arme trieb. Die Lehre ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ fesselte so ganz mein Herz. [! – T.K.] - Ich gehörte innerlich schon lange zu diesen nationalen Sozialisten. Und doch fand ich den Weg zur Partei erst nach langem Widerstreben, weil mich die oft zu Tage tretende Ablehnung gegen Monarchie und Hohenzollerntreue abstieß. Erst als ich erkannte, dass die bürgerlichen Parteien, auch die königstreue DNVP, niemals in der Lage sein würden, den wertvollsten, unverdorbensten, am wenigsten von Fäulnis ergriffenen Teil des Volkes, die Arbeiterschaft, aus den marxistischen Fängen zu retten, verschrieb ich mich ganz der Partei. Es ging nicht um die Monarchie, sondern um das deutsche Volk, die Rettung Deutschlands vor dem Bolschewismus.“206 Damit übertrug er auch die früher

206 Lebenserinnerungen Ulrich von Bothmer, Privatbesitz. Von Bothmer verließ (wahrscheinlich auch nach Auseinandersetzungen um den von ihm abgelehnten SA-Terror) Bernburg im März 1933 und trat in den Dienst des Freiwilligen Arbeitsdienstes, aus dem sich später der obligatorische Reichsarbeitsdienst entwickeln sollte. Er bekleidete zuletzt den Rang eines Generalarbeitsführers. Seit 1949 betätigte er sich in der Bundesrepublik an führender Stelle der 1952 verbotenen rechtsradikalen Sozialistischen Reichspartei. Vgl. Munzinger-Archiv/Internationales Biographisches Archiv 1/02, P 001316-3. 104 dem Kaiser geltende unbedingte gläubige Gefolgschaft auf Adolf Hitler. Auch bei von Bothmer gingen Volksgemeinschaftsgedanke und Führergläubigkeit eine kaum aufzulösende Einheit ein. Ob der nach dem Ersten Weltkrieg erlittene individuelle gesellschaftliche Statusverlust, der Abstieg vom Offizier zum kaufmännischen Angestellten, bei von Bothmer auch die Akzeptanz der Volksgemeinschaft beförderte, ist nicht mehr aufzuklären. Der spätere Bernburger Ortsgruppenleiter Bernburg-Wasserturm Kurt Kleinau steht beispielhaft für jene Mitglieder, die vor ihrem NSDAP-Eintritt noch nicht durch Mitgliedschaften im völkischen Spektrum hervorgetreten waren.207 Kurt Kleinau wurde 1899 in Bernburg geboren und schlug nach dem Besuch des Gymnasiums und der Teilnahme am Ersten Weltkrieg wie schon sein Vater die kaufmännische Laufbahn ein, zuerst seit 1919 als Volontär im Kaliwerk Solvayhall, danach seit 1920 als kaufmännischer Lehrling in der Bernburger Eisenwarenhandelsfirma Riebe. Nach der Lehre wurde er angestellter Reisender einer Magdeburger Firma für Werkzeugmaschinen und Werkzeuge. Kurt Kleinau verstand sich in dieser Funktion als einer herausgehobenen Angestelltenkategorie zugehörig und legte großen Wert darauf, nicht mit einem einfachen Vertreter gleichgesetzt zu werden.208 Aus der 1926 in einer wirtschaftlich sicheren Situation geschlossenen Ehe sollten vier Söhne hervorgehen. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise trafen Kurt Kleinau gleich zu deren Beginn; seine Magdeburger Firma musste liquidiert werden und er erhielt die Kündigung zum Jahresende 1929. Es gelang ihm aber, nach nur einem Vierteljahr von einer Leipziger Firma für Werkzeugmaschinen und Werkzeuge in gleicher Funktion eingestellt zu werden. Sehr wahrscheinlich hatte seine schnelle Einstellung bei einem artverwandten Unternehmen auch damit zu tun, dass er im Gegensatz zu anderen zu gleicher Zeit entlassenen Angestellten etwas anzubieten hatte, er nämlich über genaueste Kundenkenntnis verfügte und eventuell auch die Kundenkartei seiner Vorgängerfirma mit einbrachte. Allerdings verringerten sich in seiner neuen Stellung seine Bezüge um ein Viertel bis ein Drittel unter gleichzeitiger Ausweitung seines mit Reichsbahn und Fahrrad zu bereisenden Arbeitsgebietes, dessen größte Erstreckung von Wolfen-Bitterfeld bis nach Hannover-Kassel reichte.

207 Quellen der nachfolgenden Darstellung: Tagebuchauszüge und Notizen Kurt Kleinau (Privatbesitz); Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG 3405000474; BDC, Mitgliederkartei. 208 Beim Eintritt in die NSDAP gab er als Beruf – obwohl Angestellter – „Kaufmann“ an. Diese Selbsterhöhung ist typisch für die Berufsgruppe der kaufmännischen Angestellten. Vgl. Bundesarchiv Berlin, NSDAP-Mitgliederkarteien. 105 Eine akute materielle Notlage der Familie ist trotz des reduzierten Einkommens – auch angesichts der Tatsache, dass man kostengünstig im Haus der Schwiegermutter wohnte – zu keiner Zeit zu erkennen. Doch das Damoklesschwert des sozialen Abstiegs schwebte ständig über ihnen; nach einer Tagebuchaufzeichnung vom August 1932 war Kurt Kleinau auch in seiner neuen Leipziger Firma schon dreimal vorsorglich gekündigt worden und momentan schon seit einem Dreivierteljahr auf Kurzarbeit von 75 % gesetzt, was natürlich auch die Geldeinkünfte der Familie um ein weiteres Viertel reduzierte, d. h. das Arbeitseinkommen hatte sich gegenüber 1929 etwa halbiert. Normale Erwerbsverhältnisse sollten sich für ihn erst wieder 1934 ergeben. Eine frühe wie auch immer geartete völkisch-antisemitische Prägung lässt sich bei Kurt Kleinau nicht ausmachen. Auch hatte er nach dem Weltkrieg keinem Freikorps angehört. Selbst über eine eventuelle vorherige Stahlhelm-Mitgliedschaft ist nichts bekannt. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass er möglicherweise frei von Nationalismus gewesen wäre, eher im Gegenteil, ein strammer Nationalismus gehörte zur Grundausstattung aller „bürgerlichen“ Schichten. Seine Mitgliedschaft im liberalen Gewerkschaftsbund der Angestellten deutet darauf hin, dass er bei den Reichstagswahlen seine Stimme wohl der Deutschen Volkspartei oder gar der Deutschen Demokratischen Partei gegeben haben wird. Zudem gehörte er nach 1923 dem etablierten „bürgerlichen“ Bernburger Ruderclub Hansa an. Trotzdem ist sein Eintritt in die NSDAP zum 1. November 1931 unter der Mitgliedsnummer 680964 nur auf den ersten Blick überraschend. Bei genauerer – retrospektiver – Betrachtung zeigt sich, dass er für eine NSDAP-Mitgliedschaft geradezu ideal vorbereitet war. Als Jugendlicher hatte er der Wandervogel-Bewegung angehört und in dieser Zeit wahrscheinlich auch die dort propagierte Gemeinschaftsvorstellung geteilt. Diese dürfte weitere Bestätigung in der Teilnahme am Weltkrieg 1917- 1919 erfahren haben. Und schließlich gehörte er der die NSDAP tragenden Generation an, deren Mitglieder schon vor der Weltwirtschaftskrise in ihrem Aufstieg und nun auch in ihrer materiellen Existenz bedroht waren. Auch in seinem Falle besteht ein deutlicher Bezug zwischen dem drohenden sozialen Abstieg und der Hinwendung zur NSDAP; der Beginn seiner Kurzarbeit und der Eintritt in die NSDAP fielen zeitlich zusammen. Es könnte dies der Punkt gewesen sein, an dem ihm bewusst wurde, dass ein weiterer gesellschaftlicher Aufstieg und die damit angestrebte Geltung209 ihm versagt bleiben und

209 Das in ihm tief verwurzelte Geltungsbedürfnis zeigte sich selbst noch in den 40er Jahren während seiner Teilnahme am Zweiten Weltkrieg, als er beharrlich darum kämpfte, zum Offizier befördert zu werden. Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, Oberstes Parteigericht, 3405000474. 106 er in seinem Leben möglicherweise nie die gesellschaftliche Stellung seines (nicht in die NSDAP eingetretenen) Vaters erlangen würde, der die Position eines geachteten 1. Expedienten beim Kaliwerk Solvayhall bekleidet hatte und zur Skatrunde des Inhabers des jüdischen Bankhauses Gumpel zählte.210 Nun sind solcherlei soziale Abstiegsbewegungen, so unangenehm sie dem Betroffenen auch erscheinen mögen, durchaus normal und auch für die Gesellschaft insgesamt nicht problematisch, wenn sie sich mit Aufstiegsbewegungen die Waage halten. Dem war aber in der Weltwirtschaftskrise nicht so; vielmehr befand sich eine ganze Generation in einem vergleichbaren Abstieg und in einer nahezu identischen Widerspiegelung dieser Lage. Im Tagebuch Kurt Kleinaus liest sich der Vermerk über den NSDAP-Beitritt dann auch so, als hätte er etwas getan, was jetzt alle tun: „Auch ich stehe in der sogen. ‚Braunen Armee‘“. Insofern ist anzunehmen, dass die Verhängung der Kurzarbeit für ihn nur den letzten Anlass zu einem Schritt bildete, der früher oder später auf jeden Fall zu erwarten gewesen wäre. Denkbar ist aber auch, dass seine Zugehörigkeit zu einer von ihm selbst als herausgehoben empfundenen Angestelltenkategorie ihn besonders radikal auf die bis vor kurzem kaum denkbare Verschlechterung seiner sozialen Situation reagieren ließ. Wie viele andere dieser Eintrittsjahrgänge auch stürzte Kurt Kleinau sich fanatisch und ausdauernd in die Parteiarbeit. Im Zuge der Expansion der Partei stieg er im November 1932 zum Zellenleiter und im März 1934 zum Ortsgruppenleiter der neugegründeten Ortsgruppe Bernburg-Wasserturm auf. Seine beiden ältesten Söhne sollten später die Nationalpolitische Bildungsanstalt in Ballenstedt besuchen, deren Absolventen für Führungspositionen im Dritten Reich vorgesehen waren. Da seine Wohnung sich in einer Gegend mit starker Arbeiterbevölkerung befand machte ihn sein Engagement für die NSDAP gelinde gesagt nicht beliebter; die Familie wurde nach dem Parteieintritt des Mannes gemieden, die Frau auf offener Straße angespuckt, das „Nazischwein“ war in der Wohngegend verhasst. Auch einige Aufträge gingen ihm dadurch verloren, dass er bei den potentiellen Kunden mit Parteiabzeichen am Rockaufschlag vorsprach. Andererseits war er wohl gerade durch seine großflächigen Geschäftskontakte als Multiplikator wichtig für die Partei. Insgesamt scheint er auch nach 1933, wie im übrigen auch die schon vorgestellte Emma Hentschel, keinen erkennbaren persönlichen materiellen Ge-

210 Eine analoge Konstellation ist für Werner W. (geb. 1907), Sohn eines Bernburger Fahrradhändlers, bis 1931 jahrelang arbeitslos und dann in die NSDAP eingetreten, nachweisbar. Vgl. Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZA 3799/55, Obj.8, Bl. 3. 107 winn aus seiner Aktivistenrolle für die NSDAP gezogen zu haben. Nach seinem eigenen Bekunden sollte sich an der oftmals stark ablehnenden Haltung ihm als Nationalsozialisten gegenüber erst nach 1933 etwas ändern; man kann aber davon ausgehen, dass er hier zumindest in Teilen „geachtet“ und „gefürchtet“ verwechselt hat. Letzteres deutet aber auf den eigentlichen Gewinn hin, den er aus seinem Engagement für die „Bewegung“ zog, er konnte damit – wie übrigens auch Emma Hentschel über die Positionen ihrer Kinder – die für ihn so wichtige gesellschaftliche Geltung erlangen.211 In ähnlicher Stärke wie bei Emma Hentschel war der unbedingte Führerglaube auch bei Kurt Kleinau ausgeprägt. In einer Tagebuchnotiz vom August 1932 schreibt er, nachdem er die grassierende Arbeitslosigkeit beklagt hat: „Zur Wiederaufrichtung des Glaubens an ein besseres Deutschland ist uns ein fast namenloser Führer entstanden, Adolf Hitler“. Ein von ihm selbst verfasstes und auch veröffentlichtes Gedicht „Deutsche Weihnacht 1933“ ist in seiner Aussage eindeutig, der „Führer“ erscheint hier als ‚Heiland‘, der die Deutschen ins ‚gelobte Land‘ – sprich: die „Volksgemeinschaft“ – führt, wo dann alle glücklich miteinander leben werden:213 Kurt Kleinau vor dem Abmarsch zum NSDAP-Reichsparteitag 1937212

211 Kurt Kleinau wurde 1939 als Ortsgruppenleiter der Ortsgruppe Bernburg-Wasserturm abgesetzt und mit zweijährigem Ausschluss von allen Funktionen bestraft, weil er versucht hatte, durch Abänderung einer Fahrradkarte die Deutsche Reichsbahn um 40 Pfennige zu betrügen. Es ist zu vermuten, dass der Vorfall dem jetzigen Kreisleiter eine billige Gelegenheit war, den noch von seinem Vorgänger eingesetzten Ortsgruppenleiter durch einen eigenen Gefolgsmann zu ersetzen. 212 Quelle: Privatbesitz. 213 Im Nachlass Kurt Kleinaus (Privatbesitz) findet sich nur der betreffende Zeitungsausschnitt mit den seine Autorschaft belegenden Initialen ohne konkreten Nachweis der Quelle. 108 „Deutsche Weihnacht 1933 Draußen ist’s finster, Draußen ist’s kalt, Draußen steht schwarzer, schweigender Wald. In uns aber leuchtet der Stern Unseres Heilands, unseres Herrn Der Menschheit zur Freude, Der Menschheit zum Frieden, Ist einst er gekommen Zur Erde hienieden! Draußen ist’s finster, Draußen ist’s kalt, Draußen – verlor sich die Menschheit bald! Da sandte uns Gott Den Führer aus Not, Den wirklichen Kämpfer Für Freiheit und Brot. Er ist uns gesandt zur Erde hienieden, Der Menschheit zu bringen einen wahrhaften Frieden! Drum ist’s uns nicht dunkel! Drum ist’s uns nicht kalt! Denn der Führer führt uns, Und das gibt uns Halt! Er gab zurück uns das Gottvertrau’n! So lasset uns alle mit ihm bau’n Das heilige deutsche Reich hienieden, Allen Menschen zum Wohlgefallen und Frieden!“ Alfred F. wurde 1908 als Sohn eines seit 1911 in Bernburg ansässigen Bäckermeisters geboren. In den Jahren 1915 bis 1923 besuchte er das Bernburger Karls-Realgymnasium bis zur Untertertia und trat danach bei der Firma Heinrich Koch Co. Zigarrenfabriken Bernburg, in die kaufmännische Lehre ein, bei er auch nach Beendigung der Lehrzeit bis Ende 1926 als Angestellter verblieb. Von Anfang 1927 bis Mai 1929 war er bei der Bernburger Bank AG als Angestellter beschäftigt, um dann im Juni 1929 als Bürobeamter in die Zentralverwaltung der Deutschen Solvay-Werke AG in Bernburg überzuwechseln. Eine über längere Zeit andauernde wirtschaftliche Notlage ist aus dieser lückenlosen und eher einen beruflichen Aufstieg markierenden Erwerbsbiographie kaum zu konstruieren. In gleicher Weise geradlinig wie seine Erwerbsbiographie vollzog sich sein politischer Werdegang. Anfang 1924 war er im Alter von 14 Jahren Mitbegründer 109 des Scharnhorst, Ortsgruppe Bernburg, und trat im August desselben Jahres zum Jungwolf, der Jugendorganisation des Wehrwolf, über. 1925 wurde er dann dem Wehrwolf überwiesen, von dem aus er im Herbst 1926 zum Bund Oberland übertrat. Nach der Auflösung des letzteren trat er per 1. Januar 1930 im Alter von 21 Jahren in die NSDAP und im Juli 1931 auch in die SS ein. 1934 heiratete er die Tochter eines Bernburger Justizsekretärs, eine ehemalige „Wehrwolf-Opferschwester“.214 Angesichts seines geradlinigen beruflichen Werdeganges stellt sich die Frage nach den Gründen für sein kontinuierliches aktivistisches Engagement im völkischen Spektrum. So man denn subjektiv so empfundene und auf eine politische Ebene projizierbare Zurücksetzungen als mit verursachend für eine Radikalisierung annimmt, bietet sich hierfür im Falle F.’s eher die Erwerbsbiographie des Vaters an. Der Vater ist in den Bernburger Adreßbüchern als selbständiger Bäckermeister zweifelsfrei nur bis 1913 nachweisbar; nach dem Ersten Weltkrieg gab es die Bäckerei F. nicht mehr.215 Damit wäre auch zu erklären, warum Alfred F. nicht, wie es vom Sohn eines Bäckermeisters zu erwarten gewesen wäre, den Bäckerberuf erlernte und das Handwerk des Vaters fortführte, sondern die Angestelltenlaufbahn einschlug. Sofern man vor allem in persönlichen Demütigungen den Hauptgrund für die Radikalisierung sehen möchte, so bietet sich im Falle Alfred F.’s das zu vermutende familiäre Trauma des Statusverlustes an, das zudem durch den Sohn eine Überantizipation erfuhr. Der Vater selbst ist nicht als NSDAP-Mitglied nachweisbar.

Zusammenfassend ist für das Untersuchungsgebiet festzustellen, dass der typische Nationalsozialist der Aufstiegsphase eben nicht der sadistische, womöglich noch aus dem Lumpenproletariat stammende prügelsüchtige SA-Mann war, sondern ein relativ junger, eher weicher Kleinbürger, dessen Lebensentwürfe sich vor dem Hintergrund eines überfüllten Arbeitsmarktes und der Weltwirtschaftskrise als nicht realisierbar erwiesen. Fragt man nach dem Gewinn, den die in der Organisation bleibenden Mitglieder der Jahre 1930/31 aus ihrer Mitgliedschaft zogen, so war es über alle dargestellten Gruppen hinweg ein Zugewinn an Selbstwertgefühl und subjektiver Zukunftsgewißheit.

214 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, RS 6010007878 (Lebenslauf); NSDAP-Datensatz. 215 Der Vater wird im Personenteil der Adressbücher zwar weiterhin als Bäckermeister bzw. Bäckermeister i. R. geführt, doch beruhen diese Angaben auf Selbstauskünften.

5. 1932/33: Vorauseilender Gehorsam „Das Bürgertum flattert nun einmal dahin, wo die Macht ist und wo es sich Vorteile erhofft [...]“. Wilhelm Loeper, Landesinspekteur für Mitteldeutschland-Brandenburg, in einem Stimmungsbericht vom 11. November 1932 an die NSDAPReichsorganisationsleitung.216 5.1 Nationalsozialistische Machtübernahme in Anhalt Am 24. April 1932 waren die anhaltischen Nationalsozialisten am Ziel. In den Landtagswahlen gewannen sie 15 der 32 Mandate und konnten in der Folge eine nationalsozialistisch-rechtsbürgerliche Regierung unter dem nationalsozialistischen Staatsminister Dr. Freyberg, bis dahin Rechtsanwalt im preußischen Quedlinburg, bilden.217 Schon in den Kommunalwahlen im Oktober 1931, als die NSDAP in den Städten ihren Erfolg aus den Reichstagswahlen des Vorjahres wiederholen konnte,218 hatte sich dieser Wahlsieg angedeutet. Seit Dezember 1918 hatte die SPD in Koalition mit der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (Deutsche Staatspartei) und der Gruppierung der Bodenreformer nahezu ununterbrochen das Land regiert. Angesichts dieser in der Weimarer Republik nur noch in Hamburg in gleicher Weise anzutreffenden Regierungskontinuität erstaunt die mit dem nationalsozialistischen Wahlsieg sichtbar gewordene deutlich schnellere Faschisierung219 des noch aus der Zeit des Kaiserreichs mit langen liberalen und rechtsso-

216 Bundesarchiv Berlin, NS 22/426. Die Funktion des Landesinspekteurs bestand nur von August bis Dezember 1932, davor und danach war Wilhelm Loeper Gauleiter Magdeburg-Anhalt. 217 Das ‚sozialistische‘ Wählerlager (SPD und KPD) konnte in Bernburg nur noch 44 %, im Landkreis 49 % der gültigen Stimmen erzielen. (SPD allein 35 bzw. 32 %). 218 In der Bernburger Stadtverordnetenwahl im Oktober 1931 erhielten bei insgesamt 30 zu vergebenden Mandaten: SPD 10, KPD 4, NSDAP 11, restliche „bürgerliche“ Listen 5. 219 Der Faschisierungsprozeß verlief in Anhalt, gemessen an den Wahlergebnissen zu den Reichstagswahlen, zwischen 1930 und 1932 sichtbar schneller als im Reich; der Nationalsozialismus erreichte hier schon Mitte 1932 den Zenit seines Masseneinflusses. Die Wahlergebnisse der NSDAP zu den Reichstagswahlen 1928-1933 in Anhalt und im Deutschen Reich (in % der gültigen Stimmen):

Anhalt Deutsches
Reich
1928 (Mai) 2 3
1930 (September) 20 18
1932 (April, Landtagswahl)* 41 -- 1932 (Juli) 46 37
1932 (November) 40 33
1933 (März) 46 44

112 zialdemokratischen politischen Traditionen versehenen Kleinstaates. Die Ursachen für diese anhaltische Vorreiterrolle sind einerseits struktureller Art. Die vergleichende historische Wahlforschung hat gezeigt, dass die NSDAP vor allem in Gebieten besondere Erfolge erzielen konnte, die protestantisch dominiert waren und eine kleinstädtischländliche Siedlungsstruktur sowie einen hohen industriellen Entwicklungsgrad aufzuweisen hatten. In solcherart anfälligen Regionen war von vornherein die Schwäche zweier glaubensintensiver und somit vor dem Nationalsozialismus immunisierender Richtungen, des politischen Katholizismus (Zentrumspartei) und des Kommunismus, zu erwarten. Diese Voraussetzungen trafen auf Anhalt in fast schon idealer Weise zu. Die noch im Herzogtum wirksamen Traditionen kompromissorientierter Konfliktaustragung 220 traten angesichts einer zunehmenden Deregionalisierung der Politik und angesichts des Generationswechsels unter Politikern und Wählern im nunmehrigen Freistaat Anhalt inzwischen in den Hintergrund. Doch neben diesen strukturellen Gründen waren es vor allem aus der politischen Entwicklung des Landes resultierende Ursachen, die für den NSDAP-Wahlsieg 1932 verantwortlich zeichneten. Über den ganzen Zeitraum der Weimarer Republik hinweg vollzog sich unter den Wählern des „bürgerlichen“ resp. „nationalen“ Wählerlagers eine Verlagerung des Schwerpunktes zu den rechts stehenden Parteien. Diese Verlagerung führte, korrespondierend mit der Entwicklung auf Reichsebene, aber in Anhalt von einem deutlich höheren Niveau ausgehend, zur Marginalisierung der an der Landesregierung beteiligten Deutschen Demokratischen Partei. Seit Beginn der Weimarer Republik bestand in der Mitte der anhaltischen Gesellschaft ein politisches Potential ohne traditionelle Loyalitätsbindungen an eine konkrete Partei. Sozial wurde dieses Potential vor allem repräsentiert durch die zahlenmäßig weiter anwachsende Schicht der Angestellten und Beamten. Es band sich 1918/19 an die DDP bzw. in geringen Teilen auch an die SPD, begann jedoch schon 1920 zur gerade gegründeten DVP hin abzuwandern. Diese fing es bis zum Ende der 20er Jahre auf, konnte es aber gleichfalls nicht dauerhaft an sich binden und verlor es nach 1928 bis hin zum Wahlsieg 1932 an die NSDAP. Den Regierungsparteien SPD und DDP war dadurch, dass die Radikalisierung des „nationalen“ Lagers in den ihnen sozial am nächsten stehenden Sozialschichten stattfand, jede Ausdehnungsmöglichkeit genommen. Vielmehr verloren sie gerade dort – in der Mitte der Gesellschaft – weiter an Einfluss. Durch das Schwinden der Substanz des Koaliti-

220 Vgl. Kupfer, Weg, pass. 113 onspartners DDP war es der SPD schon nach den Landtagswahlen 1928 nur noch möglich gewesen, mit dieser eine Minderheitsregierung einzugehen. Von vornherein war diese Regierung auf die Stimmenthaltung der KPD oder einzelner rechtsbürgerlicher Abgeordneter angewiesen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten schwanden in dem gleichen Maße, wie bei den Oppositionsparteien die Obstruktionspolitik Oberhand gewann. 221 Diese fragile Konstruktion führte mit zunehmender Radikalisierung der politischen Auseinandersetzungen in der Weltwirtschaftskrise zur Regierungsunfähigkeit. Die Demontage des parlamentarischen Systems vollzog sich schon seit 1928 durch die rechtsbürgerlichen Parteien zu einer Zeit, als die NSDAP noch ohne politische Bedeutung war. Damit bereiteten DVP und DNVP den Boden für deren Erfolg. Und sie taten dies viel wirkungsvoller als es die Schimpftiraden des zu dieser Zeit einzigen NSDAPLandtagsabgeordneten, Gauleiter (und später NS-Reichsstatthalter) Hauptmann a. D. Wilhelm Loeper, im anhaltischen Landtag vermocht hätten. Auslösend für den rigiden Konfrontationskurs seitens der Deutschen Volkspartei scheint das von der SPD 1928 abgelehnte Koalitionsangebot – die SPD wollte nicht ohne den bewährten Koalitionspartner DDP regieren, was wiederum die DVP nicht tolerieren wollte – gewesen zu sein. Im Kreis Bernburg wurde diese strikte Konfrontation in erster Linie durch die führende „bürgerliche“ Zeitung, den „Anhalter Kurier“ des Herrn Zweck von Zweckenburg, umgesetzt.222 Das Jahr 1930 ist als das Jahr der irreversiblen Weichenstellung in Richtung der nationalsozialistischen Herrschaft in Anhalt anzusehen. Die SPD war durch den lange verschleppten Konkurs des von ihr begründeten Anhaltischen Siedlerverbandes, durch eine Korruptionsaffäre und ein wirtschaftspolitisches Kompensationsgeschäft zum Schaden der Region um Leopoldshall im Zusammenhang mit dem Verkauf der Anhaltischen Salzwerke an die Preußag und durch den aus wahlarithmetischen Gründen angestrebten Anschluss Anhalts an Preußen schwer kompromittiert. Hinzu kamen etliche kleinere Skandale, wie etwa in der Landeshauptstadt Dessau die Eingemeindung der Dörfer Jonitz, Naundorf, Scholitz, Pötnitz und Dellnau, die wiederum eigentlich die Wahlchancen der SPD hatte verbessern sollen. Mit den per Gesetz dem Dessauer Gemeinderat aus diesen Dörfern zugeteilten Vertretern wurden dann je ein sozialdemokratischer und ein

221 Vgl. Kupfer, Sozialdemokratie, S. 58-64, 79-85. Siehe auch die Tabelle „Mandatsverteilung im Anhaltischen Landtag 1918-1932“ im Teil B: Dokumentation. 222 Vgl. Vw 17.01.1930. 114 demokratischer Stadtrat auf die Dauer von zwölf Jahren gewählt, was zum dauerhaften Auszug der Rechtsparteien aus dem Gemeinderat führte. Das von der rechten Seite des politischen Spektrums strapazierte Wort vom „Bonzentum“ ließ sich auch auf Ebene des Kreises Bernburg durchaus verifizieren. 1928 wurden dem Reichsbannervorsitzenden und ab 1930 auch Vorsitzenden des SPD-Ortsvereins Bernburg, Oberstadtsekretär Ewald Lichtenberg, Unterschlagungen in seiner Funktion als Vorsitzender des Mietervereins Bernburg in Höhe von mehreren tausend Mark nachgewiesen, die für ihn allerdings wegen der allgemeinen Konfusion im Mieterverein strafrechtlich ohne Folgen blieben.223 Schon im August 1927 war der Parteisekretär für den SPD-Unterbezirk Anhalt II (Bernburg-Köthen-Ballenstedt), Fritz Jungmann, wegen Unterschlagung aus der Partei ausgeschlossen worden.224 Ende 1929 musste sich der Nienburger SPD-Stadtrat Gödicke mit – im wesentlichen unberechtigten – Vorwürfen auseinandersetzen, er hätte gleichzeitig die Bezüge als besoldeter Stadtrat und Arbeitslosenunterstützung erhalten.225 Kurz darauf wurden Anfang 1930 im Bereich des Konsumvereins Bernburg Unterschlagungen aufgedeckt. Ein Kassierer und ein Lagerhalter aus Hecklingen schossen sich daraufhin eine Kugel in den Kopf.226 1930 war schließlich auch das Jahr des Konkurses des Anhaltischen Siedlerverbandes. Schon Ende 1929 hatte seitens der Bernburger SPD offiziell festgestellt werden müssen, dass sich der von ihr initiierte Siedlerverband mit dem Projekt Friedrichshöhe – von den Gegnern nach der Bauform „Zickzackhausen“ getauft – übernommen habe.227 Kurz: die Partei war durch die sich häufenden Skandale schwer diskreditiert. Der vor allem mittels Pressekampagnen und Verleumdungsklagen vorgetragene konzentrierte Angriff der Rechtsparteien gereichte jedoch in den Reichstagswahlen des Jahres 1930 nur zu einer Stärkung der NSDAP. Die DVP als bisher führende Kraft des „bürgerlichen“ politischen Spektrums orientierte sich unter dem Eindruck des Aufstiegs der NSDAP gänzlich um und ordnete sich ihr mehr und mehr unter. Ein letzter Versuch, mittels eines – gescheiterten – Volksbegehrens zur Landtagsauflösung Anfang 1931 die

223 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, IV/403/269. Die kommunistische „Tribüne“ (Magdeburg) witzelte am 05.05.1928: „Kein Engel ist so rein, wie es ein Lichtenberg will sein.“ Zitiert nach: ebenda. 224 Vgl. Ebersbach, Geschichte, S. 180. 225 Vgl. Vw 20.12.1929, 08.02.1930. 226 Vgl. Vw 15.01.1930. Der Kassierer überlebte den Selbstmordversuch. 227 Vgl. Kupfer, Sozialdemokratie, S. 97-103; Vw 12.12.1929. 115 Initiative zurückzugewinnen, schlug fehl. Die Nationalsozialisten hatten von Anfang an klargestellt, dass sie sich nicht vor den volksparteilichen Karren spannen lassen würden. Die NSDAP wurde zur neuen integrierenden Kraft des „bürgerlichen“ Spektrums. Den politischen Kräften rechts der regierenden Koalition ging es – wie 1924, als schon einmal eine „bürgerliche“ Einheitsliste existierte – um die Ausschaltung der Sozialdemokratie. Alle anderen Fragen erwiesen sich demgegenüber als sekundär.228 Der akute Abstieg der anhaltischen Sozialdemokratie in die politische Zweitrangigkeit begann nach den Gemeinderats- und Kreistagswahlen im Herbst 1931. Für die Sozialdemokraten gab es auf kommunaler Ebene keinen politischen Gestaltungsspielraum mehr, durch die Umschichtung im „bürgerlichen“ Lager zugunsten der NSDAP waren „die Schreier an die Stelle praktischer Politiker getreten“.229 Die nationalsozialistischbürgerlichen Mehrheiten verhinderten die Mitarbeit von „Marxisten“ in den Kommissionen und verweigerten die bis dahin übliche Wahl eines Vertreters der zweitstärksten Partei (d. h. jetzt in der Regel der SPD) zu Vizevorsitzenden; es begann die Suspendierung von sozialdemokratischen Angestellten und Beamten. In den Kommunalparlamenten selbst kam es zu von den NSDAP-Abgeordneten angezettelten Prügeleien. Die Minderheitskoalition von SPD und Staatspartei auf Landesebene sah sich durch die oppositionellen Parteien von links und rechts blockiert. Ende 1931/Anfang 1932 wurde die Regierung Deist-Weber mehrfach über Misstrauensvoten gestürzt und anschließend mit absoluter Mehrheit wiedergewählt.230 Rechtsbürgerliche, Nationalsozialisten und Kommunisten231 verhinderten zusammen die Verabschiedung eines Etats für 1932, so

228 Vgl. u. a. Robert Schule, Staatspolitik, Parlamentarismus und Landwirtschaft, in: Landbund-Jahrbuch für Mitteldeutschland 1928, Erfurt 1928, S. 39 f. 229 Volksfreund für Zerbst und Umgegend (im Folgenden: VfZ), 26.10.1931. Schon im Februar 1930: Das Niveau der Landtagsverhandlungen sei mittlerweile unerträglich herabgesunken. Die „Bürgerlichen“ ließen dem NSDAP-Führer Loeper alles durchgehen, weil es gegen die Sozialdemokraten gehe. Vgl. VfZ 07.02.1930. 230 Nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die Regierung Deist-Weber im Dezember 1931 wurde dieselbe im Januar 1932 mit absoluter Mehrheit wiedergewählt (Deist mit 17 von 33 im ersten, Weber mit 17 von 32 im zweiten Wahlgang - im ersten 17 von 35). Vgl. VfZ 08.01.1932. Der nächste Misstrauensantrag folgte Anfang Februar 1932 und kam mit 19 (Rechtsparteien und Kommunisten) zu 17 Stimmen (SPD und DStP) durch. Vgl. VfZ 03.02.1932. Wenn Winkler feststellt, dass die SPD im Reich nach dem 20. Juli 1932 „auf einen reinen Beobachterstatus zurückgefallen” war, so gilt dies für die anhaltische Sozialdemokratie spätestens schon seit den April-Wahlen 1932, wahrscheinlich aber schon seit den Kommunalwahlen vom Herbst 1931: „Irgendeinen Einfluß auf den Gang der Politik übten sie nicht mehr aus.” Winkler, Heinrich August, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin/Bonn 1987, S. 840. 231 Der Beteiligung der KPD an den Misstrauensvoten lag wahrscheinlich die – in dieser Konstellation schon 1928 (!) geplante – Absicht zugrunde, die SPD in ihrer Politik nach links zu treiben, oder aber über die Destabilisierung der Verhältnisse selbst ein höheres politisches Gewicht zu erlangen. Vgl. Stiftung 116 dass nur ein Notetat beschlossen werden konnte. Und nicht zuletzt belegen zahlreiche Beleidigungs- und andere Verfahren, dass die Justiz in Anhalt zu diesem Zeitpunkt schon streng rechts Urteile fällte.232 Schon seit April 1931 war die Bernburger Stadtverordnetenversammlung nicht mehr arbeitsfähig. In Stellvertretung der dort zwischen 1928 und 1931 nicht vertretenen NSDAP betätigte sich vor allem der deutschnationale Fraktions- und Ortsgruppenvorsitzende Dachpappen-Kleinfabrikant Dr. Philipp als Untermineur demokratischer Verfahrensweisen und sorgte maßgeblich dafür, dass die Rechtsfraktionen und die Kommunisten die Bürgermeisterwahl sabotierten. Kennzeichnendes Merkmal der die Demontage des parlamentarischen Systems vorantreibenden Politiker war in erster Linie deren Profillosigkeit. Für Bernburg sind in jenen Jahren lediglich zwei über die Stadtgrenzen hinaus profilierte Politiker auszumachen: der „Volkswacht“-Redakteur und Stadtverordnetenvorsteher (bis 1931) Budnarowski und der von der Rechten ebenfalls heftig befehdete demokratische Oberbürgermeister Gothe. Nach den Gemeinderatswahlen vom Oktober 1931 waren KPD und SPD in den Kommissionen der meisten Gemeinderäte nicht mehr vertreten, sie wurden durch die nunmehrigen nationalsozialistisch-bürgerlichen Mehrheiten ferngehalten. In der Stadt Bernburg standen elf nationalsozialistischen und fünf ‚Rest’-bürgerlichen lediglich noch zehn sozialdemokratische und vier kommunistische Stadtverordnete gegenüber, wobei auch jetzt noch SPD und KPD angesichts der über Jahre beiderseits sorgfältig kultivierten Feindschaft sich zum abgestimmten Vorgehen bis zum Ende im Jahre 1933 unfähig zeigten. Die Möglichkeiten zur Verhinderung der nationalsozialistischen Machtübernahme in Anhalt waren von vornherein äußerst begrenzt. Die NSDAP stellte nach der Landtagswahl vom April 1932 mit ihren 15 Landtags-Mandaten einen derartig großen Block dar – 19 Mandate waren für eine Mehrheit nötig –, dass eine Regierungsbildung ohne sie kaum möglich war. Es hätten schon KPD, SPD, DDP, DVP und der Anhaltische Hausbesitz ein Bündnis schließen müssen, um die NSDAP von der Regierung fernzuhalten.

Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv / Zentrales Parteiarchiv der SED, I 3/12/15. 232 So wurde z. B. gegen den Bernburger „Volkswacht“-Redakteur Johann Budnarowski in einer Beleidigungssache ein vollkommen willkürliches Strafmaß verhängt (es ist fraglich, ob überhaupt eine Straftat vorlag). Bemerkenswerterweise war keines der Mitglieder des Gerichts Mitglied der NSDAP (der Staatsanwalt und wahrscheinlich auch einer der beiden Besitzer traten ihr erst 1937 bei). Vgl. Vw 14.01.1932; Bundesarchiv Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkarteien. 117 Ein vollkommen utopisches Projekt, schließlich liefen gleich zwei ‚Feindeslinien‘ durch diese gedachte Gruppierung. Doch war die Regierungsbildung der NSDAP nicht unausweichlich. Die vom ehrgeizigen Dessauer Rechtsanwalt Dr. Eisenberg233 geführte Deutsche Volkspartei hätte es in der Hand gehabt, durch ihre Verweigerung nur eine Minderheitsregierung aus NSDAP, DNVP und Hausbesitz zuzulassen; hätte der Hausbesitz sich auch noch verweigert wären Neuwahlen die unweigerliche Folge gewesen. Das konnte jedoch nicht in der Intention der DVP liegen. Man hatte seit mehr als einem Jahrzehnt daran gearbeitet, die verhasste Sozialdemokratie endlich abzuservieren. Aus welchem Grunde sollte man sich jetzt dem endgültigen Sieg verweigern – auch wenn dieser von einer anderen Partei erzielt worden und man selber nur noch Zaungast des Geschehens war? Die weitere Entwicklung sollte zeigen, wie ähnlich sich Deutsche Volkspartei und NSDAP inzwischen waren. Anfang Juli 1932 trat die anhaltische Landesorganisation der Deutschen Volkspartei – ihre Kapitulation vor der NSDAP besiegelnd – aus der Partei aus. Im Anschluss daran wurden Ortsgruppen der „Nationalliberalen Partei“ gegründet. Auf deren Dessauer Gründungsversammlung erklärte der Landtagsabgeordnete Dr. Eisenberg, die Nationalliberale Partei „sehe ihre Aufgabe nicht in der Bekämpfung irgendeiner nationalen Bewegung. So stelle sie sich 100prozentig hinter den Geist der Nationalsozialisten gegen die Erfüllungspolitik [der Forderungen des Versailler Vertrages – T. K.], setze sich 100prozentig ein für den Grundsatz ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ und für den Ausgleich zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. In diesem Sinne sei seine Partei 100prozentig nationalsozialistisch. Dagegen lehne die Nationalliberale Partei 100prozentig jeden wirtschaftlichen Sozialismus ab.“234 Im Klartext: nationalistisch durchtränkter Wirtschaftsliberalismus, der sogar die NSDAP als „sozialistische“ Partei einstufte.235 Von der Bindung an eine demokratische Staatsform hatte man sich schon lange vorher verabschiedet; daran änderte auch ein formales antidiktatorisches Bekenntnis nichts. Die Anfang August 1932 von Dr. Eisenberg veröffentlichten programmatischen Grundsätze der nur noch eine marginale Rolle

233 Nicht zu verwechseln mit dem Bernburger Rechtsanwalt gleichen Namens. 234 Anhalter Anzeiger, Dessau, 09.07.1932 (Hervorhebungen in der Quelle). Vgl. auch ebenda, 27.04.1933: Ablehnung einer Listenverbindung in den „Wahlen“ aufgrund des 1. Gleichschaltungsgesetzes zwischen „Nationaler Mitte” (DVP) und „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot” (DNVP) durch Dr. Eisenberg, die der NSDAP die absolute Mehrheit gekostet hätte. 235 Vgl. AK 03.08.1932 („Reichstagswahl und Nationalliberale Partei“). 118 spielenden Nationalliberalen Partei begannen mit dem Satz „Wir wollen national sein.“236 Tatsächlich waren die Unterschiede zwischen NSDAP und DVP – wie auch den anderen rechtsbürgerlichen Parteien – schon im Jahre 1930, dem Jahr des Führungswechsels, lediglich noch gradueller Natur gewesen. Die Wahrnehmungsmuster waren dieselben. Durchweg sahen sie sich von der sozialdemokratisch-demokratischen Regierung unterdrückt und gedemütigt und konstruierten eine real nicht existente „geschlossene Linke“. Differenzen zwischen DVP und NSDAP bestanden lediglich noch in der Frage der von der DVP angestrebten „bürgerlichen“ Einigung, die für die NSDAP deswegen kein Thema war, weil der Begriff der „Volksgemeinschaft“ sich schon als wesentlich zugkräftiger erwiesen hatte, weiterhin in dem von der DVP kaum praktizierten Antisemitismus, im nur von der NSDAP praktizierten Terror als Propagandainstrument und schließlich in der Ablehnung der scheinsozialistischen Phraseologie der Nationalsozialisten durch die DVP. Doch gerade diese Unterschiede dürften die NSDAP für die ihr von den rechtsbürgerlichen Parteien zuströmenden Wähler attraktiv gemacht haben. Der Dessauer „Anhalter Anzeiger” schrieb schon im Wahlkampf 1924: „Es geht eine tiefe Sehnsucht durch die Massen, eine Sehnsucht nach Kraft und Macht.”237 Und diese Sehnsucht versprach die NSDAP wesentlich effektiver zu befriedigen als alle anderen „bürgerlichen“ Parteien. Die Sozialdemokratie als bei weitem größte anhaltische Partei weigerte sich sehr lange, die NSDAP als eigenständige politische und soziale Bewegung wahrzunehmen. So sah der tonangebende Sozialdemokrat im Kreis Bernburg, der „Volkswacht“-Redakteur Johann Budnarowski, den Nationalsozialismus noch 1930 als „vorübergehende Erscheinung“ an.238 Bezeichnend für den Fokus der sozialdemokratischen Führung ist, dass der seinerzeitige sozialdemokratische Ministerpräsident Heinrich Deist selbst noch in einem 1951 verfassten Lebenslauf schrieb, dass in Anhalt „1932 [...] die Deutschnationalen mit den Nazis die Mehrheit bekamen.“239 Es war eben umgekehrt! Doch diese Ver-

236 Vgl. Bundesarchiv Berlin, NS 5 VI / 704 (Mitteilungen der Nationalliberalen Partei Anhalts Nr. 4). 237 Anhalter Anzeiger, 06.11.1924. 238 Vw 15.09.1930 (Leitartikel zum Ausgang der für die NSDAP triumphal verlaufenen Reichstagswahlen). 239 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, IV/8/185, Bl. 40. Die Deistsche Sichtweise scheint auf den Landtagshorizont vor 1932 reduziert. Vgl. z. B. Antrag des nationalsozialistischen Abgeordneten, Gauleiter Hauptmann a. D. Loeper, und der deutschnationalen Abgeordneten des Anhaltischen Landtages vom 5. September 1930: „Der Landtag wolle beschließen, das 119 wechslung zeigt, dass die NSDAP seitens großer Teile der Sozialdemokratie auch zu einem Zeitpunkt noch als Anhängsel der Deutschnationalen wahrgenommen wurde, als letztere schon relativ unbedeutend waren und nur noch zum Mehrheitsbeschaffer der NSDAP taugten. Es war denn auch die mangelnde Trennschärfe zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten, die Budnarowski veranlassten, in letzteren permanent ‚gekaufte Subjekte‘ zu sehen. Bei ländlichen deutschnationalen Arbeitgebern scheinen solche Beeinflussungs-Praktiken durchaus üblich gewesen zu sein, doch hinsichtlich der NSDAP ist nicht festzustellen, dass sie davon erfaßt worden wäre. Große Teile der mittlerweile auch schon in die Jahre gekommenen anhaltischen SPD konnten sich jedoch nicht von alten, früher einmal auch richtigen und vor allem vertrauten Sichtweisen trennen. Schließlich hatte man auch 1924 das Bürgerblock-Intermezzo schon nach einem Vierteljahr beenden können. Die anhaltische Sozialdemokratie befand sich zudem gerade zu Anfang der 30er Jahre in einer tiefen inneren Krise. Der Generationskonflikt war aufgebrochen, kam aber nicht zur Lösung, weil infolge des sich auch in der Arbeiterschaft auswirkenden politischen Rechtsrutsches ein genügend starker Zulauf an jungen Mitgliedern fehlte. Die Partei überalterte tendenziell, die alten bewährten Funktionäre waren für neue Herangehensweisen nicht zu gewinnen. In der Reaktion der anhaltischen SPD auf die akute nationalsozialistische Bedrohung veranschaulichen sich denn auch sowohl der begonnene Führungswechsel als auch der reichsweite Konflikt zwischen Abwartehaltungen einerseits und aktivem Auftreten gegen die Gefährdung der Weimarer Demokratie andererseits.240 Für die Gegenpole in der anhaltischen Sozialdemokratie standen zwei Personen: Heinrich Peus, der als Chefredakteur des „Volksblattes für Anhalt“ der anhaltischen Sozialdemokratie vier Jahrzehnte die (gemäßigt-reformistische) Richtung vorgegeben hatte, und Gerhart Seger, der neue Chefredakteur, ein gemäßigter Linker. Peus stand für das Ignorieren, Seger für die aktive Bekämpfung des Nationalsozialismus.241 Der Meinungsbildner der Bernburger Sozialdemokraten, der „Volkswacht“-Redakteur Budnarowski, ist eindeutig der Seger-Linie zuzuordnen. Doch auch er war nicht bereit, seine dezidiert antikommunistische Position zeitweilig für ein taktisches Bündnis mit der

Uniformverbot gegen die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei mit sofortiger Wirkung aufzuheben.“ Anhaltischer Landtag. 4. Wahlperiode 1928/30, Drucksache Nr. 111. 240 Vgl. Wolfram Pyta, Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1989, S. 194 ff. 241 Vgl. Kupfer, Sozialdemokratie, S. 121-129. 120 KPD in den Hintergrund treten zu lassen. Noch auf der Unterbezirkskonferenz Anhalt II Anfang Februar 1933 äußerte er, auf ein entsprechendes Angebot der KPD eingehend, es könne keine Einheitsfront mit der KPD geben, solange sie andere Ziele als die SPD verfolge und sich nicht auf den „Boden des Gesetzes” stelle.242 Soweit überschaubar, täuschte sich die anhaltische SPD in ihrer Gesamtheit auch über den sozialen Charakter der nationalsozialistischen Bewegung. Die NSDAP galt bei ihr zumeist als „arbeiterfeindlicher Mittelstand”.243 In den verschiedensten Orten waren jedoch unübersehbar Arbeiter auf Kandidatenlisten der NSDAP vertreten, ohne dass dies innerhalb der sozialdemokratischen Führerschaft zu weitergehenden Überlegungen geführt hätte. Bestenfalls wurden diese Arbeiter als eigens für den Stimmenfang bei Proletariern aufgestellte Alibikandidaten angesehen. Ansonsten sei die Arbeiterschaft gegen die NSDAP immun. So wurde im Februar 1932 aus Coswig berichtet, dass man sich durch Einsicht in deren Mitgliederliste davon hätte überzeugen können, dass der NSDAP in Coswig weniger als 5 % Arbeiter angehörten. Das könnte zwar für die besonderen Coswiger Verhältnisse einer sozial relativ homogenen Arbeiterschaft und einer übermächtigen lokalen Arbeiterbewegung zutreffend gewesen sein, repräsentativ für das ganze Land war dies, wie auch diese Untersuchung zeigt, mit Sicherheit nicht.244 Denkbar ist, dass seitens der aktiven Sozialdemokraten nur Industriearbeiter als „Arbeiter“ angesehen wurden, die „untypischen“ Arbeiter in Handwerksbetrieben einschließlich der als Gesellen mitarbeitenden Meistersöhne jedoch nicht. Doch auch dies dürfte die Differenz zwischen der Anschauung der örtlichen Sozialdemokratie und den tatsächlichen Mitgliederverhältnissen in der NSDAP nur zu einem Teil ausfüllen. Für Budnarowski blieb der Nationalsozialismus in sozialer Hinsicht eine „Entartungserscheinung der absterbenden Schichten des Bürgertums. Schichten, die durch den Krieg in Krisen gerieten, verhinderte Parvenus, die nicht mehr Kommerzienrat werden können, Kleinbürgertum, das von der Inflation ausgepowert wurde, beruflos gewordene Offiziere und asoziale Elemente des Bürgertums, die im Notfalle den § 51 für sich reklamieren, aka-

242 Vw 06.02.1933. Vgl. auch Vw 12.01.1933. 243 VfZ 23.01.1932. 244 Vgl. VfZ 08.02.1932. In gleicher Richtung argumentierte selbst 1946 noch der durchgängig in Bernburg ortsansässige Vorsitzende der FDGB-Verwaltungsstelle Bernburg, Karl Speckhardt, gegenüber der sowjetischen Kommandantur (Bericht per 31.5.1946): „Die Zahl der NSDAP-Mitglieder in der Arbeiterschaft war verhältnismäßig niedrig. Sie beschränkte sich in der Hauptsache auf die Kreise der Angestellten, Beamten und freien Berufe. Wenn wir für die Arbeiter etwa 5-7 % als Mitglieder der NSDAP ansetzen, dürften wir den tatsächlichen Verhältnissen sehr nahekommen.“ Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, FDGB-Bezirksvorstand Halle, Nr. 5159. 121 demisches Proletariat, Antisemiten, das Lumpenproletariat der Bourgeoisie und leider auch Teile des Proletariats, die sich kaufen lassen, bilden die Gefolgschaft des Faschismus. Durch Geld kann man leider auch heute noch Menschen kaufen. Programmlosigkeit ist der Ausdruck dieser Bewegung. [...] Diese zwei Kräfte: rückwärtsgerichtete, absterbende Gesellschaftsschichten und aufsteigende Jugend, hat der Faschismus in seinen Dienst gestellt.“245. So ist denn auch erklärlich, warum der Antikommunist Budnarowski sich Anfang 1930 in der Beurteilung der NSDAP mit der KPD einig wissen konnte: „Der Faschismus ist das Kampfmittel des Kapitalismus gegen das emporstrebende Proletariat. Weil der Faschismus die kapitalistische Diktatur erstrebt, deshalb wird er vom Kapital ausgehalten.“246 In Bernburg als Referenten auftretende auswärtige Funktionäre – im speziellen aus Magdeburg – hatten einen ersichtlich realistischeren Blick auf die NSDAP-Anhängerschaft.247 Auch die anderen anhaltischen Parteien scheinen den besonderen sozialen Charakter der nationalsozialistischen Gefolgschaft nicht erkannt zu haben. Beispielsweise findet sich in den ansonsten sehr ausführlichen Lebenserinnerungen des seinerzeitigen langjährigen Dessauer Oberbürgermeisters Fritz Hesse (Deutsche Staatspartei) kein Vermerk zu dieser Frage, was nur dahingehend zu deuten ist, dass er sich die Entstehung der nationalsozialistischen Partei auch in späteren Jahren nicht hinreichend erklären konnte. Nach der Wahlniederlage in der Landtagswahl 1932 wurden der bereits ihrer parlamentarischen Wirksamkeit beraubten SPD jetzt auch die Möglichkeiten der politischen Artikulation überhaupt beschnitten. Das Verbot der sozialdemokratischen Presse im Juli und November 1932 und von sozialdemokratischen Wahlversammlungen und -plakaten entwickelte sich zum integralen Bestandteil nationalsozialistisch-bürgerlicher ‚Wahlkampfmaßnahmen‘ des Ministeriums Freyberg. Anstelle politischer Kundgebungen der Eisernen Front war in der zweiten Jahreshälfte 1932 legal allgemein lediglich noch die Veranstaltung von „Unterhaltungsabenden” möglich. Auch war der Straßenterror mit

245 Vw 03.04.1930. 246 Vw 20.03.1930. 247 Der Redakteur der „Reichsbannerzeitung“ Nikolaus Osterroth betonte die Rolle der Angestelltenschaft und der Jugend für die nationalsozialistische Massenbasis. Vgl. Vw 03.10.1930. Der Jugendfunktionär Max Westphal wies auf einer gemeinsamen Versammlung der Partei- und Gewerkschaftsjugend auf die – im vorherigen Kapitel auch für Bernburg nachgewiesene – Stellung der NSDAP zwischen den beiden traditionellen politischen Lagern hin: „Es sind also nur die entwurzelten Schichten oberhalb der Arbeiterschaft und unterhalb des Bürgertums, die in der Hauptsache das Wählerkontingent ausmachten.“ Der „wirkliche Arbeiter“ hingegen sei in der sozialdemokratischen und teilweise auch der kommunistischen Arbeiterbewegung anzutreffen. Vw 03.11.1930. Vgl. auch ebenda, 20.05.1932. 122 der Machtübernahme der NSDAP nicht mehr vorwiegend eine Angelegenheit, die zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten ausgetragen wurde; jetzt wurden auch Reichsbanner-Angehörige, Versammlungen der Staatspartei usw. gewaltsam angegriffen. Die anhaltische Sozialdemokratie als bisher dominierende Partei verstand es nicht, sich der beständigen Einengung ihres politischen Spielraumes zu erwehren. Sie blieb - wie die auch die Reichs-SPD - „nur ein Wahlverein, [...] eine Wahlmaschine” und machte keine Anstalten, „sich mit jedem tauglichen Mittel als Machtfaktor” durchzusetzen, „wenn nicht innerhalb des Parlaments, dann außerhalb des Parlaments.”248 Man war nicht bereit, sich das ‚Recht auf die Straße‘ zu erkämpfen. Freilich hatte das in der anhaltischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die schon im Kaiserreich streng legalistisch geprägt war, auch keine Tradition. Selbst nach der Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 gab es keinen offenen Protest. Die sozialdemokratische Parteiorganisation blieb ohnmächtiger Beobachter ihres eigenen Niedergangs. Die Deutsche Staatspartei, zu deren Versammlungen in Dessau zuletzt fast nur noch die jüdischen Mitglieder kamen, hatte dem Aufstieg der NSDAP gleichfalls nichts entgegenzusetzen. Vielmehr wurde das Verhältnis zur SPD insbesondere in der Landeshauptstadt Dessau noch dadurch belastet, dass von dort polizeiliches Einschreiten gegen die NSDAP gefordert, vom demokratischen Oberbürgermeister jedoch relativ selten dem entsprochen wurde. Der „Volksblatt“-Chefredakteur Seger zog daraus schon 1930 den Schluss, „daß im demokratisch-sozialdemokratischen Lande Anhalt und in der Stadt Dessau die verfassungstreue Bevölkerung minderen Rechtes ist.”249 Die Entfremdung zwischen Sozialdemokraten und Demokraten (Staatspartei) zeigte sich auch darin, dass dem demokratischen Oberbürgermeister der Landeshauptstadt bei seinem erfolglosen Bestreben, das Bauhaus gegen die Angriffe der Nationalsozialisten und rechtsbürgerlichen Parteien in Dessau zu halten, 1932 nur noch die Kommunisten zur Seite standen.

248 Florian Geyer [Hans Muhle], Der Zusammenbruch Brünings, in: Neue Blätter für den Sozialismus, 3 (1932), Heft 6 (Juni 1932), S. 285, zitiert nach: Helga Grebing, Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in: Wolfgang Luthardt (Hg.), Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927-1933, Bd. 2, Frankfurt am Main 1978, S. 268. 249 VfZ 01.09.1930 (Anlass: Versagung der Genehmigung zur Abhaltung einer SPD-Gegenkundgebung gegen eine genehmigte NSDAP-Kundgebung). Gerhart Seger auf einer Parteiversammlung im September 1931 in Dessau: „Es sei auf die Dauer politisch unerträglich, welche Kämpfe man in Dessau jedesmal führen müsse, ehe sich der demokratische Oberbürgermeister zu einer Aktion gegen die Nazis verstehe.” VbA 16.09.1931; vgl. auch ebenda, 17.09.1931. 123 Trotz des Mitglieder- und Wähleraufschwungs der NSDAP gab es in Bernburg und den benachbarten Orten keinen den umliegenden preußischen Gebieten vergleichbaren SATerror. In erster Linie verantwortlich dafür scheint die Person des schon erwähnten SAFührers von Bothmer gewesen zu sein, der Gewalt als Mittel der Politik ablehnte. Bothmer selbst schrieb in seinen Erinnerungen: „Ich war ein eifriger S.A. Führer, besaß in meinem S.A.- Reservesturm eine große Gefolgschaftstreue und Liebe, aber dieser ‚Reserve‘-Sturm war bei den jungen ‚aktiven‘ Stürmern und vor allem bei ihren Führern nicht beliebt. Unbeliebt nicht etwa, weil wir ein ‚Altherren-Sturm‘ waren, der sich schonte, nur angab. Oh nein, wir setzten uns vorbildlich ein, alles alte Soldaten des ersten Weltkrieges, die das Fürchten verlernt hatten. – Nein, wir hatten, was Dienstauffassung, Einsatzfreudigkeit, betraf, den besten Ruf auch bei den ‚Aktiven‘. Wo wir einen Saalschutz übernahmen oder in kommunistische oder marxistische Versammlungen als Schutz für unsere Diskussionsredner geschickt wurden, da kam es niemals zu ernstlichen Zusammenstößen und Schlägereien, weil von uns keine Provokationen erfolgten und weil wir aber in der Haltung alter Soldaten zum Ausdruck brachten, daß wir, sollte es zu handgreiflicher Auseinandersetzung kommen, unseren Mann stehen würden. Auch unsere politischen Gegner achteten uns. So wurden die SA- Reservisten Bothmers gerne dorthin geschickt, wo es brenzlig roch und doch Wert auf ruhigen Ablauf gelegt wurde. Auch die übergeordnete SA.- Führung und politische Leitung wußte: ‚Da passiert nichts.‘ – Auch die Polizei sah uns deshalb gerne. Aber wir waren nicht beliebt, und ich war ein Dorn im Auge den S.A.- Vorgesetzten, dem Sturmbannführer R., dem Standartenführer M.; denn wir waren keine Rabauken, wir lehnten das rabaukenhafte Auftreten ab. – Ich selbst erlitt manche Kränkung: ‚Der Hauptmann‘, ‚der verkappte Reaktionär‘. Man machte es mir schon nicht leicht, immer diszipliniert mit Überwindung manch inneren Widerstandes die übernommenen Pflichten durchzuhalten. – Oft verstanden mich auch selbst die Getreuen nicht, wenn ich streng darauf sah, daß nicht einmal ein ‚wilder Mann‘ vor besonders gefährlichem Einsatz eine Schußwaffe einsteckte. Nicht immer fand ich Verständnis, wenn ich sagte: ‚Nur der Feige und Schwächling greift zur Pistole. Der Starke verläßt sich auf sein tapferes Herz und seine Kräfte.‘ – Denke ich an diese Zeit zurück, so muß ich sagen: ‚Politiker‘ war ich nicht. - S.A.- Mann. Ein Mann, der bereit war, unter persönlichem Einsatz die politische Führung vor Terror zu schützen.“250 Freilich war auch von Bothmer nicht davon frei, die öffentliche Präsenz der SA zur Einschüchterung politischer Gegner zu nutzen.251

250 Lebenserinnerungen Ulrich von Bothmer, niedergeschrieben in den 50er Jahren, Privatbesitz. 1933 124 In völligem Gegensatz zu Bernburg stand jedoch die preußisch-anhaltische Grenzdoppelstadt Staßfurt-Leopoldshall, die, wie auch die umliegenden Orte auf beiden Seiten der Grenze, vom „Staßfurter SA-Mordsturm“ unter dem im kriminellen Milieu verwurzelten Führer Ernst Oehmig beherrscht wurde. Dieser SA-Sturm beging über Jahre hinweg gezielt Überfälle auf politische Gegner (sehr oft im Stil eines motorisierten Überfallkommandos mit dem Auto eines Pfarrerssohnes), ohne dass die Angehörigen dieses SA-Sturms von der rechtslastigen Justiz dafür angemessen belangt worden wären. Auch einige ungeklärte Todesfälle wurden zeitgenössisch ihnen zugeschrieben. Erst im Dritten Reich kam der Stern Oehmigs wieder zum Sinken.

trat von Bothmer, obwohl ihm der Posten des Bernburger Oberbürgermeisters angeboten worden wäre, aus der SA aus und in den Freiwilligen Arbeitsdienst ein und verließ Bernburg. Adolf Brandes, bis 1935 Geschäftsführer einer Eisenhandlung in Bernburg und NSDAP-Mitglied seit November 1931, gab 1958 über Ulrich von Bothmer eidesstattlich zu Protokoll: „Von Bothmer hat in der Zeit vor der Machtübernahme niemals zu den sogenannten Rabauken gehört, die Unrecht andersdenkenden Personen gegenüber begangen haben. Er ist nach der Machtübernahme aus der SA. ausgetreten, weil ihm der Ton und das Auftreten derselben nicht mehr zugesagt hat.“ Kopie aus Privatbesitz. 251 Tagebucheintragung eines Ballenstedter Pfarrers, 15.03.1933: „Der Bernburger Kreisoberpfarrer Kluge richtet an die NSDAP ein seelsorgerliches Schreiben, in dem er bittet, man möchte bei Reden die Meinungen der anders Denkenden achten. So etwa der Tenor seines Schreibens, über das und seine Absendung ich ohne seine Kenntnis nicht urteilen will. Am Vorabend des Volkstrauertags sitzt Kluge in seinem Studierzimmer, seine Predigt memorierend. Da wird ihm ein Hauptmann a. D. ‚von Sowieso‘ (den Namen habe ich nicht behalten) gemeldet. Der Herr, der Führer der NSDAP [der SA – T.K.], tritt ein und ersucht den Kreisoberpfarrer, ihm nach draußen zu folgen. Kluge entschuldigt zunächst, er sei schon in Hausschuhen – o bitte, das macht nichts. So folgt Kluge ihm auf die Straße – mir übrigens unbegreiflich – , findet dort vor seiner Tür eine Naziabteilung von an die 50 Mann aufmarschiert, hinter ihr ein Haufe Volks. Und nun putzt der Kerl den Kreisoberpfarrer vor versammelter Menge wegen seines Schreibens herunter!! Als der gute Kluge nun seinerseits das Worte ergreifen will heißts: ‚Rechts um! Bataillon marsch!‘“ Günther Windschild und Helmut Schmid (Hg.), Mit dem Finger vor dem Mund ... Ballenstedter Tagebuch des Pfarrers Karl Fr. E. Windschild 1931-1944, Dessau 1999, S. 57-59. 125

Aus einer Beurteilung des SA-Obersturmbannführers Ernst Oehmig, Staßfurt, durch den SA-Standartenführer Rabe, Stendal, 4. Mai 1935:252 „Obersturmbannführer Oehmig und ich sind etwa zur gleichen Zeit im Jahre 1930 in Stassfurt zur SA gekommen. Die damalige Standarte 6, deren Sitz in Stassfurt war, hatte zu dieser Zeit sehr schwere Kämpfe gegen die Kommune auszustehen. Der jetzige Obersturmbannführer Oehmig war in Stassfurt als einer der grössten Schläger bekannt, es war aber auch gleichzeitig bekannt, dass er sich an politischen Auseinandersetzungen bis dahin wenig oder garnicht beteiligt hatte. [Dafür erhielt er aber allein 1920-24 zehn Vorstrafen wegen Diebstahl und schwerem Diebstahl. – T. K.] Der damalige Führer der Standarte 6, jetzige Brigadeführer Michaelis, hatte Oehmig persönlich zum Eintritt in die SA bewogen. Während der ganzen folgenden Kampfjahre wurde Oehmig stets dort eingesetzt, wo wir uns mit der Faust behaupten mussten. Sein Einsatz war damals für uns von sehr wesentlicher Bedeutung, denn zum grossen Teil seinem Durchgreifen, richtiger gesagt seinen Fäusten, verdankte die Stassfurter SA, dass sie sich bald, den um das vielfache stärkeren Gegnern gegenüber auch auf der Straße behaupten konnte. Oehmig’s Beispiel hatte naturgemäss aus den Reihen der bisher politischen Gegner Männer mit zur SA gebracht, die uns für den Kampf auf der Strasse ähnlich wertvoll waren. Ich habe im gleichen Gebiete wie Oehmig bis zu Ende März 1934 in der SA gewirkt, glaube daher ihn ziemlich gut zu kennen. Oehmig war sehr gut verwendbar als SA-Mann, er war soweit es damals erforderlich war, auch diszipliniert. Er führte später einen Sturm für den er sorgte. Seine Achtung, die er sich im Sturm errang, beruhte jedoch schon damals weniger auf Führereigenschaften als auf seinen körperlichen Kräften und seinem dementsprechenden Durchgreifen. Als Sturmbannführer wurde er nach einer Besichtigung, bei welcher er dem Gruppenführer Schragmüller in Hecklingen einen verstärkten Sturmbann voll ausgerüstet zur Besichtigung stellte, gelegentlich der Führerbesprechung in Wernigerode vor versammeltem Führerkorps zum Obersturmbannführer befördert. Nach der Machtergreifung kam Oehmig persönlich [als nunmehriger Staßfurter Ratsherr – T.K.] in den Vordergrund. Behörden, wie z.B. der Bürgermeister Kraatz in Stassfurt und auch industrielle Werke bewarben sich – wie damals üblich – um das Wohlwollen am Orte massgeblicher SA-Führer, wodurch in Oehmig bald ein Maßstab für Trennung des Scheins vom Sein verloren ging. Er schien zu glauben, nun eine gehobene Rolle spielen zu müssen, die ihm aber auf Grund dessen, dass ihm weder Zeit noch Gelegenheit gegeben war, auch seine geistigen Fähigkeiten seiner Stellung entsprechend entwickeln zu können, misslingen musste.“ 253 252 Bundesarchiv Berlin, BDC, SA-P 4001004897, Bl. 84. 253 Oehmig wurde im Mai 1939, nachdem er auch im Dritten Reich sein kriminelles Vorleben fortgesetzt hatte und seine Vorgesetzten immer weniger in der Lage waren, ihn zu decken, vom Landgericht Magdeburg wegen fortgesetzter Hehlerei, sachlicher Begünstigung in zwei Fällen sowie wegen einfachen gemeinschaftlichen Diebstahls in zwei Fällen unter Einbeziehung einer früheren Strafe seitens der gleichen Strafkammer vom Februar desselben Jahres zu einer Gesamtstrafe von 2 Jahren 6 Monaten Gefängnis und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf zwei Jahre verurteilt. Im gleichen Zeitraum erfolgte sein Ausschluss aus der NSDAP und die Aufnahme in die „Schwarze Liste“ der für eine Wiederaufnahme dauerhaft gesperrten Personen. Aufgrund der sich häufenden Vorkommnisse war er schon im Februar 1936 zum Austritt aus der SA genötigt worden. Im Dezember 1948 verurteilte ihn das Landgericht Magdeburg auf der Grundlage des Befehls 201 der Sowjetischen Militär-Administration zu 12 Jahren Zuchthaus. Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, SA-P 4001004897; PK 1080085037; OPG 3401001304; Freiheit (Ausgabe Bernburg) 18.12.1948; Die Wahrheit über die Erschießung des Franz Ciclik am 11. Februar 1933 in Hecklingen, Hecklingen 1946. 126 Die Sonderrolle Bernburgs in Bezug auf den SA-Terror drückt sich auch in der von politischen Auseinandersetzungen geforderten Zahl der Todesopfer aus. Nach dem ersten Toten anlässlich des schon geschilderten Vorfalls aus dem Jahre 1923 wurde erst am 3. März 1933 wieder ein wohl dem kommunistischen Spektrum zuzurechnender Arbeiter aus einer vorbeiziehenden NS-Demonstration heraus erschossen.254 Doch nach dem Weggange des SA-Sturmbannführers von Bothmer kam es unter dem aus Staßfurt geholten Sturmbannführer Kautz zu gleichen Zuständen wie in Staßfurt-Leopoldshall und Hecklingen. In Staßfurt hatte es schon im Herbst 1932 bei schweren Zusammenstößen drei Tote gegeben und am 4. Februar 1933 schließlich war der sozialdemokratische Erste Bürgermeister Hermann Kasten auf offener Straße von einem nationalsozialistischen Oberschüler erschossen worden.255 Die bisher in Bernburg unterlassenen systematischen Misshandlungen der unterlegenen politischen Gegner wurden in Bernburg in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1933 ‚nachgeholt‘.256 Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst unterlagen seit 1933 der vorherigen Überprüfung auf politische Zuverlässigkeit seitens der zuständigen NSDAP-Kreis- oder auch Gauleitung. In deren Ergebnis wurde eine Anzahl von Angestellten und Beamten entlassen und durch „alte Kämpfer“ ersetzt, in der Stadtverwaltung Bernburg betraf dies z. B. aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums mindestens sechs exponierte ehemalige SPD-Mitglieder und eine „Halbjüdin“.257 Diese Entwicklung vorausahnend hatten schon 1932 Beamte und Angestellte (sogenannte „Mantelträger“) die SPD anscheinend in größerer Zahl verlassen.258

254 Vgl. Vw 07.03.1933. 255 Vgl. Beatrix Herlemann, „Wir sind geblieben, was wir immer waren, Sozialdemokraten“. Das Widerstandsverhalten der SPD im Parteibezirk Magdeburg-Anhalt gegen den Nationalsozialismus 1930-1945, Halle (Saale) 2001, S. 71 f. Vgl. auch Wahrheit über die Erschießung, pass. 256 Vgl. „Bericht des SA-Sturmführers Gerhard Boas über die Misshandlungen von SPD-Funktionären in Bernburg in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1933“ im Teil B: Dokumentation. In Hecklingen bei Staßfurt z. B. hatten diese Misshandlungen bereits am 14.05.1933 stattgefunden. Vgl. Freiheit (Ausgabe Bernburg) 18.12.1948. 257 Vgl. Stadtarchiv Bernburg, 6/106, o. Bl. (Erinnerungen Paul Weineck, AOK Bernburg); 6/109 (Stadtverwaltung), o. Bl. Zur Einstellung von „alten Kämpfern“ in der Stadtverwaltung Bernburg vgl. allgemein Stadtarchiv Bernburg, 6/489, 6/659, 6/666, 6/667. Antwort der NSDAP-Kreisleitung auf eine der üblichen Überprüfungs-Anfragen hin: „Von einer Einstellung des Volksgenossen [...] wollen Sie absehen.“ Der Bewerber bekam nur mitgeteilt, dass eine Einstellung nicht erfolgen könne. Vgl. Stadtarchiv Bernburg, 6/666, o. Bl. 258 Vgl. Vw 10.01.1933 (Leopoldshall), 06.03.1933 (Unterbezirkskonferenz Anhalt II: Austritte 1932 aus „wirtschaftlichen“ Gründen). 127 Die Machtübernahme auf Reichsebene 1933 verschaffte der NSDAP auch einen Zugriff auf die Unternehmen der Privatwirtschaft. Einerseits waren die Unternehmensführungen darauf bedacht, im Interesse einer optimalen Geschäftsführung ein gutes Verhältnis zu den neuen Machthabern zu pflegen. Andererseits trat auch die NSDAP in Gestalt der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation jetzt sehr offensiv gegenüber den Geschäftsführungen auf. Die Wege, die in diesem Spannungsfeld von den Unternehmensführungen gegangen wurden, waren durchaus unterschiedlich. So reichten Geheimrat Eilsberger von den Deutschen Solvay-Werken in Bernburg für diese – nach heutiger Begrifflichkeit „Landschaftspflege“ – schon einige Spenden an NSDAPGauleiter Loeper und die SS.259 Doch auch hier musste man sich dem Druck beugen und 1933 politisch motivierte Entlassungen, Pensionierungen und Neueinstellungen akzeptieren.260 Generell wird es in den größeren Unternehmen der privaten Wirtschaft 1933/34 keine Einstellungen ohne die Zustimmung der NSBO gegeben haben. Im Protokollbuch des inzwischen schon von der NSBO eingesetzten Betriebsrates der Bernburger Landmaschinenbau-Firma Siedersleben findet sich unter dem Datum vom 19. Juli 1933 folgender Vermerk: „Zum Schluß der Sitzung wurde noch über Einstellungen gesprochen. Es sollen Leute, die schon im Betrieb gearbeitet haben, außerdem Parteigenossen und jüngere Leute, um für einen guten Nachwuchs zu sorgen, bevorzugt eingestellt werden.“261 Diese Notiz ist so zu lesen, dass jüngere Parteigenossen, die schon im Betrieb gearbeitet haben, vorrangig eingestellt werden sollten. Ob die vorab dargestellte Absicht zur bevorzugten Einstellung von „Pg.‘s“ tatsächlich umgesetzt wurde lässt sich nicht mehr ermitteln. Als Auslöser systemkonformen Verhaltens dürfte aber die bekundete Absicht schon ausgereicht haben. Die Machtergreifung der NSDAP in den Betrieben ist für die Dessauer SchultheißBrauerei, die auch in Bernburg eine Niederlage unterhielt, sehr gut nachzuvollziehen.262

259 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, V/5/337, Bl. 13 f. 260 Vgl. Archivalische Quellennachweise zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung aus dem Kreisarchiv Bernburg, Stadtarchiv Bernburg und dem Betriebsarchiv Vereinigte Sodawerke „Karl Marx“ Bernburg-Staßfurt, Bernburg o. J. (ca. 1980), S. 30. Die Einsicht in die in dieser Broschüre angeführten Akten war aufgrund der Verweigerung einer Benutzungsgenehmigung seitens der Solvay-GmbH nicht möglich. 261 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, V/1A/61, Bd. 2, S. 29. 262 Die Quellenlage lässt eine analoge Darstellung dieses Vorganges für einen Betrieb im Kreis Bernburg nicht zu, deshalb wird stellvertretend auf die sehr gut dokumentierte Dessauer Schultheiß-Brauerei zurückgegriffen. 128 Deren entscheidender Akt war die Entlassung von 38 Arbeitern (= ca. 10 % der Arbeiter-Belegschaft), vorwiegend KPD- aber auch SPD-Mitglieder, auf Veranlassung des NS-Betriebszellenobmanns im Juli und August 1933. Schon zuvor war die Arbeiterschaft des Betriebes im Juni 1933 mit der Absetzung des im März gewählten Betriebsrates und der Einsetzung eines von der NSBO bestimmten Betriebsrates erstmals offen gedemütigt worden. Für die im Sommer Entlassenen wurden bis dahin arbeitslose SAMänner eingestellt. Die verbliebene Stamm-Belegschaft war verunsichert und wohl des größten Teils ihrer Meinungsbildner beraubt. Gleichzeitig dürfte durch die Einstellung der SA-Männer die Denunziation im Betrieb einen starken Anstieg erfahren haben. Und nicht zuletzt bekamen die Arbeiter signalisiert, dass ihre Arbeitsplätze nur bei Mitgliedschaft in einer NS-Organisation sicher waren und über Einstellungen und Entlassungen wesentlich jetzt der NS-Betriebszellenobmann entschied. Dessen entschiedenes Vorgehen hatte schon dazu geführt, dass sich der Direktor und der stellvertretende Direktor dem Stahlhelm anschlossen, während die drei weiteren Herren der Direktion per 1. März, 1. April bzw. 1. Oktober der NSDAP beitraten. Große Organisationserfolge waren unter der „sozialistischen“ Stammarbeiterschaft jedoch trotzdem noch nicht zu erzielen; die für Ende 1933 vermeldeten 133 Mitgliedschaften in verschiedensten NSOrganisationen gehen wahrscheinlich auf die schon Anfang 1933 in der NSBO zu findenden Personen und die neu eingestellten SA-Mitglieder sowie einige Angestellte zurück. Bei den im März 1934 abgehaltenen Vertrauensmännerwahlen gab es dann aber kaum noch Widerstand gegen die NSBO. War diese noch in den Betriebsrätewahlen ein Jahr zuvor mit 16 % der Stimmen eher eine Splittergruppe gewesen, so erhielten ihre Kandidaten jetzt bis zu 455 von 463 abgegebenen Stimmen. Der Gesamtausfall an Nein- und ungültigen Stimmen sowie Nichtteilnahmen betrug lediglich noch ca. ein Zehntel der Wahlberechtigten. Damit hatte die NSBO eindeutig die Macht im Betrieb übernommen.263 Im Gegensatz zu dem für die Schultheiß-Brauerei Dessau dargestellten Verlauf gelang es dem ansonsten ‚unpolitischen‘ stellvertretenden Vorstandvorsitzenden in den Dessauer Askania-Werken, einem Betrieb der Metallindustrie, durch einen im Betriebsinteresse vollzogenen rechtzeitigen Eintritt in die NSDAP ein Gegengewicht

263 Vgl. Stadtarchiv Dessau, OB 1383 (Schultheiß-Brauerei Dessau, Betriebszellenobmann 1933-1939), o. Bl. 129 zur dort ebenfalls sehr aggressiv auftretenden NSBO zu bilden und eine ähnliche Entlassungswelle wie in der Schultheiß-Brauerei abzuwehren.264 Die Motivationen der Wählerschaft, die 1932 zu einem Wahlerfolg führten, in dem die NSDAP immerhin knapp drei Viertel der Stimmen des „nationalen“ Wählerlagers im Land Anhalt auf sich vereinigen konnte,265 sind im einzelnen nicht mehr nachzuvollziehen. Offensichtlich scheint aber die Kombination aus der Projizierung einer ‚jüdischbolschwistisch-imperialistischen Weltverschwörung‘ und der darauf aufsetzenden Lösungsmöglichkeit in Form der „Volksgemeinschaft“ für die Wählerschaft von hoher Plausibilität gewesen zu sein. Eine besondere Rolle kam insbesondere der grassierenden Bolschewismusfurcht zu, ein großer Teil der „bürgerlichen“ Wähler meinte, nur noch zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus wählen zu können. Selbst der der NSDAP scharf gegnerisch gegenüberstehende Ballenstedter Pfarrer i. R. Karl Windschild aus dem anhaltischen Nachbarkreis notierte unter dem 6. März 1933 in sein Tagebuch, bezugnehmend auf die stattgefundenen Reichstagswahlen: „Daß die Kommunisten verloren haben, ist ja zu begrüßen; denn besser als der Koziterror ist auch der schlimmste Naziterror noch.“266 Wenn er auch in der Zukunft sich korrigieren musste, so sollte der „Bolschewismus“ für ihn doch eine wesentliche Bezugsgröße bleiben. Zur ständigen Neukonstituierung einer Bedrohungslage im Bewusstsein aller Bevölkerungsschichten trug sicherlich auch – über den politischen Bereich hinaus – das seit jeher übliche permanente genüssliche Ausweiden aller irgendwie vorgekommenen und vermeldeten Gewaltverbrechen in den Zeitungen aller politischen Richtungen bei. Einerseits bestand sicherlich ein Bedürfnis an solcherlei ‚Information‘ – das Publikum war augenscheinlich von Gewaltakten fasziniert –, andererseits verabscheute es diese und wünschte sich eine „heile“ Welt. Hatte sich das „sozialistische“ Wählerlager 1930 noch im wesentlichen immun gegen den aufstrebenden Nationalsozialismus gezeigt, so konnte die NSDAP hier 1932/33 spürbare Einbrüche erzielen. Der Rückgang der Wählerstimmen in der Landtagswahl 1932 führte die anhaltische Sozialdemokratie – auf Basis des ganzen Landes betrachtet – in absoluten Zahlen ausgedrückt zwar nur auf das Niveau der Stammwählerschaft von

264 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, IV/L2/3/75, Bl. 92-95. 265 Anhalt gesamt: 72 %, Stadt Bernburg: 62 %, Landkreis Bernburg: 70 %. 266 Windschild/Schmid, Finger, S. 55. 130 1920/24 zurück, gleichzeitig stiegen aber die Zahl der Wahlberechtigten und die Wahlbeteiligung. Auch der Wählerstimmenanteil der KPD fiel dann nicht mehr wesentlich ins Gewicht. Es gab jedoch auch Abweichungen von diesem Trend. In der Kleinstadt Nienburg (Kreis Bernburg) z. B. bestand nach der Gemeinderatswahl 1931 eine Mehrheit von 18:11 zugunsten der Linken;267 in dem vor den Toren von Bernburg gelegenen und überwiegend von Industriearbeitern bewohnten Latdorf erhielt die SPD selbst zur Märzwahl 1933 noch 55,4 % der Stimmen, weitere 22,5 % gingen an die KPD und nur 18,9 % entfielen auf die NSDAP.268 In der Stadt Bernburg erreichte die NSDAP ihren Wählerhöchststand bereits zur Stadtverordnetenwahl im Oktober 1931 und zur Landtagswahl im April 1932 mit jeweils 34 % der gültigen Stimmen. Angesichts der Tatsache, dass das „sozialistische“ Lager in Bernburg zu den Landtagswahlen 1932 gegenüber 1928 7 % und im ländlichenTeil des Untersuchungsgebietes sogar 15 % des damaligen absoluten Stimmenvolumens verlor,269 muss davon ausgegangen werden, dass nicht nur ehemalige Nichtwähler, Jungwähler und „bürgerliche“ Wechselwähler, sondern auch ein beachtlicher Anteil ehemaliger SPD- und KPD-Wähler zum Aufschwung der NSDAP beigetragen haben.270

267 Anfang 1930 hatte die dortige Stadtverordnetenversammlung sogar noch geschlossen (!) für die Wiederwahl des sozialdemokratischen Stadtverordnetenvorstehers und seines Stellvertreters gestimmt. Vgl. Vw 09.01.1930. 268 Die Arbeiterschaft war etwa zur Hälfte in Solvay-Betrieben beschäftigt. Vgl. Johannes Frommelt, Latdorf. Ein Beitrag zur Geschichte des Großbauerntums im Kreis Bernburg, Dresden 1940, S. 166, 304. 269 Anhaltischer Durchschnitt: 7%. 270 Vgl. auch nachfolgendes „Schema der Wählerstimmenentwicklung im Kreis Bernburg 1918-1932“. Mit Ausnahme des Jahres 1930 (Reichstagswahl) wurden ausschließlich die Landtagswahlen dem Schema zugrundegelegt. Die Angaben für 1924 beziehen sich auf die ersten Landtagswahlen dieses Jahres im Juni. 131 ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� Schema der Wählerstimmenentwicklung im Kreis Bernburg 1918-1932 USPD/KPD Sozialdemokratie NSDAP bürgerliche Parteien Nichtwähler und ungültige Stimmen 0 10.000 20.000 30.000 40.000 50.000 60.000 70.000 1918 1920 1924 1928 1930 1932 Jahr Stimmen/Wähler Eine in den Jahren 1929/30 reichsweit durchgeführte sozialpsychologische Untersuchung hat gezeigt, dass immerhin 25 % der Anhänger der Linksparteien als autoritär strukturierte Persönlichkeiten und damit für die nationalsozialistische Propaganda anfällig anzusehen waren.271 Geringe Orts- und Betriebsgrößen verstärkten diesen Trend der autoritären Persönlichkeitszentrierung unter Arbeitern noch weiter. Die Betriebsratswahlen Anfang 1933 im größten Betrieb des Kreises und Zentrum der organisierten

271 Vgl. Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung, München 1983, S. 251. 132 Arbeiterschaft, der Sodafabrik Bernburg der Deutschen Solvay-Werke, drängen sich als Bestätigung dieser Untersuchung geradezu auf. Nachdem zwei Jahre zuvor die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften noch beinahe uneingeschränkt das Feld beherrscht hatten erzielte die jetzt erstmals angetretene Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) 25 % der Stimmen.272 Obwohl – auch angesichts der Nähe wesentlich radikalerer preußischer Gebiete – vor allem der Landkreis Bernburg nach wie vor den Teil Anhalts mit der relativ stärksten KPD-Präsenz darstellte, wurde der Kreis innerhalb der Arbeiterbewegung doch deutlich durch die SPD dominiert. Die Radikalisierung des „sozialistischen“ Lagers blieb erkennbar hinter der des „nationalen“ Lagers zurück. Während die KPD 1932 in der Stadt Bernburg 21 % und im Landkreis 35 % der Stimmen des „sozialistischen“ Lagers auf sich vereinigte waren es bei der NSDAP 62 % (Bernburg) bzw. 70 % (Landkreis) der Stimmen des „nationalen“ Wählerlagers. Es scheint außerdem so, als ob beide Radikalisierungen – trotzdem sie in der Propaganda aufeinander Bezug nahmen – lokal nicht voneinander abhängig waren; zumindest lässt sich kein statistischer Zusammenhang zwischen ihnen herstellen. Die Radikalisierung des „nationalen“ Wählerlagers war keinesfalls eine direkte Reaktion auf die Stärke und Radikalität der lokalen Arbeiterbewegung und umgekehrt.273

272 Freie Gewerkschaften 71 %, christliche Gewerkschaften 3 %. Vgl. AK 29.03.1933. 1929 waren 85 % der Belegschaft der Bernburger Solvay-Fabriken Mitglied in einer (sozialdemokratischen) Freien Gewerkschaft (Kali[berg]werk Solvayhall: 48 %, Chemische Industrie Anhalts insgesamt incl. Staßfurt: 76 %, Chemische Industrie im Gau Sachsen-Anhalt des Fabrikarbeiterverbandes sowie Deutschland insgesamt: jeweils 50 %). Vgl. Verband der Fabrikarbeiter Deutschlands. Organisationsverhältnis, Arbeitszeit, Akkord- und Prämienarbeit, Gruppeneinteilung in der chemischen Industrie. Statistische Erhebungen im Jahre 1929, o. O. o. J. (Hannover ca. 1930), S. 5, 16-25. 273 Siehe das Diagramm „Radikalisierungen im „sozialistischen“ und im „nationalen“ Wählerlager in den Orten des Kreises Bernburg zur Landtagswahl am 24. April 1932“. 133 Radikalisierungen im "sozialistischen" und im "nationalen" Wählerlager in den Orten des Kreises Bernburg zur Landtagswahl am 24. April 1932 0 10 20 30 40 50 60 70 80 30 40 50 60 70 80 90 100 NSDAP % "nationales" Lager KPD % "sozialistisches" Lager 134 In der Summe scheint die im Kreis Bernburg gegebene Stärke der Arbeiterschaft und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung die Radikalisierung im „nationalen“ Wählerlager eher noch gebremst zu haben. Während in Anhalt insgesamt die NSDAP bei der Landtagswahl 1932 in 61 % aller Orte mehr als drei Viertel der Stimmen des „nationalen“ Wählerlagers bekam, so war dies im Kreis Bernburg lediglich in 38 % der Orte der Fall. 135 5.2 Eintrittsmotivationen Der Erfolg der NSDAP 1932 zog jene in Scharen an, die glaubten, dass auch mit einem nationalsozialistischen Parteibuch Karriere zu machen war, ja mehr noch, dass man es für bestimmte Karriereschritte oder geschäftlichen Erfolg in Zukunft sogar benötigen würde. Die Eintrittswelle der Jahre 1932/33 trug die Partei im Untersuchungsgebiet auf eine Stärke von etwa 1.800 Mitgliedern Ende 1933.274 Allerdings, und das ist erstaunlich, die von der SPD als bislang größter Partei im Untersuchungsgebiet erreichten Gesamt-Mitgliederzahlen (Ende 1928 3.606 Mitglieder) wurden von der NSDAP erst im Jahre 1937 übertroffen.275 Für die Eintrittswelle 1932/33 ist gegenüber den Eintritten vorhergehender Jahre viel weniger Idealismus, quasi-religiöser Fanatismus und Abenteurertum, sondern mehr und mehr schlichter Opportunismus als vorwiegender Eintrittsgrund zu veranschlagen; ideologisch-weltanschaulich begründete Eintritte waren jetzt eher die Ausnahme.276 Man nahm an, dass einem die Zugehörigkeit zur „Bewegung“ abverlangt werden würde, und versuchte dieser Forderung in vorauseilendem Gehorsam zu entsprechen. Der Volksmund spottete denn auch hinreichend über diese „Märzgefallenen“ und „Maiveilchen“ des Jahres 1933 und deutete auch die einschlägigen Organisationsbezeichnungen hinter vorgehaltener Hand entsprechend um: NSDAP: Nun Suche Dir Auch Ein Pöstchen, NSBO: Noch Sind Bonzen Oben, NSDStB: Nach Sehr Dürftigem Studium Bonze, Bonze: Bin ohne Nachteil zu entbehren, NSLB: Nicken, Schweigen, Lächeln, Bezahlen.277 Was der amerikanische Nachrichtenoffizier Saul K. Padover 1945 über die rheinische Kleinstadt Würselen schrieb trifft – mit Ausnahme der konfessionellen Ausrichtung – in vollem Umfang auch auf den Kreis Bernburg zu: „Zentrumsanhänger, hauptsächlich kleine Kaufleute, Gewerbetreibende und Angestellte liefen nach 1933 in Scharen zu den Nazis über, und zwar aus einem ganz simplen Motiv: Die Angestellten wollten ihre Ar-

274 Kumulativberechnung anhand des NSDAP-Datensatzes. Dass es 1933 keine veröffentlichte Mitgliederstatistik gab lag zuerst wohl daran, dass es der NSDAP oberhalb der Ortsgruppenebene selbst an einem hinreichend genauen Überblick über ihren Mitgliederbestand ermangelte. 275 Die Aussage bleibt auch nach Berücksichtigung der äußerst unterschiedlichen Anteile an weiblichen Mitgliedern gültig. 276 Eine dieser Ausnahmen: Der Bernburger Kupferschmiedemeister Ehrhard Ohlhoff, der im übrigen schon 1931 eine Zustimmungsunterschrift für die Liste der NSDAP zur Stadtverordnetenwahl leistete, trat 1933 aus freien Stücken ein, „weil so die Zustände nicht weitergehen konnten“. Freiheit, Ausgabe Bernburg (im Folgenden: F) 14.11.1947. 277 Vgl. Windschild/Schmid, Finger, S. 113, 119, 391. 136 beitsplätze behalten, und die Geschäftsleute hofften, sich ihrer ärgsten Konkurrenz, der Genossenschaften, entledigen zu können. Diese Leute waren das Rückgrat des Nationalsozialismus, und sie sind bedingungslos für den Krieg eingetreten.“278 Viele der nach dem Machtwechsel eintretenden Karrieristen hatten aufgrund bestehender Berührungspunkte der NSDAP schon länger nahe gestanden und brauchten somit in der Regel auch keine weltanschaulichen Gräben mit ihrem Beitritt zu überspringen. Vorbereitet durch die allseits verbreitete Gemeinschafts-Glorifizierung und FührerVerehrung vollzogen sie lediglich die innere „Gleichschaltung“ und nahmen das Integrationsangebot „Volksgemeinschaft“ vorbehaltlos an. Diese Entwicklung war lange vor 1933 gesamtnational angelegt: „Ganze Generationen von Universitätslehrern, schriftstellernden Pseudopropheten und vaterländischen Vereinsvorsitzenden haben mitgewirkt, jene Atmosphäre zu schaffen, in der die herrschende Vernunftfeindschaft, die Verrohung des Lebens, die Korrumpierung sittlicher Maßstäbe nur noch der besonderen politischen Zuspitzungen und des mitreißenden Wortführers bedurften, um ihre zerstörerische Gewalt zu entfalten.“279 Doch es bedurfte tatsächlich erst der ‚Werbekraft‘ des Sieges, um sie der Partei – in der Regel kurz vor deren vorläufiger ‚Schließung‘ am 1. Mai – endgültig zuzuführen. Sebastian Haffner hat in seinen 1939 niedergeschriebenen Erinnerungen versucht, diesen Personenkreis in seiner Befindlichkeit zu charakterisieren: „Der einfachste Grund, und fast überall, wenn man nachbohrte, der innerste, war: Angst. Mitprügeln, um nicht zu den Geprügelten zu gehören. Sodann: ein wenig unklarer Rausch, Einigkeitsrausch, Magnetismus der Masse. Ferner bei vielen: Ekel und Rachsucht gegenüber denen, die

278 Saul K. Padover, Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45, Frankfurt am Main 1999, S. 135. Unter den seit 1933 der Partei angehörenden Personen, mit denen Padover im Westen Deutschlands sprach, fanden sich der Immobilienmakler, der seine Parteimitgliedschaft dazu benutzte, gute Geschäfte (sehr bald als „Abwesenheitspfleger“ auch mit jüdischem Eigentum) zu machen, der Arzt, der dadurch die Garantie erworben zu haben glaubte, dass man ihm „beruflich keine Schwierigkeiten machen würde“, der Philosophieprofessor, der in die NSDAP eintrat, weil „alle“ das taten, der Finanzbeamte, der glaubte, dass der Parteieintritt wichtig für seine Karriere gewesen sei, der selbständige Textilkaufmann, der sich nur deswegen mit den Resten der DVP von der NSDAP übernehmen ließ, um nicht aufzufallen und eventuelle geschäftliche Vorteile aus der Mitgliedschaft ziehen zu können, der Landschaftsgärtner, der sich ebenfalls berufliche Vorteile von seinem Parteieintritt versprach. Dieser Mehrzahl der „nutzenorientierten“ Eintrittsmotivationen standen bei Padovers Gesprächspartnern lediglich ein Oberschulrat, der offensichtlich aus weltanschaulichen Gründen heraus, aus der Übereinstimmung seines nationalistischen Weltbildes mit den von den Nationalsozialisten propagierten Anschauungen, in die Partei eintrat und ein Lokführer, der es für seine „vaterländische Pflicht“ gehalten hatte – so jedenfalls seine Darstellung bei Kriegsende –, der Hitlerpartei anzugehören, gegenüber. Vgl. ebenda, S. 43 f., 78, 114, 116 f., 189, 194, 123 f., 253. 279 Joachim C. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, MünchenZürich 1975, S. 410, zitiert nach: Janka, Gesellschaft, S. 138. 137 sie im Stich gelassen hatten. Ferner, eine seltsam deutsche Figur, dieser Gedankengang: ‚Alle Voraussagen der Gegner der Nazis sind nicht eingetroffen. Sie haben behauptet, die Nazis würden nicht siegen. Nun haben sie doch gesiegt. Also hatten ihre Gegner Unrecht. Also haben die Nazis Recht.‘ Ferner bei einigen (namentlich Intellektuellen) der Glaube, jetzt noch das Gesicht der Nazipartei ändern und ihre Richtung abbiegen zu können, indem man selbst hineinging. Sodann, selbstverständlich, auch echte gewöhnliche Mitläuferei und Konjunkturgesinnung. Bei den primitiver und massenartiger Empfindenden, Einfacheren schließlich ein Vorgang, wie er sich in mythischen Zeiten abgespielt haben mag, wenn ein geschlagener Stamm seinem offenbar ungetreuen Stammesgott abschwur und den Gott des siegreichen Feindesstamms zum Schutzherrn wählte. St. Marx, an den man immer geglaubt hatte, hatte nicht geholfen. St. Hitler war offenbar stärker. Zerstören wir also St. Marx‘ Bilder auf den Altären und weihen wie sie St. Hitler. Lernen wir beten: Die Juden sind schuld, anstatt: Der Kapitalismus ist schuld. Vielleicht wird uns das erlösen.“280 Man würde „täglich aufgefordert: nicht, sich zu ergeben, sondern: überzulaufen. Ein kleiner Pakt mit dem Teufel – und man gehörte nicht mehr zu den Gefangenen und Gejagten, sondern zu den Siegern und Verfolgern.“281 Gerade für die zuletzt beschriebene Verhaltensweise standen im Kreis Bernburg auch ehemalige Kommunisten. Der Arbeiter und spätere Schachtmeister Paul Erbe aus Güsten gehörte bis Anfang 1933 der KPD an und war seit Mai 1933 Mitglied von NSDAP und SA. Im Entnazifizierungsverfahren 1948 wurde über seine Aktivitäten festgestellt: „Er hatte als nunmehriger strammer Nazi eine besonders gehässige Haltung gegenüber Andersdenkenden eingenommen und hat, wie Zeugen bekundeten, diese geschlagen und seine ehemaligen Genossen außerdem wüst beschimpft und drangsaliert. Er wollte mit seinen Kumpanen die ‚Rote Burg‘ ausräuchern und verhinderte das Betreten des Rathauses mit Schlägen. Seine stramme Haltung vermittelte er auch seinen Nazigenossen, indem er sie exerzieren ließ, damit sie bei Verhaftungen, die er mit ihnen durchführte, die von ihm getragene Uniform nicht schändeten. Bei linksgerichteten Personen waren seine Haussuchungen Spezialität. Die Einwohner von Güsten wurden durch den Angeklagten langsam eingeschüchtert, ein Zeuge war durch ihn vier Wochen wegen angeblicher Führerbeleidigung in Haft. – Besonders hat sich Erbe hervorgetan bei der unrühmlichen Bücherverbrennung der Nichtnaziliteratur, wo er eine Thälmann

280 Haffner, Geschichte, S. 131. 281 Ebenda, S. 186 f. 138 darstellende Strohpuppe mitverbrannte.“282 Albert H., ebenfalls Arbeiter aus Güsten und von 1929 bis 1933 in der KPD sehr aktiv, 1933 dann ebenfalls in der NSDAP und SA, gab im Entnazifizierungsverfahren an, von den Kommunisten zu den Nazis übergelaufen zu sein, um mehr Geld zu verdienen. Tatsächlich erhielt er – bis dahin schon mehrere Jahre arbeitslos – eine Stelle als Notstandsarbeiter bei der Stadt Güsten. Das ‚Eintrittsgeld‘, das er dafür zahlen musste, waren die Denunziationen an seinen ehemaligen Genossen und seine aktive Beteiligung an Haussuchungen bei diesen. Er bekämpfte sie nun in der gleichen Intensität, wie er sich zuvor gegen die Nationalsozialisten gewandt hatte. Auch der Judenboykott gegen den Kaufmann Sally Neumann sah ihn in der ersten Reihe.283 Opportunistisches, d. h. nutzenorientiertes Eintrittsverhalten ist am stärksten im Bereich des öffentlichen Dienstes zu beobachten. Unter dessen Angestellten und Beamten waren naturgemäß jene für eine Hinwendung zur NSDAP empfänglicher, die Zurückweisungen, Nichtbeförderungen etc. hatten hinnehmen müssen. Für sie bestand die Möglichkeit, diese Hemmnisse einer vermeintlichen oder tatsächlichen sozialdemokratischen („marxistischen“) „Parteibuchwirtschaft“ anzulasten. Nachdem mit dem Wechsel der Regierung Sanktionen einer NSDAP-Mitgliedschaft nicht mehr zu fürchten waren, bestand für sie die Möglichkeit, sich auf recht billige Art auch noch ein Stück Genugtuung zu verschaffen. Doch diese Personen waren nicht unbedingt typisch für die aus dem öffentlichen Dienst stammenden NSDAP-Neumitglieder insgesamt. Typisch waren vielmehr jene, die relativ emotionslos ihre eigene berufliche Stellung und den perspektivischen Bestand des „Dritten Reiches“ einzuschätzen versuchten und sich im Ergebnis dessen mit einer Parteimitgliedschaft auf der sicheren Seite glaubten. Das von den neuen Machthabern erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ dürfte diesen Entscheidungsprozeß ebenso wesentlich beeinflusst haben, wie die sichtbaren Wechsel in den Führungspositionen. Diese Situation erzeugte die Angst, bei nicht

282 F 21.06.1948. 283 Vgl. Bundesarchiv Berlin, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, VgM, 10048, A.4. Aus der Ablehnungsbegründung eines Einspruches gegen die Aberkennung des passiven Wahlrechts (Februar 1946, Nienburg, Schreiben des Bürgermeisters an den Landrat): „Paul und Friedrich R[...] waren bis 1933 Mitglied der S.P.D. und traten sofort nach der Machtergreifung durch die Nazis in die SA. und N.S.D.A.P. über. Noch während ihrer Mitgliederschaft zu einer antifaschistischen Arbeiterpartei leisteten sie Spitzeldienste für die N.S.A. D.P. und haben sich somit als üble Handlanger der Faschisten betätigt. Ihre Aktivität zeichnete sich durch besonderen Fanatismus aus, vor allem versuchten sie ihre Arbeitskollegen dauernd zu zwingen, den Hitlergruss in Anwendung zu bringen. Eine Meinungsäusserung im Kollegenkreis war in Gegenwart der Gebr. R[..]s nicht möglich, da jede abfällige Bemerkung sofort weitergemeldet worden wäre. Sich jetzt als alter Gewerkschaftler zu bezeichnen um dadurch eine bessere Beurteilung zu erlangen, ist eine besondere Frechheit.“ Kreisarchiv Bernburg, Nienburg 13, Bl. 163. 139 demonstrativ hervorgekehrter Systemloyalität eventuell selbst zu den Entlassenen oder Zurückgestuften zu gehören. Später versuchten die Betroffenen auch vor sich selbst die Rechtfertigung, dass einem keine andere Wahl geblieben sei. Nur wenige waren dann rückblickend noch in der Lage, die tatsächliche Motivation sich selbst und auch anderen gegenüber einzugestehen, wie z. B. der im Katasteramt tätige Vermessungstechniker Arnhold W., der im Dezember 1932 der NSDAP beigetreten war: „Mir kam es lediglich darauf an, meinen Beruf ausüben zu können, der mit Politik nichts zu tun hat.”284 Die Regel war, dass man späterhin behauptete, der von amtlicher Stelle gehegten Erwartung nur entsprochen zu haben,285 oder einer Erörterung der Eintrittsmotivation gänzlich aus dem Wege ging.286 In welchem Maße die NSDAP die öffentlichen Verwaltungen eroberte zeigt eine zeitgenössische Aufstellung der 15 Beschäftigten in der Stadtverwaltung Sandersleben per 30. September 1934. Neun von ihnen gehörten der NSDAP an (fünf davon erst seit 1933), ein weiterer – Stahlhelmmitglied seit 1924 – sollte 1936 eintreten. Drei weitere Beschäftigte gehörten seit 1933 der SA an, eine Beschäftigte war seit 1933 Mitglied der „Hitlerjugend“ (wohl des BDM) und 1934 dann der NS-Frauenschaft und der einzige

284 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 799, Bl. 211. 285 Karl Eugen Hahn, zum Zeitpunkt des Parteieintritts 1933 Reichsbahnassessor in Tuttlingen (er war zu keinem Zeitpunkt im Kreis Bernburg tätig, das Beispiel wird jedoch wegen der Plastizität der Aussage herangezogen): „Ehe wir uns versahen, waren wir von der Partei kassiert. Man erwartete von Amts wegen, daß wir uns nicht nur als ‚Märzgefallene‘ in der Partei herumdrückten, sondern aktiv in den Gliederungen betätigten. Bei jenen stupiden SA- und SS-Abenden, bei denen nichts als stillgestanden, rechtsund linksum geübt und immer wieder neue Alarmzellen eingeteilt wurden. Zum Glück konnte ich mich unter Hinweis auf meine Arbeit wenigstens von diesem Firlefanz drücken.“ Karl Eugen Hahn, Eisenbahner in Krieg und Frieden. Ein Lebensschicksal, Frankfurt am Main 1954, S. 12. Für ihn gab es keinen Zweifel daran, dass man, wenn es „von Amts wegen“ verlangt wurde, auch der Partei beitrat. Kein Gedanke daran, die hoffnungsvoll begonnene Karriere durch eine eventuelle Weigerung zu gefährden. Ansonsten wurde das Ganze eher als lästig und überflüssig empfunden, politische Differenzen werden aber auch in den 1954 erschienenen Erinnerungen nicht berichtet. Lediglich wenn es um den Allmachtsanspruch der Partei auch auf alle wirtschaftlichen und alltäglichen Lebensbereiche ging legte er sich mit Funktionsträgern an. Vgl. ebenda, S. 19. 286 Johannes G., vor 1945 Leiter des Rechnungs- und Gemeindeprüfungsamtes des Landkreises Bernburg und NSDAP-Mitglied seit dem 1. Mai 1933, versuchte in einem Rechtfertigungsschreiben an Landrat Schotte 1946 und auch im Entnazifizierungsverfahren 1947, sich selbst als ‘Anti-Nazi’ darzustellen. Er wäre der NSDAP 1933 beigetreten. „weil sie [ihm] wie so vielen des deutschen Volkes Versprechen gemacht hat, die ihm als Mittel erschienen, Deutschland einer besseren Zukunft zuzuführen.“ F 14.11.1947. Aus den Anmerkungen des Landrats, der als Beamter nach 1932 auf subalterne Funktionen verwiesen wurde und lediglich von November 1933 bis Januar 1935 SA-Mitglied war, geht hervor, dass es schlicht die Angst vor einem Karriereknick war, die Angst davor, dass andere eventuell schneller aufrücken könnten, die G. in die Partei getrieben hatte. Als die Karriere wieder gesichert schien konnte er demnach auch seine politische Bekenntniswut wieder zurückfahren und sich auf den Posten eines NSVKreisrevisors zurückziehen. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Kreisverwaltung Bernburg, 806, pass. 140 Lehrling war ebenfalls Hitlerjugend-Mitglied. Jeder Beschäftigte in der Stadtverwaltung Sandersleben hatte also, sofern er nicht von vornherein zu den „Überzeugten“ und „alten Kämpfern“ gehörte, zumindest eine Alibi-Mitgliedschaft zur Bekundung der ‚richtigen‘ politischen Einstellung vorzuweisen.287 Sehr oft wurde die frisch erworbene Parteimitgliedschaft auch offensiv einzusetzen versucht, um Karrieren voranzutreiben. In diesem nachfolgenden offensiven Einsetzen der neuerworbenen Parteimitgliedschaft unterschieden sich die 1932er und 1933er Neumitglieder auch deutlich von den „alten Kämpfern“, denen es angesichts der Massenarbeitslosigkeit in erster Linie um ihre einmalige Versorgung mit einer Arbeitsstelle ging. Die 1933er Neumitglieder hingegen verfolgten in der Mehrzahl die Absicherung bzw. das Vorantreiben der Karriere. Beispielhaft nachvollziehen lässt sich dieser offensive Umgang mit der gesellschaftlichen Stellung als Parteimitglied anhand eines Schreibens des Bernburger Rechtsanwalts Werner M., der eine mehr schlecht als recht gehende Praxis betrieb. M. versuchte mit diesem Schreiben an den offensichtlich über die richtigen ‚Beziehungen‘ verfügenden Prof. N. in Halle seinem kurz zuvor gestellten Gesuch um Ernennung zum Notar weitere Geltung zu verschaffen. Damit beabsichtigte er einen Vorteil gegenüber zwei weiteren zur Auswahl stehenden, der NSDAP aber nicht angehörenden Kollegen zu erlangen. Bemerkenswerterweise stellte M. ausschließlich seine politischen Aktivitäten heraus. Nichtsdestotrotz blieb das Gesuch letztendlich erfolglos, weil in Bernburg kein weiterer Bedarf an Notaren bestand.

287 Vgl. Stadtarchiv Sandersleben, 411 („betr. Verteilung von Arbeitsplätzen“), Bl. 5. 141

Schreiben des Bernburger Rechtsanwalts Werner M. per 31. Mai 1937 an Prof. N. in Halle288 „Sehr geehrter Herr Professor! Unter Bezugnahme auf meinen kurzen Besuch bei Ihnen vor einigen Tagen erlaube ich mir, Ihnen ergebenst folgendes mitzuteilen. Der Antrag auf Ernennung zum Notar ist ausser mir von den Kollegen B[...] und H[...] in Bernburg gestellt. Wir sind in der Zeit von etwa März bis Oktober 1935 zur Anwaltschaft in Bernburg zugelassen und zwar in der zeitlichen Reihenfolge, dass der Kollege B[...] älter, der Kollege H[...] jünger ist als ich. Unter ihnen bin ich der einzige Parteigenosse. Ich gehöre der NSDAP. seit dem 1. Mai 1933 unter der Mitgliedsnummer 1992980 an. Ein früherer Eintritt war mir wegen der krassen Stellungnahme meines Vaters, der demokratischer Landtagsabgeordneter war, nicht möglich, da ich von ihm als Student und später Referendar wirtschaftlich abhängig war. An meiner früheren nationalen Einstellung dürfte in Anbetracht der Tatsache, dass ich sechs Semester aktiver Waffenstudent war, kein Zweifel bestehen. Ausserdem gehöre ich seit der gleichen Zeit dem NSKK. an. Weiter ist mir das Amt eines stellvertretenden Kreisrechtsstellenleiters in Bernburg übertragen worden, ausserdem ist das Verfahren zu meiner Ernennung als Kreishauptstellenleiter bei der Kreisleitung Bernburg in der Eigenschaft als Rechtsberater des Kreisamtes für Volkswohlfahrt anhängig. Dem NSRB., früher BNSDJ. gehöre ich seit Ende 1933 unter der Mitgliedsnummer 36 343 an. Ich betätige mich in den Organisationen, denen ich angehöre, so gut ich kann. Meine Arbeit gilt vor allen Dingen meinem Motorsturm, der sich zum allergrössten Teil aus Arbeitern und Fahrern zusammensetzt, also nicht das Glück hat, einer der ‚reichen‘ NSKK.-Stürme zu sein, sodass ich glaube, hier am meisten in Bezug auf Schulungs- und Betreuungsarbeit benötigt zu werden. Ich erlaube mir, Ihnen in der Anlage ein Zeugnis meines Sturmführers zu überreichen. Ich darf Sie versichern, dass ich es mit meiner nationalsozialistischen Auffassung sehr ernst nehme, wodurch es allerdings nicht ausbleibt, dass ich in meiner Praxis ab und zu etwas in das Hintertreffen gerate. Ich werde ihnen nichts neues verraten, wenn ich sage, dass Bernburg heute noch als einer der reaktionärsten Orte einen gewissen traurigen Ruhm besitzt. Umsomehr würde ich es für richtig halten, dass an solchen Orten die Leute in den Vordergrund gestellt werden, deren Auffassung unbedingtes Eintreten für das nationalsozialistische Ideengut gewährleistet. Ich möchte hierbei nicht verschweigen, dass es für mich selbstverständlich einen grossen wirtschaftlichen Vorteil bedeuten würde, wenn ich zum Notar ernannt werden würde. Da ich mich vor zwei Wochen verheiratet habe, würde ich wegen der Sorge für meine Familie der Zukunft bedeutend ruhiger gegenüberstehen. Indem ich Ihnen, sehr geehrter Herr Professor, meinen Dank dafür ausspreche, dass Sie mir gestattet haben, mich an Sie persönlich zu wenden, zeichne ich mit

Heil Hitler!
W. M[...]
Rechtsanwalt.“

Auch der spätere Gerichtsvollzieher Kurt Hesse, der während seiner Wehrdienstzeit 1940 formell dem Amtsgericht Bernburg überwiesen worden war, hatte 1934 mittels einer wahrscheinlich auf seinen eigenen Wunsch ausgestellten Bescheinigung über die Parteimitgliedschaft versucht, seine Karriere zu beschleunigen. Eine solche Bescheinigung war zu dieser Zeit jedoch vollkommen ungewöhnlich. Vielmehr wurde seitens des Oberlandesgerichts bei Bewerbern dieser Hierarchiestufe jeweils routinemäßig bei der 288 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127 Anhang: Justiz PA, Lit. M, Nr. 73, Bl. 30-32. 142 NSDAP-Gauleitung angefragt, ob der Bewerber politisch unbedenklich sei.289 Für einen normalen Karriereverlauf wäre die standardgemäße Formulierung „Charakter und politische Zuverlässigkeit sind in keiner Weise zu beanstanden“ hinreichend gewesen. Eine Parteimitgliedschaft war bis 1937 dafür nicht zwingend erforderlich, eine SA- oder ähnlich gelagerte Mitgliedschaft erschien vollkommen ausreichend. Es drängt sich also eher der Verdacht auf, dass der schon drei Jahre in Wartestellung befindliche Versorgungsanwärter Hesse mit der eingereichten Bescheinigung über die Parteizugehörigkeit sicher gehen und seine „Einberufung“, d. h. die Übernahme in den Justizdienst, herbeiführen wollte.290 Die Anpassungsvorgänge unter den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes traten sowohl für die Zeitgenossen als auch für den nachgeborenen Betrachter am stärksten durch das Verhalten der kommunalen Spitzenbeamten hervor. Über den schon seit 1932 in der Nachfolge des beurlaubten sozialdemokratischen Landrates Max Günther kommissarisch amtierenden und 1933 bestätigten neuen Bernburger Landrat Johannes Pietscher, zuvor Kreisdirektor in Ballenstedt, notierte der Ballenstedter Pfarrer i. R. Karl Windschild unter dem 4. März 1933 in seinem Tagebuch: „Interessant ist dabei der Gang des Kreisdirektors Pietscher und seines Syndikus Reuß durch das Leben: Als 1918 die Welle die Sozis emportrug, machte P. dem nachher ins Irrenhaus gesperrten ‚Regenten‘ – der Name ist mir entfallen –, der sich ... ein Auto ‚requiriert‘, d. h. gemaust hatte, seine Reverenz und befuhr mit ihm Arm in Arm sein Reich. Dann war er mit Trautewein, dem Führer der Sozialdemokraten im Kreise, ein Herz und eine Seele und strich ihm bei jeder Gelegenheit Honig um den Mund. Jetzt kommt die nationalsozialistische Welle. Sie wächst und: ‚Herr Kreisdirektor, wir müßten uns doch mal bei den Nazis sehen lassen‘, sagt Herr Reuß. ‚M. w.‘ – Machen wir, sagt Pietscher ... Ein richtiger Kork schwimmt eben immer oben.“291 Pietscher trat per 1. Mai 1933 der

289 Bericht der Kommunalpolitischen Abteilung der NSDAP-Gauleitung Magdeburg-Anhalt (Gauamtsleiter Trautmann) für Mai 1934: „Das Anhaltische Staatsministerium, sowie der Herr Regierungspräsident in Magdeburg legen dem Gauamt weiterhin bei Einstellungen, bevorzugten Beförderungen, Ernennungen usw. die Vorgänge zur Beurteilung vor. Auch die übrigen Amtsstellen, wie z. B. die Reichsbahn, Staatsanwaltschaften, Oberpostdirektionen usw. reichen ähnliche Gesuche ein.“ Bundesarchiv Berlin, NS 25/274, Bl. 16. 290 Er selbst sollte 1946 behaupten, mit dem Eintritt nur der Aufforderung der vorgesetzten Behörde Folge geleistet zu haben. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127, Anhang: Justiz PA, H, Nr. 329, Bd. 2, Bl. 37. 291 Zitiert nach: Windschild/Schmid, Finger, S. 53. 143 NSDAP bei, wurde aber schon im Juni 1934 als wieder ausgeschlossen vermeldet,292 verblieb aber nichtsdestotrotz bis zu seiner Pensionierung 1937 im Dienst. Auch im Amt des Bernburger Oberbürgermeisters trat ein Wechsel ein. Friedrich Gothe, Amtsinhaber seit 1919 und Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei bzw. der Deutschen Staatspartei, war nicht bereit, die erforderliche Anpassung an das neue System zu leisten, und wurde am 30. April 1933 in den vorläufigen Ruhestand versetzt. Sein Nachfolger, der bisherige Leopoldshaller Bürgermeister Max Eggert, war schon in der Bürgermeisterwahl 1931 als Kandidat der Rechten erfolglos gegen Gothe angetreten293 und hatte noch rechtzeitig zum 1. Mai 1933 das Mitgliedsbuch der NSDAP erworben. Anders als Gothe war eine Reihe kommunaler Spitzenbeamter durchaus bereit, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren. Otto Schulz, Bürgermeister Nienburgs von 1925 bis 1945, trat 1933 der NSDAP bei, um weiterhin Bürgermeister bleiben zu können.294 Karl Luthringshausen, bis dahin Kreisgeschäftsführer der DVP in Bernburg, wurde im März 1933 im Zusammenhang mit seinem Übertritt zur NSDAP als kommissarischer Bürgermeister in Hecklingen eingesetzt.295 In Plötzkau traten der Bürgermeister und der 1. Ortschöppe, Donath und Paul, beide bisher führende SPD-Mitglieder am Orte, mit Wirkung vom 1. Mai 1933 zur NSDAP über und durften in ihren Ämtern verbleiben.296 Der Bürgermeister fungierte späterhin auch als NSDAPOrtsgruppenleiter. Die Masse der opportunistischen Eintritte erfolgte 1932/33 auf dem Wege des vorauseilenden Gehorsams. Doch eine Anzahl Eintritte von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wurde schon über einen auf die betreffenden Personen ausgeübten Druck erreicht. Der Stadtsekretär Wilhelm Paul aus Güsten wurde z. B. im April 1933 aus dem städtischen Dienst entlassen weil er Mitglied der Konsumgenossenschaft war. Später wurde er wieder eingestellt. Gleichzeitig wurde ihm aber anheimgegeben, Mitglied der NSDAP zu werden. Die Güstener NSDAP hatte schon in den Jahren zuvor wiederholt angekündigt, im Falle des Sieges unter den Beamten „aufräumen“ zu wollen. Die vorherige Kündigung dürfte Paul als Bestätigung dieser Drohungen genügt haben, er trat der

292 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, Mitgliederkartei. 293 Vgl. Ebersbach, Geschichte, Bd. 2, S. 203. 294 Vgl. F 12., 17.11.1947. 295 Vgl. Vw 28.03.1933; Bundesarchiv Berlin, BDC, Mitgliederkartei. 296 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, Mitgliederkartei; Vw 31.01., 17.03.1933. 144 Partei im Mai 1933 bei.297 Friedrich Schnelle aus Nienburg hatte 1918 als Schwerkriegsbeschädigter (Beinamputierter) des ersten Weltkrieges eine Angestelltenstelle in der Verwaltung der Stadt Nienburg erhalten. Im Mai 1933 wurde ihm von seinem Vorgesetzten eine Beitrittserklärung zur NSDAP mit dem Bemerken auf den Tisch gelegt, zu unterschreiben oder die Stelle zu verlieren. Schnelle gab dem Druck nach und trat ein, blieb aber eines jener vielen Mitglieder, die für die Partei aufgrund ihrer Inaktivität weitgehend wertlos waren.298 Insgesamt ist bei diesen Fällen der durch Ausübung von materiellem Druck im öffentlichen Dienst erzielten Beitritte noch keine Strategie der Partei insgesamt erkennbar; es handelte sich vielmehr um Eigeninitiativen von Vorgesetzten gegenüber ihren direkten Untergebenen.299 Eine solcherart direkte unter-Druck-Setzung, wie sie im öffentlichen Dienst selbst 1932/33 noch die Ausnahme blieb, war im privatwirtschaftlichen Sektor – auch wenn in den Entnazifizierungsverfahren nach 1945 dies von den Betroffenen oft anders

297 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 800, Bl. 102. So hatte z. B. schon 1931 der führende Güstener Nationalsozialist Siebenbürger anlässlich einer von der NSDAP einberufenen und schlecht besuchten „Beamtenversammlung“ öffentlich angedroht, „daß auch die Nationalsozialisten diejenigen [Beamten] besonders aufs Korn nehmen würden, welche durch Nichtbeteiligung ihr Einverständnis mit der Fortdauer des heutigen Systems erklärten.“ Vw 30.07.1931 (Zitat aus der „Güstener Bürgerzeitung“). Schon im Jahre 1924 übermittelte der „Anhalter Kurier“ eine ähnliche Drohung. Vgl. Vw 19.02.1924. 298 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 800, Bl. 182. Diese erzwungenen Eintritte kamen auch in anderen Gebieten Deutschlands zu diesem Zeitpunkt schon vor. In „Thalburg“ (= Northeim) erschien im März 1933 der NSDAP-Kreisleiter im Arbeitszimmer des konservativen Landrats, zog seine Hakenkreuznadel aus dem Rockaufschlag, warf sie dem Landrat auf den Schreibtisch und sagte: „Stecken Sie die an! Wenn Sie es nicht tun, sind sie morgen Landrat gewesen.“ Als ein Bekannter dem Landrat später vorwarf, dass er ja nun doch entgegen seiner vorher bekundeten Absicht „ein neues Hemd“ anhabe, erwiderte der Landrat nur, er könne „mehr Gutes innerhalb der Partei tun, als wenn er draußen bliebe und machtlos wäre“. Allen, Machtergreifung, S. 175, 318. Albert Ramdohr, Mehringen im Kreis Bernburg, Techniker, NSDAP-Eintritt 1935: „Ich bin auch nicht mit fliegender Fahne zur N.S.D.A.P. übergegangen. Mir altem Gewerkschaftler, seit 1. Oktober 1906 im Deutschen Techniker-Verbande und seit der Verschmelzung dieses mit dem Butib 1919 zum Butab, Bund der technischen Angestellten und Beamten, organisiert, und Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und späteren Deutschen Staatspartei (1919-1932) wurde dieser Schritt bestimmt nicht leicht. Es half nichts, ich mußte den Schritt tun. Meine wirtschaftliche Lage – ich war über 2 Jahre arbeitslos, und nur wer das durchgemacht und Familie hat, kann ermessen, was jahrelange Arbeitslosigkeit bedeutet – zwang mich in die Arme der N.S.D.A.P., weil nur Mitglieder dieser Partei Aussicht hatten in Lohn und Brot zu kommen.“ Nach einer Auseinandersetzung im März 1944 mit dem Ortsgruppenleiter über die Weigerung zur Übernahme eines Blockhelferpostens hätte er mündlich den Austritt erklärt und ab April 1944 keine Beiträge mehr bezahlt. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 800, Bl. 227. Für ein Beispiel aus der Dessauer Stadtverwaltung vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, V/6/18/2, Bl. 25 f. 299 Überlieferte Einzelfälle lassen es möglich erscheinen, dass die beschriebene Erpressung von Mitgliedschaften in Preußen 1933 schon häufiger praktiziert wurde als im Untersuchungsgebiet. 145 dargestellt wurde – in der Regel überhaupt nicht möglich.300 Typisch für die Privatwirtschaft waren z. B. vielmehr die Gastwirte Erich Körth aus Ilberstedt, der wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten und in der Hoffnung auf bessere Geschäfte Mitglied der NSDAP geworden war,301 und Fritz Bachmann aus Nienburg, der als ehemaliger Stadtverordnetenvorsteher mit seiner Frau schon 1932 aus der SPD aus- und in der Hoffnung, dass die NSDAP ihr Lokal zu ihrem ‚Verkehrslokal‘ erwählen möge, in die NSDAP eintrat.302 Gleichermaßen typisch erscheinen der Maurermeister Hermann Kramer aus Oberpeißen, der auf Aufträge der öffentlichen Hand hoffte, und der Maurerund Zimmerermeister Erich W. aus Sandersleben, der sich zum Beitritt zur NSDAP „nur aus geschäftlichen Gründen” veranlaßt sah.303 Über die gleichermaßen motivierten Eintritte von Industriellen ist vorstehend schon berichtet worden. Auch die 1932/33 in die NSDAP eintretenden privaten Geschäftsinhaber und freiberuflich Tätigen gedachten ihre Mitgliedschaft offensiv zur Erlangung eines Vorteils gegenüber ihren parteilosen Konkurrenten zu nutzen. Die NSDAP selbst honorierte jedoch schon Wohlverhalten auf wesentlich niedrigerer Stufe. Im Jahre 1936 veröffentlichte z. B. die offizielle NSDAP-Zeitung „Der Mitteldeutsche“ eine Aufstellung „Treue um Treue. Firmen, die auch vor der Machtübernahme treu zur NS.-Presse standen.“ Das Interessante an dieser Liste ist, dass nur ein geringer Teil der dort verzeichneten, vor 1933 in der NS-Presse inserierenden Geschäftsleute später tatsächlich die Mitgliedschaft der NSDAP erwarb. Die anderen scheinen eine Parteimitgliedschaft aus betriebswirtschaftlicher Sicht weitestgehend als nicht erforderlich eingeschätzt zu haben.304 Mit zunehmender gesellschaftlicher Etablierung der NSDAP kam es häufig vor, dass opportunistisches Eintrittsverhalten in Bezug auf die NSDAP und deren Anhangsorganisationen nicht nur durch die jeweilige materielle Lage, sondern auch durch das soziale Umfeld ausgelöst wurde. Im Bestreben, seine Position in der jeweiligen sozialen Gruppe zu behaupten, löste der Betreffende – es handelte sich fast

300 Eine der wenigen Ausnahmen: Ein Kunstmaler gab im Entnazifizierungsverfahren an, der SA-Beitritt 1934 und der 1937 erfolgte NSDAP-Eintritt sei für ihn zur Erlangung eines Ausweises der Kunstkammer notwendig gewesen. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. K3, Nr. 1106, o. Bl. 301 Vgl. F 12.11.1947. 302 Vgl. Vw 17.06.1932. 303 Vgl. F 17.11.1947; Stadtarchiv Sandersleben, „Eidesstattliche Erklärungen an den Antifa-Ausschuß“, Bl. 94. 304 Vgl. Der Mitteldeutsche 17.07.1936, Bundesarchiv Berlin, BDC, Mitgliederkarteien. 146 ausschließlich um Männer – das nationalsozialistische Ticket. Einerseits waren es Bekanntschaftskreise und Vereinsmitgliedschaften, die indirekt oder auch direkt eine solche politische „Gleichschaltung” forderten,305 andererseits waren es aber vor allem die Familien, in denen dieser Mechanismus zum Tragen kam. Die NSDAP wuchs in die Breite der Verwandtschafts- und Bekanntschaftskreise, aus bisherigen Wählern wurden Mitglieder. Beispielhaft für diese Entwicklung stehen die Familien zweier 1881 geborener Bernburger Mitglieder, des selbständigen Kaufmanns Otto Lapp und des Justizsekretärs Franz Marscheider. Otto Lapp, Inhaber einer Gärtnerei und Samenhandlung, war der NSDAP bereits zum 1.5.1931 beigetreten, zum 1.3.1932 folgten dann seine Frau und seine 1908 geborene erste Tochter, zum 1.9.1932 der 1910 geborene Sohn und zum 1.2.1933 die 1912 geborene zweite Tochter.306 Der Justizsekretär am Amtsgericht Bernburg Franz Marscheider hatte in der Weimarer Republik keinen politischen Parteien oder Vereinen angehört. Seine vier Kinder waren jedoch sämtlich im nationalsozialistischen Spektrum aktiv, die 1909 geborene erste Tochter seit 1928 als Wehrwolf-„Opferschwester” und seit dem 1.3.1932 in der NSDAP sowie in der NS-Frauenschaft, der 1910 geborene erste Sohn seit dem 1.8.1932 in der NSDAP und in der SS, der 1917 geborene zweite Sohn seit April 1930 im NSSchülerbund, der 1919 geborene dritte Sohn seit dem 11.8.1932 im Jungvolk. Auch der spätere (1934) Schwiegersohn gehörte schon seit 1930 der NSDAP und zuvor dem Bund Oberland und dem Wehrwolf an. Es ist anzunehmen, dass der tuberkulosekranke Vater schon früh die familiäre Meinungsführerschaft an seine Kinder abgeben mußte und deren politische Entwicklung mit seinem Parteieintritt zum vorerst letztmöglichen Termin am 1.5.1933 lediglich nachvollzog.307 Dies scheint kein Einzelfall, sondern ein allgemeiner Trend zu sein, die erwachsenen Kinder traten oftmals früher ein als ihre Väter. Es stellt sich die Frage, ob sich die Parteizugehörigkeit im allgemeinen und der nutzenorientierte, opportunistische Eintritt in die NSDAP sowie der offensive Umgang mit der Parteizugehörigkeit im speziellen für die Betreffenden auch „gelohnt“ hat. Für das

305 Zum Beispiel will der Bernburger praktische Arzt Dr. Erich Hause „auf Drängen eines Patienten und auf Wunsch des Alt-Herren-Verbandes dem NSKK beigetreten sein.“ F 14.11.1947. Im Entnazifizierungsverfahren galt eine Mitgliedschaft im NSKK als einer Parteimitgliedschaft gleichwertig, deshalb ist dieser Fall überliefert. 306 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, Mitgliederkarteien. 307 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127, Anhang: Justiz PA, M, Nr. 56, pass.; Der Wehrwolf 11.01.1928; Bundesarchiv Berlin, BDC, RS 6010007878. 147 Deutsche Reich insgesamt ist diese Frage wohl eingeschränkt zu bejahen. Infolge von Ämterpatronage und politischem Klientelismus stieg der Anteil der Positionsträger mit unterer Mittelschichtherkunft von 18 % im Jahre 1925 auf 30 % im Jahre 1940 – um sich in der Bundesrepublik 1955 mit 22 % dem Ausgangswert wieder anzunähern.308 Gerade die untere Mittelschicht war es aber, aus der die NSDAP die Masse ihrer Mitglieder bezog. Insofern liegt hier ein starkes Indiz dafür vor, dass das mit dem ‚nutzenorientierten‘ Parteieintritt verbundene Kalkül bei einem Teil der „Märzgefallenen“, „Maiveilchen“ und der 1937er Mitglieder auch aufgegangen ist. Für das Untersuchungsgebiet ist eine ausreichend dichte Datenlage nicht zu erlangen, Einzelbeispiele könnten aber das reichsweite Bild bestätigen. Der Fall des ersten Bernburger Ortsgruppenleiters, der 1938 immerhin zum Bürgermeister von Jeßnitz (Anhalt) avancierte, ist schon erwähnt worden.309 Im Falle des Büroangestellten Walter Hufmüller, NSDAPMitglied seit 1932 und langjährig erwerbslos, ist auch die „Belohnung“ offensichtlich; tatsächlich wurde er bei der Stadtverwaltung Bernburg eingestellt.310 Einschränkende Bemerkungen sind aber angebracht. Natürlich wurden 1933/34 „alte Kämpfer“ mit Posten vor allem im Bereich des öffentlichen Dienstes „versorgt“, mehr aber auch nicht. „Alte Kämpfer“ waren bei entsprechender Eignung mit Versorgungsanwärtern (ehemaligen Reichswehrangehörigen mit Anspruch auf eine nachfolgende Beschäftigung im öffentlichen Dienst) gleichzustellen und kamen somit auch für die Besetzung von Schulhausmeisterstellen oder für den Strafanstaltsaufsichtsdienst in Frage. Letztlich ist dies jedoch lediglich unter Versorgungsaspekten zu sehen. Eine Karriere war allein mit dem Parteibuch nicht zu begründen. Deutlich wird dies am Beispiel des Arbeiters Walter K., der 1933 auf Druck der NSDAP-Kreisleitung als städtischer Promenadenaufseher eingestellt wurde. Im Mai 1935 verwandte sich der Kreisleiter Bernburg-Stadt, Petri, bei seiner jetzigen Arbeitsstelle, dem Stadtbauamt, erneut für ihn: „Ich bitte dem Arbeiter K[...] mit Rücksicht darauf, daß er zu den ersten Vorkämpfern der NSDAP in Bernburg gehört [er war der NSDAP erstmals 1926 beigetreten – T.K.], eine bevorzugte Behandlung in der Lohngruppeneinstufung zu gewähren und weiter zu prüfen, wie weit eine Möglichkeit zur Beförderung besteht.“ Die Beigeordneten ent-

308 Vgl. Jens Alber, Nationalsozialismus und Modernisierung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 41 (1989), S. 362, 353. 309 Eine ähnliche Karriere: Der 1909 geborene Fleischer Franz H. aus Bernburg avancierte mit einem Umweg über die SA-Stabswache des Braunen Hauses in München zum Regierungsinspektor bei der Bayerischen Versicherungskammer. 310 Vgl. F 21.11.1947. 148 schieden am gleichen Tag: „Der Arbeiter K[...] soll künftig nach der Lohngruppe III bezahlt werden. Eine höhere Eingruppierung ist nicht möglich, da K[...] ungelernter Arbeiter ist. Die Verwendung des Arbeiters K[...] als Vorarbeiter bleibt dem Bauamt überlassen. Es soll ein Versuch gemacht werden, ob K[...] als Vorarbeiter geeignet ist.“ K. war daraufhin tatsächlich eine gewisse Zeit als Vorarbeiter tätig, dann wurde die von ihm geführte Kolonne aufgelöst und er war wieder einfacher Arbeiter.311 Dass die Parteimitgliedschaft letztlich eine weitere vorgeschaltete Bedingung im Karrieregeschehen darstellte, in der Regel nicht aber die fachlichen Anforderungen auszuhebeln in der Lage war, verdeutlicht der Fall des Bernburger Referendars Werner W. (geb. 1911). Trotzdem er auf eine NSDAP- und SS-Mitgliedschaft seit 1933 verweisen konnte wurde er 1936 nicht in den richterlichen Probedienst des Landes Anhalt übernommen. Der Grund dafür war, dass die Beurteilungen des zuvor durchlaufenen Vorbereitungsdienstes ihm zwar durchweg tadellose galante Umgangsformen und ein freundliches, gewinnendes Wesen aber auch eine gewisse Sprunghaftigkeit und Flüchtigkeit attestierten. Die Verbindungen seines Vaters, eines Bankdirektors im Ruhestand, waren es dann wohl, die ihm einen Vorbereitungsdienst bei der Reichsfinanzverwaltung ermöglichten.312 Bemerkenswert sind auch die Anstreichungen in der Personalakte des Justiz-Kanzleiangestellten Fritz W., geb. 1907. Der den Antrag auf Höherstufung im Oberlandesgericht Naumburg 1935 Bearbeitende markierte sowohl den Vermerk über die besondere fachliche Eignung als auch den über die NSDAP-Mitgliedschaft.313 Allgemein rangierte die fachliche Qualifikation vor dem Parteialter (sofern das Parteibuch überhaupt vorhanden war).314 Die Qualität der nunmehrigen opprtunistischen Neumitgliedschaft war 1933 und danach nicht mehr die gleiche wie noch in den Jahren zuvor. Weder waren diese Neumitglieder in gleicher Weise fanatisch wie ihre Vorgänger noch könnte man ihnen durchweg auch nur „normale” nationalsozialistische Überzeugung unterstellen. Der Ortsgruppenleiter Bernburg-Talstadt, Reinbothe, sah sich daher im Juli 1936 veranlaßt festzustellen: „Ich

311311 Stadtarchiv Bernburg, 6/667, o. Bl. 312 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127, Anhang: Justiz PA, W, Nr. 489, pass. 313 Vgl. ebenda, W, Nr. 206, Bl. 40. 314 „Die Besetzung der staatlichen Stellen nach 1933 ging keineswegs allein nach Parteigesichtspunkten vor sich [, ...] der fachlichen Eignung wurde fast immer der Vorzug gegeben.“ Karl Wahl [ehem. NSDAP-Gauleiter], ... es ist das deutsche Herz, Augsburg 1954, S. 96, zitiert nach: Schoenbaum, Revolution, S. 264. 149 tue als Ortsgruppenleiter Dienst in der Partei und erlebe es als solcher immer wieder, daß man sich gerade auf den alten Parteigenossen am ehesten verlassen kann, während ich das leider von einem großen Teil der Parteigenossen, die nach der Machtübernahme zu uns gestoßen sind, nicht sagen kann. Es ist doch unendlich viel zu tun und oft fehlen uns die geeigneten Parteigenossen.”315 Gleichfalls im Juli 1936 klagte das NSDAPGauamt für Kommunalpolitik Magdeburg-Anhalt: „Recht betrüblich ist die Tatsache, daß in Gegenden mit früher überwiegend marxistischer Bevölkerung die Zahl der Parteigenossen, die fachlich und charakterlich für die Verwendung in der Verwaltung geeignet sind, sehr gering ist. Es ergibt sich aus dieser Tatsache häufig die Notwendigkeit, auch auf Parteigenossen zurückzugreifen, die entweder fachlich versagen oder Unterschlagungen begehen.”316 Parteimitgliedschaft musste nicht mehr notwendig mit einer inneren Identifikation mit dem nationalsozialistischen System einhergehen. Letztere blieb unter der Mehrzahl der Parteigenossen eher gering. Bezeichnend dafür sind Vorgänge aus dem Dorf Freckleben 1935 und 1937. In zwei Fällen hatte der Bauer Fritz Bieler (NSDAP-Mitglied seit 1933) die Herabwürdigung von Nazigrößen durch Kneipenwitze bei der örtlichen Polizei angezeigt. Bemerkenswerterweise fühlten sich die jeweils in der Gaststätte anwesenden, zumeist ebenfalls 1933 eingetretenen „Pg.‘s“ nicht zum Einschreiten oder zur Anzeige veranlasst. In einem Fall lehnte es der nachträglich über den Vorgang informierte Propagandawart des NSDAP-Stützpunktes Freckleben – ein gleichfalls 1933 eingetretener Lehrer – sogar ausdrücklich ab, ein Protokoll über den Vorgang zu erstellen. Die Zuträgerdienste für den Anzeigeerstatter Bieler übernahm anscheinend in beiden Fällen der zu diesem Zeitpunkt noch nicht der NSDAP angehörende SA-Mann Bauer Karl W.317

315 Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG 3401001304, Bl. 7. 316 Bundesarchiv Berlin, NS 25 / 276, Bl. 69. 317 Vgl. Stadtarchiv Sandersleben, 508 und 509; Bundesarchiv Berlin, BDC, Mitgliederkarteien. Es nicht auszuschließen, dass auch lokale Rivalitäten die Anzeigeerstattung ‚erleichtert‘ haben. Der Bauer Karl W., 1937 erst in die NSDAP aufgenommen, wird 1939 schon als Stabsleiter der Kreisbauernschaft benannt. 150

In Gaststätten des Dorfes Freckleben 1935 und 1937 erzählte politische Witze318 „1). Wegen der Butterknappheit hat sich ein Bauer der nach dem Bückeberg zum Erntedankfest319 gefahren sei, eine Kuh mitgenommen. Am Bückeberg sei die Kuh zusammengebrochen. Hierdurch sei ein Menschenauflauf entstanden. Deswegen sei der der Führer hinzugekommen und hat gefragt, was denn hier los sei. Der Bauer habe ihm darauf erwidert, er kriege seine mitgebrachte Kuh nicht wieder hoch. Der Führer hätte zu diesem Bauern darauf gesagt: Er habe hier auf dem Bückeberg Dreiviertel Millionen Ochsen hochgekriegt, er der Bauer werde doch seine eine Kuh wieder hochkriegen. 2). Der Führer habe mit dem Auto wegfahren wollen. Dabei sei der Motor nicht angesprungen. Umstehende haben darauf zum Führer gesagt, das hat keinen Zweck, es ginge mit ihm sowieso bergab.“ „2 Berliner Jungens spielten auf dem Fahrdamm mit Pferdemist. Die Jungens waren dabei die Pferdeäppel auseinanderzulegen. Schließlich sei ein feiner Herr vorbeigekommen und habe den Jungens gefragt, was sie da machten. Die Jungens haben dann zur Antwort gegeben, dass sie Regierung spielen. Verwundert habe dann der Herr gefragt, ‚wieso‘, darauf haben die Jungens gesagt unter Bezeichnung des Mistes, dass der Appel z.B. ist der Führer, der andere ist Göbbels, Neurath u.s.w. Als dann der Herr fragte, wo ist den[n] nun Minister Göring? Da haben dann wiederum die Jungens gesagt: ‚Son Stückchen Scheisse haben wir nicht dabei!‘“ Der im gesamten Deutschen Reich seit Anfang 1933 auftretende extreme Mitgliederzulauf veranlasste die NSDAP-Führung dazu, mit Wirkung vom Mai 1933 eine reichsweite Aufnahmesperre zu verhängen, die nur wenige Ausnahmen, z. B. Übernahmen aus SA, SS, NSBO, HJ und Stahlhelm, zuließ. Neben rein technischen Gründen – man kam mit der Erfassung der Neumitglieder und der Bildung neuer Ortsgruppen nicht mehr hinterher – war in erster Linie die unerwünschte Zusammensetzung der Neumitgliedschaft für den Erlass der Aufnahmesperre ausschlaggebend. Schließlich bestand der Wille, dem Untertitel „Arbeiterpartei” zumindest in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft auch gerecht zu werden und – so wörtlich der Reichsorganisationsleiter Ley in einer internen Untersuchung – „Konjunkturritter” von der Partei fernhalten. Doch die Vielzahl der bereits vollzogenen und bei einer Lockerung der Aufnahmesperre noch zu erwartenden Neueintritte ließen dieses Ziel in weite Ferne rücken. Denjenigen aber, die ihre „positive Stellung zum nationalsozialistischen Staat” dokumentieren wollten, blieb seit Mai 1933 nur der Eintritt in die Anhangsorganisationen SA, SS, Nationalsozialistisches Kraftfahrer-Korps, Nationalsozialistisches Fliegerkorps, Nationalsozialistische Frauenschaft, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt u. a. Doch nicht nur diese eindeutigen NS-Anhangsorganisationen, sondern auch das deutschnationale Organisationsumfeld verzeichnete einen starken Mitgliederauf318 Stadtarchiv Sandersleben, 508, Bl. 2 f.; 509, Bl. 184. Wortlaut nach Aufnahme durch die örtliche Polizei. 319 Auf dem Bückeberg bei Hameln fanden 1933 bis 1937 die Reichsbauerntage statt. 151 schwung. Die überlieferten Mitgliederlisten der Stahlhelm-Ortsgruppe Sandersleben aus den Jahren 1933/34 weisen zwei große Eintrittswellen aus: im Gründungsjahr 1924 47 Eintritte und schließlich 1933 90 Eintritte bei insgesamt 162 1933/34 nachgewiesenen Mitgliedern. Wenn auch schon vor 1933 ein Abfluss von Mitgliedern aus dem Stahlhelm in Richtung SA und NSDAP angenommen werden kann, so bleibt die 1933er Eintrittswelle doch eindrucksvoll. Neben den ‚normalen‘, auch in den NS-Organisationen zu findenden Opportunisten, die den Stahlhelm wählten, weil er ihnen das geringste Maß an Anpassung abzuverlangen schien, treffen wir unter den 1933 in den Stahlhelm Eintretenden auch auf eine Gruppe von Anhängern der Arbeiterparteien, die möglicherweise eine legale Basis für weitere politische Arbeit nach dem Verbot der Arbeiterbewegung suchten; bei immerhin zwölf der 90 1933 eingetretenen Mitglieder wurden nachträglich in den Listen Vermerke wie „SPD“, „Kommune“ etc. eingefügt; Wahrscheinlich waren es jedoch weitaus mehr, auf die diese Charakterisierung zutraf. Darauf deuten zumindest die Arbeiterberufe der Neueintretenden hin, die den bisherigen mittelständischen Charakter des Sanderslebener Stahlhelms deutlich modifizierten.320 Belegt ist, dass Eintritte von Reichsbanner-Angehörigen in den Stahlhelm auf Empfehlung der Reichsbannerführung unter der Absicht der Wahrung des Organisationszusammenhalts in ganz Deutschland getätigt wurden.321 Bemerkenswerterweise korrespondierte die spezifische Altersstruktur der NSDAP auch mit der Zusammensetzung der in Sandersleben 1933 in den Stahlhelm eintretenden Personen; zwei Drittel von ihnen entstammten den Geburtsjahrgängen 1890-1908.322 Analog zum Stahlhelm in Sandersleben meldete auch der Bund Deutscher FrauenDienst e.V., die Nachfolgeorganisation des Königin-Luise-Bundes, aus Hecklingen im Mai 1933 starken Zulauf: „Wie wichtig unsere Arbeit ist, beweist das fast vollzählige Erscheinen aller Kameradinnen und die vielen Neuaufnahmen arbeitsfreudiger Frauen.“323 Auch der „Bericht über das [evangelisch-]kirchliche Gemeindeleben in Amesdorf-Warmsdorf im Jahr 1933“ weiß von solcherart Nebeneffekten der nationalsozialis-

320 Vgl. Stadtarchiv Sandersleben, 429, pass. Für analoge Eintrittswellen 1933 in Loburg (preußischer Kreis Jerichow II) sowie Waldersee und Mildensee (Dessau) vgl. Kreisarchiv Zerbst, Loburg 43/6 und 43/7, Bl. 8 ff.; Stadtarchiv Dessau, Amtsbezirk Jonitz I/1/4/1/2, o. Bl. 321 Vgl. Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin/Bonn 1987, S. 910. 322 Vgl. Stadtarchiv Sandersleben, 429, pass. Zu berücksichtigen ist hier jedoch, daß die angeführten Listen bereits den Mitgliederstand nach Übernahme der unter 35jährigen Stahlhelm-Mitglieder in die SA widerspiegeln, die vorherige Mitgliederzahl ist nicht bekannt. 323 Deutsches Frauenblatt, Brachet (Juni) 1933. 152 tischen Machtübernahme zu berichten. Nachdem 20 Ausgetretene wieder aufgenommen worden wären gäbe es nur noch vier Dissidenten in der Gemeinde, der Kirchenbesuch weise im Ganzen gesehen eine höhere Zahl als im Vorjahr auf und die Frauenhilfe habe ihre Mitgliederzahl fast verdoppeln können.324

324 Vgl. Evangelisches Pfarramt Güsten, Amesdorf, Tit. II, C. 3, Bl. 13. 153 5.3 Mitgliederstruktur Die vorwiegend opportunistische Eintrittsmotivation der Neumitglieder in der Masseneintrittswelle 1932/33 schlug sich auch in deren veränderter sozialer Zusammensetzung nieder.325 Allein 28 % der Neueintretenden 1932 und 39 % der Neueintretenden 1933 sind dem öffentlichen Dienst zuzuordnen (1931 noch 13 %). Deren kompakteste Gruppe stellten die Lehrer mit 13 % aller Neumitglieder 1933. Insgesamt stieg der Anteil der Angestellten und Beamten unter den Neumitgliedern von 36 % 1931 über 46 % 1932 auf 54 % 1933. Im gleichen Zeitraum fiel der Arbeiteranteil unter den Neumitgliedern von 40 % 1931 über 30 % 1932 auf 27 % 1933. Dieser Rückgang ist um so bemerkenswerter als die NSDAP spätestens in den Landtagswahlen vom April 1932 deutlich in das bisherige (Wechsel-)Wählerpotential der Arbeiterparteien hatte einbrechen können. Im Eintrittsverhalten findet dies jedoch keine Widerspiegelung. Gegenüber ihrem Anteil an den Erwerbstätigen waren in der Stadt Bernburg 1933 die Beamten und Angestellten in der NSDAP um das 2,3fache und die Selbstständigen um das 1,3fache überrepräsentiert, während die Arbeiterschaft nur mit dem 0,4fachen ihres Sozialstrukturanteils vertreten war.326 Somit ist die NSDAP als Partei des unteren resp. ‚neuen‘ Mittelstandes anzusehen. Gegenüber dem Bild, das sie im Jahre 1931 bot (siehe vorhergehendes Kapitel), hatte sich ihr Profil noch deutlicher herauskristallisiert. Eine Folge der vorherrschenden Eintrittsmotivation dürfte auch die Erhöhung des Durchschnittsalters der Neumitglieder von 32,7 Jahren im Jahre 1931 über 34,7 Jahre 1932 auf 36,4 Jahre 1933 gewesen sein. Die Konzentration auf die Geburtsjahrgänge

325 Vgl. die vollständigen Angaben in der Tabelle „Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944“ im Teil B: Dokumentation. 326 Erwerbstätige in % (einschl. Arbeitslose) NSDAPMitglieder in % gesamt nur Männer Selbständige 12 13 16 Beamte und Angestellte 26 23 60 Arbeiter und Hausangestellte 62 64 24 Die mithelfenden Familienangehörigen unter den Bernburger Erwerbstätigen wurden zu vier Fünfteln den Beamten und Angestellten und zu einem Fünftel den Arbeitern zugeschlagen. Berufslose Selbständige (in der Hauptsache Rentner und Pensionäre) wurden auf beiden Seiten nicht in die Berechnung einbezogen. Quellen der Berechnung: Die wichtigsten Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 in Anhalt, Dessau 1936, S. 84-92; NSDAP-Datensatz. Vgl. auch Beschreibung des NSDAPDatensatzes im Teil B: Dokumentation. 154 1893 bis 1912 (1931 69 %, 1933 61 %) bzw. 1901 bis 1910 (1931 40 %, 1933 31 %) begann sich unter den Neueintritten zu verringern. Verantwortlich dafür zeichnete nicht nur das Hinzutreten jüngerer Jahrgänge, sondern auch die Aufnahme vieler älterer Mitglieder unter der beschriebenen opportunistischen Eintrittsmotivation. Deutlich jugendlicher als der Durchschnitt der Neumitglieder waren nach wie vor die eintretenden Arbeiter, wenn auch bei ihnen eine Abschwächung festzustellen ist. Den Gipfelpunkt der Jugendlichkeit markierten die Facharbeiter und Angelernten des Metallgewerbes unter den Neumitgliedern, die zu 78 % bzw. 49 % aus den Geburtsjahrgängen 1893 bis 1912 bzw. 1901 bis 1910 stammten.327 In der Summe war die NSDAP auch nach der Masseneintrittswelle 1932/33 die Partei einer Generation. Die Konfrontation der Geburtsjahrgänge der bis einschließlich 1933 eingetretenen Mitglieder mit der Altersstruktur der Bevölkerung 1933 zeigt, dass es die 21-46-jährigen, d. h. die Geburtsjahrgänge 1887 bis 1912, waren, die die Partei trugen. In den am stärksten NSDAP-gesättigten Geburtsjahrgängen waren schon Ende 1933 deutlich mehr als ein Zehntel aller Männer „Pg.‘s“.328

327 Aufgrund dieser Konzentration lässt sich vermuten, dass der Wählereinbruch der NSDAP in das „sozialistische“ Wählerlager 1932 gerade an dieser Stelle erfolgte und dem eventuell ein Generationenkonflikt in der bis dahin eine Bastion der Sozialdemokratie darstellenden Metallarbeiterschaft zugrunde lag. 328 Vgl. die Diagramme „Männliche NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet Ende 1933 (Summe 1929 bis 1933) in % der männlichen Bevölkerung des Kreises Bernburg Mitte 1933 gesamt“ und „Altersstruktur der männlichen Bevölkerung des Kreises Bernburg und der männlichen NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1933 im Vergleich“. Quellen der Berechnung: Die wichtigsten Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 in Anhalt, Dessau 1936, S.74; NSDAPDatensatz. Sich überlagernde Ungenauigkeiten ergeben sich a) durch die Gegenüberstellung der männlichen Bevölkerung des gesamten Kreisgebietes Mitte 1933 mit den männlichen Mitgliedern des um drei Dörfer und eine Kleinstadt gegenüber dem Kreis verminderten Untersuchungsgebietes Ende 1933, b) durch die nicht mögliche Berücksichtigung des genauen Geburtsdatums auf der Seite der NSDAPMitglieder, c) durch die aufgrund der Quellenlage nur mögliche Berücksichtigung der sowohl mit einem Geburts- als auch mit einem Eintrittsdatum im NSDAP-Datensatz vermerkten Mitglieder, d) durch die bloße Ausweisung von Jahrgangsgruppen, nicht aber der korrekten Jahrgänge, in den Ergebnissen der Volkszählung. Diese Ungenauigkeiten sind in ihrer Summe für die in den Diagrammen sichtbaren abrupten Ausschläge in aufeinanderfolgenden Jahren verantwortlich zu machen. Weiterhin ist vor allem aus a) folgernd davon auszugehen, dass Ende 1933 die realen Spitzenwerte in den am stärksten NSDAPgesättigten Jahrgängen 10 % überschritten haben dürften. 155 Männliche NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet Ende 1933 (Summe 1929 bis 1933) in % der männlichen Bevölkerung des Kreises Bernburg Mitte 1933 gesamt 0,0 1,0 2,0 3,0 4,0 5,0 6,0 7,0 8,0 9,0 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 37 39 41 43 45 47 49 51 53 55 57 59 61 63 65 67 69 71 73 75 77 79 Alter % der Altersstufe 156 Altersstruktur der männlichen Bevölkerung des Kreises Bernburg und der männlichen NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1933 im Vergleich 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 4,5 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 37 39 41 43 45 47 49 51 53 55 57 59 61 63 65 67 69 71 73 75 77 79 Alter % der 17-80jährigen ml. NSDAP-Mitglieder (Summe 1929 bis 1933) ml. Bevölkerung Kreis Bernburg gesamt 157 Im Zuge der Eintrittswelle 1932/33 stieg auch der Frauenanteil unter den Neueintretenden von 2 % 1931 auf 6 % 1932 bzw. 5 % 1933, was insgesamt allerdings nur schwer zu deuten und am wahrscheinlichsten wohl der Ausdehnung in die Breite der Familien zuzuschreiben ist. In der Verteilung der nationalsozialistischen Mitgliedschaft sind zwischen industriell und landwirtschaftlich strukturierten Orten keine wesentlichen Unterschiede festzustellen. Insofern gibt es – auf das Untersuchungsgebiet bezogen – keine Belege dafür, das evangelische Land für das „Stammilieu“ der NSDAP zu halten.329 Wie schon 1931 entfielen auch 1932 44 % der Neueintritte auf die Kreisstadt Bernburg, 1933 waren es sogar 46 %; hinzu kamen 25 % bzw. 27 % in der Summe der Kleinstädte Güsten, Hecklingen, Nienburg, Sandersleben und in Neundorf. Die Konstruktion eines ländlichevangelischen „Stammmilieus“ der NSDAP erscheint auch angesichts der teilweise sehr scharfen Konkurrenz zwischen NSDAP und Stahlhelm und der daraus folgernden Instabilität der NSDAP in den ländlichen Orten als nicht sehr glaubwürdig. Aus Hohenerxleben z. B. wird noch Anfang Februar 1933 berichtet, dass die dortige NSDAPOrtsgruppe durch die Rückkehr der meisten Mitglieder zum Stahlhelm „aufgeflogen“ sei.330 Erst mit der Übernahme der jeweiligen lokalen Stahlhelm-Gruppierung konnten sich auch die ländlichen NSDAP-Ortsgruppen stabilisieren. Noch Ende 1932 hatten die Orte mit mehr als 75% landwirtschaftlicher Bevölkerung die geringste NSDAPMitgliedschaftsquote aufzuweisen, ein Jahr später jedoch bereits die höchste! Der NSDAP fiel es vor 1933 offensichtlich sehr schwer, auf den Dörfern, vor allem den landwirtschaftlich dominierten, geeignete Führungspersönlichkeiten zu rekrutieren. Grob gesagt ging Dorfgemeinschaft vor „Volksgemeinschaft“, nationalsozialistischer Fanatismus hatte hier kaum einen Platz.331

329 So wörtlich bei Wolfram Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918-1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996, S. 383. Pyta bleibt die empirischen Belege für diese These schuldig. Die für das Untersuchungsgebiet festgestellten Werte dokumentieren eher das Gegenteil, eine bis 1932 deutlich höhere Eintritts-Zurückhaltung und darauffolgend einen 1933 eventuell leicht höheren Druck zum Beitritt in der Ortskategorie über 75 % landwirtschaftlicher Bevölkerung; wobei die überproportionale Steigerung nur auf einen der fünf in dieser Gruppe vertretenen Orte zurückgeführt werden kann. Auch anhand dieser Aufstellung erscheint die Eintrittsbewegung in den ländlich strukturierten Orten eine periphere Erscheinung zu sein. Siehe die Tabelle „Die Konzentration der NSDAP auf Ortskategorien landwirtschaftlicher Bevölkerung 1931-1933“. 330 Vgl. Vw 03.02.1933. 331 Vgl. für Freckleben und Gerbitz: Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZA 25452; ZE 26566. 158 Die Konzentration der NSDAP auf Ortskategorien landwirtschaftlicher Bevölkerung 1931-1933 landwirtschaftlicher Bevölkerungsanteil in den Orten 1933 in %332 NSDAP-Mitglieder (Summe der n % der Wahlberechtigten (Landtags wahl April 1932) im Untersuchungsgebiet333 nachgewiesenen Eintritte in den Orten) i - NSDAP-Wähler in % der Wahlberechtigten (Landtagswahl April 1932) im Untersuchungsgebiet334 Ende 1931 Ende 1932 Ende 1933 0-25 0,7 1,3 2,9 30,2 über 25-50 0,7 1,5 3,0 29,1 über 50-75 0,2 1,5 2,9 32,1 über 75 0,2 0,2 3,5 35,3

332 Berechnet nach: StDR 454, S. 12/36-38. 333 Quelle: NSDAP-Datensatz. 334 Berechnet nach: Wahlergebnisaufstellungen in der Tagespresse. 159 5.4 Die Verdrängung der „alten Kämpfer“ Der massenhafte Zustrom neuer karrierebewusster Mitglieder in die Partei führte zwangsläufig zu einer Vielzahl von Konflikten. Er müsse sich zur Zeit „dem überschäumenden Drängen zahlreicher Parteigenossen an die Futterkrippe entgegenstemmen“335 berichtete der NSDAP-Gauleiter von Magdeburg-Anhalt, Wilhelm Loeper, am 5. April 1933 an den NSDAP-Reichsorganisationsleiter Dr. Ley. Die „alten Kämpfer“ wollten versorgt werden und etliche Neumitglieder hatten 1933 ein Tauschgeschäft vollzogen: Parteibuch gegen Karriere bzw. Funktionserhalt. Doch nicht dies war das eigentliche Konfliktfeld; die „alten Kämpfer“ waren in der Regel mit einer einmaligen Versorgung, z. B. als Schulhausmeister, zufriedengestellt. Demütigend für viele war vielmehr, dass ihnen von den Neumitgliedern die Stellung in der Organisation streitig gemacht wurde und sie einem rasanten Verdrängungsprozess unterlagen. Der eigentlich erhoffte Zugewinn an Sozialprestige blieb aus oder ging nach kurzer Zeit wieder verloren. Prototypisch für diese aus den Verschiebungen im innerparteilichen Machtgefüge resultierende Konfliktlage steht ein aus der Kleinstadt Hecklingen auf dem Wege eines Parteigerichtsverfahrens überlieferter Vorgang.336 In Hecklingen wurde 1933 eine Gruppe von vier „alten Kämpfern“, die nach der Stadtverordnetenwahl vom Herbst 1931 in den Gemeinderat eingezogen waren, durch die Exponenten der Neumitgliedschaft von der Führung in der Partei verdrängt. Die Vorwürfe, die der ehemalige Ortsgruppenleiter Wilhelm Ilm, vor seiner NSDAPMitgliedschaft bis 1931 Stahlhelm-Mitglied, langjähriges Vorstands-Mitglied und Vorsitzender des Hausbesitzervereins sowie Mitglied des Kyffhäuserbundes, als deren Wortführer erhob, waren erdrückend:337 Der neue Ortsgruppenleiter Klee hätte sich erst seit 1933 intensiv um dieses Amt bemüht. Zuvor wäre er seit 1931 Mitglied sowohl in der NSDAP als auch im Stahlhelm gewesen „sodass nichts schiefgehen konnte“ bezüg-

335 Bundesarchiv Berlin, NS 22/264. 336 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG 3404002274; Bundesarchiv, Zwischenarchiv DahlwitzHoppegarten, VgM, 10048, A.4. 337 Gegen Ilm wurde dafür im April 1934 seitens des NSDAP-Kreisgerichtes Bernburg Parteiausschluss beantragt. Auf Beschwerde beim Gaugericht wurde die Strafe Anfang 1936 von diesem auf eine Verwarnung und Aberkennung der Fähigkeit zur Bekleidung von Parteiämtern auf drei Jahre ermäßigt. Das Oberste Parteigericht der NSDAP milderte die Strafe im Januar 1937 weiter ab und erkannte auf eine Verwarnung. Die Verwarnung blieb deswegen bestehen, weil Ilm das Ansehen der Partei dadurch geschädigt hätte, dass er (die unabhängig von seinem Auftreten schon diskutierten) Tatsachen in die Öffentlichkeit gezogen und aufgebauscht hätte. Die Partei hätte dadurch in der Öffentlichkeit ein uneiniges Bild abgegeben. 160 lich eventuell kommender politischer Umwälzungen. 1934 schließlich hätte dieser sein Ziel erreicht, Ilm wurde formell in den Stab des NSDAP-Kreisleiters Wienecke wegberufen (erst als Kreiskommunalfachberater, dann als Kreisbildwart) und gleichzeitig Klee als neuer Ortsgruppenleiter eingesetzt. Klee würde im Ort vor allem durch Selbstherrlichkeit, promiskuitives Verhalten, Erpressungen und Drohungen sowie Veruntreuung von Parteigeldern auffallen. Der Bürgermeister Luthringshausen, bis 1933 Parteisekretär der DVP in Bernburg, wurde 1933 als „überparteilicher“ Kandidat aller Parteien gewählt und präsentierte kurz darauf nach seinem Austritt aus dem Stahlhelm das NSDAP-Parteibuch. Nach der Schilderung Ilms war Luthringshausen geradezu ein Muster korrupten Verhaltens: Er schlug widerrechtlich Pachteinigungskosten, die ein wohlhabender Bürger hätte zahlen müssen, nieder, handelte in jedem Fall nach eigenem Gutdünken, redete in öffentlichen Sitzungen nur von seiner eigenen Gehaltserhöhung und wollte sich schon drei Tage nach seinem Antritt ein Gehalt bewilligen lassen, das dem Gehalt des Bürgermeisters der deutlich größeren Nachbarstadt Leopoldshall entsprach, betrank sich in aller Öffentlichkeit, ging während des Dienstes zur Jagd etc. Auch Ilm persönlich wäre von ihm schikaniert worden. Als er sein Haus aufstocken wollte wurde der Bau sofort abgelehnt, weil er nicht den baupolizeilichen Vorschriften entspräche. Bezeichnenderweise wäre zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Bauzeichnung eingereicht worden, erst auf Beschwerde hin erfolgte die Genehmigung. Auch der Straßenmeister E. hätte sich dem Stil seines Vorgesetzten angeglichen und schädige die Gemeinde durch unberechtigte private Inanspruchnahme von Arbeitsleistungen, benehme sich herausfordernd gegenüber den (nunmehr ausschließlich nationalsozialistischen) Stadtverordneten bis hin zur Androhung von Gewalt. Diese ganzen – im übrigen wohl zutreffenden – Klagen lesen sich so, dass jemand, der die Diktatur herbeiführen half, sich nun darüber beschwert, dass Diktatur ist. Das eigentliche Problem – auch aus der subjektiven Sicht Ilms – lag jedoch darin, dass die „alten Kämpfer“ nicht in dem ihnen gebührenden Maße an den Insignien der Macht teilhaben durften: „Betr. der Abzeichen sollte ich Ihnen doch mal mitteilen, wer hier noch Gardelitzen trägt. Hier trägt fast jeder Ortsgruppenstabswalter Gardelitzen. So z. B. T[...] NSHG.S[...] NSKOV.P[...] als Schriftwart der Bürgermeister usw. So muss es auch sein. Alte und für die belange der Bewegung in schlimmster Zeit eingetretene Pg. tragen Winkel und Jünglinge, sowie Leute, die nach der Revolution ihr nationalsozialistisches Herz entdeckten, tragen Gardelitzen.“338 Und in einem Schreiben an den „Führer“ vom Juli 1936: „Sie sehen mein

338 Aus einem Schreiben Ilms an die NSDAP-Kreisleitung Bernburg, 8.7.1934. Bundesarchiv Berlin, 161 Führer, so werden hier alte Kämpfer behandelt, während auf der andern Seite sich die gross tuen, die erst gegen uns waren. Hier bekleiden Leute Posten, die denselben nur zur Unterschlagung ausnutzen. Amtswalter und Stadtverordnete bekommen es sogar heute noch fertig mit Juden zu handeln,339 ohne dass der Bürgermeister bzw. Ortsgruppenleiter was dagegen unternahm. Beamte, die offen mit der SPD. symphatierten, selbst Angestellte, die sich offen zur KPD. bekannten, schwingen hier grosse Töne und alte Kämpfer baut man ab. Ja man versucht sogar mit allen Mitteln mich mundtot zu machen [...] Ich bin von Grund auf deutscher Mann, habe gegen den Youngplan gestimmt, habe im Kampf für unsere Bewegung Gesundheit und Geschäft geopfert, bin im Besitze des Ehrenkreuzes, des Ehrenzeichen des Reichskriegerbundes und des Ehrenzeichens des Zentralverbandes Deutscher Haus und Grundbesitzervereine und kann daher verlangen, dass ich als alter Parteigenosse anerkannt und nicht von Leuten, die erst nach der Machtergreifung zu uns kamen, an die Wand gedrückt werde.“340 Die Parteiorganisation versuchte die Opponenten als gewohnheitsmäßige Querulanten hinzustellen, deren Anschuldigungen voll und ganz erfunden seien. Eine über die Zellen- und Blockstruktur der NSDAP Hecklingens in den vierziger Jahren überlieferte Aufstellung belegt jedoch auch in der Breite die Verdrängung der „alten Kämpfer“, die Zellen- und Blockleiterpositionen waren fast durchweg von Mitgliedern jüngeren Parteialters besetzt. Nur zwei der dort gegen Kriegsende mit Eintrittsdatum registrierten 27 Blockleiter waren vor 1933 in die NSDAP eingetreten. In zehn weiteren Blöcken hätte jedoch die Möglichkeit der Einsetzung von „parteiälteren“ Mitgliedern (vor 1933) bestanden. Auch von den sieben angegebenen Zellenleitern hatte keiner ein Eintrittsdatum vor 1933 aufzuweisen.341 Der verbal bekundeten Wertschätzung der „alten Kämpfer“ stand ihre tatsächliche Verdrängung gegenüber. Neben der Hauptkampflinie „alte Kämpfer“ gegen Neumitglieder gab es auch Verdrängungskämpfe der „alten Kämpfer“ untereinander, wie sie z. B. ansatzweise in Güsten zu erkennen sind. Seit 1934 wurde dort der Inhaber einer Futtermittelhandlung und NSDAP-Mitglied seit 1926, Friedrich Thiemann, innerhalb der lokalen Partei massiv angefeindet. Die Angriffe gingen in erster Linie vom Gutsbeamten Willi Siebenbürger,

BDC, OPG 3404002274. 340 Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG 3404002274. 341 Vgl. Verwaltungsgemeinschaft „Bördeblick“ (Hecklingen), Stadtarchiv Hecklingen, „Registrierung der ehemaligen Mitglieder der NSDAP und Militaristen 1946“, o. Bl. 339 Ortsbauernführer Koch belieferte als Kohlenhändler auch einen ortsansässigen Juden. 162 NSDAP-Mitglied seit 1928, aus. Thiemann wäre einer derjenigen, die als Parteimitglieder erst 1933 öffentlich in Erscheinung traten. Tatsächlich war Thiemann schon längere Jahre Stadtverordneter und hat nachweislich schon zu einer Zeit (1929/30) auswärtigen (NSDAP-)Sachverstand vor Entscheidungen in Etat-Fragen eingeholt, als Siebenbürger noch gar nicht in Güsten ansässig war. Auch mittels einer Anzeige bei den Steuerbehörden als „Volksbetrüger“ versuchte Siebenbürger Thiemann nachhaltig zu schädigen. Der Aktion war allerdings kein Erfolg beschieden, das Landesfinanzamt sah keinen Handlungsbedarf.342 Auch hier ging es allem Anschein nach nicht um materielle Vorteile, sondern darum, sich als der ‚bessere‘ Nationalsozialist darzustellen und die eigene Stellung in der Organisation auszubauen bzw. zu bewahren. Ein besonderes, oftmals ebenfalls mit der Ausschaltung „alter Kämpfer“ verbundenes Kapitel innerparteilicher Machtkämpfe stellte die Errichtung eines Systems persönlicher Macht durch den NSDAP-Kreisleiter Otto Wienecke auf der Basis ihm ergebener Gefolgsleute im Kreis Bernburg seit 1932 dar.343 Eine Vielzahl von Konflikten innerhalb und außerhalb der Partei scheinen von Wienecke ausgenutzt und teilweise wohl auch selbst inszeniert worden zu sein, um seine Macht zu befestigen. Freilich ist letzteres in der Regel überhaupt nur über Indizien wahrzunehmen und hat auch, wie folgende drei Vorgänge aus den Jahren 1939 und 1941, nur selten Eingang in die schriftliche Überlieferung gefunden. In einer Vernehmung nach Kriegsende sagte der Bernburger Oberbürgermeister aus, dass er seit etwa 1939 „mit dem Kreisleiter Wienicke in starker Gegnerschaft lebte“, sie hätten „jede Verhandlung miteinander abgebrochen, und der Kreisleiter bemühte sich, mich absetzen zu lassen, weil ich mir das Hineinreden der Partei in die Stadtverwaltung nicht gefallen liess und deshalb in starker Opposition zum Kreisleiter und zur Partei stand.“344 Gleichfalls 1939 wurde der Ortsgruppenleiter Bernburg-Wasserturm, Kurt Kleinau, wegen Betrugs an der Deutschen Reichsbahn in Höhe

342 Vgl. Bundesarchiv Berlin, NS 25/272, Bl. 37 ff.; BDC, PK, Thiemann, Friedrich, 12.02.1896; NSDAP-Datensatz. Möglicherweise damit im Zusammenhang stehend: Stadtsekretär Julius Rauhut, NSDAP-Mitglied seit 1933, bittet per 14.01.1934 beim Amt für Kommunalpolitik in München um (anderweitige) Verwendung im Kommunaldienst. Vgl. Bundesarchiv Berlin, NS 25/273, Bl. 14. 343 Zwischen 1933 und 1936 war er lediglich für den Landkreis Bernburg zuständig, als Kreisleiter Bernburg-Stadt fungierte in dieser Zeit ehrenamtlich der Lehrer Paul Petri (nach seiner dienstlichen Versetzung nach Dessau dann Gauschrifttumsbeauftragter des Amtes Schrifttumspflege). 1936 wurde auch die Stadt Bernburg wieder von Wienecke übernommen. 344 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Zentralarchiv, HA IX/11, ZUV 45, Akte 13 (Gerichtsakte Dr. Hebold), Bl. 139. 163 von 40 Pfennigen seines Amtes enthoben.345 Kleinau war noch von Wieneckes Vorgänger in seine Funktion eingesetzt worden und zählte wohl eher zu dessen Gefolge. 1941 wurde der bisherige Vorsitzende des NSDAP-Kreisgerichts Bernburg I, Rechtsanwalt Paul Körber, durch Verfügung des Gauleiters aus der NSDAP ausgeschlossen – eine Maßnahme, die ohne entschiedenes Votum des Kreisleiters nicht denkbar war. Körber war schon 1933 als Vorsitzender des damaligen Untersuchungs- und Schlichtungsausschusses beständig mit den lokalen politischen Leitern im allgemeinen und mit Wienecke im speziellen kollidiert. Eine ähnliche Auseinandersetzung ist als Ursache seines Parteiausschlusses 1941 zu vermuten, eventuell wurden auch alte Rechnungen beglichen.346 Man tat also besser daran, nicht mit dem ‚System Wienecke‘ in Berührung zu kommen.

345 Siehe auch „Rechtfertigungsschreiben des ehemaligen Ortsgruppenleiters Bernburg-Wasserturm, Kurt Kleinau, an das Oberste Parteigericht der NSDAP, 1939“ im Teil B: Dokumentation. 346 Aus einem Schreiben des Bernburger Untersuchungs- und Schlichtungsausschuss-Vorsitzenden Körber an den Gau-Uschla-Vorsitzenden vom 17.06.1933: „Die Akten L[...] sind ein lehrreiches Beispiel, wie sich die Herrn einen Uschla gedacht haben und wie es solche Uschla wohl leider in Menge geben wird – ich glaube [der Kreis-Uschla] Köthen ist nur ein gefügiges Werkzeug des Kreisleiters Friesleben – aber sie werden hier wohl für einige Zeit genug haben. [...] Ich habe stets auf dem Standpunkt gestanden, daß Kreisleiter und Uschlavorsitzender Hand in Hand arbeiten müssen und habe dies auch wiederholt dem Kreisleiter Wienecke gesagt, in rein politische Angelegenheiten werde ich mich nie einmischen, dafür trägt er allein die Verantwortung, in Personalsachen, mische ich mich auch nicht ein, ich habe ihn nur einmal bisher auf etwas aufmerksam gemacht, es dann seine Sache, ob er meine Anregung befolgt. Besser würde er vielfach fahren, wenn er mich fragen würde, da ich seit 1905 hier Anwalt bin und daher eine ganz andere Personenkenntnis besitze als seine Ortsgruppenleiter und sonstige Gewährsmänner. Aber wie gesagt er ist allein verantwortlich, ganz besonders wenn falsche Personalpolitik getrieben wird.“ Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG 3401001304, Bl. 4 der Uschla-Akte. Es ist zu vermuten, dass Körber nach seinem Ausschluss 1941/42 auch seinen Beruf aufgeben musste. Für seine nicht ausgeschlossene Frau ist in der NSDAP-Mitgliederkartei für 1942 ein Wegzug nach Glauchau vermerkt.

6. 1937-40: Nachholender Gehorsam „Die heutige Autorität der Partei stützt sich – auf gut Deutsch gesagt – auf Schnauze und alte Parteimänner, die sich durchzusetzen wissen, und andererseits auf Beamte, die des Glaubens sind, bei der politischen Beurteilung Nachteile zu haben, wenn sie sich querstellen.“ Carl Röver, NS-Reichsstatthalter von Oldenburg und Bremen, 1942.347 „Der Beitritt zur Partei wurde mir als Beamten teils ‚warm‘, teils mit ‚Druck‘ ans Herz gelegt und noch 44 wurde mir der Rat gegeben, mich der Partei anzumelden, wenn ich nach Friedensschluß nicht aus der Gosse Wasser saufen wolle.“ Eichinspektor Erich F., Bernburg, 1946. 348 Die seit dem 1. Mai 1933 in der NSDAP geltende „Mitgliedersperre“ für die Neuaufnahme von Mitgliedern kannte nur wenige Ausnahmen, in der Regel für die Aufnahme von Mitgliedern aus NS-Anhangsorganisationen heraus. Demzufolge blieb das Aufnahmevolumen in den Folgejahren gering. Im Jahre 1937 schließlich wurde seitens der NSDAP-Reichsleitung eine sogenannte „Lockerung“ der Mitgliedersperre verkündet. In der Praxis bedeutete diese „Lockerung“ die erneute vollständige Öffnung der Partei für Neueintritte. Lediglich „Staatsfeinden“ und „Juden“ blieb der Zugang zur Partei versperrt.349 Vor dem Hintergrund dieser erneuten Freigabe bescherten die Jahre 1937 und 1938 der NSDAP die größte Eintrittswelle ihrer Geschichte, sowohl auf Reichsebene wie auch im Untersuchungsgebiet. Die Zahl der Ortsgruppen in Bernburg verdoppelte sich nochmals. Gab es noch Anfang 1933 lediglich zwei Ortsgruppen, „Ost“ und „West“, so wa-

347 Carl Röver, Der Bericht des Reichsstatthalters von Oldenburg und Bremen und Gauleiter des Gaues Weser-Ems über die Lage der NSDAP. Eine Denkschrift aus dem Jahr 1942, bearbeitet und eingeleitet von Michael Rademacher, Vechta 2000, S. 20. 348 Aussage des Eichinspektors Erich F., der mit dem Deutschen Luftsportverband in das NSFK übernommen wurde, jedoch dem Druck zum NSDAP-Beitritt widerstand. Nach Kriegsende wurde F. wegen seiner NSFK-Mitgliedschaft trotzdem entlassen, später aber wohl wieder eingestellt. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 822, Bl. 109. 349 Formulierung auf den Antragsformularen zur Aufnahme in die NSDAP: „Hiermit stelle ich Antrag auf Aufnahme in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Ich bin deutscher Abstammung und frei von jüdischem oder farbigem Rasseneinschlag, gehöre keinem Geheimbund, noch einer sonstigen verbotenen Gemeinschaft oder Vereinigung an und werde einer solchen während meiner Zugehörigkeit zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei nicht beitreten. Ich verspreche, dem Führer unbedingten Gehorsam zu leisten und als treuer Gefolgsmann des Führers die Partei mit allen meinen Kräften zu fördern.“ 166 ren daraus im Ergebnis der 1933er Eintrittswelle erst fünf geworden,350 die dann in Verarbeitung der Eintrittswelle der Jahre 1937/38 ab 1939 auf 13 anwuchsen. In den kleinstädtischen und ländlichen Orten des Untersuchungsgebietes vermehrte sich die Zahl der Ortsgruppen in gleichem Maße.351 Stempel der NSDAPOrtsgruppe Ilberstedt 1933352 Nach dieser enormen Eintrittswelle ging der Zulauf deutlich zurück. Es scheint eine gewisse Sättigung eingetreten zu sein, schließlich war Ende 1939 im Untersuchungsgebiet schon fast jeder fünfte Mann (aber nur jede 67. Frau) im organisationsfähigen Alter „Pg.“.353 Insgesamt verfügte die NSDAP im Untersuchungsgebiet Ende 1939 über schätzungsweise 6.200 Mitglieder,354

was

einer reichlichen Verdopplung gegenüber Ende 1933 gleichkam. Die Größenordnung dieses späteren Zulaufs hatte sich schon Jahre zuvor in der Höhe des nationalsozialistischen Zeitungsbezugs angedeutet. Schon im März 1935 betrug die Auflage der offiziellen NS-Lokalzeitung „Der Mitteldeutsche. Anhalter Nachrichten“ (Zweigbetrieb Bernburg der Magdeburger Trommler-Verlags-GmbH) 7.222 Stück.355 Darüber hinaus erschien in Bernburg jedoch nach wie vor auch der ehemals volksparteiliche „Anhalter Kurier“. Es bestand demzufolge keine Notwendigkeit, die erst 1932 ins

350 Nach dem 1. Oktober 1933 wurden die Ortsgruppen Bahnhof, Martinsplatz, Wasserturm, Mitte und Talstadt gebildet. 351 1933 bestanden im Landkreis Bernburg zwischen fünf und elf Ortsgruppen, 1939 schon 30; d. h. fast jeder Ort war im Besitz einer eigenen Organisationsuntergliederung. Die Parteibürokratie war mit dieser Eintrittswelle vollkommen überfordert und mit der Eingliederung der Mitglieder die nächsten zwei Jahre beschäftigt. Vgl. z. B. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127, Anhang: Justiz PA, H, Nr. 352, o. Bl. (Fragebogen eines am 01.07.1937 eingetretenen Mitgliedes, ausgefüllt am 05.01.1939: „Mitgliedskarte ist mir noch nicht ausgehändigt“). 352 Quelle: Kreisarchiv Bernburg, Ilberstedt 69. 353 18,5 % aller Männer und 1,5 % aller Frauen im Alter von 18 Jahren und älter. Kumulative Berechnung auf der Basis des NSDAP-Datensatzes; Die wichtigsten Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 in Anhalt, Dessau 1936, S. 74; StDR 559,6: Gemeindestatistik. Ergebnisse der Volks-, Berufs- und landwirtschaftlichen Betriebszählung [17.05.]1939 in den Gemeinden, Heft 6: Provinz Sachsen, Thüringen, Anhalt, Berlin 1944, S. 6 f., 70 f. 354 Kumulativberechnung. 355 Vgl. Bundesarchiv Berlin, NS 22 / 719. Die Differenz zwischen der errechneten Mitgliederzahl 1939 und der Zeitungsauflage 1935 dürfte sich im wesentlichen daraus erklären, dass sich das Verbreitungsgebiet der Zeitung auch auf die außerhalb des Untersuchungsgebietes liegende und somit vom NSDAPDatensatz nicht erfasste Doppelstadt Staßfurt-Leopoldshall erstreckte. 167 Leben gerufene NS-Zeitung zu halten – es sei denn, man beabsichtigte auch auf diesem Wege, nationalsozialistische Gesinnung deutlich sichtbar zu bekunden. 168 6.1 Eintrittsmotivationen Auch die seit 1937 erfolgenden Eintritte waren in ihrer übergroßen Mehrheit von Opportunismus getragen. Es wäre allerdings verfehlt, die Neumitglieder der Jahre 1937/38 nur als jene sehen zu wollen, die es 1933 vor der „Schließung“ der Partei ‚nicht mehr rechtzeitig geschafft‘ hatten. Dagegen spricht, dass für diesen Schritt bis zum 1. Mai 1933 genügend Zeit zur Verfügung gestanden hatte, die „Schließung“ der Partei für Neuaufnahmen zuvor bekannt geworden war und es wohl auch nach dem 1. Mai 1933 noch einige auf dieses Datum rückdatierte Eintritte gegeben hatte. Die 1937er NSDAPMitglieder waren 1933 in der Regel Mitgliedschaften in anderen NS-Organisationen, in SA, SS, NSKK etc., auch im zu dieser Zeit noch formell selbständigen Stahlhelm, eingegangen. Diese sollten aus ihrer damaligen Sicht die „positive Stellung zum nationalsozialistischen Staat“ hinreichend dokumentieren. Mit der Zunahme des Konformitätsdrucks ab 1937 erwies sich dies aber sowohl aus Sicht der den Eintrittsdruck Ausübenden als auch aus ihrem eigenen Blickwinkel als nicht mehr genügend. Die opportunistischen Verhaltensweisen der Jahre 1932/33 und 1937/38 sind demzufolge deutlich anders gelagert: im ersten Fall vorauseilender Gehorsam von Personen, die in ihrer übergroßen Mehrheit aus eigenem Antrieb zur Partei stießen, im zweiten Fall eher nachfolgender Gehorsam von Personen, die seit 1937 mehrheitlich Opfer des auf sie von verschiedenen Stellen ausgeübten Drucks zum Beitritt wurden. In den Entnazifizierungsverfahren nach 1945 sollten die 1937/38 Eingetretenen zu einem sehr großen Teil angeben, sie seien zur Mitgliedschaft „gezwungen“ worden. Auch in die Bewertung durch die Entnazifizierungskommissionen fand diese Darstellungsweise vereinzelt Eingang. So war z. B. die 1945 aufgestellte Liste der NSDAPMitglieder in der Gemeinde Schackstedt in zwei Kategorien untergliedert, a) aktive und b) passive, „gezwungene“ Mitglieder.356 Den mit den örtlichen Verhältnissen vertrauten Zeitgenossen des für die Aufstellung der Liste zuständigen Antifa-Ausschusses erschienen unmittelbar nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ die Erklärungen über „erzwungene“ Beitritte offensichtlich plausibel. Tatsächlich war die Gemengelage jedoch komplizierter und keinesfalls für die Betroffenen ohne Spielraum, auch wenn dies später oftmals verleugnet werden sollte. Generell gab es unter den „Gezwungenen“ zwei Kategorien, a) jene, die behaupteten, 1937 oder

356 Vgl. Stadtarchiv Sandersleben, 341. 169 später durch eine Mitgliedschaft in einer NS-Anhangsorganisation (SA, NSKK etc.) oder auch auf Befehl einer höheren Parteistelle „automatisch“ bzw. „im Zuge der allgemeinen Überführung“ in die NSDAP gelangt zu sein, und b) jene, die zugaben, dem ihnen gegenüber ausgeübten Druck nachgegeben zu haben. Beispielhaft für die Darstellungen der „automatisch” Übernommenen steht die des gläubigen Katholiken August D., Inhaber eines Schuhwarengeschäftes in Sandersleben mit angeschlossener Maß- und Reparaturwerkstatt. Er gab an, 1933 in die SA eingetreten zu sein, weil Druck auf alle Geschäftsleute ausgeübt worden wäre, einer Organisation anzugehören. Seine Wahl wäre deswegen auf die SA gefallen, weil er sie „politisch und weltanschaulich für am farblosesten” hielt. Mit der – in seiner Darstellung – automatischen Übernahme der SA gelangte er 1937 in die NSDAP, wurde aber nur Anwärter, weil ihm nachgewiesen worden sei, dass er noch im Oktober 1937 Geschäfte mit jüdischen Firmen getätigt hätte.357 Die statuarischen Festlegungen sahen eine „automatische Übernahme“ nicht vor. Für den Eintritt in die NSDAP war ein eigenhändig unterschriebener Aufnahmeantrag zwingend notwendig, die Einreichung einer Aufnahme durch eine andere Stelle ausgeschlossen. Doch die Behauptungen einer „automatischen“ Aufnahme nach 1937 sind in einer solchen Häufigkeit vorzufinden, dass nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass untere Parteiinstanzen hier gewisse ‚Abkürzungen‘ des formellen Verfahrens suchten. Die Überlieferung im Bundesarchiv lässt eine Klärung dieser Frage nicht zu, nur ein Bruchteil der Aufnahmeanträge ist dort noch vorhanden. Darüber hinaus wäre selbst bei deren vollständiger Überlieferung von jedem Mitglied dieser Kategorie eine Unterschrift zum Vergleich zu beschaffen. Generell ist aufgrund der Kenntnis der technischen Abläufe davon auszugehen, dass zu jedem Eintritt auch ein Aufnahmeantrag vorgelegen hat. Fraglich wäre dann nur, ob er auch tatsächlich vom Eintretenden unterschrieben worden war. Bemerkenswerterweise konnte innerhalb dieser Untersuchung jedoch kein einziger Fall ermittelt werden, in dem ein „automatisch“ Überführter im nachhinein die Beitragszahlung verweigert und somit seinen Ausschluss aus der NSDAP nach relativ kurzer Frist herbeigeführt hätte. Eine seriöse Nachprüfung der angeblichen „allgemeinen Überführung“ ist lediglich für die Sanderslebener Stahlhelmangehörigen möglich, die nach ihrer Übernahme in die SA nachfolgend auch spätestens 1937 „automatisch“ in ihrer Gesamtheit hätten in die Partei

357 Stadtarchiv Sandersleben, „Eidesstattliche Erklärungen an den Antifa-Ausschuß“, Bl. 96. 170 überführt werden müssen – so man der Logik solcher Behauptungen folgt. Von den 159 auf Mitgliederlisten des Stahlhelms bzw. Nationalsozialistischen Deutschen Frontkämpferbundes 1933/34 in Sandersleben nachgewiesenen Personen traten insgesamt lediglich 56 (= 35 %) der NSDAP bei, zehn davon 1936 und 32 1937.358 Gestützt auf dieses Ergebnis wäre die „automatische Übernahme“ von Mitgliedern der NSAnhangsorganisationen zur NSDAP in das Reich der nutzbringenden Legende zu verweisen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass – wenn es denn überhaupt eine planvolle „Überführung“ gab – von den Parteistellen bestenfalls eine vorab-Selektion der Aufzunehmenden vorgenommen und von diesen zumindest nachträglich nach der listenmäßigen Meldung ein Aufnahmeantrag unterschrieben wurde.359 An der Ehrlichkeit der Mitglieder der Kategorie b), jener also, die später eingestanden, dem ihnen gegenüber ausgeübten Druck nachgegeben zu haben, dürften hingegen kaum Zweifel bestehen. Der Beitritts-Druck auf sie wurde aus zwei Richtungen, von lokalen NS-Funktionären einerseits und Arbeitgebern andererseits, ausgeübt. Die Intensität der Beeinflussung reichte dabei von einfacher Agitation bis hin zu brutaler Drohung. Beispiele für von NS-Funktionären unter Drohungen herbeigeführte Beitritte liefern wiederum die in Sandersleben nach 1945 durchgeführten Entnazifizierungsverfahren.360 Der Chauffeur Waldemar B. gab an, von seinem Arbeitgeber, dem Fuhrunternehmer und NSDAP-Ortsgruppenleiter Willi Jung, zum Eintritt in die SS (1935) und die NSDAP (1937) genötigt worden zu sein. Auch der Eisenbahner Paul Ackermann gab zu Protokoll: „Unter ständigen Zwangshinweisen der Ortsgruppenleitung wurde ich im Oktober 1937 der Partei als Anwärter zugewiesen.“ Der Nachfolger Jungs im Amte des

358 Vgl. Stadtarchiv Sandersleben, 429, pass. Nicht einbezogen wurden drei abgemeldete, gestrichene bzw. schon 1935 verstorbene Personen. 359 Siehe auch „Auszüge aus dem Tagebuch Paul W[...]“, wo sich eine solche Variante andeutet. Stadtarchiv Bernburg, 6/106, o. Bl. Der Leiter der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg 1945 über einen dort beschäftigten, zur Entlassung anstehenden Arbeiter: „S[...] ist nach seinen Angaben 1936 der SA beigetreten, um bei den Deutschen Solvaywerken anzukommen. Als dies trotzdem nicht gelang, trat er 1938 aus der SA wieder aus. Wiederholten Aufforderungen des Sturmführers Köhler, der NSDAP beizutreten, folgte er nicht.“ Zumindest in diesem Fall ist damit belegt, dass die Übernahme nicht „automatisch“ erfolgte. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 823, Bl. 20, vgl. auch ebenda, Bl. 54. Auch bei Anton Lingg, Die Verwaltung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, München 1940, S. 144-179, findet sich kein Hinweis darauf, dass es in irgendeiner Konstellation formaljuristisch möglich gewesen wäre, Personen „automatisch“, d. h. gegen ihren Willen, in die Partei zu überführen. An allen Stellen wird das Prinzip der Freiwilligkeit betont; formelle Grundlage des Aufnahmeverfahrens war ein unterschriebener (!) und vom Ortsgruppenleiter befürworteter Aufnahmeantrag. 360 Vgl. für die nachfolgenden Beispiele Stadtarchiv Sandersleben, „Eidesstattliche Erklärungen an den Antifa-Ausschuß“, Bl. 83, 88, 38; Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 799, Bl. 75. 171 Ortsgruppenleiters, Hans Quidde, verfuhr in gleicher Weise, wie aus einer 1946 durch den Antifa-Ausschuß Sandersleben abgegebenen Beurteilung hervorgeht: „Im Betrieb der Reichsbahn, als Reichsbahnmeister ließ Qu. soziale Gedanken blitzen bei denen, die ihm politisch willfäh[r]ig waren. Dem Eisenbahner F. drohte er 1939 ‚ich werde Sie ausmerzen‘ bei einer Vernehmung; dem Eisenb. O. u. R. ließ er ohne Anmeldung 6 Monate Beitrag für die NSDAP nachkassieren; dem Eisenb. B. versuchte er, allerdings vergeblich, mit allen Mitteln in die NSDAP zu zwingen u. im besonderen für die Rassenlehre der NSDAP mit den damaligen Lehrer Winkler zu gewinnen.“ Zu dem dienstverpflichteten Kartenstellenleiter bei der Stadtverwaltung Sandersleben, S., kam Quidde im Februar 1942 und sagte (nach Aussage S.‘s): „‚Herr S[...], Sie sind Parteigenosse!‘ Ich antwortete: ‚Sie irren sich Herr Quidde!‘ Er antwortete: ‚Nein, ich irre mich nicht, der Kreisleiter hat es so bestimmt!‘ Ich wurde als Walter im Volksbildungswerk eingesetzt.“361 Durchaus typisch ist auch der Fall des Schmiedes Heinrich Bötel aus der Bahnmeisterei Güsten, der 1942 zum DAF-Betriebsobmann ernannt und aufgefordert wurde, der NSDAP beizutreten, was er dann auch tat.362 Die Aggressivität einiger, bei weitem nicht aller, Ortsgruppenleiter bei der Gewinnung neuer Mitglieder363 resultierte aus dem Druck unter den sie selbst in dieser Frage gestellt waren. Die „Lockerung“ der „Mitgliedersperre“ 1937 war eindeutig unter der Intention erfolgt, die NSDAP eine Massenpartei in einem Volumen von einem Zehntel der Bevölkerung werden zu lassen und gleichzeitig die mit der Eintrittswelle 1932/33 erworbene sozialstrukturelle Ungleichgewichtigkeit mittels gezielter Neueintritte vor allem aus der Arbeiterschaft und der Jugend wieder auszugleichen. Mit letzterem allerdings waren die unteren Parteiinstanzen offensichtlich überfordert, für sie zählten lediglich die vorgegebenen magischen zehn Prozent Mitgliederanteil an der Bevölkerung. So wies z. B. der NSDAP-Kreisleiter des benachbarten preußisch-anhaltischen Parteikreises Quedlinburg-Ballenstedt per Rundschreiben vom Januar 1940 „nochmals darauf hin, daß sich jeder Ortsgruppenleiter für die z. Zt. bestehende Auflockerung der

361 Das Datum der Antragstellung auf der Karte in der ehemaligen NSDAP-Gaukartei lautet auf den 28.10.1940, das Datum der formellen Aufnahme auf den 01.01.1941. Eine Karte in der ehemaligen Personenkartei und der Aufnahmeantrag existieren nicht mehr. 362 Vgl. Stadtarchiv Güsten, 307. 363 Es gab in dieser Frage auch regelrechte ‚Versager‘. Der schon erwähnte Ortsgruppenleiter BernburgWasserturm, Kurt Kleinau, blieb während seiner aktiven Zeit das einzige NSDAP-Mitglied unter den über das Adressbuch nachweisbaren Haushaltsvorständen in seinem Wohnhaus. Erst 1940, als er schon lange abgesetzt und zur Wehrmacht eingezogen war, trat ein langjährig dort wohnender selbständiger Kaufmann ein. 172 Mitgliedersperre der NSDAP. dahingehend einsetzt, dass eine rege Werbung für Neuaufnahmen betrieben wird. Eine öffentliche Werbung mit schriftlichen Anzeigen usw. ist nicht gestattet. Es ist daher unbedingt auf die Propaganda von Mund zu Mund zurückzugreifen. Von mir aus habe ich nichts dagegen einzuwenden, dass die Lockerung der Mitgliedssperre auf den Haustafeln in den Ortsgruppen bekanntgegeben wird. In meinem Kreisgebiet muss alles daran gesetzt werden, dass das Kontingent (10% der Einwohnerschaft) erreicht wird. Zu meinem Befremden habe ich noch feststellen müssen, dass es im Kreise noch einige Ortsgruppen gibt, die bis heute noch gar keine Neuaufnahmen hereingegeben haben. Ich muss gerade diese Ortsgruppenleiter bitten, sich für einen versprechenden [entsprechenden – T. K.] Erfolg einzusetzen.”364 Die Drohung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes bzw. die Androhung beruflicher Zurücksetzungen erwies sich vor dem Hintergrund der Erinnerung an die gerade überstandene Wirtschaftskrise als das bei weitem effektivste Druckmittel zur Erzielung von Beitritten.365 Von nationalsozialistischer Überzeugung war an keiner Stelle mehr die Rede, es ging einzig darum, die Mitgliedschaft der Zahl nach zu verstärken und die betreffenden Personen zu einem formalen Bekenntnis zu veranlassen.366 Beispielhaft wäre hier der Fall des 1909 geborenen Zimmermanns Fritz B. herauszugreifen. Seit 1927 war er in seinem Beruf zuerst bei der Fa. Wohlhaupt, dann 1933-40 bei den Deutschen SolvayWerken tätig. Gleichfalls seit 1927 bis zur Übernahme in die DAF war er Mitglied des sozialdemokratischen Zentralverbandes der Zimmerer und seit der Jugendzeit Mitglied in Arbeitersportvereinen. Ein seit 1930 bestehendes und sich immer weiter verstärkendes Krampfaderleiden (offener Fuß) machte ihn letztendlich vollkommen arbeitsunfä-

364 Kreisarchiv Quedlinburg, Güntersberge 147, o. Bl. 365 Auch dieser Druck zum Beitritt scheint keine Besonderheit des Landkreises Bernburg, sondern in Deutschland allgemein üblich gewesen zu sein. In Würselen bekam 1937 ein Lohnbuchhalter die Aufforderung, die Gebühr für die Aufnahme in die NSDAP sowie die monatlichen Mitgliedsbeiträge zu entrichten. ‚Natürlich‘ zahlte er, ohne sich allerdings in der Folge aktiv am Parteileben zu beteiligen. Vgl. Padover, Lügendetektor, S. 136 f. Der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt bekam ca. 1938 an seine Heimatadresse in Hamburg-Eilbek, während er schon zur Wehrmacht eingezogen war, ein Antragsformular zum Eintritt in die NSDAP zugeschickt. Den Hintergrund bildete eine frühere Führertätigkeit in der Marine-HJ. Die Verweigerung des Eintrittsansinnens gegenüber der NSDAP-Kreisleitung blieb ohne Konsequenzen für ihn. Vgl. Helmut Schmidt u. a., Kindheit und Jugend unter Hitler, Berlin 1992, S. 214. Der 1937 aufgebaute starke Druck zum Eintritt in die NSDAP schlug sich zeitgenössisch auch in der Berichterstattung des sozialdemokratischen Exils über die Zustände in Deutschland nieder. Vgl. Bernd Stöver, Volksgemeinschaft im Dritten Reich. Die Konsensbereitschaft der Deutschen aus der Sicht sozialistischer Exilberichte, Düsseldorf 1993, S. 326. 366 1938 durften dann auch bisher von der Parteizugehörigkeit ausgeschlossene ehemalige Mitglieder von Freimaurerlogen der NSDAP beitreten; die Einschränkung bestand jetzt nur noch darin, daß sie keine Funktionen bekleiden durften. Vgl. Stadtarchiv Sandersleben, „Eidesstattliche Erklärungen an den AntifaAusschuß“, Bl. 98 (Willi R.). 173 hig. Eine andere – leichtere – Tätigkeit im Betrieb wurde ihm jedoch verwehrt. Der daraufhin von ihm angestrebte Besuch der Bauschule in Zerbst wurde erst möglich, als er die Vorleistung des NSDAP-Beitritts (1.2.1940) erbrachte. Außer durch Beitragszahlung war er für die Partei aber offensichtlich von keinem weiteren Nutzen.367 Am effektivsten ließ sich die Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust im öffentlichen Dienst aufbauen, hier war der in der Privatwirtschaft nur schwer zu erzielende direkte Zugriff möglich. Im Normalfall wurde argumentiert, dass der Betreffende als Beamter schon längst Mitglied sein müsste und seine „positive Stellung zum nationalsozialistischen Staat“ auch nach außen hin zu dokumentieren hätte. Im Einzelfall konnte es sogar vorkommen, dass seitens der beschäftigenden Verwaltung die Mitgliedschaft gefordert, von der zuständigen Ortsgruppe die Bestätigung aber verweigert wurde.368 Auch ehemalige Sozialdemokraten blieben von dieser dauernden Bearbeitung nicht verschont. Es hat sogar den Anschein, dass sie besonders seit etwa 1940 unter ständigem Hinweis auf den Makel ihrer früheren SPD-Mitgliedschaft bevorzugt ins Visier genommen wurden. Der frühere stellvertretende Coswiger Strafanstaltsdirektor Ernst Graßhoff, für die SPD in dieser Zeit Stadtverordneter in Coswig und 1933 von Coswig in die Verwaltung nach Köthen strafversetzt und herabgestuft, berichtete nach Kriegsende, er wäre die ganzen Jahre hindurch innerlich Sozialdemokrat geblieben (und rettete im übrigen auch die Akten der SPD Coswig über die Zeit des Dritten Reiches): „Wenn ich trotzdem zum 1. Januar 1943 Mitglied der NSDAP werden musste, so darum, weil nunmehr der behördliche Druck nicht mehr zu ertragen war. Man warf mir unanständige Gesinnung vor, daß ich Jahre hindurch mein Gehalt aus einer Staatskasse empfinge, ohne zu diesem Staate ja zu sagen, daß ich an exponierter Stelle stände und in schwerer Kriegszeit das Schicksal eines Staates mit zu beeinflussen hätte, ohne innerlich mich zu diesem Staat zu bekennen. Ich könnte nicht verlangen, daß der Staat mir Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit ohne ein Bekenntnis zur Staatsform glauben sollte. Ich müsste, wenn ich nicht auch äußerlich dies zum Ausdruck brächte, hieraus Konsequenzen ziehen. Das war der Grund, weshalb ich der Partei in letzter Stunde noch beigetreten bin.“369

367 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 817, Bl. 96 ff. 368 Siehe z. B. „Lebenslauf des städtischen Beamten Otto Bauer, niedergeschrieben Ende September 1945”. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 801, Bl. 170-172. 369 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 449, Bl. 163 f. Vgl. auch für Eintritte ehemaliger Sozialdemokraten bzw. der Sozialdemokratie nahestehender Personen 174 Insbesondere fallen in der Anwendung des direkten Zugriffs die Reichspost und vor allem die Deutsche Reichsbahn auf. Wobei man sich im öffentlichen Dienst allgemein oftmals nicht mit einer einfachen Zahl-Mitgliedschaft zufrieden gab. So erhielt z. B. der Reichsbahnassistent Alfred Henning in der Landeshauptstadt Dessau, NSDAP-Mitglied seit 1933, von der für ihn zuständigen Reichsbahndirektion Halle im Jahre 1940 nachfolgende Aufforderung: „Unsere Ermittelungen geben uns Veranlassung, Sie auf Ihre Verpflichtung hinzuweisen, sich nach Kräften aktiv in den Dienst der NSDAP, ihrer Gliederungen und Verbände einzusetzen, um dadurch Ihre unbedingte politische Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen.“370 Der Dessauer Stadtkämmerer Fritz Wegener schilderte in seinen Lebenserinnerungen, dass er „um ein gewisses Maß der Anpassung [...] umso weniger herum[kam], als ich im Dienst immer wieder Reibungen mit Parteidienststellen hatte. [...] Schon 1939 hatten mich [Oberbürgermeister] Sander und der stellvertretende Gauleiter Trautmann, die mir beide freundlich gesonnen waren, gewarnt: meine Berufung könnte nach § 45 der Deutschen Gemeindeordnung bis zum Ablauf des ersten Amtsjahres zurückgenommen werden, und auf dieses Recht hatte man, was auch möglich gewesen wäre, bei mir nicht verzichtet. Es wurde unausweichlich für mich, meine Zuverlässigkeit dadurch zu beweisen, daß ich mich ‚politisch‘ betätigte, die Frage war nur: wo und wie. Als die Ortsgruppe Siedlung, zu der unsere Wohnung gehörte, mich im September 1939 als politischen Leiter haben wollte, lehnte ich bedauernd wegen bevorstehenden Wehrdienstes ab. Bei später mir angebotenen oder nahe gelegten Ämtern führte ich meine Arbeitsüberlastung an und wich aus. Ende 1940 aber fand sich das Geeignete: Ich wurde einer der Kreisrevisoren. Da hatte ich Ortsgruppen- und Frauenschaftskassen auf die Richtigkeit ihres Geld- und Markenbestandes hin zu prüfen. Das machte ich ab 1941 alle ein bis zwei Monate, übrigens ohne je geldliche Unregelmäßigkeiten bei den – teils männlichen, teils weiblichen – Kassenwarten festzustellen. Diese Tätigkeit war mein Alibi. Sie hatte weder leitenden, noch propagan-

Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, 801, Bl. 175 f. (Gemeindeinspektor Willi K., Neundorf); F 17.11.1947 (Gemeindesekretär Karl Zufelde, Neundorf, Gendarmeriebeamter Johannes Pipper, Gerbitz, Buchdrucker im nationalsozialistischen Trommler-Verlag Helmut Fritz, Gerbitz). 370 Stadtarchiv Dessau, Rat der Stadt Dessau 30/98, o. Bl. Vgl. auch das anlässlich der Beförderung zum Oberlokführer erstellte „Politische Gutachten“ über den Lokführer Arthur Weber in Göttingen, das sich in seinen wesentlichen Aussagen auf die „Politische Beurteilung“ der NSDAP-Ortsgruppe verlässt, in: Bundesarchiv Berlin, BDC, PK, 1130007095. Beides wurde auf vorgedruckten Formularen ausgefertigt, was verdeutlicht, dass es sich um das Normverfahren innerhalb der Deutschen Reichsbahn handelte. Vgl. weiterhin Bernhard Haupert und Franz Josef Schäfer, Jugend zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Biographische Rekonstruktion als Alltagsgeschichte des Faschismus, Frankfurt am Main 1991, S. 63 (Beitrittsdruck auf Postangestellte im Saarland). 175 distischen, noch schulischen, noch organisatorischen, noch sonst einen politischen Inhalt, und darauf legte ich entscheidenden Wert. Man mußte anständig bleiben und lavieren, um jetzt und später zu überleben.“371 Der zu dieser Zeit schon im britischen Exil lebende Sebastian Haffner schrieb 1939 über Leute vom Zuschnitt Wegeners, sie wären der Versuchung erlegen, einen kleinen Pakt mit dem Teufel einzugehen und damit „zu den Siegern und Verfolgern“ zu gehören: „Das war die einfachste und gröbste Versuchung. Viele erlagen ihr. Später zeigte sich dann oft, daß sie den Kaufpreis unterschätzt hatten und daß sie dem wirklichen Nazisein nicht gewachsen waren. Sie laufen heute zu vielen Tausenden in Deutschland herum, die Nazis mit dem schlechten Gewissen, Leute, die an ihrem Parteiabzeichen tragen wie Macbeth an seinem Königspurpur, die, mitgefangen, mitgehangen, eine Gewissenslast nach der andern schultern müssen, vergeblich noch nach Absprungsmöglichkeiten spähen, trinken und Schlafmittel nehmen, nicht mehr nachzudenken wagen, nicht mehr wissen, ob sie das Ende der Nazizeit – ihrer eigenen Zeit! – mehr herbeisehnen oder mehr fürchten sollen, und die, wenn der Tag kommt, ganz bestimmt es nicht werden gewesen sein wollen.“372 Beispielhaft für den öffentlichen Dienst insgesamt können die Verhältnisse in der mit Pflanzenzüchtungsversuchen befassten Anhaltischen Versuchsstation in Bernburg gelten. Von den 21 im Jahre 1940 dort beschäftigten Angestellten und Beamten traten zwischen 1932 und 1943 12 in die NSDAP ein (= 57 %). Unter den 34 Feldarbeitern der Versuchsstation lässt sich hingegen keine einzige Mitgliedschaft nachweisen. Die relativ gut überlieferten Eintrittsmotivationen dieser Mitglieder zeigen eine Spannungsbreite zwischen offensichtlichem Opportunismus und unter Druck erpressten Beitritten. Lediglich einem dieser Mitglieder, einem 1932 eingetretenen Laboranten und späteren NSDAP-Zellenleiter, könnte ein höheres Maß an nationalsozialistischer Überzeugung unterstellt werden.373 Die Herbeiführung von Parteieintritten durch unter-Druck-Setzung potentieller Mitglieder vollzog sich in ganz Deutschland in analoger Weise wie im Kreis Bernburg. Der Reichsschatzmeister der NSDAP sah sich – unter Reflektierung der seit 1937 gängigen Aufnahmepraxis – noch in einer besonderen Anordnung vom 19. April 1943 genötigt,

371 Fritz Wegener, So lebten wir 1938 bis 1945 in Dessau, Berlin 1972, S. 65-67. 372 Haffner, Geschichte, S. 186 f. 373 Siehe die Aufstellung „Die Mitgliedschaft von im Jahre 1940 in der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg beschäftigten Angestellten in der NSDAP und in NS-Anhangsorganisationen“ im Teil B: Dokumentation. 176 darauf hinzuweisen, dass nur solche „Volksgenossen“ aufzunehmen seien, die auch überzeugte Nationalsozialisten wären: „Bei der Aufnahme von Volksgenossen in die NSDAP. muß oberster Leitsatz aller mit der Aufnahme befaßten Dienststellen der Partei sein, daß der Führer in der Partei eine verschworene Gemeinschaft politischen Kämpfertums gestaltet wissen will. Es ist daher die Aufnahme eines neuen Parteigenossen eine wichtige politische Entscheidung, die nach eingehender Prüfung gewissenhaft und gerecht, aber niemals willkürlich zu treffen ist. Insbesondere darf weder die wirtschaftliche Lage noch die berufliche Stellung eines Volksgenossen für seine Aufnahme in die Partei bestimmend sein, soll doch die Partei das Urbild der Volksgemeinschaft in sich verkörpern.“374 Inwieweit den Drohungen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes angesichts des inzwischen eingetretenen Arbeitskräftemangels tatsächliche Substanz innewohnte, ist nur schwer zu beurteilen. Innerhalb dieser Untersuchung konnte nicht ein einziger Fall ermittelt werden, in dem eine Entlassung nach Beitrittsverweigerung erfolgte. Freilich kann das auch daran liegen, dass kaum einer sich dem Beitrittsansinnen zu verweigern wagte. Schon die Drohung mit der Entlassung reichte, um Gefügigkeit hervorzurufen.375 Zudem kamen Entlassungen nach einem Parteiausschluss durchaus vor. 376 Ein inzwischen verfestigtes Klima permanenter allseitiger Denunziation377 und totaler Kontrolle verlieh den Drohungen aller Art weitere Zugkraft. Die Politisierung auch des privaten Lebens bot innerhalb von persönlichen Auseinandersetzungen skrupellosen Angreifern vielfältige Möglichkeiten zur Verbesserung der eigenen Stellung. Es wurden oft Gerüchte in Umlauf gesetzt, die für die Verdächtigten sehr gefährlich werden konnten, bis hin zur Einlieferung in ein Konzentrationslager oder gar zum Todesurteil. So z. B., dass der persönliche Gegner bzw. die Gegnerin Jude, Kommunist oder „Pollake“ sei, mit polnischen oder russischen (Zwangs-)Arbeitern sexuelle Bezie-

374 Weisungsblatt der NSDAP. Gau Halle-Merseburg, 01.07.1943, S.279. 375 Aus einer Beurteilung des Kassierers Wilhelm H. vom Oktober 1945 durch den Leiter der Allgemeinen Krankenkasse für den Kreis Bernburg: „H[...] ist mir bekannt als schlichter, einfacher Mensch, der aus Überängstlichkeit um seine Position der NSDAP. beigetreten [ist. ...] Meiner Überzeugung nach ist H[...] tatsächlich nur aus Selbsterhaltungstrieb heraus nominell Mitglied der NSDAP. gewesen. Zum Aktivisten fehlt ihm jede Befähigung.“ Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 800, Bl. 100. 376 Siehe das „Schreiben des ehemaligen Behördenangestellten Max Zimmermann an das ‚Hauptquartier‘ der US-Truppen in Bernburg, 15. Mai 1945“, Stadtarchiv Bernburg, 8/1539, o. Bl. 377 Siehe z. B. mit dem Briefkopf der NSDAP-Ortsgruppe Nienburg ausgeführte Denunziationsschreiben des Ortsgruppenleiters Otto Silz 1939 und 1940, Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZA I, 11434, Akte 8, Bl. 3 f. 177 hungen unterhalten würde, Auslandssender höre etc.378 Trotz der sich auch gegen Parteimitglieder richtenden Pressionen versprachen sich etliche Personen– auch jenseits der Arbeitsplatzbedrohung – von einer NSDAP-Mitgliedschaft zusätzlichen Schutz vor Nachstellungen. Sie suchten gewissermaßen in der NSDAP Schutz vor der NSDAP. Mit einem NSDAP-Mitgliedsbuch konnte man glauben oder hoffen, in dieser Hinsicht auf der sicheren Seite zu sein, zur „Volksgemeinschaft“ und nicht zu den Ausgestoßenen zu gehören. So trat z. B. der Untervertreter Franz Steinbach aus Bernburg nach eigenen Angaben in die Partei ein, um seine Frau „halbjüdischer Abstammung“ vor Verfolgung zu schützen.379 Freilich war eine solche Hoffnung auf Schutz vor der allgemeinen Überwachung und Reglementierung schlichtweg illusorisch, NSDAP-Mitglieder unterlagen ihr im gleichen unverkürzten Maße. Das verdeutlicht auch das Beispiel des Gerichtsassessors Wilhelm R., der der NSDAP zum 1. Mai 1933 beigetreten war. R. strebte im Mai 1935 offensichtlich eine Anstellung beim Finanzamt Bernburg an. NSDAP-Kreisleiter Wienecke antwortete auf die Routineanfrage des Finanzamtes, dass der Bewerber nicht geeignet für eine Übernahme in die Reichsfinanzverwaltung sei. Er hätte bis zur Machtübernahme 1933 mit einem Bernburger Juden verkehrt und bei der Machtübernahme die Hakenkreuzfahne verhöhnt und sei deswegen seinerzeit auch in Schutzhaft genommen worden. Das Finanzamt nahm daraufhin von einer Einstellung Abstand. Auch eine Übernahme in den Staatsdienst wurde – trotz erfolgreich absolviertem staatsanwaltschaftlichen Vorbereitungsdienst – auf gleichem Wege vereitelt. Im Jahre darauf wurde eine Untersuchung des NSDAP-Kreisgerichtes gegen R., der inzwischen als Rechtsberater bei der Deutschen Arbeitsfront in Bernburg tätig war, eingeleitet. Nun tauchten weitere Vorwürfe auf; er hätte sich die NSDAP-Mitgliedschaft 1933 „erschlichen“ – wer unter den „Maiveilchen“ hatte dies nicht getan? –, würde in seiner beruflichen Tätigkeit gegen Prozessgegner ausfallend werden und wäre der Trunksucht erlegen. Obwohl das Verfahren eingestellt werden musste sah R. wohl keine Zukunft

378 Vgl. Archiv der Verwaltungsgemeinschaft „Wippertal“ in Schackenthal, Giersleben, Protokoll-Buch des Schiedsmannes [für Amesdorf, Giersleben, Güsten, Klein Schierstedt, Warmsdorf] Otto Curth 1940- 1946. Dass es in den hier dokumentierten Fällen anscheinend nicht zu anschließenden Strafverfolgungen kam dürfte der dämpfenden Tätigkeit des Schiedsmannes zuzuschreiben sein. 6-7 % aller bis zum Kriegsende verhandelten Streitigkeiten wiesen nachweislich diese politisch-ideologische Aufladung auf. 379 Vgl. F 14.11.1947. 178 mehr in Bernburg und wechselte im gleichen Jahre in die Rechtsabteilung der JunkersFlugzeugwerke nach Dessau.380 Die tatsächliche Akzeptanz, auf die das NS-Regime nach 1933 bauen konnte, ist nur äußerst schwer einzuschätzen. Näme man z. B. die Reichstagswahlen 1936 zum Maßstab, als in der Stadt Bernburg nur 2,0 %, im Landkreis Bernburg sogar nur 0,7 % Neinund ungültige Stimmen abgegeben wurden,381 so könnte man auf eine fast ungeschmälerte Zustimmung schließen. Andererseits gab es bei den Vertrauensratswahlen in den Bernburger Betrieben 1935 immerhin 21 % Nein-, ungültige und nicht abgegebene Stimmen.382 Stellt man die Bernburger Bevölkerungszusammensetzung und weiterhin die aller Wahrscheinlichkeit nach nur verschwindend geringe Gegnerschaft aus den Reihen des „Bürgertums“ in Rechnung, so ergibt sich somit ein Anteil von etwa einem Zehntel bewusster (aber nicht zwangsläufig auch aktiver) Nazi-Gegner.383 Über den Anteil der skeptischen Mitläufer, die sich durchaus auch in der NSDAP selbst fanden, ist aber kaum eine seriöse Aussage möglich.384 Trotz der allgemeinen Tendenz, sich im „Dritten Reich“ einzurichten und sich nach besten Kräften durchzulavieren, gibt es durchaus Beispiele für widerständiges Verhalten

380 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127, Anhang: Justiz PA, Lit. R, Nr. 7. Beispiel für eine weitere gegen ein Parteimitglied in Bernburg gerichtete Denunziation: „In der Krisenzeit des Jahres 1938 wurde durch einen Kaufmannslehrling bekannt, daß die Ehefrau des Angeschuldigten [Pg. Diplomhandelslehrer Rudolf G. – T.K.] grössere Lebensmitteleinkäufe vorgenommen haben solle. Dies wurde auch dem Ortsgruppenleiter Pg. Kleinau gemeldet, der nach Rücksprache mit der Kreisleitung und der Ortspolizeibehörde in Gegenwart des Blockleiters B[...] die Wohnung des Angeschuldigten aufsuchte.“ Es wurden dort Vorräte gefunden, die „den Bedürfnissen einer Familie, die nur aus zwei Personen besteht, nicht entsprachen, auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Angeschuldigte, wie er angibt, viele Gäste habe und deshalb Vorräte im Hause haben müsse.“ Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG, G[...], Rudolf, 28.06.02, Bl. 14. G. wurde wegen anderer ‚Verfehlungen‘, auch wegen seiner Stellung zum Krieg, 1940 aus der NSDAP ausgeschlossen. 381 Vgl. Der Mitteldeutsche, 30.03.1936. Deutsches Reich insgesamt: 1,2%. 382 Vgl. AK 17.04.1935. Die Nichtzustimmung lag im Vorjahr in der gleichen Größenordnung. Vgl. Herlemann, Sozialdemokraten, S. 156. In den zu den Deutschen Solvay-Werken gehörenden Kaliwerken Bernburg-Solvayhall waren per 25.05.1935 von 929 Gefolgschaftsmitgliedern lediglich 11 nicht in der Deutschen Arbeitsfront organisiert. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, A I, SOW, 199, Bl. 46 (namentliche Liste). 383 Die Größenordnung der hier dokumentierten Gegnerschaft unter den Arbeitern deckt sich mit den Ergebnissen einer Untersuchung aus den Jahren 1929/30 auf Reichsebene. Demnach hatten nur 15 % der Anhänger und Mitglieder der Arbeiterparteien eine eindeutige radikale Persönlichkeitszentrierung aufzuweisen. Nur von diesen konnte auch im Dritten Reich eine bewusste Gegnerschaft erwartet werden. Insgesamt 40 % waren in einem weiteren Rahmen als radikal zentriert einzuschätzen, jedoch immerhin schon 25 % als in einem weiteren Rahmen als autoritär zentriert und damit wohl späterhin auch für die Werbung der NSDAP anfällig. Vgl. Fromm, Arbeiter, S. 225-273, hier S. 248 ff. 384 Zur Konsensbereitschaft der einzelnen Bevölkerungsteile (nicht immer zutreffend) vgl. Stöver, Volksgemeinschaft. 179 gegenüber dem in erster Linie im öffentlichen Dienst herrschenden Eintrittsdruck. Der Justizassistent Hubert H., während seines Wehrdienstes 1943 formal dem Amtsgericht Bernburg zugeteilt, hatte auf seiner vorigen Dienststelle, dem Amtsgericht Oschersleben, Kollisionen mit der NSDAP auszuhalten. Ein Schreiben der NSDAPGauleitung Halle-Merseburg vom März 1938 an den Landgerichtspräsidenten in Halberstadt sollte eigentlich seine Karriere untergraben: „Unter Bezugnahme auf Ihre Anfrage vom 2./3.38, den ausserplanmässigen Justizassistenten Hubert H[...] vom Oberlandesgericht Naumburg betreffend, teile ich mit, dass derselbe bisher noch nicht bewiesen hat, sich voll und ganz für den nationalsozialistischen Staat einzusetzen. H[...] ist nicht Mitglied der NSDAP und betätigt sich auch in keiner NS-Organisation. Er gehört nicht einmal der für die Beamten des einfachen mittleren Justizdienstes zuständigen Berufsorganisation, dem RDB, an. Er steht dem nationalsozialistischen Staate vollkommen gleichgültig gegenüber und zeigt keinerlei Interesse und beweist einen dadurch so mangelnden Einsatz, dass ich z.Zt. nicht in der Lage bin, seine planmässige Anstellung zu befürworten. Von den Beamten des Dritten Reiches muss erwartet werden, dass sie sich voll und ganz für den Staat einsetzen und auch in irgendeiner Form für den Staat tätig sind. Aus diesem Grunde bitte ich, die Anstellung des H[...] vorläufig auf ein Jahr zurückzustellen. In dieser Zeit soll ihm Gelegenheit gegeben werden, seinen Einsatz für das nationalsozialistische Deutschland unter Beweis zu stellen.”385 Trotz dieses Schreibens bezeichnete das Amtsgericht Oschersleben ihn per 9.5.1938 als „völlig geeignet” und der Oberlandesgerichtspräsident ernannte ihn mit Wirkung vom 1. Juni 1938 zum Justizassistenten.386 Ob H. auf niederer Ebene Zugeständnisse gemacht hat ist nicht bekannt, eine NSDAP-Mitgliedschaft ist allerdings zu keinem Zeitpunkt nachzuweisen.387 Neben Verweigerungen wie bei H. kamen auch in den 40er Jahren noch Ausschlüsse und selbst Austritte aus der NSDAP aus Gründen der – meist verdeckten – Ablehnung des Nationalsozialismus vor.

385 Zitiert nach: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127, Anhang: Justiz PA, H, Nr. 369, Bd. 1, Bl. 38. 386 Ebenda, Bl. 39 f. 387 Ein weiteres Beispiel für fast vollständige Verweigerung: Dr. Hermann T., seit 1941 in Bernburg, Bürodirektor in der Landkreisverwaltung. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 997, Bl. 75 ff. Formell wurde erst mit einer Verordnung vom 28. Februar 1939 Beamtenanwärtern die Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen zur Pflicht gemacht. Vgl. Sigrun Mühl-Benninghaus, Das Beamtentum in der NS-Diktatur bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Zu Entstehung, Inhalt und Durchführung der einschlägigen Beamtengesetze, Düsseldorf 1996, S. 111. 180 Außerhalb des öffentlichen Dienstes bedurfte es nicht zwingend eines Parteibuches zum Karrierevollzug. Freilich dürften die Verhältnisse in den Betrieben sehr unterschiedlicher Art gewesen sein. Dort, wo es dem Betriebsobmann erlaubt wurde, sich zum eigentlichen Herrscher im Betrieb aufzuschwingen, erhöhte sich natürlich die Bedeutung der Parteimitgliedschaft immens. Allgemein ist die Rolle der Parteimitgliedschaft im Karriereverlauf insofern nur unzulänglich zu beurteilen als sich in den – zudem nur für den Bereich des öffentlichen Dienstes rudimentär überlieferten – Akten nur die massive Einflussnahme schriftlicher Art wiederfindet, naturgemäß nicht aber die vielen alltäglichen mündlichen Absprachen.388 Trotz dieser Einschränkung kann begründet davon ausgegangen werden, dass sich eine Karriere allein mit einem 1937er oder noch später datierenden Parteibuch noch weniger begründen ließ als mit einem 1933er.389 Zum Beleg lässt sich u. a. ein Bewerbungsverfahren an der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg 1937 heranziehen, aus dem Dr. Werner L. als Sieger unter neun Bewerbern hervorging. Letztendlich erfolgte die Auswahl doch nach fachlichen Gesichtspunkten, obwohl die Bewerber auch ihre politischen Vorzüge ins Feld führten (im Falle L.‘s: Mitgliedschaften in der NSDAP, in der SA, in der Motor-SS und in der NSV, sowie Teilnahme an einem Dozentenlehrgang in der SA-Sportschule Dombritsch). Doch jenseits eines einzuhaltenden allgemeinen Grundkonsenses blieben diese für die Stellenbesetzung irrelevant.390 Massive Interventionen seitens der NSDAP-Kreis- oder auch der Gauleitung sind nur dann festzustellen, wenn es um Beförderungen von „alten Kämpfern“ innerhalb des öffentlichen Dienstes ging. Bedingung war allerdings auch hierbei, dass diese nach wie vor herausgehobene Parteifunktionen bekleideten. In diesen Fällen trat dann tatsächlich auch die fachliche Eignung deutlich in den Hintergrund.391

388 Dies gilt z. B. für soziale Aufstiegsbewegungen im Generationenübergang, wenn es galt, für den Sohn eine Lehrstelle zu finden, die einen Weg aus der bisherigen ländlichen Enge und Ärmlichkeit bot. Vgl. Haupert/Schäfer, Jugend, S. 168-172. 389 „Das Interesse der Jungen an der Partei ließ in dem Maße nach, wie gerade die untermittelständischen unter ihnen – von den Arbeiterkindern nicht zu reden – erkennen mußten, daß die NSDAP kein Vehikel für sozialen Aufstieg darstellte.“ Michael H. Kater, Sozialer Wandel in der NSDAP im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Göttingen 1983, S. 53. 390 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Regierung Dessau, Abteilung des Innern, II, Lit. L, Nr. 34. 391 Vgl. Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZB II 1327 A. 6 (Beförderung Hermann Söhns zum technischen Regierungsinspektor in der Bauverwaltung des Kreisamtes Bernburg 1938); Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127, Anhang: Justiz PA, Lit. H, Nr. 350, Bl. 83 (Beförderung des NSDAP-Ortsgruppenleiters Paul Hickmann zum Justizobersekretär am Amtsgericht Zerbst 1939). 181 Eine Vielzahl weiterer Eintritte rührte daher, dass die Betreffenden angesichts einer zunehmenden NSDAP-Sättigung vor allem im öffentlichen Dienst und in bestimmten Gesellschaftsschichten Gefahr liefen oder Gefahr zu laufen glaubten, beruflich und gesellschaftlich isoliert zu werden. So erfolgte der Beitritt des Brandmeisters Richard Laurich in Bernburg 1937 auch aus einer dienstlichen Zwickmühle heraus; der Betriebsobmann war ihm dienstlich unterstellt, ein Teil der Feuerwehrleute war wohl auch schon NSDAP-Mitglied, zusätzlich setzten ihn auch noch seine Vorgesetzten unter Druck.392 Auch die Beitritte des Schlossers Willi H. aus Baalberge, der „auf Wunsch mehrerer Parteigenossen“ im August 1937 in die NSDAP-Ortsgruppe eintrat,393 und des Bernburger Arztes Dr. Kurt Bauer scheinen gleichermaßen von der Angst vor gesellschaftlicher Isolierung bzw. dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung diktiert worden zu sein. Dr. Bauer war 1937 der SA als Sanitäts-Obersturmführer beigetreten und ein Jahr später „automatisch“ in die NSDAP aufgrund des Dienstgrades übernommen worden. Da er als Schwerkriegsbeschädigter des Ersten Weltkrieges schon seit 1934 nicht mehr praktizierte wäre es ihm durchaus möglich gewesen, unter Hinweis auf seine angegriffene Gesundheit das Ansinnen zum SA-Beitritt abzulehnen. Dass er es nicht tat deutet darauf hin, dass die Position in der SA und die damit verbundene Parteimitgliedschaft ihn gesellschaftlich wieder aufgewertet haben dürfte. Die Entnazifizierungskommission unterstellte ihm 1947 dann auch ein „gewisses Geltungsbedürfnis“.394 Unter die Rubrik der aus Angst vor gesellschaftlicher Isolierung Eintretenden fallen auch Angehörige der alten konservativen Eliten, die – für Druck nach wie vor unempfindlich und vorwiegend deutschnational eingestellt – es 1933 noch nicht für nötig gehalten hatten, sich mit den nationalsozialistischen Emporkömmlingen gemein zu machen. Einen prototypischen Vertreter dieser alten Eliten finden wir in dem Bernburger Rechtsanwalt Karl Pietscher. Pietschers Großvater väterlicherseits war Bernburger Oberbürgermeister gewesen, sein Großonkel väterlicherseits Landgerichtspräsident und Landtagspräsident, sein Großvater mütterlicherseits war der Generaldirektor der Deutschen Solvay-Werke und Reichstagsabgeordnete Karl Wessel, der Bernburger Landrat der Jahre 1932 bis 1937 war sein Onkel und seine Frau stammte aus einer im Kreis ansässigen Großgrundbesitzersfamilie. In diesem Umfeld von Industrie, Verwaltung und

392 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 800, Bl. 193. 393 Vgl. Kreisarchiv Bernburg, Baalberge 28, o. Bl. 394 Vgl. F 14.11.1947. 182 Großgrundbesitz agierte auch seine Rechtsanwaltskanzlei, die wahrscheinlich jene mit der betuchtetsten Kundschaft in Bernburg war. Sein nassforsch-schnoddriges Auftreten als Anwalt, das ihm etliche Beschwerden von Prozessgegnern und Anwaltskollegen einbrachte, erinnerte daran, dass er zuerst die Absicht hatte, Offizier zu werden, 1917 als Fahnenjunker in ein Dragonerregiment eintrat, doch nach der Novemberrevolution im Range eines Fähnrichs seine Entlassung erbat. 1920 und 1921 kämpfte er außerdem als Zeitfreiwilliger. Zwischen 1923 und 1928 gehörte er dem Bund Oberland an, wechselte von dort zum Stahlhelm und zur DNVP, für die er seit 1931 Stadtverordneter in Bernburg war. Nach 1933 verblieb er im Stahlhelm bzw. NSDFB und nutzte die Ausnahmeregelung während der „Mitgliedersperre“, um der NSDAP zum 1. April 1936 beizutreten.395 Es steht zu vermuten, dass Pietscher neben der Motivierung durch eine eventuell drohende gesellschaftliche Isolierung auch über einen militaristischen Grundkonsens zur NSDAP fand. Natürlich zog die Öffnung 1937 auch erneut Personen opportunistischen Zuschnitts an, die 1933 völlig ‚auf das falsche Pferd gesetzt‘ hatten, unter anderem auch zwischen den radikalen Parteien ständig wechselnde Personen. Exemplarisch für letztere steht der 1889 geborene Bernburger ungelernte Arbeiter bzw. Bote Karl Block. Bis 1921 war dieser Mitglied der KPD gewesen, dann erfolgte dort sein Ausschluss, weil er im Mitteldeutschen Aufstand als Spitzel für die Gegenseite tätig gewesen war. 1922 und 1923 betätigte er sich in der Schwarzen Reichswehr und im Umfeld des Bernburger Stahlhelms, der Deutsch-Sozialen Partei und der Treuschaft Lützow; 1924 wird er als lokaler Wahlleiter der Nationalsozialistischen Freiheitspartei benannt. Wahrscheinlich ist er 1925 in die NSDAP übernommen worden, wohl aber bald ausgeschieden. 1928 lehnte die KPD seine Wiederaufnahme wegen der Spitzeltätigkeit im Jahre 1921 ab, 1931 ist er dann trotzdem als Mitglied im illegalen Roten Frontkämpfer-Bund zu finden, aus dem er 1932 wieder ausgeschlossen wurde. Ein ‚nahtloser‘ NSDAP-Eintritt scheint ihm 1933 verwehrt worden zu sein, er musste sich bis zur erneuten Aufnahme per 1.5.1937 mit der SA-Mitgliedschaft begnügen.396 In eine Reihe mit Block lässt sich auch der Lehrer Erich Trimpler stellen, der sich seit 1938 ständig von neuem erfolglos um die NSDAP-

395 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 127, Anhang Justiz PA, Lit. P, Nr. 142. 396 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 851, Bl. 50, 59; NSDAP-Datensatz. 1945 wurde er wieder in der antifaschistischen Bewegung aktiv. 1946 erfolgte seine fristlose Entlassung als Bote bei der Stadtverwaltung Bernburg wegen unmöglicher Führung im Dienst (Flegelhaftigkeit gegenüber den Bürgern) und wegen des Verschweigens der politischen Vergangenheit. 183 Aufnahme bemühte. Im November 1932 war Trimpler angeblich freiwillig aus der NSDAP ausgeschieden, trotzdem aber 1935 zum Rektor in Sandersleben ernannt worden. 1937 erfolgte seine Versetzung als Mittelschullehrer nach Gernrode im Kreis Ballenstedt. Das Bemühen um eine erneute NSDAP-Mitgliedschaft dürfte im Zusammenhang mit dieser Zurückstufung im Range zu sehen sein.397 Eine gleichermaßen nutzenorientierte Eintrittsmotivation kann in Folge einer familiären Neuorientierung dem in Amesdorf und Bernburg ansässigen und in verschiedenen Berufsfeldern tätigen Familienverband T. bei seinem geschlossenen Eintritt 1940/41 unterstellt werden.398 Aus den Jahren 1940-42 überlieferte Begründungen für die Ablehnung von Eintritten zeigen, dass dieses opportunistische Eintrittsverhalten, das schon 1933 seinen Höhepunkt erreicht hatte, nach wie vor anzutreffen war und eventuell sogar neu belebt wurde. Nicht für die Aufnahme zugelassen wurden Personen, die an der „Bewegung“ sichtlich desinteressiert waren, die Teilnahme an der Eintopfsammlung verweigerten, wegen Dienstverweigerung und Treubruch aus der SA ausgeschlossen worden waren oder dort eine mangelnde Dienstbeteiligung zeigten, allgemein als „nicht würdig, Parteigenosse zu sein“ eingeschätzt wurden, familiär asoziales Verhalten zeigten und wahrheitswidrige Angaben machten, mehrfach vorbestraft waren etc.399 Und schließlich gab es unter der Vielzahl von Eintrittsmotivationen auch 1937 wieder die Absicht zur Herstellung eines günstigen Geschäftsklimas, wie sie z. B. dem seit 1927 in Bernburg selbständigen Schokoladen- und Süßwarenfabrikanten Richard Weigel zu unterstellen ist. Obwohl er schon vor 1933 die NSDAP unterstützt hatte wurde er lediglich im Mai 1933 einfaches SS-Mitglied. Erst 1937 trat er der Partei bei. Sein Hauptbetätigungsfeld scheint jedoch weiterhin in der SS gelegen zu haben. Es ist anzunehmen, dass die gesellschaftliche Stellung Weigels als einer der schon größeren Unternehmer Bernburgs (reichlich 100 Beschäftigte 1939) dann auch die 1940 erfolgte Beförderung zum SS-Untersturmführer begünstigte.400 Angesichts der vorab dargestellten Beispiele könnte man zu dem Schluss kommen, dass Arbeiter generell weniger Anpassung an das nationalsozialistische System leisteten,

397 Quelle: NSDAP-Datensatz. 398 1940 wurden elf Eintritte aus den Geburtsjahrgängen 1892 bis 1907 vollzogen, ein Eintritt mit dem Geburtsjahr 1878 folgte im Jahre 1941. Darüber hinaus ist unter diesem Familiennamen lediglich noch ein Mitglied ohne ermitteltes Geburts- und Eintrittsjahr im NSDAP-Datensatz vertreten. 399 Quelle: NSDAP-Datensatz. 400 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, 64000448676; Der Mitteldeutsche, 17.07.1936 („Treue um Treue. Firmen, die auch vor der Machtübernahme treu zur NS.-Presse standen“). 184 weil sie über die gesamte Zeitdauer des „Dritten Reiches” in der NSDAP-Mitgliedschaft unterrepräsentiert blieben und in der dieser Studie zugrunde liegenden Überlieferung mehr von geltungssüchtigen (‚funktionshaschenden’) als von ‚nutzenorientierten’ Arbeitern die Rede ist. Dies könnte sich jedoch auch als Trugschluss erweisen. Letztlich war die Schwelle für den symbolischen Anpassungsakt eines Arbeiters wesentlich niedriger angesetzt als für nichtproletarische Schichten. War für einen Arbeiter die formelle Mitgliedschaft in SA oder Stahlhelm aus seiner subjektiven Sicht und auch aus der Sicht der politischen Funktionäre und Vorgesetzten meist völlig ausreichend, um seinen Arbeitsplatz zu erhalten bzw. neu eingestellt zu werden,401 so wurde von einem Lehrer ab 1937 Parteimitgliedschaft und Übernahme von Funktionen verlangt. Allerdings unterlagen die im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter einem Anpassungsdruck, der sich kaum noch von dem auf die Angestellten und Beamten ausgeübten unterschied.402 Ist der Mehrzahl der bis 1931 in die NSDAP eintretenden Personen noch ein hohes Maß an ideologischer Überzeugtheit, Hingabe an die Partei bis hin zum Fanatismus zu unterstellen, so sollte – wie auch die schon vorab vorgestellten Beispiele andeuten – die Zahl der in den Eintrittswellen 1932/33 und 1937/38 zur Partei gestoßenen Mitglieder nicht über deren Qualität, d. h. ihre Nützlichkeit für die Partei, hinwegtäuschen. Generell dürfte die Mehrheit der Mitgliedschaft versucht haben, sich „herauszuhalten“, NSDAP-Mitglied zu sein, ohne zum Nationalsozialisten zu werden.403 Man flüchtete sich in Scheinaktivitäten und Nebenorganisationen und vermied es tunlichst, in der Par-

401 Vgl. z. B. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, I/403/2, Bl. 90-93 (SA-Eintritt eines Steinarbeiters aus Groß Wirschleben „aus betrieblichen Gründen“). Vgl. für Braunschweig auch Herbert Scheibe, Ziele und Inhalte betrieblicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretung der Braunschweiger Metallarbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1948), Diss. Göttingen 1981, S. 77 (Einstellung in der Firma Büssing in Braunschweig 1933 nur bei Stahlhelm- oder SA-Mitgliedschaft). 402 Zeugenaussage des Bernburger Telegrafenarbeiters Otto R. (der NSDAP nicht beigetreten) in einem Entnazifizierungsverfahren 1948: „Ich wurde 1937 zur Amtsstelle gerufen und es wurde mir gesagt, solange ich bei der Post bin und keine politische Zeitung lese, sollte ich entlassen werden.“ Nach seiner eigenen Ansicht hätte ihn der Ortsgruppenleiter, in dessen Haus er als Mieter wohnte, denunziert. Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 30984. 403 Siehe auch Röver, Bericht, S. 30: „Die meisten Laumänner haben sich 1933 in die Bewegung eingeschlichen, da einerseits das Aufnahmeverfahren überstürzt durchgeführt wurde, d. h. keine klaren Richtlinien über die Auswahlmethode vorhanden waren, und andererseits keine Möglichkeit bestand, jeden einzelnen genauestens zu prüfen. Außerdem hat es mancher verstanden, sich geschickt zu tarnen, um aus irgendwelchen Gründen die Mitgliedschaft zu erwerben. Nachdem dieses Ziel erreicht war, war er dann nicht mehr gewillt, seinen Pflichten als Parteigenosse in Bezug auf die konsequente Anerkennung der Programms, insbesondere hinsichtlich der Weltanschauung und der aktiven Mitarbeit, nachzukommen. Es bestand bisher keine Möglichkeit, diese Parteigenossen wieder loszuwerden.“ 185 tei selbst aktiv zu werden. Die Folge war, dass von den Kreis- und Ortsgruppenleitern gegenüber den Mitgliedern untergeordnete Funktionärstätigkeit oft nur noch zu erzwingen war. Es kann sogar beobachtet werden, dass der NSDAP nicht Angehörende für das System auf der politischen Ebene nützlicher waren als Parteimitglieder. Wird z. B. der 1940 u. a. wegen seiner Stellung zum Krieg ausgeschlossene Diplomhandelslehrer Rudolf G. dem Betriebstechniker Wilhelm Bodien gegenübergestellt, so zeigt sich, dass ersterer als ‚renitenter Opportunist‘ trotz 1931 erworbener Parteimitgliedschaft eher das System unterminierte,404 während der erst 1941 aufgenommene Bodien durch militaristische Artikel in der Solvay-Werkszeitung die Kriegsvorbereitung schon Jahre zuvor unterfütterte.405 Eine Sonderrolle hinsichtlich eingegangener NSDAP-Mitgliedschaften nahm die evangelische Pfarrerschaft ein. Lediglich sieben der 56 zwischen 1933 und 1945 im Kreis Bernburg zu irgendeinem Zeitpunkt aktiven Pfarrer der anhaltischen Landeskirche erwarben die Parteimitgliedschaft, zudem trat einer dieser sieben schon nach einem halben Jahr wieder aus. Auffällig ist, dass alle diese Eintritte bis 1933 erfolgten und es unter den Pfarrern nach dem 1. Mai 1933 zu keinen Eintritten mehr kam (auch nicht unter den vor 1933 im Kreis Bernburg aktiven und dann nach auswärts oder in den Ruhestand versetzten Pfarrern).406 Weiterhin auffällig ist, dass selbst von diesen sieben Beitritten lediglich zwei zu einem Zeitpunkt vollzogen wurden, als die betr. Pfarrer schon in einem Dienstverhältnis zur anhaltischen Landeskirche standen. Diese Indizien deuten darauf hin, dass von der anhaltischen Landeskirche mit Sicherheit kein Druck – in welcher Form auch immer – zum Parteibeitritt auf ihre Pfarrer ausging. Allerdings wird sie diese mit Blick auf die schon vorhandene Polarisierung in den Gemeinden auch kaum zu verhindern gesucht haben, schließlich war auch der Landeskirchenrat seit 1933 durchweg nationalsozialistisch und wurde der Kreis Bernburg im „Dritten Reich“ ausschließlich durch die beiden seinerzeit schon als Pfarrer der anhaltischen Landeskirche

404 Vgl. Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG, G[...], Rudolf, 28.06.02. 405 Vgl. z. B. Werkzeitschrift. Deutsche Solvay-Werke A.G. Bernburg. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Arbeitspädagogik im Einvernehmen mit der Deutschen Arbeitsfront, Bernburg, Nr. 2/1937, S. 6 f.: „Weihnachten vor dem Feinde. Eine Kriegserinnerung ohne Blutvergießen“; 3/1937, S. 6 f.: „Und dann Silvester!“ Vgl. auch ebenda, Nr. 21/1936, S. 8 (Würdigung Bodiens zum Betriebsjubiläum). 1919 kandidierte Wilhelm Bodien auf der Liste der DDP zur Stadtverordnetenwahl. Vgl. Vw 19.02.1919. 406 Ermittelt nach Herrmann Graf, Anhaltisches Pfarrerbuch. Die evangelischen Pfarrer seit der Reformation, Dessau 1996, pass.; Bundesarchiv Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkarteien; NSDAP-Datensatz. 186 in die NSDAP eingetretenen Personen im Landeskirchenrat vertreten. Es scheint, als ob ganz allgemein eine eindeutige Parteinahme in Form einer Parteimitgliedschaft der Dienstauffassung der Mehrheit der Pfarrerschaft entgegenstand. In Rechnung zu stellen ist weiterhin, dass die Bekennende Kirche über einen spürbaren Einfluss verfügte.407 Insgesamt dürfte der Kreis Bernburg damit innerhalb der protestantischen Teile Deutschlands eine Ausnahmestellung eingenommen haben.

407 Eine Untersuchung dieses Sachverhaltes für den Bereich der Anhaltischen Landeskirche liegt nicht vor. 187 6.2 Mitgliederstruktur Die Eintrittswelle der Jahre 1937/38 stellt sich hinsichtlich der Zusammensetzung der Neumitgliedschaft als Fortsetzung der Eintrittswelle des Jahres 1933 dar.408 53 % der Neueintretenden des Jahres 1937 waren Angestellte und Beamte (1933: 54 %); bis 1940 sollte ihr Anteil unter den Neueintritten dann sogar auf 61 % steigen. 41 % der Neueintritte kamen 1937 aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes (1933: 39 %); 1940 sollten nach einem zwischenzeitlichen Rückgang sogar 43 % erreicht werden. Auch das weiter steigende Durchschnittsalter der Neueintritte von 38,9 Jahren 1937 (1933: 36,4 Jahre) deutet auf ungebrochene Kontinuität hin. Gleiches gilt für die Altersverteilung innerhalb der Neumitgliedschaft, in der die Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912 mit 67 % bzw. 66 % aller Neueintretenden 1937 bzw. 1938 noch stärker dominierten als 1932/33 (jeweils 61 %). Auch die Geburtsjahrgangsgruppe 1901 bis 1910 findet sich unter den Neueintritten mit 32 % bzw. 31 % 1937/38 auf dem gleichen Niveau vertreten wie noch 1933 (31 %).409 Innerhalb dieser Kernjahrgangsgruppen waren auch 1937/38 Arbeiter überproportional vertreten, während Angestellte und Beamte leicht unter dem Durchschnitt blieben. Den für die Eintrittswelle 1937/38 gegenüber 1933 geschilderten Kontinuitäten stehen aber auch sichtbare Veränderungen gegenüber. So stieg der Arbeiteranteil unter den Neueintretenden 1937 auf 35 % (1933: 27 %) und sollte sich auch in den Folgejahren in dieser Größenordnung bewegen. Verantwortlich für diesen Zuwachs zeichneten in erster Linie die Arbeiter im öffentlichen Dienst und die Facharbeiter und Angelernte des Metallgewerbes (idealerweise der in einer Montagekolonne bei Solvay oder im Flugzeugbau bei Junkers beschäftigte Schlosser). Die Gewerbetreibenden hingegen waren ausweislich ihres rückläufigen relativen Anteils unter den Neueintritten nicht mehr in gleichem Maße zu mobilisieren.

408 Die sich davon abhebenden, im Zeitraum der „Mitgliedersperre“ getätigten zahlenmäßig geringen Eintritte der Jahre 1934-36 gehen wahrscheinlich mehrheitlich auf SA-Mitglieder zurück, die zuvor dem Stahlhelm angehörten. Zumindest deutet der gegenüber 1933 und 1937 deutlich erhöhte Anteil von Gewerbetreibenden unter den Neueintretenden darauf hin, wie auch das deutlich erhöhte Durchschnittsalter und der verringerte Frauenanteil in diesen drei Eintrittsjahrgängen. Vgl. die Tabelle „Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944“ im Teil B: Dokumentation. 409 Die Angaben für die Altersverteilung beziehen sich auf alle Personen, für die sowohl Geburtsjahrgang als auch Beruf nachgewiesen werden konnten. 188 Zum Zeitpunkt der Volkszählung im Jahre 1939 verteilten sich die NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet in ähnlicher Weise eindeutig auf die BevölkerungsGroßgruppen wie schon 1933 für die Stadt Bernburg festgestellt (siehe vorhergehendes Kapitel). Die NSDAP war 1939 unter den Angestellten und Beamten um das 2,3fache und unter den Selbständigen um das Doppelte gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil vertreten und somit sehr stark überrepräsentiert, während die Arbeiter nur mit der knappen Hälfte ihres Bevölkerungsanteils vertreten waren und somit weiterhin sehr stark unterrepräsentiert blieben. Insgesamt lässt diese Verteilung erkennen, dass die bis 1933 bestandenen politischen Lager auf der Ebene der sozialen Abgrenzung nach wie vor intakt waren. Das „sozialistische Lager“ hatte in den Reichstagswahlen 1930 – noch auf dem Höhepunkt seines Wählereinflusses in der relativen Stabilisierung – vier Fünftel des ihm hypothetisch ‚zustehenden‘ Wählerpotentials, der Gesamtheit aller Arbeiter, für sich gewinnen können. Geht man von der Annahme aus, dass die Mitgliedschaftsverhältnisse in der NSDAP auch repräsentativ für die Bevölkerung im Untersuchungsgebiet insgesamt waren, so hatte das „sozialistische Lager“ auch nach dem Stand von 1939 nur sehr geringe Anteile an das „nationale Lager“ – sprich: die NSDAP – abgeben müssen. Dies gilt sowohl für das Untersuchungsgebiet insgesamt wie auch für die Stadt Bernburg im Speziellen. Reichlich drei Viertel der Arbeiter müssen nach wie vor auf der Gegenseite vermutet werden. Zwischen dem Untersuchungsgebiet insgesamt und der Stadt Bernburg bestanden 1939 kaum Unterschiede in der Verteilung der Mitgliedschaft auf die Bevölkerungsschichten, am auffälligsten ist noch, dass die Überrepräsentanz der Selbständigen in Bernburg nur das 1,6fache gegenüber dem 2fachen im Untersuchungsgebiet insgesamt betrug. Auch der Vergleich zwischen den Werten für Bernburg 1933 und 1939 zeigt kaum Auffälligkeiten; doch lässt sich auch hier wieder eine leichte relative Zunahme der Selbständigen erkennen (1933: 1,3fach; 1939: 1,6fach). 189 Die Konzentration der NSDAP-Mitgliedschaft auf Bevölkerungsschichten 1939410 Berufszugehörige 17. Mai 1939 in % (incl. Angehörige ohne Hauptberuf) NSDAP-Mitglieder Ende 1939 in % (kumulativ seit Ende 1929) Untersuchungsgebiet (Bernburg) Untersuchungsgebiet (Bernburg) Selbstständige 9 (9) 18 (15) Beamte u. Angestellte 21 (28) 48 (59) Arbeiter 69 (63) 32 (25) Die einzige gravierende Veränderung in der Zusammensetzung der Neumitgliedschaft war die kontinuierliche Steigerung des Frauenanteils unter den Neueintretenden von 9,6 % 1937 (1933: 5,4 %) auf 39,4 % im Jahre 1943. Die Voraussetzung für diesen enormen Zulauf bildete die Aufhebung der bis dahin bestandenen Eintrittsbeschränkungen gegenüber Frauen (maximal 5 % der Mitgliedschaft) durch die NSDAP-Reichsleitung 1937.411 Angesichts der bis dahin in der NSDAP vorherrschenden Ausgrenzung der Frauen aus dem politischen Bereich412 ist dies erstaunlich, doch als alleinverursachend

410 Die mithelfenden Familienangehörigen unter den Erwerbstätigen wurden zu vier Fünfteln den Beamten und Angestellten und zu einem Fünftel den Arbeitern zugeschlagen. Berufslose Selbständige (in der Hauptsache Rentner und Pensionäre) wurden auf beiden Seiten nicht in die Berechnung einbezogen. Quellen der Berechnung: StDR 559.6, S. 6 f., 70 f.; NSDAP-Datensatz (Eintritte seit 1929 bis Ende 1939 kumulativ). Siehe auch die Beschreibung des NSDAP-Datensatzes im Teil B: Dokumentation. Die Werte für die NSDAP ergänzen sich aufgrund von Rundungsfehlern und weil die im NSDAP-Datensatz verzeichneten (wenigen) Schüler und Studenten in dieser amtlichen Statistik keine Entsprechung finden nicht zu 100%. Eine weitere vergleichende Aufschlüsselung der Selbständigen nach Kriterien wie Branche, Einkommen etc. erwies sich mangels Daten als nicht durchführbar. 411 Vgl. Michael H. Kater, Frauen in der NS-Bewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 206. 412 Bericht der Kommunalpolitischen Abteilung der NSDAP-Gauleitung Magdeburg-Anhalt (Gauamtsleiter Trautmann) für September 1935: „In einer kleinen Gemeinde von noch nicht einmal 200 Einwohnern hat im Gau Magdeburg-Anhalt noch eine Frau das Amt eines Bürgermeisters inne. Ihre Amtsperiode ist erst 1937 beendet. Diese Frau ist gleichzeitig Eigentümerin eines größeren Gutes in der betreffenden Gemeinde. Die Einwohner und Bürger setzen sich vorwiegend aus den Angestellten und Arbeitern, die auf diesem Gut beschäftigt sind, zusammen. Der zuständige Landrat trägt Bedenken, die Frau als Bürgermeister abzuberufen. Ich habe deshalb jetzt vom Anhaltischen Staatsministerium aus gesetzlichen und weltanschaulichen Gründen die Abberufung verlangt. Die DGO. [Deutsche Gemeinde-Ordnung] schreibt zwar nicht ausdrücklich vor, daß eine Frau nicht Bürgermeister sein darf. Es heißt aber mit Recht im Kommentar von Kerrl/Weidemann zu § 6 (5), daß daraus, daß nach § 6 Gemeinderäte nur ‚verdiente und erfahrene Männer‘ sein können, geschlossen werden muß, daß auch die Berufung einer Frau zum Bürgermeister oder Beigeordneten nicht im Sinne der Deutschen Gemeindeordnung liegt. Denn wenn schon das weniger wichtige Amt eines Gemeinderates eine Frau nicht bekleiden darf, dann darf sie erst recht nicht in einer leitenden Stellung in der Gemeindeverwaltung stehen. Bei einer etwa später notwendig werdenden Abänderung der Deutschen Gemeindeordnung wäre allerdings zu erwägen, besonders vorzu- 190 ist diese Freigabe nicht anzusehen. Vielmehr müssen diese Eintritte in erster Linie dahingehend interpretiert werden, dass Frauen in stärkerem Maße als bisher – sofern sie berufstätig waren – nicht mehr nur eine Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft angetragen wurde.413 Zumindest einem Teil von ihnen scheint – gleich den Männern – auch eine Parteimitgliedschaft abverlangt worden zu sein. Insbesondere Frauen im öffentlichen Dienst unterlagen dem geschilderten Beitrittsdruck in ähnlicher Weise wie ihre männlichen Kollegen.414 Nichts illustriert dies stärker als die Tatsache, dass für 21 % aller 1937 im Untersuchungsgebiet beitretenden Frauen eine Tätigkeit als Lehrerin nachgewiesen werden konnte (das entspricht 47 % aller berufstätigen weiblichen Neumitglieder!) Nach Kriegsbeginn übernahmen Frauen zudem infolge der Einberufungen vielfach Tätigkeitsbereiche der eingezogenen männlichen Kollegen und ‚erbten‘ damit wohl in einigen Fällen auch deren vorausgesetzte NSDAP-Mitgliedschaft. Doch ungeachtet der veränderten Umfeldbedingungen erreichten auch in den Folgejahren die weiblichen NSDAP-Eintritte auf gleicher Hierarchiestufe nicht jenen Umfang wie auf Seiten der männlichen Kollegen. In der Stadt- und Kreissparkasse Bernburg z. B. befanden sich im Bereich der im regulären Beschäftigungsverhältnis stehenden Angestellten zum Kriegsende 1945 unter den Männern 61 % NSDAP-Mitglieder, unter den Frauen jedoch nur 25%.415 Ein gleiches Bild zeigt sich auf der Ebene der Arbeitsvermittler und Leitungspersonen des Arbeitsamtes Bernburg, einer 72 %igen Mitgliedschaftsquote der Männer stand eine ‚nur’ 36 %ige der Frauen gegenüber.416

schreiben, daß Frauen das Amt eines Bürgermeisters oder Beigeordneten nicht bekleiden dürfen. Die Abberufung der Frau als Bürgermeister würde dann keine Schwierigkeiten mehr machen.“ Bundesarchiv Berlin, NS 25/274, Bl. 161 f. 413 Z. B. will Margarete S., Angestellte der Kreisverwaltung, 1938 „aufgrund einer amtlichen Aufforderung“ der NS-Frauenschaft beigetreten sein. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Kreisverwaltung Bernburg 806, Bl. 7. 414 Siehe das Beispiel einer jungen Angestellten im „Amt für Beamte“ in Berlin 1939. Diese wurde von einer älteren Kollegin – offensichtlich vor dem Hintergrund beruflicher Konkurrenz – eines Tages unvermittelt gefragt „‘Warum tragen Sie eigentlich Ihr Parteiabzeichen nicht?‘ ‚Mein Parteiabzeichen? Ich bin doch gar nicht in der Partei!‘ Damit hatte der Blitz eingeschlagen! Der Personalchef blätterte in meiner Akte. Tatsächlich, dieser Mangel war übersehen worden und nun ein Problem. Ich sollte sofort einen Aufnahmeantrag stellen. Da ich noch nicht volljährig war, benötigte ich dazu die Unterschrift meiner Mutter.“ Jürgen Kleindienst (Hg.), Getäuscht und verraten. Jugend in Deutschland 1933-1939. 38 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen, Berlin 2002, S. 38. 415 Siehe Tabelle „NSDAP-Mitglieder unter dem Personal der Stadt- und Kreissparkasse Bernburg, Stand 30.08.1945“. Die vollständig männlich besetzte Leitungsebene ist hier nicht enthalten. 416 Siehe Tabelle „Ehemalige NSDAP-Zugehörigkeit unter den Beschäftigten des Arbeitsamtes Bernburg per 31. August 1945“. 191 NSDAP-Mitglieder unter dem Personal der Stadt- und Kreissparkasse Bernburg, Stand 30.08.1945 (alle Zweigstellen, einschließlich der kriegsgefangenen und vermissten Wehrmachtsangehörigen)417 Jahr des NSDAP-Beitritts Direktor, (Ober-) Inspektor, Revisor, (Ober-) Sekretär Angestellte Zwischensumme regulär Beschäftigte im Angestelltenstatus Kriegsaushilfsangestellte Anlernlinge Lehrlinge Heizer, Bote, Reinema- chefrauen SUMME ml. wbl. ml. wbl. ml. wbl. ml. wbl. ml. wbl. ml. wbl. ml. wbl. ml. wbl. ges. nicht Mitglied 3 6 9 9 9 5 10 6 5 1 5 16 34 50 1933 1 5 6 0 6 0 6 1934 1 1 1 1 1 1 2 1935 0 0 0 0 0 1936 0 0 0 0 0 1937 9 7 1 16 1 16 1 17 1938 2 2 0 2 0 2 1939 0 0 1 0 1 1 1940 1 1 0 1 0 1 1941 2 2 0 1 2 1 3 1942 0 0 1 1 0 1 1943 1 0 1 2 1 0 4 4 1944 0 0 1 1 0 1 Eintrittsdatum unbekannt 1 1 1 unbekannt, ob Mitglied418 5 5 0 11 16 0 16 SUMME absolut 15 0 28 12 43 12 0 6 0 12 19 6 2 7 64 43 107 NSDAP-Mitglieder in % 80 0 61 25 65 25 0 17 0 17 11 17 50 29 47 19 36 417 Quelle: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 820, Bl. 210-213. Die Angaben wurden anhand des NSDAP-Datensatzes ergänzt und korrigiert. 418 Betrifft ausschließlich Wehrmachtsangehörige. 192 Ehemalige NSDAP-Zugehörigkeit unter den Beschäftigten des Arbeitsamtes Bernburg per 31. August 1945419 Hilfskräfte420 Arbeitsvermittler und Leitungspersonen421 Gesamt ml. wbl. ml. wbl. ml. wbl. gesamt Dienststelle Bernburg

- Beschäftigte insgesamt 5 12 19 13 24 25 49
- NSDAP-Mitglieder gesamt 1 2 15 3 16 5 21
in % 20 17 79 23 67 20 43
- Eintrittsjahre: 1940: 1 1940: 1; 1942: 1 1933: 7; 1937: 6; 1941:

2 1935: 1; 1940: 1; 1943: 1 Nebenstelle Staßfurt

- Beschäftigte insgesamt 2 6 4 6 6 12
- NSDAP-Mitglieder gesamt 4 3 4 3 7
in % 0 0 67 75 67 50 58
- Eintrittsjahre: 1937: 2; 1940: 1; 1941:

1 1937: 1; 1938: 1; 1941: 1 Nebenstelle Calbe

- Beschäftigte insgesamt 2 4 3 4 5 9
- NSDAP-Mitglieder gesamt 1 2 1 2 2 4
in % 0 50 50 33 50 40 44
- Eintrittsjahre: 1943: 1 1937: 1; 1938: 1 1941: 1

GESAMT

- Beschäftigte insgesamt 5 16 29 20 34 36 70
- NSDAP-Mitglieder gesamt 1 3 21 7 22 10 32
in % 20 19 72 35 65 28 46

419 Quelle: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 449, Bl. 50-54. Zahlen für Stand vor Beginn der allgemeinen Bereinigung. 420 Hilfskraft, Stenotypistin, Kraftwagenführer, Dolmetscherin, Bote, Telefonist. 421 Arbeitsvermittler, Stellenleiter, Zahlstellenführer, Karteiführer, Statistiker, Abteilungsleiter, Berufsberatungskraft, Verwaltungskraft, Bearbeiter im ärztlichen Dienst, Arbeitsbuchkraft, Büroleiter, Stellenleiter, Bearbeiter, Arbeitsamtsdirektor [dieser aber wohl schon neu eingesetzt], Kassenleiter, Registraturkraft, Hilfsvermittler. 193 Frauen werden NSDAP-Mitgliedschaften nicht nur zum direkten eigenen Nutzen eingegangen sein; vielmehr muss bei einer Vielzahl der von Hausfrauen erworbenen Mitgliedschaften davon ausgegangen werden, dass sie durchaus auch zur Befestigung der Position des Ehemanns gedacht waren. Auffällig ist aber, dass Frauen von Ortsgruppenleitern in der Regel nur über Mitgliedschaften in der NS-Frauenschaft verfügten, ihre Männer bedurften solcherart Unterstützung aufgrund ihrer gefestigten Stellung anscheinend nicht. Die NS-Frauenschaft verzeichnete mit der Aufhebung der „Mitgliedersperre“ in der NSDAP 1937 einen gravierenden Rückgang an Neueintritten; die ihre nationalsozialistische Gesinnung dokumentieren wollenden Frauen traten zu einem großen Teil sofort – ohne den Umweg über die NS-Frauenschaft – in die NSDAP ein. In der Summe der Frauenschafts-Ortsgruppen Bernburg-Talstadt, Drohndorf, Pobzig und Sandersleben belief sich der Rückgang an Eintritten 1937 gegenüber 1936 auf 60%. Auch späterhin wurde das zwischen 1933 und 1936 gegebene Eintrittsvolumen nicht wieder erreicht. Das Durchschnittsalter der weiblichen NSDAPNeumitglieder war 1937 wie auch schon 1933 mit dem der männlichen Neumitglieder identisch (jeweils 36,4 Jahre 1933, 38,7 zu 38,9 Jahre 1937). Seit 1938 jedoch (32,8 zu 38,2 Jahre) zeigte sich die weibliche Neumitgliedschaft kontinuierlich deutlich jünger als die männliche.423 Dieses Phänomen allein auf den Wehrdienst der jungen Männer zurückführen zu wollen greift zu kurz.424 Vielmehr waren gerade die jungen Frauen über ihre jetzt höhere Präsenz auf dem Arbeitsmarkt auch stärker dem beschriebenen Beitrittsdruck ausgesetzt als ältere Frauen. Neueintritte in den Ortsgruppen der NS-Frauenschaft Bernburg-Talstadt, Drohndorf, Pobzig und Sandersleben (Mitgliederbestand der Jahre 1944/45)422 Eintrittsjahr Anzahl Eintritte 1930 1 1931 0 1932 3 1933 49 1934 69 1935 57 1936 43 1937 17 1938 30 1939 18 1940 20 1941 12 1942 24 1943 16 1944 6

422 Quellen: Stadtarchiv Bernburg, 6/344; Kreisarchiv Bernburg, Pobzig Nr. 60, Bl. 9; Stadtarchiv Sandersleben, 341, Bl. 4, 23-29, 38; ebenda, „Eidesstattliche Erklärungen an den Antifa-Ausschuß“, pass. 423 Siehe das Diagramm „Durchschnittsalter der neu eintretenden NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1933-1944 nach Geschlechtern“. 424 So eine Deutung für das Jahr 1939. Vgl. Kater, Frauen, S. 206. Auch für die Richtigkeit der für 1938 von Kater angeführten Interpretation, dass in diesem Jahr die größere Zahl von bisherigen BDMMitgliedern gegenüber den zum Eintritt anstehenden bisherigen HJ-Mitgliedern den Ausschlag gegeben habe, ließen sich innerhalb des Untersuchungsgebietes keine Indizien ermitteln. 194 Durchschnittsalter der neu eintretenden NSDAP-Mit glieder im Untersuchun gsgebiet 1933-1944 nach Geschlechtern 15 20 25 30 35 40 45 50 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Eintrittsjahr Durchschnittsalter Mitglieder gesamt Männer Frauen 195 In ähnlichem Maße bedeutend wie die Erhöhung des Frauenanteils war die erneut einsetzende Konzentration der Mitgliedschaft in der Kreisstadt. 1937 wurden 60 % aller Eintritte in Bernburg vollzogen (1933: 46 %), eine Größenordnung, die auch in den Folgejahren Bestand haben sollte. Auch dieses Phänomen ist primär mit der eingangs des Kapitels skizzierten dominierenden opportunistischen Eintrittsmotivation zu erklären. In Bernburg wohnten in ungleich höherem Maße als in den Kleinstädten und Dörfern des Kreises Beschäftigte, für deren Verbleiben im Beruf oder auf der jeweiligen konkreten Position eine Parteimitgliedschaft vorausgesetzt wurde. Im Gefolge der Eintrittswellen von 1932/33 und 1937/38 gestaltete sich die Verteilung der NSDAP-Mitglieder sehr ungleich. Das betraf nicht nur die Konzentration auf bestimmte Berufsgruppen und die Kreisstadt, sondern vor allem eine ungleiche Verteilung über die verschiedenen Wirtschaftsbereiche hinweg. Unter Einbeziehung aller bis 1944 eingegangenen NSDAP-Mitgliedschaften reicht die Spanne vorgefundener Mitgliedschaftsquoten von 65 % im Finanzamt Bernburg bis hinunter zu etlichen Betrieben ohne jedes Parteimitglied. Im Allgemeinen gilt, dass mit der Zunahme administrativverwaltender Tätigkeit auch die NSDAP-Mitgliedschaftsquote stieg. Der öffentliche Dienst findet sich ausnahmslos mit Spitzenwerten wieder, und das sogar dann, wenn es sich um Bereiche mit einem hohen Arbeiteranteil handelt. Diese Verteilung bestätigt somit indirekt, dass der größere Teil der Beitritte durch individuellen Opportunismus und durch Druck auf die potentiellen Mitglieder erzielt wurde.425 Anderenfalls wäre eine gleichmäßigere Verteilung der NSDAP-Mitgliedschaft über die Unternehmen vorzufinden gewesen. Die Ungleichverteilung der Mitgliedschaft wiederholte sich auf innerbetrieblicher Ebene; je höher die Hierarchiestufe im öffentlichen Dienst, desto höher auch der Prozentsatz der NSDAP-Mitglieder.426 In den Betrieben der Privatwirtschaft war es vor allem die Angestelltenschaft, die die NSDAP-Mitglieder stellte; bei den unmittelbaren Unternehmensleitern ist eher Zurückhaltung zu beobachten. So war z. B. der

425 Siehe die Tabelle „NSDAP-Sättigung in Bernburger Unternehmen und Verwaltungen 1944“ im Teil B: Dokumentation. 426 Siehe die schon angeführten Tabellen „Ehemalige NSDAP-Zugehörigkeit unter den Beschäftigten des Arbeitsamtes Bernburg per 31. August 1945“, „NSDAP-Mitglieder unter dem Personal der Stadt- und Kreissparkasse Bernburg, Stand 30.08.1945“ sowie die Tabelle „Personalstatistik der Reichsbahndirektion Magdeburg per 15.10.1945“ im Teil B: Dokumentation. Vorstehend in diesem Kapitel bereits erwähnt: Von den 21 in der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg 1940 beschäftigten Angestellten und Beamten traten zwischen 1932 und 1943 12 in die NSDAP ein (= 57 %). Unter den 34 Feldarbeitern der Versuchsstation lässt sich jedoch keine einzige Mitgliedschaft nachweisen. Siehe die Aufstellung „Die Mitgliedschaft von im Jahre 1940 in der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg beschäftigten Angestellten in der NSDAP und in NS-Anhangsorganisationen“ im Teil B: Dokumentation. 196 Vorstand der Deutschen Solvay-Werke in seiner Zusammensetzung des Jahres 1935427 gänzlich ohne Parteimitglied, lediglich der nachgeordnete Direktor der Abteilung Kaliwerke Bernburg-Solvayhall gehörte zu den 1933er „Maiveilchen“.428 Auch in der Zuckerfabrik Bernburg-Dröbel war der Generaldirektor nicht Mitglied der Partei geworden. Der ihm unmittelbar nachgeordnete technische Direktor (zugleich Prokurist) trat jedoch 1936, der Prokurist 1933, der Handlungs-Bevollmächtigte 1933 ein. Einem Assistenten kann eine Mitgliedschaft nicht nachgewiesen werden (gleichwohl waren aber seine Töchter Parteimitglieder). Der Siedemeister der Zuckerfabrik trat 1933, der Maschinenmeister 1937 und der Waagemeister 1933 ein. Mindestens drei Viertel der unmittelbaren Unternehmensführung hatten also bis 1937 den Weg in die Partei gefunden.429 Trotzdem dieser Wert nominell sehr hoch erscheint (in der Gesamtbelegschaft der Zuckerfabrik konnte nur eine NSDAP-Quote von 16% ermittelt werden430), dürfte er trotzdem nicht dadurch verursacht sein, dass der Stützpunkt- bzw. Ortsgruppenleiter Dröbel-Latdorf als Buchhalter in der Zuckerfabrik beschäftigt war. Vielmehr scheint es sich hier eher um den Normalfall gehandelt zu haben.431 Eine ähnliche überproportionale innerbetriebliche Vertretung der Angestelltenschaft in der NSDAP ist auch für das Zweigwerk Bernburg der kriegswichtigen Junkers Flugzeugund Motorenwerke festzustellen. Für die Junkers-Angestellten lässt sich ein Anteil von 40 %, für die Arbeiter des Werkes jedoch nur ein Anteil von 21 % NSDAP-Mitgliedern veranschlagen.432

427 Geh. Regierungsrat Dr. jur. Ernst Eilsberger, Bergassessor Dr. h.c. Karl Hornung, Direktor Dipl.-Ing. Erich Arendt. 428 Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, A I, SOW, 199, Bl. 70. 429 Quellen: Fr. Wilhelm Schallehn (Bearb.), Adreßbuch für die Zuckerindustrie und den Zuckerhandel Europas, Betriebsjahr 1941/42, 71. Jahrgang, Magdeburg o. J.; NSDAP-Datensatz. 430 Siehe die Tabelle „NSDAP-Sättigung in Bernburger Unternehmen und Verwaltungen 1944“ im Teil B: Dokumentation. 431 Bericht der FDGB-Verwaltungsstelle Bernburg per 05.10.1945: „Es sind eine ganze Anzahl Betriebe vorhanden, wo die gesamte obere Leitung [wegen ihrer NS-Zugehörigkeit] nicht mehr vorhanden [ist] und dieselbe ersetzt werden mußte durch kommissarisch eingesetzte Antifaschisten.“ Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, FDGB-Bezirksvorstand Halle, Nr. 5159. 432 Siehe die Tabelle „NSDAP-Sättigung in Bernburger Unternehmen und Verwaltungen 1944“ im Teil B: Dokumentation. Es ist zu berücksichtigen, dass die Mitgliedschaftsquote unter den Junkers-Arbeitern schon infolge der Stellung als Rüstungsbetrieb und der Sättigung mit auch anderswo häufiger beitretenden Metallarbeitern über dem Durchschnitt lag. 197 6.3 Der Funktionärskörper Ende der 30er/ Anfang der 40er Jahre Der bisher dargestellte Charakter der Partei tritt in der Zusammensetzung des Funktionärskörpers noch stärker hervor als allgemein bereits unter der NSDAP-Mitgliedschaft. Das gilt sowohl für die Alters- als auch für die Berufsstruktur. In der Zusammensetzung des Funktionärskörpers, deren Abbildung hinlänglich verlässlich nur für den Zeitraum Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre möglich ist,433 bestätigt sich die Beobachtung, dass die NSDAP die Partei einer Generation war, der Generationscharakter tritt unter den Funktionären noch stärker hervor als schon unter den Mitgliedern. Während unter den NSDAP-Mitgliedern im Untersuchungsgebiet zwischen Ende 1929 und 1944 in der Summe 53 % den geschilderten Kernjahrgängen 1893 bis 1912 angehörten waren es unter allen ermittelten Funktionären summarisch bereits 61%. Eine wesentliche Differenz zur Altersstruktur der Gesamtmitgliedschaft ergibt sich zudem daraus, dass die jüngeren Geburtsjahrgänge ab 1913 fast überhaupt nicht unter den Funktionären zu finden sind (2 %). Diese Abstinenz lässt sich allenfalls zu einem Teil durch die hohe Rate an Wehrmachts- und Arbeitsdienstangehörigen unter den Angehörigen dieser Geburtsjahrgänge erklären. Bei Gegenüberstellung mit den Geburtsjahrgängen bis 1892 (25 % unter allen Mitgliedern, aber 39 % unter den Funktionären auf der höheren Leitungsebene) wird deutlich, dass Funktionswürdigkeit nach wie vor auch eine Resultante des (Lebens-)Alters war und es die Generation der Kernjahrgänge 1893-1912 wohl auch verstand, sich gegen die nachfolgenden Geburtsjahrgänge abzuschirmen.

433 Die Quellenlage erlaubt nur einen sehr allgemeinen Überblick über den NSDAP-Funktionärskörper im Untersuchungsgebiet, jedoch keinen detaillierten Vergleich mit der Mitgliedschaft. Zudem ist es wegen des Fehlens einer organisationsinternen Überlieferung nicht möglich, für das Untersuchungsgebiet seriöse Aussagen zum Mechanismus der Funktionärsrekrutierung zu machen. Der die Grundlage dieser Untersuchung bildende NSDAP-Datensatz enthält zwar eine Reihe Angaben über während der Mitgliedschaft ausgeübte Partei-Funktionen, doch liegen in der Mehrzahl nur Aussagen über die höchste jemals ausgeübte Funktion vor, über den konkreten innerparteilichen Karriereverlauf jedoch nur in Einzelfällen. Eine Aufgliederung nach Zeiträumen erscheint daher angesichts nur gering differenzierter Angaben in der Mehrzahl der Quellen als nicht sinnvoll. Diese Einschränkung liegt darin begründet, dass man im Laufe der Entnazifizierung nach 1945 meist nur am ‚Endzustand‘ bzw. an der höchsten ausgeübten Funktion interessiert war und die den größeren Teil dieser Überlieferung stellenden listenmäßigen Entnazifizierungsunterlagen deshalb auch nur diesen ‚Endzustand‘ widerspiegeln. Ein Ausgleich über andere Quellenbestände ist nicht möglich. Demzufolge bildet die nachfolgende Analyse des Funktionärskörpers weitestgehend den Zustand Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre ab. 198

Der Funktionärskörper der enddreißiger und vierziger Jahre rekrutierte sich weiterhin nicht mehr aus den „alten Kämpfern“ – obwohl auch diese mehrheitlich den erwähnten Kernjahrgängen zugehörten – sondern in erster Linie aus seit 1933 in die Partei eingetretenen Mitgliedern. Eine über die NSDAP-Zellen- und Blockstruktur der Kleinstadt Hecklingen in den vierziger Jahren überlieferte Aufstellung belegt, dass die Zellenleiter- und Blockleiterpositionen fast durchweg von Mitgliedern jüngeren Parteialters besetzt waren. Nur zwei von den dort bei Kriegsende mit Eintrittsdatum registrierten 27 Blockleitern waren vor 1933 in die NSDAP eingetreten. In zehn weiteren Blöcken hätte jedoch die Möglichkeit der Einsetzung von „parteiälteren“ Mitgliedern (vor 1933) bestanden. Auch von den sieben angegebenen Zellenleitern hatte keiner ein Eintrittsdatum vor 1933 aufzuweisen.435 Das Parteialter stellte in den 40er Jahren anscheinend kein Kriterium der Funktionärsauswahl mehr dar. Selbst von 24 für das Untersuchungsgebiet ermittelten Trägern des Goldenen Parteiabzeichens – also Personen, die spätestens 1928 eingetreten und im wesentlichen fortlaufend Parteimitglied geblieben waren – sind lediglich neun überhaupt als Funktionäre nachweisbar. Funktionäre der NSDAP-Ortsgruppe Bernburg-Wasserturm 1937434 Die schon in der Mitgliedschaft allgemein gegebene stark überproportionale Vertretung der Angestellten und Beamten verstärkte sich unter den Funktionären weiter. Während die niedere Funktionärsebene (unterhalb der Ortsgruppen- bzw. Stützpunktleiter)436 der 434 Quelle: Privatbesitz. 435 Vgl. Verwaltungsgemeinschaft „Bördeblick“ (Hecklingen), Stadtarchiv Hecklingen, „Registrierung der ehemaligen Mitglieder der NSDAP und Militaristen 1946“, o. Bl. 436 Aus analytischen Gründen wird der Funktionärskörper in zwei Gruppen entsprechend der maximal erreichten Funktionshöhe unterteilt: „Funktionäre 1“: Ortsgruppenleiter, Stützpunktleiter und Stellvertreter – auch kommissarisch –, Kreisleiter und Stellvertreter, Kreisamtsleiter, Kreispropagandaleiter, Kreisschulungsleiter, Kreisfilmwart, Kreisfunkwart, Kreisbetriebszellenleiter, Kreis- und Gauredner, Leiter und Beisitzer des NSDAP-Kreisgerichts usw. „Funktionäre 2“: alle Funktionäre auf Ortsgruppen- bzw. Stützpunktebene unterhalb des Leiters und seines Stellvertreters (Blockleiter und Zellenleiter, -warte, -helfer – auch hilfsweise, kommissarisch und Stellvertreter, Kassenleiter, diverse andere Funktionen auf Ortsgruppenbasis, 199 Zusammensetzung der Gesamt-Mitgliedschaft noch sehr ähnlich blieb und nur relativ geringe Abweichungen aufwies setzte im Übergang zur höheren Funktionärsebene eine starke Selektion ein. Nur noch 10 % aller Funktionäre verfügten dort über einen Arbeiterberuf (Gesamtmitgliedschaft summarisch: 35 %), während allein 70 % Angestelltenund Beamtenberufe ausübten (Gesamtmitgliedschaft summarisch: 49 %). Neben einem allgemeinen Anstieg in allen Angestelltenkategorien mit zunehmender Funktionshöhe ist besonders die Verdopplung des Lehreranteils – 7 % unter der Mitgliedschaft, 16 % auf der höheren Funktionärsebene – auffällig. Der Frauenanteil unter den Funktionären blieb – entgegen ihrem Anteil an der Mitgliedschaft – verschwindend gering und lag bei maximal einem Prozent auf der unteren Funktionärsebene.437 Funktionen wurden von Frauen in der Regel nur in „frauentypischen“ Bereichen wie der NS-Frauenschaft und der NS-Volkswohlfahrt ausgeübt. Altersstruktur des NSDAP-Funktionärskörpers im Untersuchungsgebiet (kumulativ bis 1945; in % ) Geburtsjahrgänge absolut438 bis 1892 1893-1912 1913-1927 1901-1910 Funktionäre 1 (Ortsgruppenleiter und höher) 38,9 61,1 23,6 0,0 144 Funktionäre 2 (bis exclusive Ortsgruppenleiter) 37,0 60,8 27,0 2,2 492 Mitglieder gesamt439 24,8 52,8 26,4 22,5 5.371

„Politische Leiter“ ohne weitere Spezifizierung in der Quelle), aber auch: Schriftführer beim NSDAP-Kreisgericht. Funktionäre der zahlreichen Anhangsorganisationen und Abgeordnete sowie Bürgermeister, Stadträte etc. fanden keine Berücksichtigung. 437 Im einzelnen handelt es sich hier um sechs Frauen. Drei von ihnen hatten in den Entnazifizierungsunterlagen den bloßen Vermerk „Zellenleiterin“ erhalten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass mit diesem Vermerk auch eine Betätigung als Zellenleiterin der NS-Frauenschaft gemeint sein könnte. 438 Funktionäre und Mitglieder, für die ein Geburtsjahrgang ermittelt werden konnte. Die Ausfälle in den verschiedenen Kategorien nehmen mit fallender Hierarchiestufe zu, was sich durch das geringere Interesse an den einfachen Mitgliedern nach 1945 erklärt. Sie belaufen sich – bezogen auf die im NSDAPDatensatz erfassten Personen – auf etwa ein Achtel unter den „Funktionären 1“ und ein knappes bzw. ein reichliches Drittel unter den „Funktionären 2“ bzw. den Mitgliedern insgesamt. 439 Kumulativ seit Ende 1929. 200 Die soziale Zusammensetzung des Funktionärskörpers der NSDAP im Untersuchungsgebiet (kumulativ bis 1945; in %) Kategorie Funktionäre 1 (Ortsgruppenleiter und höher) Funktionäre 2 (bis exclusive Ortsgruppenleiter) Mitglieder gesamt 440 Summe 1-9: Arbeiter gesamt 10,1 29,5 34,5 1 Landarbeiter 1,3 1,7 2,2 2 ungelernte Arbeiter 0,6 4,3 5,0 3 Hausangestellte 0,0 0,0 0,7 Summe 4-9: Facharbeiter und Angelernte gesamt 8,2 23,5 26,6 4 Metallfacharbeiter und -angelernte 3,8 7,1 9,9 5 Bau- und Holzfacharbeiter und - angelernte 0,0 2,9 3,6 6 Facharbeiter und Angelernte des polygraphischen Gewerbes 0,0 0,3 0,6 7 Bergleute 0,0 0,9 0,9 8 andere Facharbeiter 2,5 7,5 7,7 9 Arbeiter im öffentlichen Dienst 1,9 4,8 4,0 Summe 10-15: Angestellte und Beamte 70,3 55,1 49,1 10 kaufmännische Angestellte und Handlungsgehilfen 14,6 13,5 11,3 11 Lehrer 15,8 5,7 7,4 12 Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes (ohne Lehrer) 26,6 25,5 20,3 13 landwirtschaftliche Angestellte 3,2 0,6 0,7 14 Werkmeister 1,3 2,3 1,8 15 andere Angestellte 8,9 7,5 7,7 16 Handwerk und Gewerbe 8,9 10,0 9,7 17 Fabrikbesitzer und Direktoren 1,3 1,8 1,1 18 Landwirte und Gutsbesitzer 7,6 2,5 3,9 19 freie Berufe 1,9 0,9 1,2 20 Schüler und Studenten441 0,0 0,2 0,4 Absolut442 (1-20) 158 651 4.503

440 Kumulativ Ende 1929 bis 1944. Geringfügige Differenzen gegenüber den Angaben in der vorstehenden Tabelle „Statistische Kerndaten der NSDAP im Untersuchungsgebiet 1929-1944“ beruhen darauf, dass an dieser Stelle keine Verzerrungsbereinigung vorgenommen wurde. 441 Große Teile der 1944 als „ohne Beruf“ im NSDAP-Datensatz vermerkten Eintretenden waren wahrscheinlich Schüler, so dass für dieses Jahr eine nicht auszugleichende Verzerrung des Ergebnisses besteht. 442 Funktionäre und Mitglieder, für die eine Berufsabgabe vorliegt. Die Ausfälle in den verschiedenen Kategorien nehmen mit fallender Hierarchiestufe zu, was sich durch das geringere Interesse an den einfachen Mitgliedern nach 1945 erklärt. Sie belaufen sich – bezogen auf die im NSDAP-Datensatz erfassten Personen – auf etwa ein Vierundzwanzigstel unter den „Funktionären 1“, ein Neuntel unter den „Funktionären 2“ und ein Viertel unter den Mitgliedern insgesamt. 7. Die 40er Jahre: Generationswechsel „Das eigentliche Problem sind die Heranwachsenden um die zwanzig. In dieser Altersgruppe gibt es echte, aufrichtige Nazis. Bei manchen hat man den Eindruck, daß sie hoffnungslos verloren sind. Sie weisen all die bekannten NaziCharakteristika (Falschheit, Untreue, Lügen und Feigheit in Krisenzeiten) auf. Vielfach sind es Problemkinder, und niemand würde es bedauern, wenn man drastisch mit ihnen verführe.“ Saul K. Padover, amerikanischer Nachrichtenoffizier österreichischer Herkunft, in einer Analyse Ende November 1944.443 In der Rekrutierung neuer Parteimitglieder verfolgte die NSDAP noch bis 1942 zwei sich überlagernde Strategien, einerseits die seit 1937 bekannte Ausübung von massivem Eintrittsdruck gegen dafür empfängliche Personen,444 andererseits die an Bedeutung gewinnende kampagnenhafte Aufnahme von Mitgliedern aus der Hitlerjugend und dem Bund deutscher Mädel sowie von Kriegsversehrten. Der Beginn des Jahres 1942 kennzeichnet einen scharfen Einschnitt, der Zugang zur Partei wurde nunmehr für Personen, die nicht den Jugendlichen oder Kriegsversehrten zuzuordnen waren, stark erschwert.445 Ab sofort fokussierten sich die Bemühungen der Partei um neue Mitglieder nicht mehr auf die gegenwärtigen Leistungsträger der Gesellschaft, sondern auf jene, die es in Zukunft sein würden bzw. die man dazu zu machen gedachte. Die massenhafte Aufnahme von teilweise erst 17-jährigen Mitgliedern (jeweils 45 % der Eintretenden 1944 kamen aus den Geburtsjahrgängen 1927 bzw. 1926) war von der NSDAP-Reichsleitung gesteuert, um die abzusehende Überalterung aufzubrechen.

443 Padover, Lügendetektor, S. 89 f. 444 Auffällig ist z. B. eine Eintrittswelle in Unterwiederstedt: 22 der 55 Mitte 1942 anlässlich der Bildung einer eigenen Ortsgruppe über die Veränderungsmitteilungen des Gaues komplett nachweisbaren Mitglieder waren erst zum 01.01.1942 aufgenommen worden. Es handelte sich dabei nicht um Personen der jüngeren Jahrgänge. Vor dem Hintergrund der früheren politischen Dominanz in Unterwiederstedt – zur letzten regulären Gemeinderatswahl 1931 waren lediglich noch eine kommunistische und eine sozialdemokratische Liste angetreten, während die „Bürgerlichen“ wegen voraussehbarer Erfolglosigkeit verzichtet hatten – ergibt sich der Verdacht, dass diese Beitritte, wie anderswo früher auch schon, unter Druck zustande kamen. Man wollte wohl endlich auch in Unterwiederstedt die vorgeschriebene 10 %ige NSDAP-Sättigung erreichen. Auch für Giersleben deutet sich 1940 eine ähnliche Eintrittswelle an. 445 Pauschalisierungen derart, dass „nach dem 2. Februar 1942 nur noch Angehörige der Hitlerjugend Aufnahme in die NSDAP fanden“ (Kater, Frauen, S. 207) sind nicht haltbar. Wenn auch seit 1942 die Masse der Neueintritte den „Übernahmen“ aus HJ und BDM vorbehalten blieb gab es im Untersuchungsgebiet auch für „ältere“ Personen nach wie vor die ausweislich vollzogener Beitritte wahrgenommene Möglichkeit, eine Mitgliedschaft zu beantragen und auch aufgenommen zu werden. 202 Seit 1939 deutete sich in der Zusammensetzung der Neueintretenden zudem der unausweichliche Generationswechsel an, das bisherige Rekrutierungspotential war erschöpft. Die Eintrittswelle 1937/38 war mit 67 bzw. 66 % aller Eintretenden noch einmal von den Geburtsjahrgängen 1893-1912 dominiert worden, so dass Ende 1938 nunmehr in diesen Jahrgängen schon etwa jeder fünfte bis sechste Mann Parteimitglied war. Damit dürfte eine Sättigung erreicht worden sein. Unter den Eintritten des Jahres 1939 sank der Anteil der Geburtsjahrgänge 1893 bis 1912 abrupt auf 37 %, um dann 1940 wieder auf 53 % anzusteigen, 1941/42 knapp unterhalb dieses Niveaus zu verharren und 1943/44 letztlich gegen Null zu streben. Der Wiederanstieg 1940-42 korrespondiert mit einer erneuten Ausübung von Beitrittsdruck gegenüber Leistungsträgern, was sich auch in einer starken Zunahme der Beitrittszahlen 1940 gegenüber 1939 ausdrückt.446 Das Durchschnittsalter der Neueintretenden sank 1939 auf 31,8 Jahre (1938: 37,7 Jahre), um 1940 wieder auf 37,8 Jahre anzusteigen. 1941 verharrte es auf gleichem Niveau, um danach stetig bis auf 18,5 Jahre 1944 zu fallen.447 Diese Daten suggerieren einen relativ reibungslosen Generationswechsel. In der Realität zeigten die Angehörigen der ins Aufnahmealter kommenden Geburtsjahrgänge allerdings wenig Neigung, auch Parteimitglieder zu werden, der NSDAP mangelte es urplötzlich an Nachwuchs. Schon unter den unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Jahrgängen war die Organisationsneigung rückläufig. Die durch den Ersten Weltkrieg hervorgerufenen Ausfälle, als die Geburtenzahlen auf etwa die Hälfte zurückgegangen waren, verringerten außerdem die Rekrutierungsbasis von Neumitgliedern. Und auch unter den wieder deutlich stärkeren Geburtsjahrgängen 1920-1925 wurde im Untersuchungsgebiet nur etwa die Hälfte des Eintrittsniveaus bzw. der NSDAPSättigung der Kernjahrgänge 1893-1912 erreicht. Ein vom NS-Reichsstatthalter von Oldenburg und Bremen, Carl Röver, 1942 an den „Führer“ persönlich gerichteter Bericht ging u. a. auch auf diese im Umfeld der Aufnahme jugendlicher Mitglieder bestehende Problemlage ein.448 Röver wies in seinem Bericht implizit darauf hin, dass die Partei von den HJ-Mitgliedern als eine Domäne der

446 Ein Zusammenhang der 1940er Eintritte mit dem Kriegsbeginn im September 1939 konnte nicht festgestellt werden. Zudem hätten solcherart motivierte Eintritte – unter Berücksichtigung der Bearbeitungszeiten in der Parteizentrale – zumindest zum größeren Teil noch 1939 zu Buche schlagen müssen. Es ist andererseits jedoch bekannt, dass in der Mitgliederwerbung der nunmehrige Kriegszustand als weiteres Argument durchaus eine bedeutsame Rolle spielte. 447 Siehe die Tabelle „Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944“ im Teil B: Dokumentation. 448 Vgl. Röver, Bericht, S. 112-121. 203 älteren (Eltern-)Generation angesehen werde. Das Interesse für die Aufnahme in die NSDAP sei „nicht so groß, wie man es an sich erwarten sollte.“449 Die schon vollzogene oder kurz bevorstehende Einberufung zum Arbeitsdienst oder zur Wehrmacht würde die Eintrittsbereitschaft wegen des unweigerlich folgenden Ruhens der Mitgliedschaft herabsetzen; die potentiellen Mitglieder seien der Ansicht, man könne auch noch eintreten, wenn man zurück sei. Selbst bei vor dem Arbeitsdienst bzw. vor der Wehrmacht Eingetretenen gestalte sich die Rückkehr in die Parteiarbeit nach dem Ausscheiden aus der Wehrmacht schwierig. An dieser Stelle sollte die Partei in den Folgejahren ansetzen und entschiedener als noch zur Zeit von Rövers Bericht 1942 den Eintritt direkt aus der HJ bzw. dem BDM heraus verlangen. Die Kritik Rövers scheint demzufolge in der NSDAPReichsorganisationsleitung auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Betrachtet man die Parteieintritte des Jahres 1944 im Kreis Bernburg, die zu etwa neun Zehnteln auf die Geburtsjahrgänge 1926 und 1927 entfielen, so ist augenfällig, dass es – anders als im Falle der unterdurchschnittlich in der Mitgliedschaft vertretenen Geburtsjahrgänge seit 1914 – eine strikte Vorgabe für die Aufnahme jedes fünften jungen Mannes und jeder zehnten jungen Frau gegeben haben muss. Schon der interne „NSDAP-Reichsbericht“ hatte im Jahre 1935 gefordert, 10 % aller Wahlberechtigten zu Parteimitgliedern zu machen und dabei insbesondere jugendliche Mitglieder zugewinnen, um den Einfluss der älteren (karrieristisch motivierten) Jahrgänge zu relativieren.450 Nachdem eine interne Steuerung dem Anschein nach wenig erfolgreich gewesen war, wurde die Eintrittsbewegung mit der HJ-Kampagne zum „Führergeburtstag“ jetzt härter administriert. Da die potentiellen jugendlichen Mitglieder nicht im erwünschten Maße von selbst in die Partei strebten unternahm man es, sie ‚abzuholen‘. Im Falle der jungen Männer des Jahrgangs 1926 war die vorgegebene Quote wahrscheinlich wegen früher Einberufungen nicht ganz zu erfüllen, der Ausgleich erfolgte über die stärkere Aufnahme von jungen Frauen dieses Jahrgangs, so dass das GesamtMitgliedervolumen aus dem Jahrgang 1926 die vorgegebene Höhe erreichte. Mit dem Jahrgang 1927, der schon im Alter von 17 Jahren zur Aufnahme kam, gelang schließlich

449 Ebenda, S. 113. 450 Vgl. Bundesarchiv Berlin, NS 26/239, v. a. Bl. 46 ff. 204 eine geradezu schematische Erfüllung der vorgegebenen Struktur der Neumitgliedschaft. 1944 im Kreis Bernburg aufgenommene NSDAP-Mitglieder aus den Geburtsjahrgängen 1926 und 1927 in % der Angehörigen des Geburtsjahrgangs451 Stadt Bernburg Landkreis Bernburg Kreis Bernburg gesamt Geburtsjahrgang 1926

gesamt 16 15 15
männlich 20 18 18
weiblich 12 13 12

Geburtsjahrgang 1927

gesamt 16 15 15
männlich 20 21 21
weiblich 11 9 10

Mittels dieser schematischen Umsetzung wurden die Geburtsjahrgänge 1926 und 1927 im Untersuchungsgebiet zu den am stärksten mit NSDAP-Mitgliedern durchsetzten Jahrgängen, was in erster Linie auf die verstärkte Aufnahme von jungen Frauen zurückgeht.452 Der Eintrittsjahrgang 1944 war zudem seit 1933 wieder der erste, der – infolge der beschriebenen Quotierung – über eine ausgeglichene Kreisstadt-Landkreis-Relation der Neumitglieder verfügte.453 Den Fortbestand des „Dritten Reiches“ vorausgesetzt hätte die NSDAP mit dem 1944 angewandten System der Mitgliederrekrutierung durchaus der bisherigen Überalterung und Verstädterung der Mitgliedschaft entgehen können.

451 Quellen der Berechnung: NSDAP-Datensatz; Die wichtigsten Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 in Anhalt, Dessau 1936, S. 74. Geringe Ungenauigkeiten ergeben sich daraus, dass in den Ergebnissen der Volkszählung 1933 die Angehörigen der beiden Jahrgänge nur in der Summe einer Jahrgangsgruppe aufgeführt wurden und keine Erkenntnisse über die zwischenzeitliche Bevölkerungsfluktuation seit 1933 vorliegen. Abweichend vom sonstigen Verfahren in dieser Untersuchung konnte aufgrund der Überlieferung der Aufnahmelisten hier der gesamte Kreis (einschließlich Leopoldshall, Groß- und Kleinmühlingen, Unterwiederstedt) ausgewiesen werden. 452 Allerdings führte diese höhere politische Mobilisierung der Frauen und Töchter – um diese dürfte es sich hier in der Mehrzahl gehandelt haben – die NSDAP in den 40er Jahren immer noch nicht auf ein Niveau der Frauenbeteiligung wie es die SPD im Kreis Bernburg schon in den 20er Jahren aufzuweisen hatte. Die SPD verfügte Ende 1928 im gesamten Unterbezirk Anhalt II über 34 % weiblicher Mitglieder, in der Stadt Bernburg Ende 1929 sogar über 39 %. Vgl. Kupfer, Sozialdemokratie, S. 246; Vw 16.01.1930. 453 Siehe die Tabelle „Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944“ im Teil B: Dokumentation. 205 Die beschriebene Quotierung erlaubte es jedoch nicht, eine sozial ausgewogene Zusammensetzung der jungen Neumitgliedschaft zu erreichen, obwohl auch dies sicherlich beabsichtigt war. Zwar ergibt die Auszählung der ermittelten Berufe der 1944er Neumitglieder im Untersuchungsgebiet einen Arbeiteranteil von 60 % und einen Angestellten- und Beamtenanteil von nur noch 37 %, was nahezu reziproke Verhältnisse zum Vorjahr und erstmals eine annähernd gleichmäßige Verteilung der Neumitgliedschaft über die Bevölkerung bedeuten würde. Doch es handelt sich hierbei um einen quellenbedingten Fehlschluss. Lehrlinge gaben bei der Aufnahme ihren konkreten Beruf an, wurden auch so der Reichsleitung weitergemeldet und erscheinen demzufolge auch in der gleichen Form in den Aufnahmelisten und dem dieser Auswertung zugrundeliegenden NSDAP-Datensatz. Schüler hingegen gaben bei der Aufnahme überhaupt keinen Beruf (auch nicht „Schüler“) an und konnten daher bei der Berufsauszählung nicht erfasst werden.454 Tatsächlich hätten aber diese nicht erfassten Schüler später in der deutlichen Mehrheit Angestellten- und Beamtenberufe aller Art ergriffen, so dass sich die soziale Zusammensetzung der 1944er Eintritte – in die Zukunft projiziert – nicht anders darstellt als die bisherige Berufsstruktur der NSDAP. Kurz: die Partei hatte begonnen, sich aus sich selbst zu reproduzieren.455 Röver erläuterte in seinem Bericht auch, warum das fast zwangläufig so sein musste. Für den konkreten Beitritt seien letztendlich zwei Institutionen maßgeblich, das Elternhaus und der zuständige HJ-Führer. Insbesondere würden sich persönliche Differenzen mit dem HJ-Führer oft auch in einer Verweigerung der für den Parteibeitritt notwendigen Dienstbescheinigung niederschlagen: „Der Hauptverweigerungsgrund war immer der einer nicht genügenden Dienstbeteiligung. Dabei kommt es sehr häufig vor, daß HJMitglieder den Dienst versäumen mußten, weil entweder Überstunden zu machen waren oder dringende Landarbeiten verrichtet werden mußten, wofür die HJ-Führer, die vielfach Schüler sind [! – T.K.], nicht das nötige Verständnis hatten. Wer regelmäßig den Dienst besuchte, bekam die erforderliche Mitgliedschaftsbescheinigung der HJ, aber nicht der eifrigste im Dienstbesuch ist unbedingt der beste. Ich kann mir vorstellen, daß

454 Siehe ebenda. 455 Qualitativ neu stellt sich 1944 und in den Vorjahren lediglich die über die Quotierung bewusst angestrebte Mitgliedschaft von Frauen in Höhe von einem reichlichen Drittel der Neumitglieder dar. Faktisch im Nebeneffekt glichen sich bis 1944 die seit 1937 auseinanderstrebenden Durchschnittsalter der männlichen und weiblichen Neumitglieder wieder an; die Männer folgten der bisher schon stärkeren Verjüngung des weiblichen Teils der Neumitgliedschaft. Siehe das Diagramm „Durchschnittsalter der neu eintretenden NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1933-1944 nach Geschlechtern“ im vorhergehenden Kapitel. 206 hierbei die Einwirkung der Eltern eine Rolle mitspielt. Ein Beamter wird seine Kinder mehr zum Dienstbesuch anhalten als ein Arbeiter oder Bauer, einmal um zu beweisen, daß er sich für die Bewegung einsetzt, damit er nicht selbst irgendwie benachteiligt wird, zum anderen auch aus Sorge um das Fortkommen seiner Kinder, damit diese später in ihrer Laufbahn nicht behindert werden. Dasselbe wird der Fall sein bei der Aufnahme in die Partei. Auch hier werden die Kinder von Beamten veranlaßt werden, einen Antrag auf Aufnahme zu stellen, während andere Eltern diesem gleichgültiger gegenüber stehen. Ich habe ferner beobachten können, daß dort, wo ein guter HJ-Führer tätig war, auch die Aufnahmeanträge zahlreicher waren, vor allem aber in den Städten, während das Land hiergegen abfiel. Wo der HJ-Führer sich um nichts kümmerte, war das Interesse auch dementsprechend gering.“456 Kinder aus NSDAP-Elternhäusern wurden zum NSDAP-Beitritt und vorheriger guter HJ-Dienstbeteiligung angehalten. Wer darüber hinaus noch der Form nach eventuell für einen NSDAP-Beitritt in Frage gekommen wäre, wurde oftmals von den HJ-Führern, die ihrerseits wieder aus NSDAPElternhäusern und somit mehrheitlich aus Angestellten- und Beamtenhaushalten stammten, aussortiert. Man wäre auch in der nächsten Generation unter sich geblieben.457 Zumindest ein Teil der jugendlichen Neumitglieder der 40er Jahre wollte im nachhinein nach Kriegsende gar keinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt haben und behauptete, „automatisch“ in die NSDAP „überführt“ worden zu sein.458 Auch in den für Entnazifizierungszwecke nach Kriegsende aufgestellten Listen findet sich bei etlichen Mitgliedern aus verschiedenen Orten der auf Eigenangaben beruhende Vermerk, sie wären durch die Partei von der HJ oder dem BDM „übernommen“ bzw. „über-

456 Röver, Bericht, S. 112 f. 457 Ob es sich bei diesen Neumitgliedern tatsächlich um eine Generation im sozialwissenschaftlichen Sinne und hinsichtlich ihres Eintrittsverhaltens zur NSDAP handelte ließ sich innerhalb der vorliegenden Studie aufgrund des historisch bedingten Schwindens des Untersuchungsgegenstandes – der NSDAP – nicht mehr seriös untersuchen. Weitere Erkenntnisse sind aus einer in Erarbeitung befindlichen Untersuchung der Parteienstruktur im Kreis Bernburg 1945 bis 1952 zu erwarten. 458 Generell ergibt sich das Problem, dass der im Bundesarchiv überlieferte Restbestand an Aufnahmeanträgen vor allem die Aufnahmen der 30er Jahre repräsentiert, aber fast keine Anträge aus den 40er Jahren mehr enthält. Das ist sowohl angesichts der größeren zeitlichen Nähe als auch angesichts der Masse der in den 40er Jahren getätigten Aufnahmen unverständlich. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass in den 40er Jahren Aufnahmen ohne das schriftlich erklärte Einverständnis der Betroffenen getätigt wurden. 207 schrieben“ worden.459 Doch war auch hier – analog zu den „automatischen Übernahmen“ 1937/38 – zumindest die innerparteiliche Verfahrensweise formell geklärt: Die Bewerber hatten Antragschein und Fragebogen selbst auszufüllen, also den Antrag selbst zu stellen und sich nicht von Instanzen welcher Art auch immer vertreten zu lassen. In der von der jeweiligen HJ-Führung einzuholenden Dienstbescheinigung war von dieser weiterhin ausdrücklich zu bestätigen, dass der Antragsteller seinen Antrag freiwillig gestellt, sich bisher als zuverlässiger Nationalsozialist erwiesen habe und die Gewähr biete, den Anforderungen der Partei zu entsprechen.460 ‚Unsicheren Kantonisten‘ wird eine solche positive Dienstbescheinigung von vornherein verweigert worden sein, so dass trotz aller Kampagnenhaftigkeit und sogar Herabsetzung des Eintrittsalters auf 17 Jahre im Jahre 1943 gesichert war, dass nur der „bessere Teil“ von HJ und BDM den Weg in die Partei fanden. Wer von den „Besten“ dieser Generation würde sich auch dem Ansinnen verschlossen haben, der NSDAP beizutreten?461 Allerdings wird man eine entschieden vorgetragene Erwartungshaltung gegenüber den ausersehenen Eintrittskandidaten durchaus unterstellen können; anders ließe sich die sprunghafte Steigerung der Eintritte in den Kampagnen und wohl auch die Argumentation mit der „automatischen Übernahme“ unmittelbar nach Kriegsende nicht erklären. Exemplarisch für die Angehörigen dieses 1944er Eintrittsjahrgangs steht Helga E., Jahrgang 1925, die per 20. April 1943 – zum „Führergeburtstag“ – „innerhalb des Rahmens der allgemeinen Überführung von der HJ., der ich pflichtgemäß angehörte, in die NSDAP. überwiesen“ wurde.462 Die von ihr nach Kriegsende aus Gründen des Selbst-

459 „Sammelüberweisungen aus HJ und BDM zur Partei“ wurden teilweise auch nach 1945 als real existent angesehen. Vgl. z. B. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 801, Bl. 106. 460 Vgl. Weisungsblatt der NSDAP. Gau Halle-Merseburg, 15.07.1943, S. 321 f.; 15.01.1944, S. 580 f.; 01.04.1944, S. 680; 15.10.1944, S. 1130. Auch nach Rövers Bericht an den „Führer“ hat es (zumindest bis 1942) eine „automatische Übernahme“ nicht gegeben. Vielmehr erfolgte auch nach seiner Darstellung die Aufnahme in die Partei in der Regel auf Vorschlag bzw. Befürwortung durch den örtlichen HJ-Führer. Von listenmäßigen Überschreibungen ist auch bei ihm an keiner Stelle die Rede, sondern davon, dass jeder der Kandidaten einen eigenen Aufnahmeantrag abzugeben hatte. 461 Feldpostbrief der Gauleitung für das Führer-Korps des Gaues Magdeburg-Anhalt der NSDAP, o. O. o. J. (Dessau, Juni 1944), S. 12: „27.2.44 Parteiaufnahmefeiern der NSDAP. Wie in allen Teilen des Reiches erfolgte auch im Gau Magdeburg-Anhalt die Aufnahme der Besten aus den Reihen der HitlerJugend in die Kampfgemeinschaft der NSDAP.“ In Gunhild H.‘s Erinnerungen ist gleichfalls von einer „listenmäßigen Überschreibung“ nicht die Rede, sondern vielmehr von einer bewussten Entscheidung (nach dem Beispiel des Vaters?) und trotz der reservierten und teilweise auch ablehnenden Haltung der Altersgenossinnen gegenüber der Partei. Vgl. Margarete Dörr, „Wer die Zeit nicht miterlebt hat ...“ Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach, Bd. 1, Frankfurt/Main und New York 1998, S. 341 f. 462 Ebenda, Nr. 817, Bl. 201. 208 schutzes eingeschlagene Argumentationsrichtung ist eindeutig: Mitgliedschaft in der HJ bzw. im BDM war Gesetz, und der quasigesetzlichen „Überführung“ in die NSDAP konnte man sich demzufolge auch nicht widersetzen. Auffällig ist nur, dass sie hinsichtlich ihrer familiären Herkunft überhaupt nicht im Verdacht stand, dies vorgehabt zu haben; beide Eltern waren NSDAP-Mitglieder, der Vater zudem schon 1934 NSLBKreisfachschaftsleiter. Ihr Parteieintritt erfolgte also genau innerhalb der oben beschriebenen Wirkungskette.463 Einen ähnlichen familiären Hintergrund hatte auch Klaus Kleinau, Sohn des bereits erwähnten ehemaligen Ortsgruppenleiters Kurt Kleinau und Schüler der Nationalpolitischen Bildungsanstalt Ballenstedt, aufzuweisen. Er erlebte seine eigene Parteiaufnahme eher beiläufig: „Für uns völlig überraschend wurden wir im Dezember 1944 noch Mitglied der NSDAP. Wer das angeordnet hatte, weiß ich nicht mehr, auch nicht, ob man uns vorher danach gefragt hatte. Kurz vor meinem 17. Geburtstag wurden wir zu einer Feierstunde in einem Gasthaussaal eingeladen. Neben etlichen Kriegsverdienstkreuzen für die Ballenstedter Bevölkerung gab es für uns vom Jahrgang 1927 Parteiabzeichen. Wie erlebten diesen Vorgang als eine witzige Feierstunde, bei der wir uns das Lachen kaum verkneifen konnten. Der Parteivorsitzende, oder war es der Herr Bürgermeister, kramte die Abzeichen aus einer großen Tüte hervor und übergab sie uns, als hätten wir einen Preis bei einer Tombola gewonnen. ‚So, nun steck dich das man an‘ sagte er im Ballenstedter Tonfall. Ich glaube, er war froh, als er das letzte Abzeichen aus der Tüte hervorgekramt hatte.“464 Helga E. und Klaus Kleinau scheinen in ihrer selbstverständlichen und vollkommen kritiklosen Zustimmung typisch für eine vollständig unter dem Nationalsozialismus sozialisierte Generation.465 Adolf Hitler hatte deren von einer beständigen ideologischen Indoktrination geprägte Lebensrealität schon 1938 vorgezeichnet: „Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln. Die Knaben kommen vom Jungvolk in die Hitler Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und

463 Vgl. für ein analoges Umfeld die Lebenserinnerungen von Gunhild H. aus Süddeutschland (geb. 1925, NSDAP-Eintritt per 20. April 1943, Vater Rektor und NSLB-Kreisamtsleiter), in: Dörr, Zeit, S. 333-376. 464 Klaus Kleinau, Im Gleichschritt, marsch! Der Versuch einer Antwort, warum ich von Auschwitz nichts wußte. Lebenserinnerungen eines NS-Eliteschülers der Napola Ballenstedt, Hamburg 1999, S. 66 f. 465 Für unter der Motivation der Verschiebung oder völligen Verhinderung einer Einberufung getätigte Parteieintritte konnten, obwohl zeitgleich anderswo so registriert, im Untersuchungsgebiet keine Anhaltspunkte gefunden werden. Vgl. Bernhard/Schäfer, Jugend, S. 83 (Wustweiler im Saarland). 209 Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort (...) noch nicht ganz Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen. Und was dann noch an Klassenbewusstsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt die Wehrmacht. Und dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort in die SA, SS und so weiter. Und sie werden nicht mehr frei, ihr ganzes Leben.“466 Im Oktober 1944 wurde seitens der NSDAP-Reichsleitung – mit Ausnahme der Kriegsversehrten – jede Aufnahmetätigkeit eingestellt. Davon betroffen war ausdrücklich auch die Kampagne zur Aufnahme von HJ-Angehörigen des Geburtsjahrganges 1928, die formell per 20. April 1945 zur Aufnahme kommen sollten, und von „im Felde stehenden“ HJ-Führern.467

466 Völkischer Beobachter, 04.12.1938, zitiert nach: Janka, Gesellschaft, S. 144 f. 467 Vgl. Weisungsblatt der NSDAP. Gau Halle-Merseburg, 15.10.1944, S. 1130.

8. „Volkspartei“ NSDAP? „Wenn nun – was in der Geschichte selten vorkommen mag – eine ganze Generation von jungen Menschen durch eine für alle gleiche, harte Jugendschule hindurchgegangen ist, so werden Millionen Einzelschicksale zu einer Jugendgemeinschaft. Es entsteht eine Menschengruppe mit einheitlicher Willens- und Wesensprägung und einer Stärke des Wollens, die sich durch millionenfache Summierung ins Außerordentliche steigern kann. Voraussetzung dazu ist Solidarität. Sie ist angelegt in der Gleichartigkeit des kollektiven Unbewußten. Deren Erkenntnis macht den Einzelnen weniger einzigartig, macht ihn kollektiver, macht ihn zum bewußten Glied einer kollektiven Macht, einer Generation als Aktionseinheit, einsatzbereit für gemeinsame Ziele.“ Zeitgenössische Darstellung (1933).468 Hinsichtlich ihrer Mitgliederstruktur ist die NSDAP von der Historiographie in jüngster Vergangenheit mehrheitlich als „Volkspartei“ beschrieben worden. Nach den in dieser Untersuchung vorgestellten Ergebnissen ist eine solche Charakterisierung für die NSDAP im Kreis Bernburg nicht haltbar, und es besteht Grund zu der Annahme, dass sie für das Deutsche Reich insgesamt unzutreffend ist. Wie anhand der detaillierten Mitgliederstatistik ausführlich dargestellt ist zeichnete für die Hinwendung zur NSDAP – auch weit über das Jahr 1933 hinaus – das Zusammenspiel von Generationszugehörigkeit und sozialer Lage verantwortlich. Der alleinige Verweis auf einen der beiden Faktoren kann das Phänomen des rasanten Aufstiegs des Nationalsozialismus nicht hinreichend erklären. Die NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg war hinsichtlich eines bestimmten Altersprofils, das zwischen 1929 und 1931 ausgeprägt wurde und bis zu dem Anfang der 40er Jahre einsetzenden Generationswechsel Bestand hatte, eindeutig definiert. In ähnlicher Weise definiert war auch das bis zum Ende des „Dritten Reiches“ Bestand habende Berufsprofil der Mitgliedschaft. Demnach stellt sich das typische NSDAP-Mitglied – in idealisierender Vereinfachung – als ein um seine Zukunftschancen kämpfender Kleinbürger mittleren Alters, ein 1900 geborener und 1937 unter merklichem Außendruck in die NSDAP eingetretener männlicher Beamter mit kaufmännischer Ausbildung aus Bernburg, dar. Bei dem Versuch einer vorurteilsfreien und systematischen Beschreibung der NSDAPMitgliedschaft im Kreis Bernburg, werden zuerst das Geschlecht und die Konfession als stärkste Merkmalsausprägungen sichtbar. Doch wo fast alle Mitglieder männlich und

468 E. Günther Gründel, Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1933, S. 13. 212 protestantisch sind, kommt diesen Aussagen nur ein geringer analytischer Gehalt zu. Anders verhält es sich mit der drittstärksten Merkmalsausprägung, der Alterszusammensetzung. Die 27 Geburtsjahrgänge von 1887 bis 1913 – ein (biologischer) Generationenabstand – bildeten nicht nur den Kern, sondern mit zwei Dritteln aller jemals in die NSDAP eingetretenen Mitglieder im Untersuchungsgebiet den Korpus der Partei.469 Die Merkmalsausprägung des Berufes zeigt sich im Vergleich dazu um einiges differenzierter und bleibt demzufolge der Alterstruktur in ihrer Bedeutung nachgeordnet. Die NSDAP ist im Untersuchungsgebiet daher als „kleinbürgerlich-nationale Generationspartei“ zu beschreiben. Diese Begriffsbildung hat gegenüber den in der Vergangenheit von der Forschung verwandten Bestimmungen „Mittelstandspartei“ oder „Volkspartei“ den Nachteil geringerer Gefälligkeit, aber den Vorteil größerer Genauigkeit, steht andererseits aber dem Begriff der „Mittelstandspartei“ näher als dem der „Volkspartei“. Die spezielle Kombination einer bestimmten Alters- mit einer bestimmten Berufsstruktur deutet auf eine kollektive Identität hin, ausgeprägt in der sozialen Abgrenzung gegen „die da unten“ und in der generationellen Abgrenzung gegen die Vätergeneration sowie im Einverständnis um gleiche Lebenserfahrungen und eine prinzipiell als gleichartig empfundene Lebenslage. Oder in konkreten Konflikten ausgedrückt: einerseits der alte Konflikt des „bürgerlichen“ resp. „nationalen“ Lagers mit dem „sozialistischen“ Lager um die politische Vorherrschaft, andererseits jedoch der die besondere Qualität der NSDAP bestimmende und faktisch nach außen gewendete, primäre neue Konflikt mit der Vätergeneration um die blockierten eigenen Zukunftschancen. Insbesondere die Charakterisierung als „kleinbürgerlich“ erlaubt es, den für eine Radikalisierung in Richtung NSDAP empfänglichen Personenkreis besser zu umschreiben als das Attribut „mittelständisch“. „Kleinbürgerlich“ meint hier sowohl Angehörige der Mittelschicht, vor allem der unteren und mittleren Mittelschicht, als auch sozial auf- und abgestiegene ehemalige Angehörige der Mittelschicht, wie auch dahin aufsteigen wollende Angehörige der Unterschicht. Dieser Begriff stellt ab auf eine gemeinsame integrierende Bewusstseinslage und ist deshalb handhabbarer als eine ausschließlich an sozialstatistischen Kriterien orientierte Begriffsbildung. Das stärkste Indiz für die Richtigkeit der Beschreibung als „kleinbürgerlich-nationale Generationspartei“ ergibt sich aus dem Eintrittsverhalten in der Aufstiegsphase der Par-

469 Siehe u. a. das Diagramm „Mit Geburtsjahr im NSDAP-Datensatz erfasste Mitglieder“ im Teil B: Dokumentation. 213 tei in der Weltwirtschaftskrise. Bildlich gesehen stellte die Expansion der NSDAP eine „Explosion“ in der regionalen Parteienlandschaft dar, und diese „Explosion“ ging von den 20 Geburtsjahrgängen von 1893 bis 1912 aus. Diese stellten im Untersuchungsgebiet 75 % der Ende 1929 registrierten Mitglieder und sogar 81 % aller Neueintritte des Jahres 1930. In der Aufstiegsphase konzentrierte sich die Mitgliedschaft im Untersuchungsgebiet des Kreises Bernburg also noch stärker auf wenige Jahrgänge als in der summarischen Darstellung über alle Eintrittsjahrgänge hinweg. Die sich anschließende Expansion der NSDAP seit 1931 ist vor allem als Expansion in die Tiefe der Generation zu verstehen. Im weiteren Verlauf des Eintrittsgeschehens sollte sich die zahlenmäßige Dominanz der Kernjahrgänge 1893 bis 1912 unter den Neueintritten erst nach 1938 allmählich verlieren, während sie in der Partei insgesamt bis zum Ende bestimmend blieben.470 Die Folge war eine zunehmende Überalterung der Partei, deren Durchschnittsalter im Untersuchungsgebiet von 32,3 Jahren Ende 1929 auf 43,1 Jahre Ende 1943 stieg, um erst danach infolge der Masseneintritte aus HJ und BDM wieder leicht abzufallen.471 Durch die Beobachtung des Eintrittsverhaltens während der Zeit des Dritten Reiches wird die beschriebene Position weiter gestärkt. Obwohl unbestritten seit 1937 allgemein gegenüber allen Leistungsträgern ein starker Eintrittsdruck bestand, zeigten sich doch wiederum in erster Linie die Angehörigen der beschriebenen Kernjahrgänge für diesen Druck empfänglich, während vor allem unmittelbar nachfolgende Jahrgänge ihm besser auszuweichen wussten oder für ihn von vornherein viel weniger empfänglich waren.472

470 Siehe die Tabelle „Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944“ im Teil B: Dokumentation. 471 Siehe die Tabelle „Statistische Kerndaten der NSDAP im Untersuchungsgebiet 1929-1944“ und das Diagramm „Durchschnittsalter der NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1921-1944“ im Teil B: Dokumentation. 472 Die stark überdurchschnittliche Organisationsneigung der Kernjahrgänge ist im übrigen nicht nur für den Kreis Bernburg, sondern auch für das umliegende Territorium nachzuweisen, wie eine Aufstellung über ehemalige NSDAP-Mitgliedschaften in der Reichsbahndirektion Magdeburg aus dem Jahre 1946 zeigt. Der Kreis Bernburg gehörte vollständig zur Reichsbahndirektion Magdeburg, die wiederum in etwa das heutige westliche Sachsen-Anhalt umfasste. Siehe das Diagramm „Anteil der ehemaligen NSDAPMitglieder unter den Beschäftigten der Reichsbahndirektion Magdeburg per 28.02.1946, geordnet nach Altersgruppen und Qualifikationsstufe“ im Teil B: Dokumentation. Sowohl in der Gruppe der Reichsbahn-Beamten als auch in der Gruppe der Reichsbahn-Arbeiter findet sich die gleiche generationsabhängige Eintrittshäufigkeit – und das unter Unterstellungsverhältnissen, die nicht von seiten einzelner Vorgesetzter, sondern systematisch von der Führung des Staatsunternehmens her den Beschäftigten in erheblichem Umfang öffentlich vorgezeigtes systemkonformes Verhalten abverlangte. Quelle der Berechnung: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. M 60, FK, Teil 1, Nr. 542, o. Bl. Gesamtzahl der berücksichtigten Reichsbahn-Beschäftigten: 24.503. Die Aufstellung in der dem Diagramm zugrunde liegenden Quelle bezieht sich auf den Stand vor Beginn der reichsbahninternen „Bereinigung“. 214 An der Berechtigung der Charakterisierung als „Generationspartei“ dürfte somit – zumindest für das untersuchte Gebiet – kaum ein Zweifel bestehen. Ebenfalls eindeutig gestaltete sich die berufliche Zusammensetzung der NSDAPMitgliedschaft im Untersuchungsgebiet, unterlag jedoch nicht einer gleichen Homogenität wie die altersmäßige Zusammensetzung. Seit 1933 fiel der Angestellten- und Beamtenanteil nicht mehr unter 50 %, 1929 blieb er nur knapp darunter.473 Einzig im Zeitabschnitt 1921/26 und unter den Neueintritten der Jahre 1930 und 1931 konnte die Partei numerisch mehr Arbeiter als Angestellte/Beamte rekrutieren.474 Die Untersuchung hat allerdings gezeigt, dass es sich hierbei vor allem um „untypische“, der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung fernstehende Arbeiter insbesondere handwerklichen Zuschnitts handelte. Insofern zeigt sich auch daran die Berechtigung des Attributes „kleinbürgerlich“ zur Charakterisierung der Gesamtpartei. Trotz des relativ starken Zuspruchs bis 1931 blieb die Arbeiterschaft auch in diesen Jahren gegenüber ihrem Anteil an der Bevölkerung deutlich unterrepräsentiert; im Falle des Zeitabschnitts 1921/26 ging der hohe Arbeiteranteil sogar einzig auf die vom Rest des Untersuchungsgebietes abweichende Mitgliederzusammensetzung im Dorf Aderstedt zurück. Insgesamt waren nach 1933 Angestellte und Beamte sowie Selbständige gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil um reichlich das Doppelte bzw. um das Doppelte überrepräsentiert, Arbeiter hingegen waren nur mit der knappen Hälfte ihres Bevölkerungsanteils vertreten und blieben somit sehr stark unterrepräsentiert. Als kompakteste Gruppe unter den NSDAP-Mitgliedern sind für die Zeit des „Dritten Reiches“ die Beamten, Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes anzusehen, die beständig ein reichliches Drittel aller Mitglieder stellten. Innerhalb des öffentlichen Dienstes ist denn auch – bis zu einem Spitzenwert von fast zwei Dritteln aller Beschäftigten im Finanzamt Bernburg – eine ungleich höhere Sättigung mit Parteimitgliedern festzustellen als in der Privatwirtschaft. Insgesamt scheinen die für den Kreis Bernburg gewonnenen Ergebnisse hinsichtlich der verstärkten Anfälligkeit von Angestellten und Beamten im Allgemeinen und von Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Besonderen auch in einem größeren regionalen Maßstab verallgemeinerbar zu sein.475

473 Siehe das Diagramm „Soziale Zugehörigkeit der NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1929- 1944“ im Teil B: Dokumentation. 474 Siehe die Tabelle „Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1929-1944“ im Teil B: Dokumentation. 475 Eine vom 15. Oktober 1945 datierende Personalstatistik der Reichsbahndirektion Magdeburg, zu der der Kreis Bernburg gehörte, weist einen Anteil von 33-37 % Parteimitgliedern unter den Beamten, jedoch 215 Die starke Vertretung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der Partei geht auf die mit den verschiedenen Eintrittswellen insbesondere seit 1932 sich wandelnden dominierenden Eintrittsmotivationen zurück. Im Vergleich zu späteren Jahren waren bis einschließlich 1931 die numerisch noch relativ bescheiden ausfallenden Eintritte vorwiegend ideologisch begründet, oftmals gepaart mit stark entwickeltem Geltungsbewusstsein und Verzweiflung über die eigene – oft von Aufstiegshemmung, Zurücksetzungen und Arbeitslosigkeit geprägte oder bedrohte – wirtschaftliche Lage. 1932/33 kam es hier in der ersten Masseneintrittswelle zu einem grundlegenden Wandel, jetzt stießen Personen zur Partei, die sich in vorauseilendem Gehorsam übten, um ihre erworbene Parteimitgliedschaft später in persönliche Vorteile umsetzen zu können. Die faktische Aufhebung der seit dem 1. Mai 1933 bestehenden „Mitgliedersperre“ bescherte der NSDAP 1937/38 die größte Eintrittswelle ihrer Geschichte, jetzt in der Regel ausgehend von Personen, die der Überzeugung waren, persönliche Nachteile erleiden zu müssen, wenn sie sich dem meist sehr entschieden an sie herangetragenen Ansinnen zum Parteibeitritt verweigerten. Letztendlich gab es unter den in diesen Masseneintrittswellen beigetretenen NSDAP-Mitgliedern nur einen geringen Prozentsatz tatsächlich überzeugter Nationalsozialisten; jedoch einen übergreifenden nationalistischantidemokratischen Grundkonsens. Die Parteieintritte seit 1932 sind zu einem großen Teil mit der individuellen Erpressbarkeit aufgrund der Aufstiegshemmung vor und der Arbeitslosigkeitserfahrung während der Weltwirtschaftskrise in Verbindung zu setzen. Tatsächlich Bedrohte oder sich bedroht Fühlende hinterfragten in der Regel nicht, ob hinter der Drohung auch eine reale Macht stand. Bemerkenswerterweise ging die Organisationsneigung dann innerhalb der Geburtsjahrgänge der 1913 und später Geborenen zurück, die durch späten Berufseintritt die Erfahrungen der Massenarbeitslosigkeit und der kollektiven Aufstiegshemmung, aber zuvor auch schon die Erfahrung der Nachkriegsnot, persönlich nur noch in einem wesentlich geringeren Umfang machen mussten. Im Bereich der gewerblich Angestellten ist für das Jahr 1930 zudem belegt, dass die Kernjahrgänge in gleichem Maße sowohl unter den NSDAP-Mitgliedern als auch unter den arbeitslosen Angestellten überproportional vertreten waren. Auch der seit 1937 stark ausgeprägte Beitrittsdruck vermochte nicht, die bestehende Fixierung der Parteimitgliedschaft auf die Jahrgänge

nur 12-14 % unter den Arbeitern, in der Summe 24-27 % auf. Auch zwischen den verschiedenen Beamtenkategorien ist ein starker Anstieg der Mitgliedschaftsrate mit steigender Funktionshöhe bis hin zu einer nahezu vollständigen Organisierung an der Spitze zu beobachten. Siehe Tabelle „Personalstatistik der Reichsbahndirektion Magdeburg per 15.10.1945“ im Teil B: Dokumentation. 216 vor und nach der Jahrhundertwende hin zu einer relativ gleichmäßigen Vertretung aller Altersstufen in der Partei einzuebnen. Selbst unter den Reichsbahnbeschäftigten, die sich – nach den vorliegenden Quellen zu urteilen – diesem Druck am stärksten ausgesetzt sahen, hatte die spezifische Altersstruktur der NSDAP bis zum Ende des „Dritten Reiches” Bestand. Erstmals 1939 und dann wieder seit 1941 erfolgten im Untersuchungsgebiet weniger als die Hälfte aller Neueintritte aus den beschriebenen zwanzig Geburtsjahrgängen 1893 bis 1912.476 Zeitgenössische Literatur und historische Forschung sind sich weitestgehend einig darin, dass den im Umfeld des Weltkrieges durch die junge Generation erlittenen Prägungen eine herausragende Bedeutung bei der Radikalisierung in der Weltwirtschaftskrise zukam. Weiterhin wird versucht, diese Generation in mehrere Teil-Generationen aufzusplitten und insbesondere der „Kriegsjugendgeneration“ der Geburtsjahrgänge 1901 bis 1910 gegenüber der zwischen 1890 und 1900 geborenen „jungen Frontgeneration“ und der „Nachkriegsgeneration“ der nach 1910 Geborenen einen besonderen Rang auch hinsichtlich der Anfälligkeit für eine NSDAP-Mitgliedschaft zuzuweisen. Erklärt wird die auch in dieser Studie nachgewiesene zentrale Rolle dieser Jahrgangsgruppe mit deren Sozialisierung in der Not der Nachkriegszeit und einer Überantizipation des kriegerischen Gedankens.477 Für das Untersuchungsgebiet kann eine solche kurze und scharf abgegrenzte Generationenabfolge nicht bestätigt werden. Vielmehr handelt es sich im Untersuchungsgebiet ausweislich des ermittelten Eintrittsverhaltens in die NSDAP um eine etwa 27 Geburtsjahrgänge umfassende Generation der zwischen 1887 und 1913 Geborenen, die sich

476 Siehe die Diagramme „Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder unter den Beschäftigten der Reichsbahndirektion Magdeburg per 28.02.1946, geordnet nach Altersgruppen und Qualifikationsstufe“ und „Mit Geburtsjahr im NSDAP-Datensatz erfasste Mitglieder“ im Teil B: Dokumentation. 477 Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich auch zeitgenössische Beobachter von der kompakten Präsenz dieser geburtenstärksten und durch die Kriegsverluste der vorhergehenden Jahrgänge numerisch weiter aufgewerteten Gruppierung in der (männlichen) Alterspyramide haben beeindrucken lassen. Zwischen den Autoren besteht keineswegs Einigkeit über die genaue jahrgangsmäßige Abgrenzung dieser veranschlagten Teilgenerationen. Vgl. beispielhaft E. Günther Gründel, Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1933, S. 22-63; Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart-München 2000; Irmtraud Götz von Olenhusen, Jugendreich, Gottesreich, Deutsches Reich. Junge Generation, Religion und Politik 1928-1933, Köln 1987, S. 26, 31. Gründel bietet sogar zwei Strukturierungsvarianten an. Vgl. Gründel, Sendung, S.61 f. Peukert sieht – unter Konzentration auf die Wirkungen der Weltwirtschaftskrise – innerhalb des gegebenen Rahmens zwei Generationen, eine „Frontgeneration“ („Jahrgang 1896“) und eine „überflüssige Generation“ („Jahrgang 1914“). Vgl. Peukert, Alltagsleben, S. 143 ff. Walter Jaide, Generationen eines Jahrhunderts. Wechsel der Jugendgenerationen im Jahrhunderttrend. Zur Sozialgeschichte der Jugend in Deutschland 1871-1985, Opladen 1988, ignoriert die dargestellte Generationsbildung. Stambolis, Mythos, referiert lediglich die zeitgenössischen Diskussionen. 217 1933 im Alter von 21 bis 46 Jahren befanden, einen tatsächlichen (biologischen) Generationenabstand also. Zudem ist der Höhepunkt der Eintrittsbewegung in die NSDAP – sowohl absolut als auch relativ – am Übergang von der „jungen Frontgeneration“ zur „Kriegsjugendgeneration“ zu verzeichnen. Die auch innerhalb der Generation zwischen verschiedenen Geburtsjahrgängen sowie verschiedenen Lebenslagen unterschiedlichen Erfahrungen aus Krieg und Nachkrieg haben zweifellos zur Radikalisierung – in diesem Falle des „nationalen“ Lagers – beigetragen, sie haben den Aufstieg der NSDAP erleichtert, aber sie erklären ihn nicht hinreichend, weder für die Generation in ihrer Summe noch für einzelne ihrer Jahrgangsgruppen. Die radikalisierende, eintrittsrelevante gemeinsame Erfahrung der NSDAP-Mitglieder und damit auch der gesamten („bürgerlichen“) Jugendgeneration ist nicht primär im Umfeld des Weltkrieges, sondern in ihrer sozialen Stellung und deren kollektiver Reflexion vor und in der Weltwirtschaftskrise zu suchen. Aber: Als übergreifende Disposition der dargestellten drei Teilgenerationen steht die lebensgeschichtlich auf Krieg und Nachkrieg zurückgehende extreme Verunsicherung. Eine Verunsicherung, die ohne Hinzutreten weiterer Umstände – sprich: dem massenhaften Zusammenbrechen von Zukunftshoffnungen in der Weltwirtschaftskrise – sich nicht zwingend in politische Radikalisierung hätte umsetzen müssen. Dass die Radikalisierung im „nationalen“ Lager stärker ausfiel als im „sozialistischen“ hat allgemein wohl auch mit dem zwischen den Lagern zeitverschobenen Generationswechsel in den Führungspositionen zu tun; die SPD war in ganz Anhalt nach wie vor in der Hand der Gründergeneration der 1890er Jahre, die generationelle Erneuerung war steckengeblieben, die deutlich jüngere KPD – vollkommen anders als die NSDAP auf der „nationalen“ Seite – nur von untergeordneter Bedeutung. Auf die höhere „Gewöhnung“ vieler Arbeitergruppen an Zeiten von Arbeitslosigkeit sei nur noch einmal am Rande hingewiesen. Der Sondereffekt, dass zwischen 1929 und 1931 die proletarischen Neumitglieder im Gegensatz zu den „bürgerlichen“ Neumitgliedern sogar mehrheitlich aus den Geburtsjahrgängen 1901 bis 1910 kamen und sich auch nachfolgend stärker in diesen Jahrgängen konzentrierten,478 erklärt sich wiederum aus den Besonderheiten ihrer Erwerbsbiographie. Arbeiter wurden in einem Alter schon mit dem sich verengenden Arbeitsmarkt konfrontiert als sich ihre „bürgerlichen“ Altersgenossen noch in der Ausbildung befan-

478 Siehe das Diagramm „Anteil der Geburtsjahrgänge 1901 bis 1910 unter den in die NSDAP im Untersuchungsgebiet eintretenden Personen nach Eintrittsjahrgängen und sozialer Zugehörigkeit“ im Teil B: Dokumentation. 218 den. Infolge dieser Differenz wie auch infolge familiärer Abhängigkeiten auf der „bürgerlichen“ Seite waren Arbeiter früher politisch mündig als junge Angestellte oder gar noch sehr lange vom Elternhaus abhängige Studenten479 und kamen auch deshalb früher für eine NSDAP-Mitgliedschaft in Frage. Der Entwicklungsunterschied scheint – nach dem auch nach 1933 fortbestehenden Unterschied in der Altersverteilung zu urteilen – auch späterhin seine Bedeutung nicht verloren zu haben. Es wäre daher zu erwägen, die „NSDAP-Generation“ nicht anhand ihres Lebensalters, sondern anhand ihres Berufseintrittsalters zu definieren. Für die zahlenmäßig erheblichen Eintritte von Arbeitern in die NSDAP vor 1933 ist zudem die Wechselwirkung zweier sich im gleichen Zeitraum vollziehender Entwicklungen verantwortlich zu machen: 1. die Umorientierung innerhalb des „nationalen“ („bürgerlichen“) politischen Lagers im Generationenwechsel und 2. die Ausdehnung dieses politischen Lagers auf Kosten des „sozialistischen“ („proletarischen“) politischen Lagers seit 1928. Im Ergebnis dieser Prozesse speiste sich auch der Zulauf an proletarischen Mitgliedern zur NSDAP vor 1933 aus zwei verschiedenen Quellen. Einerseits handelte es sich um schon von jeher der sozialistischen Arbeiterbewegung fernstehende Arbeiter (auch solche, die ihrem eigenen Verständnis nach keine Arbeiter waren, wie z. B. die Söhne von selbständigen Handwerksmeistern). Anderseits gingen auch Arbeiter, die selbst oder deren Familien zuvor dem „sozialistischen“ Lager zuzurechnen waren, zur NSDAP über. In Bernburg waren dies vor allem hochqualifizierte Arbeiter in exklusiver Stellung. Im Landkreis Bernburg jedoch scheint die NSDAP vor allem unter den am Wohnort beschäftigten, nicht auspendelnden Arbeitern Mitglieder (und Wähler) gewonnen zu haben. Auch diese hingen bis dahin vor allem der SPD an, waren aber erst nach 1900 oder gar erst 1918 politisiert worden.480 Die Hoffnungen, die in die nutzenorientierten Parteibeitritte seit 1932 gesetzt worden waren, erfüllten sich in der Regel nicht. Mit einer Parteimitgliedschaft waren kaum Vorteile zu erzielen, genauso wenig ließen sich vermeintlich oder tatsächlich drohende Nachteile abwenden. Sie stellte im „Dritten Reich“ letztlich oftmals nur eine weitere vorgeschaltete formale Bedingung dar, deren Erfüllung kaum einen Einfluss auf die nachfolgende fachliche Selektion, z. B. von Bewerbern in einem Auswahlverfahren,

479 Siehe auch das in Kapitel 5 wiedergegebene „Schreiben des Bernburger Rechtsanwalts Werner M. per 31. Mai 1937 an Prof. N. in Halle“. 480 Ob der unter dieser Arbeitergruppe eher mögliche direkte Zugriff der lokalen Arbeitgeber zu einem verstärkten Zulauf zur NSDAP führte, hat sich für das Untersuchungsgebiet nicht klären lassen. 219 hatte. Die NSDAP war somit definitiv keine „Karrieremaschine“, konnte es auch infolge der massenhaften Mitgliedschaft objektiv nicht sein. Anfangs der 40er Jahre begann die NSDAP-Reichsleitung mit der planvollen Aufnahme der gerade erwachsen werdenden HJ- und BDM-Führer und –Führerinnen den Generationswechsel zu steuern. Diese jungen Neumitglieder, sozialisiert im „Dritten Reich“ und großenteils wohl selbst Kinder von NSDAP-Mitgliedern, hatten in der Frage der Parteimitgliedschaft in der Regel keine Konflikte auszutragen, sie standen ihr völlig unkritisch resp. „überzeugt“ gegenüber. Letztendlich war im Vollzug dieser letzten Eintrittswelle in den 40er Jahren im Untersuchungsgebiet annähernd jeder fünfte erwachsene Mann Mitglied der NSDAP. Die einzige gravierende Veränderung in der Zusammensetzung der NSDAPMitgliedschaft im Untersuchungsgebiet bildete der starke Zuwachs an weiblichen Mitgliedern seit 1937. Hatten diese bis dahin in der Partei mit einem für „bürgerliche“ Parteien eher typischen Anteil von etwa einem Zwanzigstel der Mitgliedschaft nur eine marginale Rolle gespielt, so wurde 1937 die Eintrittsbeschränkung auf 5 % der Mitgliedschaft fallengelassen. Der daraufhin bis auf ein reichliches Drittel beständig steigende Anteil v. a. jüngerer Frauen unter den Neueintritten führte zu einer Erhöhung ihres Anteils an der Gesamtmitgliedschaft bis auf knapp 15%. Diese Erhöhung war (partei-)administrativ herbeigeführt und im Falle der 1944 eingetretenen Geburtsjahrgänge 1926 und 1927 sogar auf ein Zehntel des jeweiligen Geburtsjahrgangs quotiert worden. Die bisherige wissenschaftliche Diskussion über den sozialen Charakter der NSDAP weist eine eigenartige Schieflage auf: anstatt sich zuerst für die Zusammensetzung der Mitgliedschaft zu interessieren, haben es die meisten Forscher vorgezogen, die NSDAP soziologisch in erster Linie über ihre Wählerschaft zu definieren.481 Wenn Mitgliedsda-

481 Beispielhaft für dieses Vorgehen, das teilweise auch der Quellenlage und -zugänglichkeit sowie dem für solche Forschungen zu betreibenden Aufwand geschuldet ist, stehen Detlef Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen, Bonn 1998, sowie die Beiträge in: Detlev Heiden und Gunther Mai (Hg.), Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar u. a. 1995; Clemens Vollnhals (Hg.), Sachsen in der NS-Zeit, Leipzig 2002. Auch die ansonsten hervorragenden Arbeiten von Allen und Pyta liefern keine genauen Analysen der NSDAP-Mitgliedschaft in den von ihnen untersuchten Bereichen. Vgl. Allen, Machtergreifung; Pyta, Dorfgemeinschaft. Während Allen seinerzeit unter dem bekannten Quellenproblem litt bleibt bei Pyta die NSDAP-Parteimitgliedschaft unkonturiert, er geht an keiner Stelle – mangels vorliegender Detailstudien und mangels eigener exemplarischer Nachforschung – auf konkrete NSDAP-Mitgliedschaftsstrukturen in den von ihm untersuchten industriefreien protestantischen Dörfern ein und fällt insofern hinter die ausgezeichnete Arbeit von Caroline Wagner zurück. Vgl. Wagner, NSDAP. 220 ten ausgewertet werden begnügen sich die Verfasser in der Regel mit einer exemplarischen Darstellung zu Zeitpunkten günstiger Quellenlage; generell vermisst man – mit einer Ausnahme482 – die prozesshafte Betrachtung. Es konnte keine Untersuchung ermittelt werden, die die Zusammensetzung lokaler bzw. regionaler NSDAPMitgliedschaften von der Gründung der Partei bis 1945 lückenlos auf statistischer Grundlage nachzeichnet. Im Gegensatz zu der hier für den Kreis Bernburg begründeten Charakterisierung der NSDAP als „kleinbürgerlich-nationale Generationspartei“ schrieb die Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten der NSDAP mehr oder minder deutlich den Charakter einer „Volkspartei“ zu.483 Die Umschreibungen reichen dabei von einer „gleichsam volkspar-

482 Vgl. Martin Hille, Zur Sozial- und Mitgliederstruktur der Passauer NSDAP in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Winfried Becker (Hg.), Passau in der Zeit des Nationalsozialismus. Ausgewählte Fallstudien, Passau 1999, S. 9-42. 483 Eine Auswahl: Helmut K. Anheier und Friedhelm Neidhardt, Soziographische Entwicklung der NSDAP in München 1925 bis 1930, in: München - „Hauptstadt der Bewegung”, München 1993, S. 179- 186; Helmut Anheier und Thomas Ohlemacher, Aktivisten, Netzwerke und Bewegungserfolg: Die „Einzelmitglieder“ der NSDAP, 1925-1930, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48 (1996), S. 677-703; Albrecht Bald, Porzellanarbeiterschaft und punktuelle Industrialisierung in Nordostoberfranken. Der Aufstieg der Arbeiterbewegung und die Ausbreitung des Nationalsozialismus im Bezirksamt Rehau und in der kreisfreien Stadt Selb 1895-1936, Bayreuth 1991; Martin Broszat, Der Staat Hitlers, München 1978; Jürgen W. Falter, Die „Märzgefallenen“ von 1933. Neue Forschungsergebnisse zum sozialen Wandel innerhalb der NSDAP-Mitgliedschaft während der Machtergreifungsphase, in: Geschichte und Gesellschaft, 24 (1998), S. 595-616; Jürgen W. Falter und Michael H. Kater, Wähler und Mitglieder der NSDAP. Neue Forschungsergebnisse zur Soziographie des Nationalsozialismus 1925 bis 1933, in: Geschichte und Gesellschaft, 19 (1993), S. 155-177; Jürgen W. Falter und Detlef Mühlberger, The Anatomy of a Volkspartei: The Sociography of the Membership of the NSDAP in Stadt- and Landkreis Wetzlar, 1925-1935, in: Historical Social Research, 24 (1999), No. 2, S. 58-98; Jürgen W. Falter und Christa Niklas-Falter, Die parteistatistische Erhebung der NSDAP 1939. Einige Ergebnisse aus dem Gau Groß-Berlin, in: Nipperdey, Thomas u.a. (Hg.), Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Festschrift zum 70. Geburtstag, Frankfurt/Main-Berlin 1993, S. 175-203; Wilhelm Frenz u. a. (Hg.), Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945, Bd. 2: Studien, Fuldabrück 1987, v. a. S. 48-57; Elke Fröhlich und Martin Broszat, Politische und soziale Macht auf dem Lande. Die Durchsetzung der NSDAP im Kreis Memmingen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 25 (1977), S. 546-572; Rainer Hambrecht, Der Aufstieg der NSDAP in Mittel- und Oberfranken (1925-1933), Nürnberg 1976; Eike Hennig (Hg.), Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt am Main 1983; Michael H. Kater, Sozialer Wandel in der NSDAP im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Göttingen 1983, S. 25-67; Michael H. Kater, The Nazi Party. A Sozial Profile of Members and Leaders 1919-1945, Cambridge (Mass.) 1983; Michael H. Kater, Zur Soziographie der frühen NSDAP, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 19 (1971), S. 124-159; Jens Montenbruck, Zwischen Demokratie und Diktatur. Der Aufstieg der Hagener NSDAP 1930-34, Essen 1991; Detlef Mühlberger, Hitler’s Followers. Studies in the sociology of the Nazi mouvement, London und New York 1991; Karl-Heinz Rothenberger, Die NSDAP in der Pfalz. Sozialstruktur der Partei nach der Parteistatistik von 1935, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, 12 (1986), S. 199-211; Lawrence D. Stokes, Kleinstadt und Nationalsozialismus. Ausgewählte Dokumente zur Geschichte von Eutin 1918-1945, Neumünster 1984; Wolfgang Schieder (Hg.), Die NSDAP als faschistische „Volkspartei“, Geschichte und Gesellschaft, 19 (1993), Heft 2; Klaus Tenfelde, Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900 bis 1945, in: Martin Broszat u. a. (Hg.), Bayern in der NS-Zeit IV. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil C, München und Wien 1981, S. 1-382, hier S.198-201; Caroline 221 teiliche[n] Struktur“,484 über „volksparteiliche Sammlungsbewegung, die als einzige der Weimarer Parteien sozial heterogene Massen integrieren konnte“,485 bis hin zu „eine[r] Art Volks- oder Massenintegrationspartei, die im innersten Kern von den Mittelschichten gestützt wurde“.486 1993 erschien sogar ein Themenheft der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ unter dem Leitthema „Die NSDAP als faschistische ‚Volkspartei‘“.487 Und schließlich erklären Falter und Mühlberger in einer der jüngsten zum Thema erschienenen Studien die NSDAP schon im Titel apodiktisch zur „Volkspartei“.488 So verwundert es dann auch nicht, dass ein Versuch Mühlbergers, alle bisherigen Forschungen zur Sozialstruktur der NSDAP bis 1933 zusammenzufassen, mit der Schlussfolgerung endet: „The NSDAP was indeed what the Nazis claimed it to be, a Volkspartei, not a class or middle-class affair.“489 Als Begründung für diese Charakterisierungen muss in erster Linie die zahlenmäßig starke Präsenz von Arbeitern in der Partei – vor allem vor 1933 – herhalten. Unter einer Volkspartei wird gemeinhin eine Partei verstanden, deren Programmatik breiteste Bevölkerungskreise anspricht und auf dem Wege des politischen Kompromisses über geeignete Koalitionen wirtschaftlichen und sozialen Interessenausgleich, allerdings um den „Preis“ einer deutlichen Entideologisierung, anstrebt. Dieses Bemühen um Ausgleich soll sich im Falle positiver Resonanz – so die Modellvorstellung – auch in einer ausgewogenen, der Bevölkerungszusammensetzung entsprechenden Zusammensetzung der Wählerschaft und der Parteimitgliedschaft äußern. Eine Einstufung der NSDAP als „Volkspartei“ verbietet sich schon von vornherein aufgrund ihres gewalttätigen, Kompromisse und Koalitionen negierenden Politikstils. Doch auch unter der alleinigen Herausstellung des Aspektes der Mitgliedschaftszusammensetzung ist festzu-

- Wagner, Die NSDAP auf dem Dorf. Eine Sozialgeschichte der NS-Machtergreifung in Lippe, Münster 1998; Heinrich August Winkler, Mittelstandsbewegung oder Volkspartei? Zur sozialen Basis der NSDAP, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung, Göttingen 1983, S. 97-118. 484 Broszat, Staat, S. 50. 485 Wolfgang Schieder, Die NSDAP vor 1933. Profil einer faschistischen Partei, in: Geschichte und Ge sellschaft 19 (1993), S. 152. 486 Falter/Kater, Wähler, S. 155. 487 Wolfgang Schieder (Hg.), Die NSDAP als faschistische „Volkspartei“, Geschichte und Gesellschaft, 19 (1993), Heft 2. 488 Falter/Mühlberger, Anatomy, S. 58. 489 Detlef Mühlberger, The social bases of Nazism 1919-1933, Cambridge 2003, S. 80. 222 stellen, dass eine Charakterisierung der NSDAP als „Volkspartei“ die Verhältnisse im Kreis Bernburg nicht adäquat widerspiegelt. Manstein hat den Versuch unternommen, die auf Ebene des Deutschen Reiches vorliegenden und sich stark auf die Phase des Aufstiegs der NSDAP bis zur Machtübernahme 1933 konzentrierenden Forschungen zu ihrer Sozialstruktur über die verschiedenen Ansätze und Kategorisierungen hinweg zu vergleichen. Im Ergebnis dieses Vergleichs konstatiert er allenthalben methodische Schwächen: „Auf der quantitativen Forschungsebene begegnet man vielfach einer methodischen Nonchalance, die häufig die Ergebnisse in Frage stellt. Gravierende Fehler werden oft jahrzehntelang einfach fortgeschrieben. Dazu paßt, daß es häufig an der Transparenz und Nachvollziehbarkeit der methodischen Vorgehensweise mangelt, so daß die Aussagekraft und die Beschränkungen der Ergebnisse nicht klar werden.”490 Mansteins Einschätzung bezieht sich vor allem auf die Komplexe Repräsentativität der Quellen, die aufgrund von Selbsteinschätzungen getroffenen Berufsangaben, die Kategorisierung der Berufsbezeichnungen,491 die innerparteiliche Fluktuation, den sozialstatistischen Vergleichsmaßstab und letztendlich die Vergleichbarkeit mit anderen Arbeiten. Die Kritik Mansteins ist noch dahingehend zu ergänzen, dass die Zahl der Arbeiten zur NSDAP-Mitgliederstruktur nach wie vor zu gering ist.492 Trotz dieser Kritik kommt die Forschungsliteratur – weitgehend kompatibel mit den in dieser Untersuchung für den Kreis Bernburg vorgestellten Daten – in der Summe zu einem relativ einheitlichen Ergebnis: Sofern nicht Teile der Arbeiterschaft der Mittelschicht zugeschlagen werden steht einer sehr starken bis starken Unterrepräsentanz der Unterschicht eine starke bzw. sehr starke Überrepräsentanz der Mittelschicht und der Oberschicht in der NSDAP gegenüber. Innerhalb der Unterschicht ist vor allem zwischen durchgängig stark unterrepräsentierten ungelernten Arbeitern und in den einzelnen Jahren jeweils schwach bis stark überrepräsentierten Facharbeitern zu unterscheiden. Eine Einstufung der NSDAP als „Volkspartei“ ist mit diesem Befund jedoch nicht

490 Peter Manstein, Die Mitglieder und Wähler der NSDAP 1919-1933. Untersuchungen zu ihrer schichtmäßigen Zusammensetzung, 3. Auflage, Frankfurt am Main u. a. 1990, S. 202; vgl. auch S. 102- 164. 491 Die (ältere) Kritik Mansteins gilt auch für die jüngeren Arbeiten Mühlbergers. Diese scheiden wegen unklarer Kategorisierungen und damit gegebener großer Verzerrungswahrscheinlichkeit des Ergebnisses als Vergleichsmaßstab zu der hier vorliegenden Studie aus. Vgl. Mühlberger, Followers, S. 20-25. 492 Michael Ruck, Bibliographie zum Nationalsozialismus, Darmstadt 2000, S. 912-974, verzeichnet lediglich etwa 70-80 Titel (incl. Lokal- und Regionalstudien und Serienveröffentlichungen gleicher Autoren), die sich der Analyse der Mitgliederstruktur der NSDAP widmen. 223 vereinbar. Lediglich wenn man die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung aus dem Fokus verbannt läßt sich der Anschein einer Volkspartei herbeidefinieren. Zudem deutet sich bei vergleichender Einbeziehung der zahlreichen regionalgeschichtlichen Arbeiten an, dass in großindustriellen und (frei)gewerkschaftlich durchorganisierten Gebieten nicht nur die NSDAP relativ schwach blieb,493 sondern auch die Unterrepräsentanz der Arbeiterschaft in der Parteimitgliedschaft zunahm. Somit wäre – den Generationenaspekt an dieser Stelle außerhalb der Betrachtung gelassen – eher von einer Bipolarität des Sozialcharakters der NSDAP auszugehen: volksparteiliche Sammlungsbewegung in der Diaspora der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung jedoch Mittelstandspartei in deren Hochburgen. Geringe Ansätze dieser sozialstrukturellen Bipolarität sind auch im Kreis Bernburg in Form einer Entgegensetzung von Kreisstadt und Dörfern erkennbar, doch keinesfalls berechtigen diese Ansätze dazu, die NSDAP in ihrer Gesamtheit als „Volkspartei“ im Sinne einer relativ gleichmäßigen Vertretung aller sozialen Schichten in der Partei zu sehen. Es ist zu vermuten, dass dieser dargestellte Zusammenhang für das Deutsche Reich insgesamt gültig ist. Falter und Mühlberger z. B. kommen in ihrer Studie zu Stadt und Landkreis Wetzlar, einem Gebiet, das eine ähnliche Strukturierung aufzuweisen hatte wie der Kreis Bernburg, zu analogen Aussagen. Auch bei ihnen ist – vollkommen kompatibel mit den Ergebnissen für den Kreis Bernburg – die NSDAP männlich, protestantisch, von einer Generation dominiert, unter den Arbeitermitgliedern jünger als im Durchschnitt der Mitgliedschaft, in der Kreisstadt eindeutig eine Angelegenheit der Mittelschicht, im Landkreis dagegen unter einer großen Streuung mehrheitlich proletarisch. Trotzdem erklären sie die NSDAP apodiktisch schon im Titel der Untersuchung zur „Volkspartei“, obwohl die von ihnen vorgestellten Zahlen zumindest erhebliche Zweifel an dieser Sichtweise bestehen lassen. 494 Es werden bei der Einstufung der NSDAP als „Volkspartei“ im allgemeinen – nicht nur von Falter und Mühlberger – drei entscheidende Umstände nicht beachtet:

493 Vgl. Broszat, Staat, S. 52. 494 Falter und Mühlberger stellen fest, dass die NSDAP von Seiten der Berufsstruktur ihrer Mitgliedschaft in der Stadt Wetzlar einen eindeutig mittelständischen und im Landkreis Wetzlar einen eindeutig proletarischen Charakter (bei allerdings großer Streuung) aufzuweisen hatte, und stehen ratlos vor diesem Ergebnis: „The infinite variety in the social configuration of Nazi Party branches in a region in which such factors as religion, economic structure and community size were broadly comparable is difficult to explain.“ Falter/Mühlberger, Anatomy, S. 89. 224 1. Von einem nennenswerten Anteil an Arbeitern unter den NSDAP-Mitgliedern wird in der Regel auf die Berechtigung des Begriffes „Volkspartei“ geschlossen. Dabei wird jedoch vernachlässigt, dass die Arbeiterparteien selbst mit ihrer Wählerschaft zu keiner Zeit (vielleicht lokal mit Ausnahme der Wahlen im Umfeld der Novemberrevolution 1918) das ihnen theoretisch „zustehende“ Potential, die Gesamtheit aller Arbeiter, ausschöpfen konnten.495 In der vorliegenden Literatur wird es durchweg unterlassen, die NSDAP im jeweils bestehenden lokalen, regionalen bzw. nationalen Parteiensystem auch mitgliederstatistisch zu verorten, bevor eine Bewertung ihres Charakters vorgenommen wird. Wie die Aufstellung für die Stadt Bernburg 1931 zeigt, hatten die gegnerischen Parteien aber zu allen Zeiten auch eine messbare Arbeitermitgliedschaft aufzuweisen.496 Diese von jeher von der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung nicht erfassten, in der Weimarer Zeit teilweise „bürgerlichen“ Arbeiterorganisationen (den „HirschDunckerschen“, den „Christlichen“, dem „Nationalen Arbeiterbund“ etc.) anhängenden Arbeiter sind denn auch überproportional relativ früh hinter der NSDAP zu vermuten. Und schließlich ist immer wieder darauf hinzuweisen, dass Söhne von selbständigen Handwerksmeistern z. B. zwar sozialstatistisch in der Regel als „Arbeiter“ gezählt wurden, ihrer gesellschaftlichen Zuordnung und der Selbsteinschätzung nach es aber nicht waren, relativ unabhängig davon, ob sie Aussicht hatten, den väterlichen Betrieb einmal zu übernehmen. Es bleibt festzuhalten, dass die Lagergrenzen zu keiner Zeit den sozialstatistischen bzw. versicherungsrechtlichen Abgrenzungen folgten. 2. Die Grenzen zwischen den politischen Lagern befanden sich zu allen Zeiten im Fluss, wurden permanent neu ausgekämpft, was jeweils auch Auswirkungen auf die konkrete Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften hatte. In homogen protestantischen Gebieten wie dem Kreis Bernburg zeigte sich dies vor allem in Veränderungen der Arbeiter- und Angestelltenanteile, in gemischtkonfessionellen Gebieten kam der Religionsaspekt noch hinzu. 3. Die Lagergrenzen waren mit steigender Ortsgröße tendenziell stärker umkämpft. Dieser Fakt erklärt auch, warum es über alle regionalgeschichtlichen Untersuchun-

495 Vgl. für die untersuchte Region Kupfer, Sozialdemokratie, S. 206-209. 496 Eine Volkspartei – in ihrer Zusammensetzung nach formalen sozialstatistischen Kriterien – war in Bernburg lediglich die Zentrumspartei, für deren Mitgliederrekrutierung infolge ihrer konfessionellen Ausrichtung die für die anderen Parteien maßgeblichen Faktoren sozialer Status und gesellschaftliche Geltung eher nachrangig blieben. Siehe Kapitel 4. 225 gen hinweg den Anschein hat, als wenn die NSDAP besonders im ländlichen Raum viel eher nach sozialstatistischen Kriterien zur „Volkspartei“ werden konnte, während dieser Zustand z. B. in Berlin nie zur Diskussion stand.497 Aufgrund der schwächeren Befestigung des „sozialistischen“ Lagers im ländlichen Raum gelang es der NSDAP dort mehr und eher als in Klein- oder Großstädten, die Lagergrenze zu verschieben.498 Zudem griffen oftmals die älteren Muster der Familienzugehörigkeit bzw. des bäuerlichen Eigentümerbewusstseins noch eher als die formale Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit. Diese älteren Muster lassen dann auch die an städtischen Verhältnissen orientierte sozialstatistische Einteilung in Unter-, Mittelund Oberschicht für ländliche Verhältnisse zumindest als problematisch erscheinen. Die Festlegung auf den vermeintlichen volksparteilichen Charakter der NSDAP ist nicht zuletzt Resultat der geringen Forschungsintensität auf dem Gebiet der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Partei für den Zeitraum seit 1933, für den nur wenige Studien vorliegen. Kater zeigt, dass seit 1933 ein zur volksparteilichen Entwicklung gegenläufiger Trend bestand, die Unterrepräsentanz der Arbeiter weiter zunahm.499 Auch Falter und Niklas-Falter kommen in ihrer Untersuchung der Berliner NSDAP-Mitgliedschaft im Jahre 1939 zu ähnlichen Ergebnissen und halten diese – in Anlehnung an Ernst Nolte – auf der Basis eines sehr weit gefassten Kleinbürgerbegriffs für „eine aus allen Schichten gespeiste kleinbürgerliche Bewegung“.500 Festzuhalten bleibt: Die NSDAP war zu keiner Zeit eine „Volkspartei“ oder gar eine „Omnibuspartei“, in der jeder mitfahren durfte, konnte oder gar wollte. Bleibt man innerhalb des letzten Bildes, so ist festzustellen, dass viele schnell vorankommen wollten und glaubten, dieses Beförderungsmittel dazu unbedingt benutzen zu müssen. Andere wollten die ersteren nicht aus dem Blick verlieren und mussten deshalb mit einsteigen.

497 Vgl. Falter/Niklas-Falter, Erhebung, S. 175-203. 498 „Diese relative Resistenz [gegen den Nationalsozialismus – T. K.] beruhte aber nicht primär darauf, daß sie Arbeiter waren: sondern ausschlaggebend war die Einbindung in eine bestimmte Weltanschauung und damit die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozio-kulturellen Milieu. Gegen den Nationalsozialismus immunisierte also nicht eine bestimmte Klassenlage, sondern allenfalls deren Interpretation durch prägende weltanschaulich-politische Grundüberzeugungen.“ „Da aber, wo weltanschauliche Bindungen – z. B. sozialistische, kommunistische oder katholische – fest verwurzelt waren, gelangen der NSDAP erst nach der Machtübernahme deutlichere Einbrüche.“ Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 158, 167. 499 Vgl. Kater, Party, S. 252 f. 500 Falter/Niklas-Falter, Erhebung, S. 200. Unter dem Terminus „Kleinbürger“ sind in der von Ernst Nolte übernommenen Begriffsbestimmung hier auch aufstiegsbewusste Teile der Arbeiterschaft inbegriffen. Vgl. ebenda, S. 175 f. 226 Aber vielen war eben auch der Fahrpreis zu hoch. Und etliche schließlich waren von vornherein von der Beförderung ausgeschlossen. Von der Geschichtsschreibung zur Sozialstruktur der NSDAP ist der Generationsaspekt bisher als der Schichtzugehörigkeit nachgeordnet betrachtet worden. Deutlich wird diese Geringschätzung schon anhand der Präsentation der jeweils ermittelten Daten. Es ist gemeinhin unüblich, die exakten Geburtsjahrgänge der darzustellenden Mitgliedergruppe auszuweisen; vielmehr begnügt man sich mit der Ermittlung des jeweiligen Durchschnittsalters oder der Darstellung von Altersgruppen.501 Mühlberger in seiner jüngsten Darstellung des bisherigen Forschungsstandes verzichtet sogar gänzlich darauf, der Generationsansatz ist ihm einen einzigen Satz wert.502 Wehler – obwohl auch Anhänger der Volkspartei-These – verzichtet im Gegensatz zu Mühlberger nicht auf Angaben zur NSDAP-Altersstruktur.503 Verantwortlich für die weitgehende Ausblendung der Generationenproblematik ist die Tatsache, dass die momentan dominierende Auffassung von der NSDAP als „Volkspartei“ in Auseinandersetzung mit dem bis dahin die wissenschaftliche Diskussion bestimmenden Begriff der „Mittelstandspartei“ entwickelt wurde. Außerdem handelt es sich zumindest teilweise um eine Übernahme aus dem Bereich der historischen Wahlforschung, in dem der Begriff der „Volkspartei“ NSDAP zuerst geprägt wurde. Die Instrumentarien der historischen Wahlforschung mussten angesichts geringer Varianz in der Alterszusammensetzung der zu untersuchenden Gebiete fast zwangsläufig versagen. 504 Aber die – problematische – Begriffsbildung selbst wurde auch für den Bereich der Mitgliederstruktur als griffig angesehen und übernommen.

501 Freilich wird auch bei diesem Verfahren sichtbar, dass es sich hinsichtlich der Alterszusammensetzung keinesfalls um eine „Volkspartei“ handeln konnte. Vgl. z. B. Mühlberger, Followers, S. 207. 502 Vgl. Mühlberger, bases, S. 3. An anderer Stelle wird betont, dass die korrekte Berufs- und damit Schichtzuordnung wegen der relativen Jugendlichkeit der Mitgliedschaft auf Probleme stößt, zu weiteren Überlegungen gibt ihm das jedoch keinen Anlass. Zudem hat die Darstellung den Sieg der VolksparteiThese gegenüber der Mittelstandspartei-These zu verkünden; „Nebenkriegsschauplätze“ würden dies eher behindern. Vgl. ebenda, S. 18. 503 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 778ff. 504 Vgl. Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991, S. 146 ff. Mit Blick auf die Ergebnisse der hier vorliegenden Untersuchung der NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg wäre demzufolge auch die Charakterisierung der NSDAP als „Volkspartei“ hinsichtlich ihrer Wählerstruktur anzuzweifeln. Es dürfte einer jener Fälle vorliegen, in dem die ausschließliche Anwendung einer einzigen Methode das Ergebnis nachhaltig verfälscht. Falter nimmt zudem die ‚NSDAP-Generation‘ nicht als solche wahr, sondern untersucht hinsichtlich ihres Wahlverhaltens lediglich drei Altersgruppen: a) 20-25, b) 26-64 und c) 65 Jahre und älter zum Zeitpunkt der Volkszählung 1933. 227 Unter den Autoren, die bisher den Generationen-Aspekt explizit aufgegriffen haben, ist insbesondere Kater zu nennen, der zwar einen „Kausalzusammenhang zwischen dem [...] Generationskonflikt [mit den Vätern der Nationalsozialisten – T.K.] [...] und dem heraufziehenden Nationalsozialismus“ konstatiert, aber anscheinend mangels ausreichender empirischer Daten keine weitergehenden Schlüsse auf den Charakter der Partei zieht.505 Ähnlich ist für Thamer die „Bewegung“ „[...] in mancher Hinsicht [...] auch Ausdruck eines Generationenkonflikts. [...] Der jugendliche Charakter der faschistischen Bewegungen relativiert auch die scheinbar eindeutige Aussage ihrer sozialen und beruflichen Zugehörigkeit, denn viele der jugendlichen Mitglieder hatten ja noch keinen Platz im Berufsleben und in der Gesellschaft gefunden, so dass eben gerade nichtökonomische, immaterielle Motive für ihr politisches Engagement eine große Rolle spielten.“506 Peukert weist insbesondere auf den direkten Zusammenhang zwischen überproportionaler Jungerwachsenenarbeitslosigkeit und in gleichem Maße überproportionaler Vertretung dieser Altersgruppe in den Kampfbünden aller Weltanschauungsrichtungen hin.507 Gerade die von Peukert thematisierten direkten und indirekten Zusammenhänge zwischen generationsbedingter Höhe der Arbeitslosigkeit und NSDAP-Mitgliedschaft stehen auch als Ergebnis dieser Untersuchung. Die Situation im Kreis Bernburg Anfang der 30er Jahre und der Aufstieg der NSDAP kann – in Anlehnung an Heinsohn – auch als „youth bulge“-Phänomen beschrieben werden.508 Die Geburtsjahrgänge 1893-1912, aus denen die NSDAP ihren Mitgliederkern rekrutierte, umfassten 1933 45 % aller männlichen Einwohner im Kreis. Diese „Jugendblase“ von 20 Geburtsjahrgängen machte die NSDAP zu ihrem Instrument im Kampf um gesellschaftliche Positionen, um eine angemessene Geltung. Männer der

505 Michael H. Kater, Generationskonflikt als Entwicklungsfaktor in der NS-Bewegung vor 1933, in: Geschichte und Gesellschaft, 11 (1985), S. 217. 506 Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1994, S. 177 f. Ähnlich auch Schoenbaum, Revolution, S. 74: „Der Nationalsozialismus war nicht minder eine Auflehnung der Jungen gegen die Alten.“ 507 Vgl. Peukert, Alltagsleben, S. 148. 508 Vgl. Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Zürich 2003, S. 14: Ein „youth bulge“ liegt vor, wenn zehn aufeinander folgende (jugendliche) Geburtsjahrgänge in der Summe mindestens 20 % der Bevölkerung umfassen. Zu kritisieren am „youth bulge“-Konzept ist seine relative Undifferenziertheit. 228 ersten Lebenshälfte auf der Suche nach Positionen, darauf lässt sich die NSDAP auch nach 1933 noch reduzieren.509

Von der exakten sozialstrukturellen Verortung der NSDAP ist nicht zuletzt die Bewertung ihrer Nachwirkungen auf die politischen Systeme im Nachkriegsdeutschland abhängig. Es handelt sich hier in erster Linie um die Frage, welche Funktion in der langfristigen Entwicklung des Parteiensystems der NSDAP zuzuschreiben ist. Eine lagerübergreifende „Volkspartei“ NSDAP hätte letztlich zwangsläufig die Grenzen zwischen den politischen Lagern erodiert und zur Schleifung der seit dem Kaiserreich existenten Lager beigetragen.510 Demgegenüber wäre eine „nationale“ bzw. „bürgerliche“ Partei mit sehr spezieller sozialstruktureller Profilierung – wie die in dieser Untersuchung skizzierte „kleinbürgerlich-nationale Generationspartei“ NSDAP – nur in der Lage gewesen, die Lagergrenzen zu verschieben, nicht aber, sie zu erodieren. Selbst 1939 noch spiegelt die Mitgliederstruktur der NSDAP lediglich die statistische Relation der beiden politischen (Wähler-)Lager des Jahres 1930. Daran wird deutlich, dass die NSDAP nur geringe Gewinne realisieren konnte. Insofern spricht einiges dagegen, dass eine solche Erosion der Lagergrenze stattgefunden hat. Auch lässt sich diese Frage im übrigen nicht aus der Momentaufnahme einer Mitgliederstatistik, sondern nur aus der Kenntnis der langfristigen historischen Entwicklung heraus beurteilen. Aus Sicht des hier untersuchten Kreises Bernburg ist festzustellen, dass sich 1945 die vor 1933 bestehenden politischen Lager erstaunlich schnell organisatorisch rekonstituierten und sich bis mindestens Anfang der 50er Jahre auch in Funktion befanden. Die Schleifung der Lagergrenzen sollte erst der SED in einem wahrscheinlich sehr viel längeren Prozess, als er sich aus der historischen Draufsicht darstellt, gelingen. In einer Untersuchung zu deren Mitgliederzusammensetzung wäre dann auch zu klären, ob die Befestigung der „Diktatur des Proletariats“ mittels einer Massenpartei im Kreis Bernburg nach 1945

509 In analoger Sichtweise kennzeichnet Wildt die Mitglieder des Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes als „engagierte soziale Aufsteiger, die schon vor ihrem Eintritt in die Gestapo und den SD versuchten, eine höhere soziale Stufe zu erreichen als die, die der Vater erklommen hatte“. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 78. 510 Zudem wäre das Schleifen der Lagergrenzen als Modernisierungsleistung zu begreifen. Vgl. Jürgen W. Falter, War die NSDAP die erste deutsche Volkspartei?, in: Michael Prinz und Rainer Zitelmann (Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1994, S. 46. 229 trotz oder wegen der zuvor exorbitant hohen Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Anhangsorganisationen möglich wurde. In anderer – hypothetischer – Projektion ist die exakte Charakterisierung der NSDAP aber auch wichtig für den Fall, dass 1945 die Alliierten Deutschland nicht besetzt hätten. Eine „Volkspartei” NSDAP ließe ein deutlich geringeres Konfliktpotential und daraus folgernd auch deutlich geringere gesellschaftliche Transformationsmöglichkeiten erwarten als eine „Generationspartei” NSDAP. 230 Teil B: Dokumentation Inhalt Der Datensatz der NSDAP-Mitglieder im Kreis Bernburg (1921-1945) – methodische Anmerkungen ___________________________________________ 231 Die Bevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 nach Berufsgruppen und Ortsgröße _______________________________________________________ 254 Mandatsverteilung im Anhaltischen Landtag 1918-1932______________________ 255 Bericht des SA-Sturmführers Gerhard Boas über die Misshandlungen von SPD-Funktionären in Bernburg in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1933 _________ 256 Rechtfertigungsschreiben des ehemaligen Ortsgruppenleiters Bernburg-Wasserturm, Kurt Kleinau, an das Oberste Parteigericht der NSDAP 1939 __________________ 259 Die Mitgliedschaft von im Jahre 1940 in der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg beschäftigten Angestellten in der NSDAP und in NS-Anhangsorganisationen_____________________________________________ 266 NSDAP-Sättigung in Bernburger Unternehmen und Verwaltungen 1944 _________ 272 Personalstatistik der Reichsbahndirektion Magdeburg per 15.10.1945 ___________ 278 Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944 ________________ 280 Statistische Kerndaten der NSDAP im Untersuchungsgebiet 1929-1944 (jeweils Jahresende, Ausgangsbasis 1929) _________________________________ 285 Mitgliederentwicklung (kumulativ) und nachgewiesene jährliche Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1929-1944 __________________________ 289 Anteil der Ortsgrößenklassen an der NSDAP-Gesamtmitgliedschaft im Untersuchungsgebiet 1929 bis 1944 (kumulativ) ____________________________ 290 Frauenanteil unter den NSDAP-Mitgliedern im Untersuchungsgebiet 1929 bis 1944 (kumulativ) _____________________________________________ 291 Durchschnittsalter der NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1929-1944 (kumulativ und verzerrungsbereinigt)_____________________________________ 292 Mit Geburtsjahr im NSDAP-Datensatz erfasste Mitglieder (unbereinigt) _________ 293 Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder unter den Beschäftigten der Reichsbahndirektion Magdeburg per 28.02.1946, geordnet nach Altersgruppen und Qualifikationsstufe ____________________________________ 294 Anteil der Geburtsjahrgänge 1901 bis 1910 unter den in die NSDAP im Untersuchungsgebiet neu eintretenden Personen nach Eintrittsjahrgängen und sozialer Zugehörigkeit _____________________________________________ 295 Anteil der Kernjahrgänge an den jährlichen Neueintritten in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944_________________________________________ 296 Soziale Zugehörigkeit der NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1929-1944 (kumulativ und verzerrungsbereinigt)_____________________________________ 297 231 Der Datensatz der NSDAP-Mitglieder im Kreis Bernburg (1921-1945) – methodische Anmerkungen Die Analyse der NSDAP-Mitgliedschaft im Kreis Bernburg basiert auf einem Datensatz von 9.089 NSDAP-Mitgliedern, die im Kreis Bernburg von den ersten Anfängen der Partei bis 1945 nachgewiesen werden konnten. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung versucht die vorliegende Untersuchung damit, einen neuen methodischen Weg zu erschließen. Untersuchungen zur Mitgliederstruktur der NSDAP stützen sich üblicherweise entweder auf zufällige Datenfunde herausragender Qualität für eng umrissene Zeiträume oder auf für repräsentativ angesehene Stichprobenerhebungen, vorzugsweise aus den im Bundesarchiv Berlin (ehemals Berlin Document Center) in Teilen erhaltenen NSDAP-Mitgliederkarteien. Mit dem hier vorliegenden Datensatz wurde der – äußerst arbeitsaufwendige – Versuch unternommen, alle zu NSDAP-Mitgliedschaften in einem fest umrissenen Gebiet zu ermittelnden Angaben zu erfassen und quellenkritisch zusammenzuführen. Diese verdichteten und ständig miteinander abgeglichenen Angaben wurden aus nachfolgenden Quellenbeständen gewonnen (Auflistung in der Reihenfolge ihrer Bedeutung für die Studie): a) im Zeitraum zwischen 1945 und 1948 für Zwecke der Entnazifizierung auf lokaler Ebene von den Polizeibehörden erstellte NSDAPMitgliederverzeichnisse und andere Materialien, die sich heute in Stadt-, Kreisund Gemeindearchiven, im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg und dessen Abteilung Dessau sowie im Zwischenarchiv Hoppegarten des Bundesarchivs befinden; b) Materialien des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin: ehemalige Regional- und Personen-Mitgliederkartei der NSDAP, Mitgliederkartei des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, Veränderungsmitteilungen des NSDAP-Gaues Magdeburg-Anhalt aus den 30er und 40er Jahren, Neueintrittslisten des NSDAP-Gaues Magdeburg-Anhalt in den 40er Jahren, Schriftverkehr mit der NSDAP-Ortsgruppe Bernburg 1925 ff., Parteikorrespondenz und Vorgänge der Parteigerichtsbarkeit; c) ergänzende Quellen: Wahlakten (Kandidatenaufstellungen zu den Gemeinderatswahlen und Zustimmungsunterschriften), Wählerlisten, Einwohnerverzeichnisse, Adressbücher, Gefallenenlisten mit Vermerk der NSDAPMitgliedsnummer, lokale Zeitungen, Personalakten, Aufstellungen über gewerb- 232 lich Beschäftigte in Bernburg 1939/40 und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zu diversen Zeitpunkten etc.511 Die Vielzahl genutzter Quellen führte dazu, dass der größte Teil der im Datensatz erfassten Mitglieder mehrfach verifiziert ist. Für mehr als ein Viertel der im Datensatz vertretenen Mitglieder liegt zudem die korrekte NSDAP-Mitgliedsnummer vor. Es handelt sich bei den für die Erstellung des Datensatzes verwendeten Quellen in der Mehrzahl um datenschutzrechtlich relevante Archivalien, d. h. es liegt im Ermessen des jeweiligen Archivs, die gesetzlich vorgegebenen Schutzfristen zu verkürzen und sie somit der Forschung zugänglich zu machen. Erfreulicher- und dankenswerterweise haben – mit zwei Ausnahmen – alle staatlichen und kommunalen Archive im Untersuchungsgebiet von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und somit den ihnen mit den Archivgesetzen übertragenen Ermessensspielraum wissenschaftsfreundlich ausgeschritten. Die Solvay Deutschland GmbH hingegen verweigerte eine Einsichtnahme in ihr etliche relevante Quellen beinhaltendes Bernburger Werksarchiv.512 Des weiteren sind auch – ungeachtet der allgemein für die Ermittlung des NSDAP-Mitgliederbestandes als sehr gut zu bezeichnenden Quellenlage – etliche Archivalienverluste zu beklagen, als deren Ursachen (von Fall zu Fall verschieden) Kriegs- und Nachkriegswirren, unqualifizierte Kassationen, nachträgliche Vertuschung von lokalen Skandalen, aber auch schlichter Aktendiebstahl von „interessierter Seite” anzunehmen sind. Das gilt nicht nur für Lokalarchive, sondern z. B. auch für die Universitäts- und Landesbibliothek Halle,

511 Überlieferungen der Einwohnermeldeämter waren für das Projekt hingegen nicht nutzbar; für den ehemaligen Kreis Bernburg in den Grenzen seit 1952 sind keine Bestände erhalten; für die ehemaligen Kreise Staßfurt und Aschersleben bestehen Überlieferungen, doch enthalten diese nur die Personen, die 1990 im jeweiligen Kreis wohnhaft waren, so dass die Durchsicht der entsprechenden Karteien nicht sinnvoll gewesen wäre. Im Falle eines Wegzuges bzw. im Todesfall wurde die betr. Karteikarte (auf der zumindest in den Anfangsjahren der DDR auch die frühere NSDAP-Mitgliedschaft vermerkt war) in der damals zuständigen Abteilung Paß- und Meldewesen der Deutschen Volkspolizei aus der Kartei entfernt und dem neuen Wohnort zugeschickt bzw. vernichtet. 512 Archivalische Quellennachweise zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung aus dem Kreisarchiv Bernburg, Stadtarchiv Bernburg und dem Betriebsarchiv Vereinigte Sodawerke „Karl Marx” Bernburg-Staßfurt, Bernburg o. J. (ca. 1980), S. 28-32, verzeichnet einige für das Thema relevante Akten. Angesichts der in dieser Broschüre getroffenen nur sehr geringen Auswahl ist ein sehr aussagefähiger Aktenbestand zu vermuten. Die Solvay Deutschland GmbH übermittelte unter dem 26.02.1998 - entgegen der tatsächlichen Quellenlage -, „daß das Archiv in unserem Werk Bernburg, so wie wir es übernommen haben, für wissenschaftliche Untersuchungen, wie sie von Ihnen geplant sind, nichts hergeben.” Auf weiteres Insistieren wurde unter dem 14.12.1999 mitgeteilt, dass das Firmenarchiv „aus grundsätzlichen Erwägungen” wissenschaftlichen Zwecken nicht zur Verfügung stehe. Man betonte, sich erst selbst einen Überblick verschaffen zu wollen, wies aber vorsorglich jede eventuelle Unterstellung einer Verstrickung in das NS-System zurück. Offenbar gelten die ins Feld geführten „grundsätzlichen Erwägungen“ aber nicht für alle Antragsteller. Vgl. Ebersbach, Geschichte, Bd. 1, S. 254; Bd. 2, S. 422 (Danksagungen an das Archiv der Deutschen Solvaywerke). 233 wo nach 1945 – offensichtlich aus einer ideologischen Motivation heraus – der „Freiheitskampf“, eine frühe Zeitung der Bernburger Nationalsozialisten, vernichtet worden ist. Am schwersten fällt freilich ins Gewicht, dass es keine überlieferten Bestände der NSDAP-Gauleitung Magdeburg-Anhalt gibt; die Existenz einer Überlieferung der NSDAP-Kreisleitung Bernburg war von vornherein nicht zu erwarten. Die im Umfeld der Entnazifizierung erstellten NSDAP-Mitgliederlisten bzw. Erfassungskarteien in den Regional- und Lokalarchiven, denen die große Masse der verarbeiteten Daten entnommen wurde, beinhalten (in wechselnder Kombination) Angaben zu Name, Vorname, Geburtsjahr, Geburtsort, Wohnort, früherem Beruf (vor dem Wirksamwerden von Zwangsmaßnahmen), jetzigem Beruf (d. h. zum Zeitpunkt der Listenerstellung), früherer und jetziger Arbeitsstelle. Zeitgenössisch speisten sich die Angaben in diesen Listen aus zwei Quellen, zum einen aus den entsprechenden zeitgenössischen Fragebögen, deren wahrheitswidrige Ausfüllung unter (weitgehend wirksamer) Strafandrohung stand, zum anderen aus abgeschriebenen Original-Mitgliederkarteien, die allem Anschein nach noch in größerem Umfang verfügbar und wohl nur im Ausnahmefall vernichtet worden waren.513 Die Chance, eine NSDAP-Mitgliedschaft nach 1945 den Untersuchungsbehörden gegenüber zu verbergen, war angesichts einer vor 1933 sehr starken Arbeiterbewegung und der kleinstädtisch-dörflichen Siedlungsstruktur sehr gering und im wesentlichen wohl nur für Umsiedler gegeben. Letztere aber wurden in diese Untersuchung nicht einbezogen. Insofern ist den Entnazifizierungsmaterialien ein hoher Wahrheitswert beizumessen.514 Die nachstehende Abbildung zeigt die am häu-

- 513 Der Bürgermeister von Leopoldshall zeigte sich 1945 auf eine Anfrage des Landrats hin nicht in der Lage, die Zahl der ehemaligen Nationalsozialisten besser als in einer geschätzten Zahl anzugeben und merkte an, dass die Mitgliederkartei von Leopoldshall anscheinend vernichtet worden sei. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Kreisverwaltung Bernburg, Nr. 810; Stadtarchiv Staßfurt, Nr. 5589. Dies ist der einzige explizite Hinweis auf die Vernichtung von NSDAP-Mitgliederkarteien im Kreis Bernburg direkt 1945 (Leopoldshall liegt außerhalb des Untersuchungsgebietes der statistischen Erhebung, so dass sich diese fehlenden Daten im NSDAP-Datensatz nicht auswirken). Im Dorf Hohe nerxleben wurde noch in der Mitte der achtziger Jahre beim Abriss eines Hauses die originale NSDAPMitgliederkartei des Ortes vorgefunden und vom Ministerium für Staatssicherheit beschlagnahmt. Leider konnte sie in den dessen Hinterlassenschaften bis jetzt nicht ermittelt werden. Die Nichtvernichtung von NS-Mitgliederkarteien bzw. analogen Verzeichnissen gegen Kriegsende 1944/45 scheint nicht nur im Kreis Bernburg aufgetreten zu sein. Der amerikanische Nachrichtenoffizier Padover fand z. B. im rheinischen Roetgen im Rathaus eine Liste sämtlicher Angehöriger von NS-Organisationen der Kleinstadt vor. Vgl. Saul K. Padover, Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45, Frankfurt am Main 1999, S. 68. 514 Nicht in den Datensatz aufgenommen wurde eine neunseitige Liste für die Stadt Nienburg, die außer Namensangaben keine weiteren Kommentare enthielt und angesichts der fragmentarischen Angaben nur mit einem Arbeitsaufwand von mindestens zwei Wochen im Bundesarchiv hätte auf Relevanz geprüft werden können, und eine wohl auf Denunziation ohne konkrete Kenntnisse beruhende „Nazi-Liste von Waldau”. 234 figsten – v. a. im Bereich der Arbeitsämter – verwendete Form von Erfassungskarten für ehemalige Nationalsozialisten.515 Die zu Beginn der Bearbeitung des Projektes in die Bestände des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin gesetzten hohen Erwartungen haben sich nur zu einem geringeren Teil erfüllt. Es hat sich gezeigt, dass die mit den ehemaligen BDCBeständen vorhandene Überlieferung der Mitgliederkarteien der NSDAP zwar eine sehr

515 Quelle der Vorlage: Stadtarchiv Bernburg. 235 gute und äußerst wichtige ergänzende Quelle für die Untersuchung der Zusammensetzung lokaler Mitgliedschaften der NSDAP darstellt, insgesamt den Mitgliederbestand der NSDAP jedoch nur verzerrt abbildet und zur alleinigen Quelle einer Untersuchung nicht taugt. Von der beabsichtigten Erstellung eines parallelen repräsentativen Datensatzes aus BDC-Quellen mußte daher frühzeitig Abstand genommen werden. Insbesondere überlagern sich in der Nutzung der BDC-Karteien drei Problemfelder: die Unvollständigkeit des Bestandes, die nach 1945 aus pragmatischen Verfolgungserwägungen erfolgte Umstellung der ehemaligen Regionalkartei („Blaue Kartei“) von einer ehemals systematischen auf eine alphabetisch-phonetische Ordnung und die schon zeitgenössisch an vielen Stellen nachlässige Karteiführung. Die Probleme stellen sich im einzelnen wie folgt dar: 1. Die zentralen Mitgliederkarteien der NSDAP waren zum Zeitpunkt ihrer Erbeutung durch die US-Army 1945 schon nicht mehr vollständig, die Vernichtung hatte augenscheinlich bereits begonnen. Die ehemalige Regionalkartei soll aus diesen Gründen nur noch etwa 80 % des ehemaligen Bestandes enthalten, evtl. ist dieser Wert auch etwas niedriger anzusetzen. Die ehemalige NSDAP-Personenkartei enthält heute möglicherweise nur noch etwas weniger als die Hälfte aller jemals in die Partei eingetretenen Personen. 2. Ursprünglich besaß die NSDAP-Regionalkartei eine systematische Ordnung nach dem Schema Gau-Kreis-Ortsgruppe und war erst auf der Ebene der jeweiligen Ortsgruppe alphabetisch sortiert. Die nach 1945 im Interesse einer schnellen Auffindbarkeit von Einzelpersonen erfolgte Umstellung auf die jetzige alphabetisch-phonetische Ordnung macht jeden Versuch zunichte, in vertretbaren Arbeitszeiträumen große Datenmengen für bestimmte regionale NSDAP-Untergliederungen ermitteln zu wollen. Außerdem birgt auch die jetzige alphabetisch-phonetische Ordnung eine Reihe weiterer Fehlermöglichkeiten. So findet man beispielsweise „Schröter, Waldemar“ nur unter „Schröder, Walter“ oder auch „Ullmann, Heinz“ unter „Uhlmann, Heinrich“. Weiterhin ist auch von den seinerzeitigen Bearbeitern kein einheitliches Schema der phonetischen Zuordnung entwickelt worden, so dass verschiedene Ordnungsprinzipien innerhalb der Abschnitte des Alphabets nebeneinander stehen. 236 3. Die zeitgenössische Karteiführung war an vielen Stellen auf allen Organisationsebenen ungenau bis nachlässig; die Mitgliederkarteien stellen somit auch die Summe aller fehlerhaften und unterlassenen Meldevorgänge in der Informationskette Ortsgruppe – Kreisleitung – Gauleitung – Reichsleitung dar. Oft entsteht der Eindruck, dass Veränderungsmeldungen nur widerwillig und verspätet abgegeben und weitergeleitet wurden. So sind denn anderswo nachgewiesene und zwangsläufig zum Ortswechsel führende Versetzungen in den NSDAP-Mitgliederkarteien nicht widergespiegelt, Ummeldungen stimmen an etlichen Stellen nicht mit dem tatsächlichen Karriereverlauf überein.516 Weitaus gewichtiger für die heutige Forschung ist jedoch, dass die noch in stärkerem Umfang überlieferte Regionalkartei zeitgenössisch augenscheinlich nicht mit der gleichen Sorgfalt gepflegt wurde wie die Personenkartei, d. h. Änderungen oftmals nur in der Personenkartei und nicht in der Regionalkartei vorgenommen wurden.517 Diese Ungenauigkeiten in der Regionalkartei entwerten diesen großen Datenbestand für die Forschung deutlich. Auch ist die Regionalkartei definitiv nicht nach dem Bruttoprinzip geführt worden. Vielmehr wurden verstorbene, ausgetretene und

516 Der größte Teil der (aus ihrer subjektiven Sicht) zeitweilig als Arbeitskräfte im Bernburger JunkersWerk beschäftigten und aus dem ganzen Reich herangeführten NSDAP-Mitglieder dürfte weiterhin bei ihren Heimat/Herkunfts-Ortsgruppen gemeldet geblieben sein. Der Gauschatzmeister des benachbarten NSDAP-Gaues Halle Merseburg sah sich noch 1944 genötigt, eine unbedingte Meldedisziplin einzufordern: „Wie in meinen Rundschreiben Nr. 18 und 21/41 bereits angeordnet, sind alle in die zum Großdeutschen Reich hinzugekommenen Gebiete und Arbeitsbereiche der NSDAP. dienstverpflichteten oder abkommandierten Parteigenossen nach ihrem jetzigen Aufenthaltsort bzw. Standort zu überweisen. Die Ortsgruppen wurden angewiesen, diese Überweisungen unverzüglich durchzuführen. Bei mir eingegangene Rückfragen und Beschwerden zeigen allerdings, daß diese Anordnungen von den Ortsgruppen nicht beachtet, ja sogar absichtlich nicht befolgt werden. Da im Interesse der Aktivierung der Partei alle Parteigenossen bei der Ortsgruppe erfaßt werden müssen, in der sie ihren Wohnsitz, wenn auch vorübergehend haben, weise ich die Ortsgruppenkassenleiter nochmals an, die gegebenen Anordnungen genau zu befolgen. Darüber hinaus ordne ich an, daß auch alle Parteigenossen, welche nach Orten innerhalb des Großdeutschen Reiches dienstverpflichtet oder abkommandiert sind, nach mindestens drei Monaten nach dem jetzigen Wohnort umgemeldet werden. Es geht nicht an, daß z.B. ein von Halle nach Bremen oder selbst nach Orten innerhalb des Gaugebietes dienstverpflichteter oder abkommandierter Parteigenosse bei seiner früheren Ortsgruppe weitergeführt wird, weil es dessen Wunsch ist und er seine Mitgliedsbeiträge durch Angehörige oder sonstige Bekannte bezahlen läßt, ohne daß er selbst weder bei der beitragsempfangenden noch bei der für seinen jetzigen Wohnort zuständigen Ortsgruppe aktiv erfaßt wird. Die Folge davon ist, daß sehr viele Parteigenossen der Parteiarbeit verloren gehen und außerdem einzelne Mitglieder sogar als ausgesprochene Drückeberger erzogen werden. Die Ortsgruppenkassenleiter werden daher angewiesen, den Mitgliederstand ihrer Ortsgruppe sofort zu überprüfen und die als über drei Monate abwesend festgestellten Parteigenossen nach dem nunmehrigen Aufenthaltsort zu überweisen.“ Weisungsblatt der NSDAP. Gau Halle-Merseburg, 01.04.1944, S. 679 f. 517 In den Mitgliederkarteien des Nationalsozialistischen Lehrerbundes besteht das Problem in gleicher Weise. 237 ausgeschlossene Mitglieder aus der Regionalkartei entfernt – doch dies wiederum nicht durchgängig und sofort, sondern möglicherweise im Rahmen kampagnenhafter Karteibereinigungen.518 Insbesondere für die Anfangszeit nach der Parteineugründung 1925 gibt es eine Häufung von Fehlstellen in der ehemaligen Regionalkartei, die – wenn man nicht Anhänger von Verschwörungstheorien ist – mit zeitweise schlechter Mitgliedererfassung, zeitgenössischer Bereinigung (am wahrscheinlichsten) oder Arbeitsüberlastung erklärt werden müssen. In anderen Fällen drängt sich wiederum der Verdacht auf, dass bei einem Wiedereintritt nach längerer Zeitspanne nicht die alte Karteikarte weiterbenutzt, sondern eine neue Karteikarte ohne Verweis auf frühere Mitgliedschaften angelegt wurde. Auch scheint es so, dass in einigen Fällen Mitgliederkarteikarten der Regionalkartei erst mit dem gemeldeten Todesfall wieder neu angelegt wurden; in der Personenkartei wiederum wurden bei etlichen Todesfällen erst die Karteikarten vernichtet und später ein erneuter Verweis auf die bestandene Mitgliedschaft angelegt. Anhand der ebenfalls ausgewerteten Veränderungsmitteilungen des Gaues MagdeburgAnhalt aus den 40er Jahren ist ersichtlich, dass man diese an vielen Stellen nicht mehr in die Regionalkartei einarbeitete, d. h. Straßen-, Orts-, Namenswechsel (infolge Verheiratung) sowie auch Todesfälle nicht mehr nachtrug. Auch wurden Mitgliedsnummern falsch übermittelt sowie Wohnort und Ortsgruppe verwechselt. Dass die NSDAP, wie die meisten anderen Parteien auch, den Beruf des betr. Mitglieds nur anlässlich des Eintrittes und danach nicht mehr ermittelte, sei hier nur am Rande erwähnt, wie auch die Tatsache, dass Frauen nach der Verheiratung in den Karteien nicht mehr unter ihrem Geburtsnamen zu ermitteln sind. Es besteht angesichts dieser Ungenauigkeiten und Fehlstellen keine Möglichkeit, das Problem der Mitgliederfluktuation mittels der BDC-Karteien hinreichend bearbeiten zu können.

518 Drei Beispiele für die beschriebene Entfernung: Paul H., geb. 26.03.1899, wurde 1936 aus der NSDAP ausgeschlossen. Auf seiner Karteikarte in der Personenkartei findet sich der Vermerk (vorgefertigter Stempel), dass die Karteikarte in der Regionalkartei 1940 vernichtet worden ist (diese fehlt dort auch tatsächlich); gleichermaßen Otto Heinecke, geb. 25.05.1893, Ausschluss 1935, Vernichtung der Karte in der Gaukartei 1938. Auf Wilhelm Barnebeck, geb. 1896, verst. 1935, 1933/34 Ortsgruppenleiter und Stadtverordneter sowie einer der berüchtigsten SA-Schläger Bernburgs, fehlt jeglicher Hinweis in den Karteien. Während die fehlende Karteikarte in der Personenkartei auf Kriegsverlust zurückzuführen sein dürfte kann andererseits davon ausgegangen werden, dass die Karteikarte in der ehemaligen Regionalkartei schon früher kassiert wurde. Eine weitere ‚prominente‘ Fehlstelle bildet der Bernburger NSDAP-Kreisleiter der Jahre 1943-45, Fritz Himmerich, der ebenfalls in beiden Karteien nicht nachzuweisen ist, analog zum 1935 verstorbenen Gauleiter und NS-Reichsstatthalter Wilhelm Loeper. 238 Alle auf Massenquellen ohne weitere Nachprüfung (BDC, Gauleitungsakten und dergleichen) beruhenden Studien müssen sich von vornherein mit der geringen Trennschärfe der Berufsbezeichnungen zufrieden geben und werden deshalb zwangsläufig ungenau. Am gravierendsten dürfte sich dies bei der Berufsbezeichnung „Kaufmann“ auswirken. Dahinter können sich sowohl Händler jeder Größenordnung als auch kaufmännische Angestellte aller Hierarchiestufen oder gar mittelständische Unternehmer verbergen.519 Ähnlich kann es sich mit der Berufsbezeichnung „Müller“ verhalten, der im Kreis Bernburg neben der ‚Normalform‘ Müllergeselle auch Mühlenbesitzer oder auch Arbeiter in der Salzmühle des Kaliwerkes Solvayhall gewesen sein kann. Auch Beschäftigte des öffentlichen Dienstes sind anhand der BDC-Mitgliederkarteien nur zu einem geringen Teil kenntlich zu machen. Eine kleinräumig aufgezogene Studie kann über Drittquellen diese Ungenauigkeiten weitestgehend ausräumen; bei sich auf ganz Deutschland erstreckenden mitgliederstatistischen Studien ist dies nicht möglich. 4. Die BDC-Quellen lassen keine Aussagen über die vor 1923 vorhandenen NSDAP-Mitgliedschaften im Untersuchungsgebiet zu; auch im Falle von nach Aufhebung des Parteiverbots 1925 wieder beigetretenen Mitgliedern wurde in den Mitgliederkarteien eine frühere Mitgliedschaft nicht aufgeführt. In der Summe der vorstehend benannten Einschränkungen (1.-4.) lässt sich einschätzen, dass aus den Mitgliederkarteien des ehemaligen BDC gezogene Stichproben lediglich die Mitgliedschaft des Jahres 1944 widerspiegeln und demzufolge auch nur für 1944 annähernde Repräsentativität beanspruchen können. Anhand des Dorfes Aderstedt (bei Bernburg) lassen sich die mit den BDC-Karteien bestehenden Probleme exemplarisch im Detail sehr gut nachvollziehen. In einem Jubiläumsartikel zum zehnjährigen Bestehen der NSDAP-Ortsgruppe Aderstedt benannte der „Anhalter Kurier” im Jahre 1935 13 dauerhaft ortsansässige Gründer der Ortsgruppe namentlich, hinzuzählen ist noch der schon 1926 wieder verzogene erste Ortsgruppenleiter.520 Von diesen 14 Personen sind nur neun in der ehemaligen Regionalkartei nachzuweisen (= 64 %). Ein weiteres, bei Abfassung des o.g. Artikels 1935 schon längere

519 Auf dieses Problem ist u. a. auch schon Mühlberger gestoßen (allerdings ohne daraus Konsequenzen für die Erhebung der eigenen Daten zu ziehen): „The bulk of NSDAP, SA and SS members masquerading as ‚merchants‘ were much too young to have secured an independent economic position.“ Mühlberger, Followers, S. 205 f. 520 Vgl. AK 06.05.1935; Bundesarchiv Berlin, NS 51, Dienststelle Bouhler, Nr. 204, o. Bl. 239 Zeit verstorbenes Mitglied ließ sich in der Personenkartei auffinden.521 Es fehlen somit in beiden Karteien a) zwei der drei bis 1935 schon verstorbenen Gründungsmitglieder, b) der Ortsgruppenleiter des Jahres 1925 und c) der in dem Jubiläumsartikel ausdrücklich benannte und bis dahin wohl einzige Träger des Goldenen Parteiabzeichens am Orte.522 Darüber hinaus enthält die Karteikarte eines weiteren Gründungsmitglieds in der ehemaligen Regionalkartei einen Vermerk über einen Austritt 1931 ohne Wiedereintritt, in der Personenkartei wird dessen Wiedereintritt im Jahre 1933 jedoch vermerkt. Anhand des Dorfes Unterwiederstedt – zwischen Sandersleben (Anhalt) und Hettstedt (Preußen) gelegen – ist es möglich, die Genauigkeit der BDC-Karteien in den 40er Jahren exemplarisch zu beurteilen. Mitte 1942 wurden die bis dahin der Ortsgruppe Sandersleben angehörenden Unterwiederstedter Mitglieder aus dieser – augenscheinlich wegen Überschreitens der 50-Mitglieder-Schwelle nach einer Eintrittswelle zum 1. Januar 1942 – herausgelöst. Wegen dieser Bildung einer neuen Ortsgruppe finden sich sämtliche 1942er Mitglieder Unterwiederstedts in den überlieferten Veränderungsmitteilungen des Gaues Magdeburg-Anhalt. Doch in der ehemaligen NSDAPRegionalkartei sind lediglich 50 der 55 in den Veränderungsmitteilungen benannten Mitglieder nachzuweisen, ein weiteres Mitglied findet sich in der ehemaligen Personenkartei. Dieser mit insgesamt 7 % geringen Zahl an fehlenden Mitgliedern steht jedoch eine hohe Fehlerquote in den Angaben zu den Wohnadressen der betreffenden Personen gegenüber. Während die zum 1. Januar 1942 neu aufgenommenen Mitglieder sofort unter der Ortsgruppe Unterwiederstedt verbucht und auch ihre Wohnadressen richtig angegeben wurden, sind von dieser Fehlerhaftigkeit die Altmitglieder bis 1941 betroffen. Man versuchte zuerst, diese – zumindest in der Kartei – der benachbarten preußischen Ortsgruppe Oberwiederstedt zuzuordnen. Gleichzeitig wurde für alle diese Mitglieder einheitlich eine neue Wohnadresse „O.“ (= Oberwiederstedt) festgelegt und dieses Oberwiederstedt – auch wieder auf dem Papier – dem Gau SüdhannoverBraunschweig zugeschlagen. Der Fehler der falschen Gauzuordnung wurde später bemerkt und korrigiert, die abstrusen Wohnadressen „O.“ für Unterwiederstedter Altmitglieder blieben jedoch in der Kartei unentdeckt und deshalb auch unverändert. Schon im Jahre 1933 ist für ein Unterwiederstedter Mitglied, das zuvor der Ortsgruppe Hettstedt

521 Doch auch hier besteht wieder der Verdacht, dass der dort berichtete Austritt im Jahre 1926 auf den Todesfall zurückzuführen ist – was freilich unerwähnt bleibt. 522 Seine Parteimitgliedschaft ist auch zum Zeitpunkt seines Todes im Jahre 1942 durch die entsprechende Veränderungsmitteilung des Gaues belegt. 240 angehörte und mit der Bildung der Ortsgruppe Sandersleben jetzt dieser zugeteilt wurde, eine analoge willkürliche Neufestlegung der Wohnadresse in „Sandersleben“ festzustellen. Selbstredend hatte ein Wohnortswechsel von Unterwiederstedt nach Sandersleben auch in diesem Falle nicht stattgefunden. Um zu verhindern, dass der für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung zusammengestellte NSDAP-Datensatz für den Kreis Bernburg die NSDAP-Mitgliedschaft vorwiegend aus der Sicht des Jahres 1944 widerspiegelt, wurden die unter c) erwähnten Quellen (Wahlunterlagen, Zeitungsberichterstattung, Gefallenenlisten etc.) erhoben. Insbesondere die Verarbeitung der Kandidatenlisten der NSDAP (einschließlich ihrer Vorläufer) zu den Gemeinderatswahlen und die dazugehörigen Zustimmungsunterschriften halfen, den Datensatz auch für den Zeitraum vor 1933 aussagefähig zu machen. Weitere Angaben zur konkreten Mitgliedschaft von Personen waren den Zeitungen zu entnehmen. „Der Mitteldeutsche” und der „Anhalter Kurier” (beide Bernburg) hoben seit 1933 „Pg.‘s” besonders hervor, die sozialdemokratische „Volkswacht“ ließ es sich bis zu ihrem Verbot 1933 angelegen sein, Nationalsozialisten auch namentlich zu benennen. Aus Wähler- und Einwohnerlisten und Adressbüchern schließlich wurden ergänzende Angaben zu Beruf und Geburtsjahr gewonnen. Der Wert des in dieser Untersuchung angewandten methodischen Verfahrens ist unmittelbar vom Grad der mit dem NSDAP-Datensatz zu erzielenden Vollständigkeit und Repräsentativität abhängig. Bezüglich der Vollständigkeit kann davon ausgegangen werden, dass der NSDAP-Datensatz mehr als 80 % des ehemaligen Gesamtmitgliederbestandes im Untersuchungsgebiet umfasst. Im allgemeinen lässt sich eine solche Behauptung nur schwer verifizieren, da seitens der NSDAP-Untergliederungen zeitgenössisch keine Organisationsdaten veröffentlicht wurden; es war ihnen untersagt, ohne Genehmigung aus München eigene mitgliederstatistische Erhebungen zu veranlassen und vorhandene Statistiken außerhalb der Partei in Umlauf zu bringen.523 Einzelaussagen bestätigen jedoch die weitgehende Vollständigkeit der gesammelten Daten. So gab der ehemalige Ortsgruppenleiter der Ortsgruppe Gerbitz im Entnazifizierungsverfahren 1948 an, die Ortsgruppe habe 1939/42 „ungefähr 36 Parteigenossen“ umfasst.524 Die im NSDAP-Datensatz vorhandene Anzahl von Personen bewegt sich für den benannten Zeitraum in genau dieser Größenordnung, wobei es einige Unklarheiten hinsichtlich des

523 Vgl. Schoenbaum, Revolution, S. 277. 524 Bundesarchiv Berlin, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZE, 26566. 241 genauen Eintrittsdatums und eventuellen Ortswechsels gibt. Nach dieser Quelle wäre der Datensatz – auf das Dorf Gerbitz bezogen – als im wesentlichen vollständig anzusehen. Eine weitere Quelle, eine interne NSDAP-Mitgliederliste aus den Kaliwerken Solvayhall 1943, bestätigt den Befund der relativen Vollständigkeit. Fast alle der auf dieser Mitgliederliste aufgeführten Personen fanden sich in dem zum Zeitpunkt des Auffindens dieser Liste im wesentlichen schon fertiggestellten Datensatz wieder. Von den wenigen Mitgliedern, die im NSDAP-Datensatz nicht verzeichnet waren, muss (nach der bekannten Beschäftigtenrelation von Kreisangehörigen und Kreisfremden) der größte Teil als außerhalb des Kreises Bernburg wohnend vermutet werden. Die Repräsentativität des NSDAP-Datensatzes ließe sich nur anhand exakter Überlieferungen der Einwohnermeldeämter und einzelner vollständiger Orts-Mitgliederlisten zu ausgewählten Stichtagen überprüfen. Solcherart Quellen liegen jedoch nicht vor. Generell sinkt jedoch – durch den mit diesem Datensatz gemachten Versuch der vollständigen Erfassung aller zur Verfügung stehenden Daten – mit zunehmender Datenmasse und deren kritischer Verarbeitung tendenziell auch die Möglichkeit statistischer Verzerrungen. Da dieser Datensatz mehr als 80 % der über längere Zeiträume im Untersuchungsgebiet wohnhaften NSDAP-Mitglieder umfasst, ist die mögliche Fehlerhaftigkeit hinsichtlich der unproportionalen Abbildung verschiedener Personengruppen von vornherein begrenzt. Gering unterrepräsentiert werden jene Personen sein, die weder im Kreis Bernburg eingetreten sind noch bei Kriegsende dort wohnten, sondern nur für eine kurze Zeit dort verweilten. So wurde z.B. das durchweg von außerhalb stammende und Bernburg auch relativ schnell wieder verlassende Personal der Euthanasie-„T4“-Aktion überhaupt nicht in den Datensatz aufgenommen. Das ist jedoch deshalb von minderer Relevanz, weil diese fluktuierenden Mitglieder, um statistische Verzerrungen zu vermeiden, nicht in die Auswertungen eingingen. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass die bis 1945 Gefallenen und Verstorbenen gering unterrepräsentiert sind. Allerdings ist ein sehr großer Teil der u. a. diese Mitgliederabgänge widerspiegelnden Veränderungsmitteilungen der 40er Jahre erhalten und konnte in den NSDAP-Datensatz eingearbeitet werden. Im NSDAP-Datensatz wurden Angaben zu sämtlichen Orten des anhaltischen Kreises Bernburg erfasst; in die Auswertung einbezogen wurden jedoch nur jene Orte, die zum Kreis Bernburg in den Grenzen der Jahre 1946 bis 1950 gehörten.525 Um Irritationen zu

525 Die bis Ende 1946 vollzogenen und deshalb nicht in die Untersuchung eingeflossenen Abspaltungen vom ehemaligen anhaltischen Kreis Bernburg im einzelnen: 1) die Kleinstadt Leopoldshall, ehemals 242 vermeiden wird dieses vor 1945 noch nicht bestehende administrative Gebilde in der Analyse der NSDAP-Mitgliedschaft durchgängig als „Untersuchungsgebiet” benannt. Die Maßnahme wurde einerseits nötig, um im zweiten Teil des Projektes eine territoriale Vergleichbarkeit mit den für die SED nur summarisch auf Kreisebene vorliegenden Angaben herstellen zu können,526 andererseits wäre für die seinerzeit ausgegliederten Orte in der Summe auch nicht eine solche Quellendichte herzustellen gewesen, wie für die nach 1946 noch dem Kreis Bernburg angehörenden Orte. Verzeichnis der im NSDAP-Datensatz verarbeiteten Quellen Archivalische Quellen Bundesarchiv Berlin, BDC, Mitgliederkarteien der NSDAP; BDC, Ortsgruppen-Korrespondenz Bernburg; BDC, „Gau Magdeburg-Anhalt der NSDAP: Namentlich zu meldende Änderungen“ (3 Ordner); BDC, „Gau Magdeburg-Anhalt der NSDAP: Aufnahmeanträge (Namentliche Listen)“ (2 Ordner); NS 26/215; NS 51, Dienststelle Bouhler, Nr. 204. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. K3 Ministerium des Innern, Nr. 1034, 1046, 1060, 1066, 1106, 1799; Rep. M 60 Reichsbahndirektion Magdeburg, FK, Teil 1, Nr. 63. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, IV/403/10+11; IV/403/274; IV/403/362; V/6/18/2; V/6/18/3; FDGB-Bezirksvorstand Halle, 5171. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Kreisverwaltung Bernburg Nr. 806; 810; 811; 813; 833; 839; 840; Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 446; 449; 587; 947; 797; 800; 801; 817-825; 832; 851; 857; Staatsministerium Dessau 3, Lit. H, Nr. 92; Deutsche Solvay-Werke, Nr. 355, 1122. Stadtarchiv Bernburg 6/311; 6/430; 6/489; 6/659; 6/666; 6/667; 6/1079; 6/1285; 8/28; 8/205; 8/440; 8/511; 8/1440; 8/1653; 8/1668; 8/1680; 8/1681; 8/1740; 8/1800; Adressbücher der Stadt und des Landkreises Bernburg. Kreisarchiv Bernburg, Aderstedt, Sozialismus Nr. 6; Aderstedt, Kapitalismus, Nr. 10, 15; Baalberge 14, 138, 142; Gröna, Nr. 58; Ilberstedt, Nr. 69, 109, 222; Leau, Nr. 5, 52, 72; Nienburg 4, 13; Peißen 13, 28; Plötzkau 30; Pobzig, Nr. 54, 60; Poley, Nr. 15, 25; Schackstedt 31; Wedlitz 7. Euthanasie-Gedenkstätte Bernburg: Personalaufstellung Landesheilanstalt. Gemeindearchiv Amesdorf, Wählerlisten Amesdorf und Warmsdorf 1946. Stadtarchiv Dessau, OB 1383. Gemeindearchiv Drohndorf, „Verzeichnis über NSDAP-Mitglieder und Mitgliederliste der KPD + SPD 1946“; „Einwohner 1900-1950“. Stadtarchiv Güsten, Nr. 307. Verwaltungsgemeinschaft „Bördeblick“ (Hecklingen), Stadtarchiv Hecklingen, „Registrierung der ehemaligen Mitglieder der NSDAP und Militaristen 1946“; „Säuberung der Verwaltung 1945/46“. Gemeindearchiv Hohenerxleben, „Statistisches Amt Bevölkerungsstatistik“. Stadtarchiv Nienburg/Saale, Findbuch 1, Nr. 811. Gemeindearchiv Neundorf, B IV / 3; B IV / 12; B IV / 17; B IV / 53; C IV / 52; C IV / 112. Gemeindearchiv Rathmannsdorf, 23; 29; 45. Stadtarchiv Sandersleben, 341; 429. Verwaltungsgemeinschaft „Wippertal“ in Schackenthal, Gemeinde Schackenthal, „Akte betr. Wahlen 1923-1936“; Gemeinde Giersleben, „Protokolle aus den Sitzungen des Antifa-Blockausschusses 1946-1948“.

anhaltischer Teil der preußisch-anhaltischen Grenzdoppelstadt Staßfurt-Leopoldshall wurde nach Staßfurt eingemeindet, 2) die im Kreis Calbe/Saale belegene ehemals anhaltische Exklave Groß- und Kleinmühlingen wurde diesem eingegliedert, 3) das ehemals anhaltische Dorf Unterwiederstedt wurde nach Hettstedt eingemeindet. 526 Auch der Parteikreis Bernburg der NSDAP war nicht mit dem administrativen Kreis Bernburg identisch, sondern schloss die Exklave Groß- und Kleinmühlingen aus sowie Staßfurt und Gramsdorf (Kreis Calbe in Preußen) ein. 243 Gedruckte Quellen Adressbuch der Städte Staßfurt und Leopoldshall sowie folgender Orte: Hecklingen-Löderburg-Neundorf 1938/39, Staßfurt 1938. Adreßbuch der Stadt Bernburg abgeschlossen am 12. April 1934 / nach dem Stande vom 15. April 1938, Bernburg 1934 / 1938. Anhalter Kurier, Bernburg, 1931, 1933, 11./12.06.1938 (Festbeilage: „20 Jahre Kampf um Deutschlands Freiheit, Die Entwicklung der NSDAP. in Bernburg“). Anhaltische Bürgerzeitung (Güstener Zeitung) 12.10.1931. Anzeiger für die Kreise Aschersleben Quedlinburg-Calbe-Mansfeld, Aschersleben, Oktober 1931. Freiheit. Mitteldeutsche Tageszeitung (Ausgabe Bernburg), November 1947 – Januar 1948, Juni 1948. Der Kalibergmann. Wochenschrift für ihre Gefolgschaftsangehörigen. Herausgegeben von der Wintershall Aktiengesellschaft, Kassel, 14-19 (1939-1944). Der Mitteldeutsche, Bernburg, 1934, 1935, 1936, 1939, 1940. Volkswacht, Bernburg, 1921-1933. Görlitzer, A. (Hg.), Adreßbuch der nationalsozialistischen Volksvertreter, Berlin 1933. Heimat-Kalender für die Alt-Bernburger Lande 1936, Bernburg 1935, S.30 f. Offizielles Industrie- und Handelsadreßbuch des Mitteldeutschen Wirtschaftsgebietes, Erfurt 1929. Reichsband. Adressenwerk der Dienststellen der NSDAP mit den angeschlossenen Verbänden des Staates, der Regierung-Behörden und der Berufsorganisationen in Kultur, Reichsnährstand, Gewerbliche Wirtschaft, Berlin o. J. (1939). Der Wehrwolf, Halle/Saale 1924-1934. Werkzeitschrift. Deutsche Solvay-Werke A.G. Bernburg. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Arbeitspädagogik im Einvernehmen mit der Deutschen Arbeitsfront, Bernburg, 1-7 (1934-1940). Die Mitgliedschaft von Parteien wird in der Regel anhand bestimmter Sozialmerkmale beschrieben, als deren hauptsächliche 1) das Geschlecht, 2) das Alter, 3) der Beruf bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sozialschicht, 4) das Datum des Parteieintritts (in Verbindung mit anderen Kategorien), 5) die Funktionsinhabe in der Partei (in Verbindung mit anderen Kategorien), 6) die Religionszugehörigkeit, 7) die Gebürtigkeit (lokale bzw. regionale Herkunft), 8) die soziale Zugehörigkeit der Vorfahren (sozialer Aufsteiger/Absteiger) und 9) eine eventuelle vorherige Mitgliedschaft in anderen Parteien und angesehen werden können. Verwertbare Aussagen lassen sich dem für das Untersuchungsgebiet erstellten NSDAP-Datensatz in massenstatistischer Form nur für die unter 1) bis 5) aufgeführten Kategorien entnehmen. Zu den anderen Kategorien liegen Daten nicht in ausreichendem Maße vor. Im Falle der Religionszugehörigkeit kommt hinzu, dass die Bevölkerung des Kreises Bernburg zu neun Zehnteln protestantischer Kirchenangehörigkeit war und die Frage daher von untergeordneter Bedeutung ist.527 Es fehlen weiterhin auch Hinweise darauf, dass die wenigen Katholiken evtl. eine überproportionale Rolle in der NSDAP gespielt haben könnten.

527 Religionsstruktur des Kreises Bernburg 1910/25/33: 93/90/88 % Angehörige evangelischer Kirchen und Religionsgesellschaften, 6/6/5 % Angehörige der römisch-katholischen Kirche usw., 0,4/0,3/0,2 % Israeliten bzw. „Glaubensjuden“, 0,4/4/7 % Sonstige. Vgl. Mitteilungen des Herzoglich Anhaltischen Statistischen Bureaus Nr. 51, Dessau 1912, S. 5 f.; Die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung auf Grund der Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1925, Dessau 1926, S. 4 f.; 244 Die Zusammenstellung eines Datensatzes wie des vorliegenden aus sehr unterschiedlichen Quellen verlangt infolge der Zusammenführung beinahe zwangsläufig differierender Angaben zu denselben Personen ein Höchstmaß an Quellenkritik. In jedem einzelnen Falle ist die Frage zu beantworten, welche Angabe als wahr bzw. plausibel anzusehen ist. Es wurden daher alle differierenden Angaben erfasst und erst in einem späteren Arbeitsschritt bewertet, wobei die Auflösung mundartlicher Verschleifungen beim zeitgenössischen Diktat, z.B. „Jendrusch“ statt „Gendrusch“, „Klanert“ statt „Glanert“ oder „Kügelchenweg“ statt „Kügelgenweg“, noch eines der geringsten Probleme darstellte. Doch trotz der quellenkritischen Erarbeitungsweise mussten in der Auswertung der Daten einige – nachfolgend dargelegte – Zugeständnisse gemacht werden. Die Angaben über das Alter der Mitglieder gehen bis auf sehr wenige Ausnahmen, in denen eine Angabe des Lebensalters auf den Geburtsjahrgang zurückgerechnet wurde, auf exakte Angaben über das Geburtsjahr zurück. Das genaue Datum der Geburt wurde nicht in die Berechnungen übernommen, weil es nur in einem Teil der Fälle in den Entnazifizierungslisten angegeben wurde. Für den äußerst selten auftretenden Fall, dass mehrere abweichende Angaben zum Geburtsjahrgang vorlagen, wurde die wahrscheinlichere bzw. die zeitlich erste Angabe zur Grundlage genommen. Die Angaben über den jeweiligen Beruf differieren in sehr viel stärkerem Maße als die Altersangaben. Zum einen gilt es, zwischen den vor und nach Kriegsende 1945 ausgeübten Berufen zu unterscheiden (z.B. Justizinspektor/Tiefbauhelfer), zum anderen mussten die Berufe teilweise aus anderen Quellen ermittelt werden. Da innerhalb der Mitgliedschaftsdauer in vielen Fällen auch Karrierefortschritte zu verzeichnen waren, andererseits aber der genaue Zeitpunkt des Erreichens dieser Karrierestufen in der Regel nicht bekannt ist, konnte nur so gehandelt werden, dass für den Zeitraum ab 1933 die höchste vor 1945 innerhalb des Untersuchungsgebietes erreichte soziale Stellung zum Maßstab der Zuordnung zu den nachstehend vorgestellten Berufskategorien genommen wurde, für die davor liegenden Eintrittsjahrgänge ist ein genauerer Abgleich mit NSDAP-Mitgliederkarteien, Adressbüchern etc. erfolgt. Die der Analyse zugrundeliegenden Berufsangaben widerspiegeln also in einer Reihe von Fällen nicht die berufliche Stellung bei Parteieintritt, sondern jene späterer Jahre. Eine Verzerrung ist dadurch kaum zu erwarten, Karrierefortschritte vollzogen sich in der Regel innerhalb des gleichen Berufsfeldes und ändern daher in der Regel nichts an der Einstufung in die Be-

Die wichtigsten Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1933 in Anhalt, Dessau 1936, S. 75. 245 rufskategorien dieser Untersuchung. Dieses Verfahren ist auch deshalb notwendig, weil die Berufsangaben in den Quellen in einer Reihe von Fällen eine zweifelsfreie Unterscheidung zwischen dem vor und dem nach Kriegsende ausgeübten Beruf nicht zulassen. Für den hier analysierten Personenkreis kann jedoch davon ausgegangen werden, dass infolge der einsetzenden Repressivmaßnahmen (für einen Großteil von ihnen auch dokumentiert) eine Herabsetzung in der gesellschaftlichen Stellung erfolgte, im konkreten also ehemalige Angestellte nach ihrer Entlassung jetzt Arbeitertätigkeiten verrichteten (sehr typisch: Holzfäller im Harz). Des weiteren sind Angaben über den Beruf bei Parteieintritt nur aus den NSDAP-Mitgliederkarteien im Bundesarchiv zu beziehen, was jedoch aus Gründen des zu bewältigenden Arbeitsaufwandes nur für den kleineren Teil der erfassten Personen erfolgte; im übrigen sind dort zu etlichen Personen aufgrund der oben benannten Fehlstellen auch keine Angaben verfügbar. Es ist im Falle von nicht identischen Mehrfachnennungen in Listen der Nachkriegszeit gleichfalls kaum möglich, den zur Zeit des Parteieintritts ausgeübten Beruf exakt zu benennen. Problematisch ist insgesamt, dass die Möglichkeit der Nachprüfung bzw. Ermittlung der Berufe anhand von Adressbüchern nur eingeschränkt besteht. Zum einen verzeichnen diese nur die „Haushaltsvorstände“, d. h. Frauen nur im Ausnahmefall (z. B. bei Verwitwung) und in der Regel auch keine noch im elterlichen Haushalt lebenden unverheirateten männlichen Personen, zum anderen erschienen diese zuletzt 1938 (Stadt Bernburg) bzw. 1934 (Kreis Bernburg). Relevante Überlieferungen der Einwohnermeldeämter, die hier evtl. hätten Entlastung schaffen können, gibt es nicht. Sehr hilfreich für die Präzisierung der Angaben im NSDAP-Datensatz ist jedoch ein wiederum mit sehr hohem Arbeitsaufwand aus im Stadtarchiv Bernburg überlieferten Listen erstellter Datensatz von ca. 10.000 gewerblich Beschäftigten in der Stadt Bernburg 1940. Weiterhin sind kriegsbedingte Verzerrungen so weit als möglich herausgefiltert, was allerdings im Falle der schon für die Bedürfnisse der Rüstungsindustrie (Junkers-Werke) bzw. für den Ersatz von Verwaltungskräften angeworbenen, dienstverpflichteten bzw. ausgebildeten Jugendlichen und Frauen nur begrenzt möglich ist. Bei Bestehen von Zweifeln, ob die jeweilige Tätigkeit im Arbeiter- oder im Angestelltenverhältnis ausgeübt wurde, erfolgte die Einstufung als Arbeiter. Sollten durch dieses Verfahren also Verfälschungen des Ergebnisses auftreten, so beeinflussen sie die Höhe des Angestelltenanteils negativ. Auch eventuell unerkannte, allein für die Zeit nach Kriegsende gültige Berufsbezeichnungen können den Angestelltenanteil zugunsten des Arbeiteranteils weiter vermindern. Lehrlinge eines Berufes werden der entsprechenden 246 Sparte zugeordnet. Auf den Dörfern gab es durchaus häufig einen Wechsel zwischen industriellen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten (im Extremfall vom Schlosser zum Melker). In diesen Fällen wird wiederum die mit einem höheren Sozialstatus belegte industrielle Tätigkeit zum Maßstab der Einstufung genommen. Zur Auswertung der Schichtzugehörigkeit wurden die Berufsangaben nach einem 21 Kategorien umfassenden Schema kodiert: Kategorie 1 – Landarbeiter: Forstarbeiter, Gärtner, Geschirrführer, Gutszimmermann, Landarbeiter, landwirtschaftliche(r) Hilfskraft/Gehilfe, Melkermeister, Schafmeister, Schlepperführer, Schweinemeister, Treckerführer, Waldwärter, Wirtschaftsgehilfe. Kategorie 2 – ungelernte Arbeiter: „Arbeiter”, Arbeitsbursche, Bauarbeiter, Bierfahrer, Chemiearbeiter, Fabrikarbeiter, Handlanger, Molkereihelferin, Mühlarbeiter, Reiniger, Steinbrucharbeiter, Transportarbeiter. Kategorie 3 – Hauspersonal und Dienstboten: Hausgehilfin, Portier, Reinmachefrau, Stütze, Wirtschafterin, Wirtschaftsgehilfe/in. Kategorie 4 – Facharbeiter und Angelernte des Metallgewerbes: Bauschlosser, Bleilöter, Bleiwalzer, Bohrer, Bordmonteur, Büchsenmacher, Chirurgiemechaniker, Dreher, Elektroschweißer, Feinmechaniker, Flugzeugbauer/Metallflugzeugbauer, Flugzeugmechaniker, Flugzeugprüfer, Former, Gas-und Wasser-Installateur, Gelbgießer, Installateur, Klempner, Mechaniker, Metallschleifer, Metallwerker, Modelltischler, Monteur, Orthopädiemechaniker, Schiffbauer, Schlosser aller Art, Schmiede aller Art, Verzinker, Werkzeugmacher. Kategorie 5 – Facharbeiter und Angelernte des Bau- und Holzgewerbes: Betonformer, Dachdecker, Eisenbieger, Flechter, Maler, Maurer, Ofensetzer, Schreiner, Steinsetzer, Straßenbauer, Stuckateur, Tischler, Zimmerer. Kategorie 6 – Facharbeiter und Angelernte des polygraphischen Gewerbes: Buchdrucker, Buchbinder, Schriftsetzer, Stereotypeur. Kategorie 7 – Bergleute. Kategorie 8 – Facharbeiter und Angelernte anderer Berufe: Bäcker, Böttcher, Brauer, Boten (mit Ausnahme Bankboten), Büromaschinenmechaniker, Desinfektor, Elektroinstallateur/Elektriker, Elektroschlosser, Elektrotechniker, Feinmeßprüfer, Fleischer, Friseur/Friseuse, Fußpfleger, Glasmaler, Glasschleifer, Goldschmied, Hausmeister (ohne Schulen), Heizer (wenn nicht ausdrücklich als Lokheizer ausgewiesen), Kesselwärter, Koch, Konditor, Kraftfahrer, Kfz.-/Motoren/Autoschlosser, Kraftfahrzeughandwerker, Kutscher, Lagerist, Maschinist, Motorwärter, Mühlenarbeiter, Op- 247 tiker, Pförtner, Photograph, Pumpenwärter, Sattler, Schiffer, Schneider, Schuhmacher, Schwachstrommonteur, Seilbahnbedienung, Steinhauer, Steinmetz, Stellmacher, Tapezierer, Taucher, Uhrmacher, Vorarbeiter, Wachmann, Weißnäherin, Werksfeuerwehrmann, Zahntechniker. Die Kategorie beinhaltet auch Fälle, in denen infolge Namensgleichheit eine Festlegung auf einen genauen Facharbeiterberuf nicht möglich war. Vor allem unter dieser Kategorie, wie auch unter den Kategorien 4, 5 und 6 dürfte sich ein nicht genau zu beziffernder Anteil von hier in handwerklichen Arbeiterberufen vermerkten Personen befinden, die tatsächlich Söhne von Handwerksmeistern, teilweise mit Aussicht auf spätere Übernahme des Geschäftes, waren. Kategorie 9 – Arbeiter im öffentlichen Dienst (ungeachtet ihrer beruflichen Vorbildung): Arbeiter in städtischer und Kreis-Verwaltung (einschließlich städt. Boten) und Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg sowie Stadtwerke und Wasserbauverwaltung, Bahnarbeiter, Bahnwächter/wärter, Feldaufseher, städtischer Feuerwehrmann, Gepäckarbeiter, städtischer Nachtwächter, Posthelfer, Rangierer, Reichsbahnhelfer, Schulhausmeister/diener, Straßen/Chausseewärter, Telefonmechaniker, Telegraphen(bau)handwerker. Diese Kategorie repräsentiert nur die gesicherten Mindestanteile an Arbeitern im öffentlichen Dienst. Es kann sich z.B. unter einem als „Schlosser“ bezeichneten NSDAP-Mitglied in Güsten durchaus ein Lokschlosser im dortigen Bahnwerk verbergen, ohne dass dies noch nachzuvollziehen wäre. Kategorie 10 – Angestellte von Handel und Buchhaltung: Apothekenhelferin, Apotheker(in), Bankbeamter/angestellter, Bankbote, Buchhalter, Drogist, Generalagent, Geschäftsführer/leiter(in), Handlungsgehilfe, Kalkulator, Kassenbote, Kaufmann, kaufmännische(r) Angestellte(r), Korrespondent/in, Lagerverwalter, Lohnrechner/schreiber, Magazinverwalter, Mithelfende(r) im Geschäft, Prokurist, Rechnungsführer, Registrator, Registraturhelfer, Revisor, Leiter der Raiffeisenkasse, Reisender, Sparkassenassistent/sekretär, Verkäuferin, Versandleiter, Versicherungsinspektor, Versicherungsvertreter, Wiegemeister. Die hier vertretene Berufsbezeichnung „Kaufmann“ lässt in dieser Form keinen Aufschluss darüber zu, ob es sich um einen Geschäftsinhaber oder um einen Angestellten handelt. Es wurde so vorgegangen, dass alle diejenigen, für die kein Nachweis über eine Selbständigkeit, ob über Entnazifizierungslisten oder über die Benennung im Adressbuch, vorhanden war, als angestellt bewertet wurden. Mit Apothekern und Drogisten wurde in der gleichen Weise verfahren. Die (wahrscheinlichen) Söhne von Geschäftsinhabern erscheinen in dieser Aufstellung jedoch weiterhin (unvermeidlich) als im Angestelltenstatus befindlich. 248 Einige der als Kaufleute sich selbst bezeichnenden Personen stellten sich auch als kleine Fabrikanten heraus und wurden im Datensatz auch so verzeichnet. Für die Orte im Landkreis Bernburg ergaben sich diese Selektionsmöglichkeiten nicht durchgängig; es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass einige wenige der dort als Angestellte vermerkten Kaufleute tatsächlich Geschäftsinhaber waren.528 Kategorie 11 – Lehrer: Lehrer bis einschließlich Kreisschulrat, Berufsschuldirektor, Fremdsprachenlehrerin, Gewerbe(ober)lehrer, Gymnastiklehrerin, Handarbeitslehrerin, Handelsschuldirektor, Kriegsaushilfslehrerin, Schulamtsbewerber, Schüler der Lehrerbildungsanstalt, Werklehrer, Wirtschaftslehrer(in), wissenschaftlicher Lehrer, Lehrdiakon. Kategorie 12 – Angestellte und Beamte im öffentlichen Dienst: alle Angestellten- und Beamten-Berufe von Post, Reichsbahn, Polizei, Feuerwehr, Justiz, Zoll, Steuer, Verwaltung, Reichswehr, Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg, Stadt- und Kreiskrankenhaus, Stadtwerke (Wasserwerk, Elektrizitätswerk), Technischem Überwachungs-Verein, Viehwirtschaftsverband Sachsen-Anhalt sowie Anhaltischer Versuchsstation, Abteilungsleiter, Anstaltssekretär, AOK-Buchhalterin, AOKVerwaltungsinspektor, „Arbeitsamt“, Bademeister, „Beamter”, Berufsoffizier, Dienstanfänger/anwärter, Dr.-Berufsberater, DRK/Diakon/AOK/GemeindeSchwester/Helferin, DRK-Hauptführerin, Fürsorgerin, Gauanwärter, Geometer, Gesundheitspflegerin, Hafenobersekretär, Hallenmeister, Heilgehilfe, KrankenhausObersekretär, (Kranken-)Kassenangestellter, Krankenpfleger, Krankenschwester, Kreisfürsorgerin, Landdienstführer, Landrat, Lazaretthelferin, Lokführer und –heizer (es wird unterstellt, dass es sich jeweils um öffentlich Bedienstete handelt und nicht um Beschäftigte des privaten Transportgewerbes), Museumsangestellter, Oberregierungsveterinärrat, Operationsassistent und Masseur, Posthalter, RAD-Führer, Reichsbankangestellter, Sachbearbeiter, staatlicher Revierförster, Stadtgartenmeister, Standartenführer, Straßenmeister, Strommeister, Telegraphenleitungsaufseher, Telegraphenoberwerkmeister, Telegraphist, Verkehrsinspektor, Vermessungsingenieur, Vermessungstechniker/sekretär, Wasserbauangestellter, Weichenwärter. Einige Aushilfsangestellte, die ihren ursprünglichen Beruf augenscheinlich nur infolge des

528 Im Unterschied zur vorliegenden Untersuchung ist diese Frage in überregionalen, allein auf Stichprobenerhebungen aus den NSDAP-Mitgliederkarteien beruhenden Studien nicht zu bewältigen, die betreffenden Studien sind daher zwingend grob fehlerhaft. Gleiches trifft auch für auf überlieferten Mitgliederlisten beruhende Lokalstudien zu, sofern nicht der beschriebene Abgleich mit weiteren konkretisierenden Quellen unternommen wurde. 249 Krieges aufgeben mussten, wurden unter dieser Kategorie nicht erfasst. Bürgermeister und Stadträte wurden nur dann dieser Kategorie zugeordnet, wenn keine andere Berufsbezeichnung zur Verfügung stand (d. h. das Amt in der Regel hauptamtlich ausgeübt wurde). Kategorie 13 – landwirtschaftliche Angestellte: Brennmeister, Feldverwalter, Gutssekretärin, Hofverwalter, Jäger, landwirtschaftlicher Inspektor/Verwalter, Schmiedemeister. Kategorie 14 – Werkmeister etc.: angestellte Handwerksmeister, Betriebsobermeister, Elektrowerkmeister, Fabrikmeister, Formermeister, Hilfsmeister, Lagermeister, Lehrmeister, Maschinenbetriebsleiter, Maschinenmeister, „Meister”, Messerschmiedemeister, Molkereimeister, Montagemeister, (Mühlen-)Verlademeister, Obermeister, Schachtmeister, Schriftsetzermeister, Siedemeister, Speichermeister, Steinbruchmeister, Wasch- und Plättmeister, Werkstattleiter, Ziegelmeister. Kategorie 15 – andere Angestelltenberufe: Abteilungsleiter, Analytiker, „Angestellter“, Architekt (sofern nicht freiberuflich bzw. selbständig), Arzt-Sekretär, Aufseher, Aushilfsangestellte, Bauführer, Bautechniker, bautechnischer Sekretär, Bergtechniker, Bergvermessungstechniker, Betriebsassistent, Betriebsingenieur, Betriebsleiter, Betriebsprüfer, Betriebstechniker, Büroangestellte, Bürogehilfin, Bürovorsteher, chemisch-technische Assistentin, (Dipl.-)Chemiker, Chorsängerin, Dekorateur, Diakon, Diätassistentin, Flugbetriebsingenieur, Flugkapitän, Funker, Gewerbegehilfin (Ehefrau), Grubenbeamter, Grubenbetriebsführer, Heimleiter(in), Hochbautechniker, Hofaufseher, Hofmeister, Ingenieur (Bau-/Elektro-/Ober-/Dipl.-; sofern nichts anderes vermerkt als im Angestelltenverhältnis stehend angenommen), Jagdaufseher, Kanzleisekretär, Karteiführer, Kindergartenhelferin, Kindergärtnerin/pflegerin (die Einstufung erfolgte nicht unter der Rubrik der städtischen Angestellten, weil es offensichtlich Kindergärten verschiedener Rechtsformen gab und folglich nur ein Teil der Kindergärtnerinnen im öffentlichen Dienst beschäftigt war), Konstrukteur, Kontrolleur, Küchenmeister, Laborant/in, Laboratoriums-Vorsteher, Lademeister, Lager/Magazin/Materialienverwalter, Lagerführer, Lagerhalter, Lichtspiel/Kinovorführer, Luftschutz- und Werkschutzleiter, Magazinaufseher, Markscheider, Maschinenbetriebsführer, Maschinentechniker, Milchverteiler, Musiker (sofern selbständige Stellung nicht ausdrücklich vermerkt); Niederlagsleiter, Parteisekretär (DVP), Pfarrer, Platzmeister, Probenehmer, Prüfer, Prüfstellenleiter, Redakteur, Saatzuchtleiter, Schauspieler, Schreibhilfe, Schriftleiter(in), Sekretärin, 250 Sprechstundenhilfe, Steiger, Stenotypistin, Steward, Techniker, technische Assistentin/Sachbearbeiterin, technischer Angestellter, technischer Betriebsführer, technischer Zeichner, Telefonbetriebswart, Telefonist, Terminbearbeiter, vermessungstechnischer Zeichner, Verwieger, Volontär, Werkschutzbeamter, Werkstattingenieur, Werkzeugausgeber, Wirtschaftsleiter(in), Zeichnungsverwalter. Kategorie 16 – Handwerk und Gewerbe: selbst. Apotheker(-Dr.), Baumeister (hinter dieser Bezeichnung verbergen sich – wenn nichts anderes vermerkt – in der Regel Maurer- oder Zimmermeister), Bauunternehmer, Bewachungsinstitut, Buchdruckereibesitzer, selbst. Dekorationsmaler, Dipl.-Optiker, Fährmann, Gastwirt, Händler, Handelsmann, Handwerksmeister aller Berufe, Kantinenpächter, Klavierstimmer, Kraftfahrzeugmeister, Lichtspieltheaterbesitzer, Lotterieeinnehmer, Mühlenbesitzer, Schiffseigner, selbst. Handelsvertreter, Süßmoster, Viehkaufmann, Zahntechnikermeister. Eine weitere Aufschlüsselung dieser Kategorie in Handwerksmeister und Händler erscheint nicht praktikabel, da real oftmals eine Doppelfunktion bestand, z.B. in Gestalt eines Korbmachermeisters, der evtl. den größeren Umsatz mit dem angegliederten Spielwarengeschäft erzielte. Kategorie 17 – Fabrikbesitzer und Direktoren: Bank-/Sparkassendirektor, Bankinhaber, Betriebsführer, Direktor, Industrieller, Molkereibesitzer, Molkereiverwalter/- leiter, Steinbruchbesitzer, Syndikus, technischer Direktor, Verleger, Verwaltungsdirektor. Sofern die (anzunehmende) Beschäftigtenzahl des Betriebes gegen eine Einstufung als „Fabrikant“ sprach wurde der Betreffende als Inhaber eines Handwerksbetriebes (Kategorie 16) eingestuft. Kategorie 18 – Landwirte und Gutsbesitzer: Bauer, Domänenpächter(in), Gärtnereibesitzer, Landwirt, Öbster. Kategorie 19 – freie Berufe: Architekt, Arzt, Dentist, Diplom-Volkswirt, „Dr.”, „Dr. jur.“, Fotograf(in), Hebamme, Heilgymnastin, Hofprediger, Jurist, Klavierlehrer, Konzertsängerin, Kunstmaler, Molkereifachmann, selbständiger Musiker, „Professor”, Rechtsanwalt, Rechtsberater, Schriftsteller, selbst. Jurist, selbständiger Ingenieur, Textilsachverständiger, Theater-Intendant, Theologe, Tierarzt, vereidigter selbständiger Bücherrevisor, wissenschaftlicher Sachverständiger. Kategorie 20 – Schüler und Studenten. Kategorie 0 – für die Zuordnung zu einer bestimmten Sozialschicht nicht relevante Angaben: Ehe/Hausfrau, Haustochter, Invalide, Lehrling (ohne genauere Spezifikation), Privatmann, Rentner, Witwe, keine Angabe. Unter dieser Kategorie wurden 251 auch solche Fälle zusammengefasst, deren widersprüchliche Angaben keine sinnvolle Zuordnung mehr zuließen. Die Darstellung der NSDAP-Sozialstruktur erfolgt auf der Basis der Summe der Kategorien 1 bis 20; die Kategorie 0 fließt korrekterweise nicht in die Berechnung ein und wird nur vergleichsweise erhoben („männlicher Maßstab“). Dieses Verfahren versucht eine Verfälschung durch die zahlreichen quellenbedingten Ausfälle zu vermeiden. Doch auch ohne diese Ausfälle wäre bei einer Einbeziehung der irrelevanten Angaben das Geschlecht faktisch zu einer Berufskategorie erhoben worden – schließlich handelt es sich bei der Kategorie 0 zur knappen Hälfte um berufslose Frauen. Tatsächlich tritt auch bei dem hier gewählten Verfahren eine Verfälschung des Ergebnisses auf, doch ist diese bei weitem geringer. Aussagen über die Zeiten von Arbeitslosigkeit sind aufgrund fehlenden statistisch verwertbaren Quellenmaterials für größere Gruppen der Mitgliedschaft nicht zu treffen. Auch die Daten über den Parteieintritt basieren wiederum nur auf dem jeweiligen Eintrittsjahr, nicht jedoch auf dem konkreten Datum; die Mehrzahl der zu erlangenden Angaben enthält dieses einerseits nicht, andererseits wurden in den 30er und 40er Jahren die Eintritte formal auf wenige Eintrittsdaten pro Jahr festgelegt (z.B. 20. April bei Aufnahme der bisherigen HJ- und BDM-Führerschaft). In der Auswertung des Datensatzes können weiterhin durch den alleinigen Bezug auf das Geburtsjahr – wie bei den Altersangaben – geringe Ungenauigkeiten entstanden sein. Im allgemeinen wäre mit einer Erhebung des konkreten Datums der Antragstellung eine größere Genauigkeit zu erzielen, doch steht dieses nicht durchgängig zur Verfügung bzw. es könnte nur mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand in der ehemaligen NSDAP-Mitgliederkartei ermittelt werden. Im übrigen würde es sich auch hier jeweils nur um die Termine der bestätigten Antragstellung handeln; vorherige informelle Vorstöße, auf lokaler Ebene zurückgewiesene Anträge, automatische Zurückweisung durch die Aufnahmesperre nach 1933 etc. blieben nach wie vor unerkannt. Als Parteieintritt bewertet wird der Ersteintritt in die NSDAP oder in eine in ihrer Organisationskontinuität stehende Vorläuferorganisation. Nachfolgende Austritte, Ausschlüsse, Wiedereintritte sind – soweit dokumentiert – im Datensatz zwar erfasst, finden in der Auswertung aber keine Berücksichtigung. Aussagen über die Fluktuation der Mitgliedschaft sind deshalb nicht möglich. So bleiben denn möglicherweise (jedoch von Ort zu Ort verschieden) auch die Personen tendenziell schlechter im Datensatz vertreten, die 1945 schon verstorben, gefallen oder verzogen waren, des weiteren auch 252 Kriegsgefangene, wieder Ausgetretene bzw. Ausgeschlossene. Ist das Eintrittsdatum nicht bekannt, so wird die erstmalige öffentliche ‚Auffälligkeit‘ in der Betätigung für die NSDAP als ‚Eintrittsdatum‘ festgesetzt. In einigen Fällen können dadurch wieder geringe Ungenauigkeiten entstehen, dass das tatsächliche Eintrittsdatum u. U. noch früher lag als hier festgesetzt. Des weiteren werden auch verbale Angaben (z.B. „Alter Kämpfer“, „Goldenes Parteiabzeichen“ etc.) in fundierte Schätzungen des Parteieintritts umgesetzt. In einer Vielzahl von Fällen kann das Eintrittsjahr außerdem anhand der fortlaufend vergebenen NSDAP-Mitgliedsnummern nachträglich ermittelt werden. Kandidaturen auf der NSDAP-Liste zu Gemeinderatswahlen werden als Mitgliedschaft spätestens zu diesem Zeitpunkt bewertet. Die Zustimmungsunterschriften für die NSDAP-Listen leistenden Personen werden dagegen nur dann als NSDAP-Mitglieder bewertet, wenn dies in der NSDAP-Mitgliederkartei oder anderen Quellen auch zu verifizieren ist. Wenn für eine Person zwei Angaben zum Eintrittsdatum vorlagen, so findet – bei Gleichrangigkeit der Quellen - der frühestmögliche Nachweis Verwendung. Im Zweifelsfalle wird für den Zeitraum seit Beginn der 30er Jahre den BDC-Angaben eine leicht höhere Wertigkeit beigemessen. Nachgenannte Verbalaussagen im Datensatz sind wie folgt in numerische Werte umgesetzt: „x oder früher“: x; „vor x“: x-1; „nach x“: x+1; „weit/deutlich vor x“: x-5. Personen, die in Quellen als NSDAP-Mitglieder angegeben wurden und für die jedoch keine Angabe über das Eintrittsjahr vorliegt, finden sich zwangsläufig in einer besonderen Kategorie zusammengefasst. Nicht in die Auswertung aufgenommen sind Personen, über deren Mitgliedschaft es aufgrund auch nicht anderweitig zu verifizierender ungenauer Angaben Zweifel gibt. Es würde nahe liegen, das von Mühlberger in seiner Studie über die soziale Zusammensetzung der NSDAP vor 1933 aufgestellte Schema auch auf die hier vorliegende Arbeit anzuwenden.529 Doch zeigt es sich, dass dieses Vorgehen mit einem deutlichen Informationsverlust einhergehen würde. Eine parallele Kodierung und Auszählung ist angesichts des hohen Zeitaufwandes nicht sinnvoll. Insbesondere ist an Mühlberger zu kritisieren:

529 Vgl. Detlef Mühlberger, Hitler’s Followers. Studies in the sociology of the Nazi mouvement, London und New York 1991, S. 20-25. 253 a) die Hinzurechnung der Fälle ohne Berufsangabe530 zur Basis, was bei dem hier zusammengestellten Datensatz zu Ausfällen von etwa einem Drittel aller Fälle führen und somit eine starke Verzerrung darstellen würde; b) das geringe Profil der Kategorien, z. B. in der Mühlbergerschen „Subgroup 9“, in der sich sowohl Bahnarbeiter als auch Lehrer (diese wiederum unter Ausschluss der Gymnasiallehrer) einzig aufgrund ihrer Beschäftigung im öffentlichen Dienst wiederfinden. Es stellt sich die Frage, welche grundlegenden Übereinstimmungen in Sozialstatus und Lebensweise Bahnarbeiter und Lehrer verbinden.

530 Vgl. ebenda (Subgroup 18, 19 und 21). 254 Die Bevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 nach Berufsgruppen und Ortsgröße531 Erwerbspersonen nach der Stellung im Beruf (in %, jeweils mit ihren Angehörigen ohne Hauptberuf)533 Bevölkerung532 Selbständige Mithelfende Familienangehörige Beamte und Angestellte Beamte Angestellte Arbeiter Bernburg 40.732 9 2 26 9 18 62 „5 Orte“534 23.856 10 4 15 8 7 71 „Dörfer“535 24.109 9 8 7 3 4 76 Gesamt 88.697 9 4 18 7 11 68 531 Quellen der Berechnung: StDR 559.6: Gemeindestatistik. Ergebnisse der Volks-, Berufs- und landwirtschaftlichen Betriebszählung [17.05.]1939 in den Gemeinden, Heft 6: Provinz Sachsen, Thüringen, Anhalt, Berlin 1944, S. 6 f., 70 f.; Amtsblatt für Anhalt. Anhaltischer Staats-Anzeiger, 03.10.1941, S. 119-128. 532 Wohnbevölkerung ohne die ihrer Dienstpflicht genügenden Soldaten und Arbeitsmänner und ohne die Arbeitsmaiden. 533 Die Selbständigen Berufslosen (im wesentlichen: Rentenempfänger, Pensionäre, vom eigenen Vermögen oder von Unterstützungen lebende Personen) wurden als nicht zuordnungsrelevante Angaben nicht in die Berechnung einbezogen. 534 Güsten, Hecklingen, Neundorf, Nienburg, Sandersleben. Alle Orte verfügten über jeweils mehr als 3.000 Einwohner. 535 Alle Orte (28) des Untersuchungsgebietes mit weniger als 2.000 Einwohnern. 255 Mandatsverteilung im Anhaltischen Landtag 1918-1932 nach den Landtagswahlen vom: Dez. 1918 Juni 1920 Juni 1924 Nov. 1924 Mai 1928 April 1932 USPD 6 KPD 4 2 3 3 SPD 22 13 13 15 15 12 DDP (DStP) 12 6 1 3 2 1 Mieterschutz, Pachtschutz und Bodenreform 1 1 Bürgerliche Volksgemeinschaft (nur Nov.1924) 14 DVP 5 6 6 2 Hausbesitz (Stadt und Land) (Anhaltischer Haus- und Grundbesitz) 1 2 1 Hausbesitz und Gewerbe 1 Reichspartei des deutschen Mittelstandes 1 DNVP 2 6 4 2 2 Landbund 3 4 Deutschvölkische 2 Nationale Freiheitspartei 1 NSDAP 1 15 Gesamt 36 36 36 36 36 36 256 Bericht des SA-Sturmführers Gerhard Boas über die Misshandlungen von SPDFunktionären in Bernburg in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1933536 „Plötzkau/Saale, den 23. Juli 1933 Titl. SA-Gruppe Mitte, z.Hd. des Gruppenführers Pg. Schragmüller Magdeburg Antwortlich Ihrer Aufforderung, mein Urlaubsgesuch an die Standarte 93 unter Umgehung des Dienstweges ausführlich zu begründen, teile ich Ihnen mit, dass es nach dem Fortgang des Sturmbannführers Hauptmann v. Bothmer keine Ehre mehr ist, Angehöriger des Sturmbannes VIII/93 zu sein. Unter der Leitung des jetzigen Sturmbannführers Kautz sind Zustände eingetreten, die einfach jeder Beschreibung spotten. Ich beziehe mich auf die Befehle der Obersten SA-Führung sowie Ihre Gruppenbefehle, wonach willkürliche Maßnahmen und eigenmächtige Aktionen der SA strengstens untersagt sind. Die Tatsachen innerhalb des Sturmbannes VIII/93 beweisen das Gegenteil. Es würde zu weit führen., die Disziplinlosigkeit einzelner SA-Einheiten sowie die Uebergriffe der Sturmbannleitung gesondert aufzuführen und dürfte dies Gegenstand einer eingehenden Untersuchung sein. Ich beschränke mich mit dem Heutigen auf ein Schulbeispiel, welches mich veranlasst hat, mein Urlaubsgesuch einzureichen. Es sind dies die Vorgänge bei der Verhaftung der ehemaligen SPD-Funktionäre in der Nacht v. 24.-25. Juni 1933 und bin bereit, für die nachstehenden Schilderungen meine eidesstattliche Versicherung abzugeben. Am Sonnabend den 24. Juni cr. abends gegen 10 Uhr, erhielt ich durch den Sturmbannführer Kautz persönlich den Befehl, in meinem Sturmbezirk 76/93 sämtliche ehemaligen SPD-Funktionäre zu verhaften und dieselben in Bernburg dem Sturmbann im Hohenzollern-Lokal abzuliefern. Ich nahm darauf ca. 20 Mann in Schutzhaft und transportierte diese nachts gegen 2 Uhr mit einem Lastwagen nach Bernburg. Bei der Ablieferung im Hohenzollernlokal traf ich auf Zustände, die mich im Interesse der von mir eingelieferten Leute zwangen, bis zu deren Vernehmung im Hohenzollernpark zu

536 Bundesarchiv Berlin, BDC, SA-P 4001000587. 257 bleiben. Ich bin nun Zeuge folgender Vorgänge gewesen. Im Hohenzollern waren bereits ca. 100 Häftlinge vorhanden, die einzeln von dem Sturmbannführer Kautz und dem [NSDAP-]Kreisleiter Wienecke vernommen wurden. Die ‚Vernehmung‘ vollzog sich in der Form, dass die Häftlinge bereits auf dem Weg zum Vernehmungszimmer von einem sich im Korridor befindlichen führerlosen SA-Trupp auf das viehischste misshandelt wurden. Die Leute wurden mit Schulterriemen und dergleichen derartig geschlagen, dass sie schon blutig in das Vernehmungszimmer gelangten.537 Ich selbst habe die weitere Mißhandlung eines Häftlings, der am Boden lag und den man mit den Füßen bearbeitete, in das Gesicht trat usw., verhindert. – Im Vernehmungszimmer angelangt, übertrafen sich der Sturmbannführer Kautz und der Kreisleiter Wienecke in der Mißhandlung der Häftlinge. – Die Leute erhielten von den Genannten Faustschläge in das Gesicht und wurden anschliessend über einen Tisch gezogen, um von hierzu beauftragten SA-Leuten mit Gummiknüppeln bestialisch, teilweise völlig entkleidet bis zur Besinnungslosigkeit geschlagen zu werden. Es sind aus SA-Kreisen Zeugen vorhanden, dass bei verschiedenen Misshandelten der Puls ausgesetzt hatte. Die Häftlinge wurden wiederholt mit einer ca. 2 Mtr. langen Schlinge um den Hals an den Vernehmungstisch gezerrt und zwecks Erpressung von Geständnissen mit dem Messer bedroht. – Ich bin Zeuge dieser widerlichen Vorgänge bis gegen 6 Uhr morgens gewesen und habe festgestellt, dass diese Art Vernehmung nicht den geringsten positiven Erfolg gehabt hatte. – Die grosse Zahl der Verletzten ist durch einen Sanitätstruppführer verbunden worden, und hat dieser ausgesagt, dass am anderen Morgen bei der Ablieferung der Häftlinge an die Polizei, auf Befehl des Sturmbannführer Kautz sämtliche Verbände abgerissen werden und durch unauffälligeres Heftpflaster ersetzt werden mussten. Die teilweise schweren Verletzungen werden durch den Standartenarzt Dr. med. Florie, sowie durch andere Zeugen bestätigt. – Die Bernburger Polizei ist diesen Vorgängen gegenüber machtlos, da sich der Sturmbann VIII/93 über die Staatsautorität nachweisbar hinwegsetzt. Die vorstehend geschilderten Tatsachen haben nicht nur in der Civilbevölkerung Bernburgs grösste Empörung hervorgerufen, sondern gefährden auch in unseren eigenen Reihen schwer das Vertrauen zu unserer Bewegung. So ist über diese Vorfälle durch die nationalsozialistische Landtagsfraktion Protest bei der Anh. Regierung erhoben worden.

537 Der Bernburger Gemüsehändler Friedrich Müller, der als Mitglied des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps Verhaftete zum „Hohenzollern“ befördert und dort auch misshandelt hatte, äußerte 1934, auf eine fehlende Schnalle seines Schulterriemens angesprochen, dass diese „sicherlich einem von den Roten im Kopf“ stecken würde. 1948 wurde er vom Landgericht Magdeburg zu drei Jahren Gefängnis und fünf Jahren Internierungslager verurteilt. F 07.01.1948. 258 Desgleichen laufen von verschiedenen anderen Seiten bei höheren Dienststellen ebenfalls Beschwerden, zumal Erfahrungsgemäss bei der Standarte der Untergruppe alle Eingaben von selbst schwerwiegender Bedeutung ohne Beachtung bleiben. Meines Wissens sollten die Ereignisse von Bernburg unter Namensnennung im Strassburger Sender verbreitet worden sein. – Ich bitte mein Urteil in dieser Angelegenheit als rein objektiv gegeben zu betrachten, da ich persönlich als ein im freien Beruf stehender Landwirt bei unserer Bewegung nichts zu gewinnen und zu verlieren habe. Seit Frühjahr 1931 Sturmführer der SA habe ich mich aus reinem Idealismus für unsere herrliche Bewegung eingesetzt, wie ich als Einjährig-Kriegsfreiwilliger von 1914/18 als Frontsoldat für mein Vaterland eingetreten bin. – Ich glaube noch Ideale zu besitzen und kann nich[t] zusehen, wie das Ansehen unserer Bewegung von politisch unreifen, jungen Menschen in den Dreck getreten wird. Ich bin daher auch bereit, die letzten Konsequenzen zu ziehen und wenn nötig, das Braunhemd abzulegen. Da ich Gelegenheit habe, mit unserem obersten Führer Adolf Hitler auf privatem Wege zusammenzukommen, bitte ich um Ihren Rat, ob Sie es für richtig halten, die vorerwähnten Zustände der höchsten Stelle zu unterbreiten. Mit Hitler – Heil, gez. Boas, Sturmführer 76/93 z.Zt. beurlaubt.“538

538 Gerhard Boas wurde nach Beurlaubung vom Dienst seit 1933 im Jahre 1935 endgültig aus der SA gedrängt, war jedoch weiterhin als NSDAP-Mitglied und Bezirksbauernführer tätig. Der ehemalige Redakteur der „Volkswacht“, Johann Budnarowski, dem nach den Misshandlungen ein künstlicher Darmausgang gelegt werden musste, verstarb an deren Spätfolgen. Andere trugen schwere Gesundheitsschäden davon. 259 Rechtfertigungsschreiben des ehemaligen Ortsgruppenleiters BernburgWasserturm, Kurt Kleinau, an das Oberste Parteigericht der NSDAP 1939539 „Begründung meiner Berufung gegen das Urteil des Gaugerichts der NSDAP – Gau – Magdeburg-Anhalt vom 22.4.1939.

Am 1. November 1931 in die Partei eingetreten und unter

der Mitgliedsnummer 680 964 geführt, habe ich vom ersten Tage an für die Partei, für unser Vaterland und gegen alles Zersetzende, gegen alle Feinde unserer Weltanschauung gekämpft. – 14 Tage nach meinem Eintritt war ich SA-Mann und hier habe ich mich, so können alle meine damaligen Kameraden, angefangen von unserem Sturmführer Freiherrn v. Bothmer bezeugen, Tag um Tag und manche Nacht für unsere Idee eingesetzt. – Ich wohnte damals und wohne noch heute in einer ausgesprochenen Arbeitergegend. Was das für mich damals bedeutete brauch ich nicht zu schildern. – Ich weiß jedoch auch heute noch: Der Haß der ganzen Gegend war grenzenlos! – Bald war das „Nazischwein“ an allen Ecken bekannt und meine Familie wurde mehr und mehr gemieden, meine Frau angespuckt und bedroht. – Furchtbare Kämpfe mit der eigenen Frau um den Einsatz in der Partei waren die Folge.

Dennoch ließ ich mich nicht abhalten, jeden Dienst ausnahmslos mitzumachen,

Saalschutz in und außer Bernburg zu stellen, in Kellern und Sälen zu kampieren – und Frau und Kinder in Angst allein zu Haus zu lassen!

Im November 1932 meldete ich mich, da dringendst noch ein Zellenleiter in

meiner Wohngegend gesucht wurde als erster und einziger aus meinem Sturm freiwillig, ohne zunächst zu wissen, was mit diesem Amt verbunden war. – Bald mußte ich erkennen, daß SA-Dienst und der Dienst in der Politischen Leitung nicht ohne gegenseitige Störung vorgenommen werden konnte. Ich ließ mich deshalb von der SA beurlauben, da ich wußte, wie wichtig die Politische Betreuung der Partei und Volksgenossen wurde. – Wie oft mußten wir uns nun vor rotem Gesindel in Acht nehmen. – Bei einer Klebestreife erhielt ein Kamerad von mir – dicht bei mir – einen Schlag über den Kopf – etwas später hatten wir einen schweren Überfall in der hiesigen Breiten Straße. – Als Zellenleiter meiner Gegend übernahm ich u. a. dreimal die Aufgabe der Partei, als Beisitzer-, Vorsteher- Stellvertreter u. Schriftführer bei den damaligen Wahlen mit den anderen Parteien zusammen. zu arbeiten.

539 Bundesarchiv Berlin, BDC, OPG 3405000474, Bl. 20-26 der Gaugerichts-Akte. 260

Am 15. März 1934 wurde ich dann bei der Neu-Einteilung der hiesigen Ortsgruppen zum Ortsgruppenleiter ernannt. 5 Jahre bin ich gerade jetzt ein Ortsgruppenleiter gewesen, der nicht nur das getan hat, was man von ihm verlangte, sondern darüber

hinaus so Manches immer wieder freiwillig tat.

Bis vor etwa ½ Jahr habe ich stets an 5 Tagen der Woche – außer Sonnabends –

meine abendlichen Sprechstunden gehalten, u. zwar oft 3 Stunden und mehr. – Was das für mich als angestellten Reisevertreter bedeutet hat, das können nur Wenige ermessen! – Wie oft bin ich gefragt worden: „Ja, wie machst du das nur?!“ Dabei waren meine Reisen meist recht weit – Immer und immer wieder habe ich mein Fahrrad mitgenommen, um ja einerseits das geschäftliche Pensum zu schaffen, andererseits um jedoch auf jeden Fall des abends wieder daheim, d. h. besser gesagt: in der Geschäftsstelle zu sein. – Wie oft habe ich mich wahrhaft abgehetzt, sodaß der Schweiß noch spät abends nicht weichen wollte! – Und dann – mit ach so schnellem Essen hin zur Geschäftsstelle. – Das letzte i-Tüpfelchen durfte nicht vergessen werden! Schulung selbst in jeder Woche einmal und dazu immer wieder gewappnet sein! – Oft – nach der Schulung, wenn alle anderen Kameraden schon beim Bier saßen, arbeitete ich noch allein. – Wie selten habe ich mich dann doch noch zu den bittenden Kameraden gesetzt – selbst dann oft fix und fertig – um schließlich – einen Apfelmost – ein Karamelbier oder eine Tasse Kaffee – (ganz selten ein Glas Bier) – mitzutrinken. – Lieber gab ich oft für die durstigen Kehlen der Kameraden eine Lage, ehe ich mir die bitter notwendige Nachtruhe raubte! – Meine Nerven waren so manchmal nach diesem stundenlangen Sprechens und Antwortstehens zum Auseinanderreißen! Der Rauch quälte mich oft, da ich als Nicht-Biertrinker auch so gut wie nicht rauche! – Dabei mußte ich stets sehr früh wieder aufstehen, um die frühesten Züge zu erreichen! Schließlich mußte ich ja auch noch jeden Tag selbständig erwägen, was für meinen Beruf zu erfüllen war, um auch den Chef zu befriedigen! – Viel hätte damals nicht gefehlt und auch ich lag auf der Straße, man litt auch damals nicht – und ich trug es erst recht – daß ich während meiner Kundenbesuche das ParteiAbzeichen trug! – Im Gegenteil: meine Reisetätigkeit habe ich die ganzen Jahre hindurch zur intensivsten Propaganda – manchmal auch beantwortet mit Boykott seitens der Kunden – ausgenutzt!! – Wie oft hätte ich dann den späteren Nachmittag und die Abende benutzen müssen und können, noch Geschäfte zu tätigen! – Um des Einsatzes für die Bewegung willen habe ich darauf verzichtet!540

540 „Auf die Dauer gehen bei dem gegenwärtigen Zustand [der Tätigkeit ohne hauptamtliche Mitarbeiter – T.K.] die Ortsgruppenleiter, die ihren Auftrag gewissenhaft erfüllen wollen, vor die Hunde. Der Ner- 261

Als erster Ortsgruppenleiter meiner Ortsgruppe bin ich dann bis auf den heutigen

Tag bestrebt gewesen, allen Partei und Volksgenossen gerecht zu werden. Alle meine Kameraden lieben mich und ich liebe sie!

Ich will nicht sprechen von den selbstverständlichen Pflichten gegen. in Not

befindlichen Menschen. – Sie kamen und kommen auch heute immer wieder gern zu mir, und ich weiß, sie werden auch in aller Zukunft mich um Rat fragen, so lange ich hier wohne! Selbst so viele unserer ehemaligen Feinde sind es heute, die immer wieder – und sei es nur auf der Straße – Rat und Auskunft und Hilfe erbitten.

Selbstverständlich habe ich stets im Dienste für die NSV und das WHW. an erster Stelle gewirkt. – Ich bin stets der beste Sammler gewesen! – Die ärmsten Hütten und

Wohnungen haben mich und jene Menschen oft zusammen zu den Glücklichsten gemacht! – Bei der letzten Gau-Straßensammlung sammelte ich an der Ecke unserer Arbeitergegend in 2 Stunden ohne Abzeichen Rk. 16,- in lauter 5 und 10 Pf-Stücken! – Für das Opferbuch des Gaues sammelte ich an 14 Nachmittagen 850,- Rk. – Bei der letzten Eintopfsammlung dieses Jahres als ich schon beurlaubt war fehlten Helfer! – Ich erfuhr davon – ließ meine Kinder allein zu Haus – und sammelte in einem Block statt bisher 17,- Rk. jetzt 30,60 Rk. – Einige Pgs. traf ich noch garnicht mal an! Meinen Kameraden half ich, wo ich nur konnte:

Wie oft habe ich ärmeren Parteigenossen Beiträge bezahlt! – Wie viele Patenstellen habe ich im Laufe der Jahre übernommen! – Als erster und einziger Ortsgruppenleiter am Ort übernahm ich schon vor 2 Jahren die Bürgschaft für 25 Kameraden

gegenüber der Sparkasse, um die dringende Anschaffung von Mänteln und deren Abzahlung zu ermöglichen. Wie viele Raten bezahlte ich selbst! – Einem Kameraden schenkte ich, als er zu stark von seinen Gläubigern getreten wurde einmal 20 Rk., ein weiteres Mal 50 Rk. – Ein anderer Blockleiter wollte sich vor dem letzten Parteitag Stiefeln kaufen. – Ich schenkte diesem alten Parteigenossen 20,- Rk.

Jede Aktion unserer Bewegung habe ich mit heißem Herzen gefördert! – Jeder

Mensch allein war mir schon Gebot! – Meine Frau trat von sich aus 1932 in den Opferring, um etwas später in die Frauenschaft zu gehen. – Seit 3 Jahren arbeitet sie ständig mit und ist heute Zellenleiterin. Wie manche Stunde muß auch hier geopfert werden und müssen meine 3 Jungens von jetzt 11, 8 und 3 Jahren sich allein überlassen werden!

venverschleiß ist ungeheuerlich, und die wirtschaftlichen Anforderungen sind ebenfalls groß. Der eigene Beruf muß hierbei zwangsläufig vernachlässigt werden, wodurch dann das Fortkommen dieser Politischen Leiter gehemmt wird.“ Röver, Bericht, S. 60. 262

Vor allem dieser 3 Jungens wegen, die alle drei die schönsten Hoffnungen für

uns und für unser Vaterland erfüllen werden bitte ich! – Der Älteste ist bereits seit 1 Jahr auf der Nationalpol. Bildungsanstalt in Ballenstedt und ist einer der besten seiner Klasse. Dies nun mein Leichtsinn:

Ich fuhr vor etwa einem halben Jahr von Schladen bei Braunschweig nach Bernburg. – Ich löste, da ich mein Fahrrad bei mir hatte auch eine Fahrradkarte nach Braunschweig. – In Braunschweig mußte ich umsteigen und da ich noch einige Kunden besuchen wollte, nahm ich die Fahrradkarte zu mir in die Brieftasche. – Da ich jedoch

unvorhergesehen erst am nächsten Tage weiter fuhr, dachte ich nicht an meine noch bei mir habende d. h. noch voll gültige Fahrradkarte und löste eine neue. – Zu Haus angekommen bemerkte ich die in Schladen bis Bernburg gelöste Fahrradkarte. - Da mir nun stets am Endziel meiner Reise diese Karte abgenommen wird, nahm ich an, daß die Karte, die ja im Übrigen erst zu 1 /10 der vorgesehenen Reise benutzt war noch Gültigkeit habe. – Ende November 1938 fuhr ich abermals nach Schladen, d. h. ich kam dort von Ringelheim-Salzgitter kommend etwas später an, sodaß ich den geplanten Mittagszug nicht mehr erreichen konnte. – Kurzerhand nahm ich den Fahrplan zur Hand und konnte ich feststellen, daß ein Zug von Seesen über Börssum nach Braunschweig fuhr, der in 20 Minuten in Börssum fahren sollte. – Im Augenblick setzte ich mich auch schon auf den Sattel und raste in furchtbarstem Tempo nach Börssum d. h. eine Station hinter Schladen d. h. näher an Braunschweig. – Ich wollte unbedingt noch 2 Stunden Zeit gewinnen, um 2 Kunden in der Nähe des Hauptbahnhofs i. Braunschweig zu besuchen. – Mit letzter Lungenkraft und in Schweiß gebadet langte ich an dem Bahnhof in Börssum an, während der Zug schon eingelaufen war. Ich schrie noch über den Zaun dem Zugpersonal zu, noch zu warten, was man auch mit Zeichen beantwortete. – Schnellstens trat ich an den Schalter und löste, um schneller abgefertigt zu werden eine Karte bis Braunschweig, jedoch keine Fahrradkarte. – Diese hatte ich bei mir und band dieselbe – schon auf dem Bahnsteig angekommen an. – Im letzten Augenblick gab ich nun mein Fahrrad in den Gepäckwagen und stieg, völlig erschöpft in das Abteil. – In Braunschweig wurde ich nun von dem Gepäckmeister angehalten und gefragt, ob ich die Karte umgeändert habe. – Ich leugnete nicht einen Augenblick. – Ich wurde dann zu Protokoll vernommen: Ich hatte den Ort Bernburg in Nienburg umgeschrieben, d. h. nach Radierung umgeschrieben. – Eine Schädigung, so glaubte ich würde ja hierdurch nicht eintreten, da ja der Preis der Karte der gleiche blie- 263 be, da ja Nienburg eine Station vor Bernburg liegt. – Ich hatte mir für jenen Abend vorgenommen in N. auszusteigen, um einen Pg. Marnitz, der als Komiker bekannt ist und den ich schon selbst lange kenne für einen Kameradschaftsabend zu gewinnen. – Ich wußte, daß M. auch nur des Abends anzutreffen ist, da er selbst als Reisevertreter arbeitet. – Ich war mir auf keinen Fall bewußt, daß ich hier solch ein Verbrechen beging. – Hätte ich nur geahnt, daß jener kleine Abschnitt, der von der Reichsbahn selbst oft sehr gering behandelt wird als Urkunde angesehen wird, ich hätte auch selbst den Versuch nicht unternommen, hier etwas zu unternehmen. Ich glaubte eben, die so gut wie nicht benutzte Karte in der für sie gültigen Entfernung nochmals benutzen zu dürfen. –

Ich versichere hierdurch, niemals vorher auch nur die geringste Veruntreuung

vorgenommen zu haben! – Ich versichere, niemals auch nur Ähnliches tun zu wollen!

Soll mein Kämpfertum nun aufhören? – Jeder achtet mich, da ich bisher nur Gutes tat! – Nun wird ein Geachteter zum Geächteten werden! – Ein Mensch, der mit Leib

und Seele ein Gefolgsmann des Führers ist, der in der Kampfzeit Alles auf sich genommen hatte, was für den siegreichen Durchbruch der Idee des Führers notwendig war soll durch einen solch unglücklichen Schritt unglücklich werden! – Statt der Ehre soll Unehre meinen besonderen Einsatz beschließen!

Sie wissen nicht, was in diesen Tagen in meinem Herzen vorgeht! – Manche

Stunde war ich dem Wahnsinn nahe, meine Nerven sind zum Zerreißen, mein Leben ist nicht mehr lebenswert. Es will und kann nicht Frühling für mich werden! –

Im Vorstehenden gebe ich Verschiedenes über mich persönlich zur Kenntnis,

was zu meiner Entlastung beitragen könnte. – Ich bin sonst nicht der Mensch, zu prahlen. – Hier hielt ich es jedoch für meine Pflicht!

Doch was ich nun selbst schrieb, bitte ich auch durch Zeugen erhärten zu lassen,

die ich vollständig beliebig nennen könnte. – Ich bitte folgende Parteigenossen als Zeugen zu hören, ob man zu mir Vertrauen hat, wie ich mich die ganzen Jahre hindurch geführt habe, wie arbeitete und wie meine Lebensweise war. 1). Kreisleiter Pg. Wieneke / Staßfurt 2). der frühere Kreisleiter, Pg. Petri / Dessau (dieser setzte mich damals ein!) 3). der stellvertr. Ortsgruppenleiter

Pg. Walter Koppius, Bernburg, Schäferstr.

4). der Ortsgruppenleiter,

Pg. Karl Düring, Bernburg, Grönaerstr.

264 5). der Kassenleiter

Pg. Erich R[...], Bernburg, Albrechtstr.

6). der Kassenleiter (früher meine Ortsgr.).

Pg. Erich B[...], Dessau

7). der DAF-Ortsgruppenamtsleiter

Pg. Albert W[...], Bernburg, Leopoldstr.

8). der Zellenleiter

Pg. Rudi B[...], Bernburg, Albrechtstr.

9). der Zellenleiter

Pg. Erich L[...], Bernburg, Leopoldstr.

10). der Blockleiter, Pg. Richard A[...],

Bernburg, Wasserturmstr.

11). der Blockleiter, Pg. Fritz A[...]

Bernburg, Christianstraße

12). der Ortsgr.-Amtsltr. Friedr. R[...],

Bernburg, Leopoldstraße
Diese Zeugen könnte ich fortsetzen bis zum letzten Partei und Volksgenossen bis zu jeder Frau in der Frauenschaft, bis zu jedem Pimpf! –
Eine Tatsache möchte ich nun noch erwähnen, um zu zeigen, daß ich

auch in dieser Hinsicht stets hilfsbereit bin:

In der Nacht vom 3. zum 4. April ds. Js., in der ich meinen zweiten Jungen zu einem Kindertransport von meiner Krankenkasse aus fortbrachte glaube ich

durch mein zielbewußtes Auftreten dem Angestellten M[...] in Köthen, der fast mit seinem Jungen (völlig) unter den fahrenden D-Zug geraten war mit das Leben gerettet zu haben. –

–
Ich möchte Sie nun hierdurch ganz inständigst zu bitten, nur dies eine

Mal Gnade vor Recht ergehen zu lassen und einem alten Parteigenossen aus seinem mühsam aber ehrlich erkämpften Ehrenplatz nicht zu entfernen.

Meine Kameraden erwarten mich und ich möchte mich wieder mit ihnen

einsetzen!

Ich gelobe, meinem Führer zu dienen, wie ich nur kann und Alles zu tun,

diesen meinen schweren Fehler wieder gut zu machen! –

Ich bitte nochmals meiner Kinder wegen!

265

Heil Hitler!
K. Kleinau

N.B. Auf Seite 2 des Beschlusses des Gaugerichts ist eine Aussage meinerseits nicht ganz richtig wiedergegeben: Ich sagte damals, daß ich meine Fahrradkarte damals von Bernburg auf Nienburg nur deshalb abänderte, da ich an jenem Abend noch den Pg. Marnitz in Nienburg für einen Kameradschaftsabend gewinnen wollte. – Ich habe damit nicht sagen wollen, daß ich die Fahrt nicht in meinem Interesse unternommen hatte. – Ich war auf einer geschäftl. Reise und wollte an jenem Abend auf der Rückreise nur die Gelegenheit ausnutzen, um in N. mit vorzusprechen und dann mit dem Rade nach dem nahen Bernbg. zu fahren N.B. Ich wurde irrtümlich als Vertreter bezeichnet. Ich bin seit 10 Jahren angest. Reisender der Firma ‚Polter-Lauterbach[‘], Leipzig, durch deren Vertrauen ich jetzt einen Wagen gestellt erhielt. – Vor dieser Zeit war ich 7 Jahre bei der Firma „Gabler, Wrede„ Co in Magdeburg gleichf. angest. Reisender. Nur durch völligen Rückgang dieser Firma habe ich damals gewechselt. d.o.“ 266 Die Mitgliedschaft von im Jahre 1940 in der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg beschäftigten Angestellten in der NSDAP und in NS-Anhangsorganisationen541 Name Vorname Geburtsjahr Beruf NSDAP- Eintritt politisches Vorleben, Umstände des Eintritts in die NSDAP bzw. in NS- Anhangsorganisationen sowie ausgeübte Funktionen B. Kurt 1902 Laborant 1932 SA-Oberscharführer, NSDAP-Zellenleiter Becker Karl Ernst 1893 Dr.phil., Botaniker, Abteilungsleiter, Leiter der Außenstelle des Pflanzenschutzamtes nein seit 1923 Mitglied im Reichskolonialbund / „Dr. Becker meldete sich 1939 als förderndes Mitglied der SS, weil er 1938 als Nichtmitglied der NSDAP oder einer angeschlossenen Organisation bei der Besetzung der Direktorstelle der Anhaltischen Versuchsstation übergangen war und Gefahr lief, auch seines Amtes als Leiter des Pflanzenschutzamtes enthoben zu werden, wenn er weiterhin außerhalb der NSDAP stehen würde. Er wählte die fördernde Mitgliedschaft zur SS, weil er dadurch der NSDAP die geringsten Beiträge zu liefern brauchte (1,50 RM monatlich) und am wenigsten Gefahr lief, ein Amt übernehmen zu müssen. An einer Veranstaltung der SS hat er nie teilgenommen und stellte auch die Beitragszahlung mit Kriegsbeginn ein. Das Amt als Blockleiter der NSV legte er 1936 nach zweijähriger Tätigkeit nieder, als er erkannte, daß die gesammelten Gelder größtenteils nicht zu Wohlfahrts-, sondern zu Parteizwecken verwendet wurden.“ (Dr. Becker als Leiter der Versuchsstation über den Wissenschaftler Dr. Becker, 29.11.1945), seit 1934 Mitgliedschaft im Reichsluftschutzbund, seit 1935 in der NSV, seit 1936 in der Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütun g und in der Freiwilli gen Schulun gsgemeinschaft des 541 Die Anhaltische Versuchsstation war als Einrichtung des anhaltischen Staates mit Pflanzenzüchtungsversuchen befasst. Neben den in der Tabelle aufgeführten Personen waren 1940 außerdem sechs Männer und 28 Frauen ohne Nachweis einer NS-Mitgliedschaft beschäftigt. Bei ihnen handelte es sich wohl vollständig um Feldarbeiter. Drei der Männer sind im Adressbuch 1938 als „Arbeiter“ vermerkt, die anderen sind dort nicht nachzuweisen. Letzteres gilt auch für 21 der 28 Frauen; die Bezeichnungen der restlichen im Adressbuch 1938 (vier Witwen, zwei Hausgehilfinnen, ein „Fräulein“) deuten auf einen hohen Anteil von zum Ersatz eingezogener Männer eingestellter oder dienstverpflichteter Frauen hin. Quellen: Stadtarchiv Bernburg, 6/1251; Adreßbuch der Stadt Bernburg nach dem Stande vom 15. April 1938, Bernburg 1938; Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 823; Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Regierung Dessau, Abteilung des Innern, II (Personalakten); NSDAP-Datensatz. Eine korrekte Auflistung der Beschäftigten der Anhaltischen Versuchsstation war nur für das Jahr 1940 zu erlangen. 267 RDB [Dr. Becker hatte möglicherweise als seit 1921 beschäftigter Beamter eine solcherart gesicherte Stellung erreicht, dass er es sich erlauben konnte, der NSDAP nicht beizutreten; trotzdem sah auch er sich genötigt, mehreren kleinen Organisationen anzugehören. – T. K.] Breiter Friedrich 1890 Laborant 1940 Kriegsbeschädigter aus dem Ersten Weltkrieg / 1910-1933 SPD-Mitglied und bis 1933 Kassierer der Ortsgruppe des Reichsbundes der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen, hat sich im Mai 1933 zur NSKOV übernehmen lassen „um einmal eine gewisse Uebersicht über die sich nun entwickelnden Verhältnisse zu behalten und hier und da evtl. eingreifen zu können. Wie hielten dies umso notwendiger, als der damalige kommissarische Leiter Blencke, der sich jetzt in Haft befindet, als Geschäftemacher übelster Art bekannt war. Mein Amt als Kassierer habe ich dann bis zur Auflösung der NSKOV innegehabt. Wiederholten Aufforderungen der NSDAP beizutreten habe ich nicht Folge geleistet bis zum 1. März 1940, als zwei anderen Kameraden und mir von einem Vertreter der Gauleitung in Dessau klar gemacht worden war, daß derjenige, der im Staatsdienst stehe und sich weigere Parteigenosse zu werden, dann auch bezüglich seiner Dienststelle die Konsequenzen zu tragen habe. Daß dies für mich keine leere Drohung war, geht wohl daraus hervor, daß ich wegen meiner politischen Einstellung 1933 durch 6 SAleuten von meiner Dienststelle weggeholt wurde und [ich] es nur der vernünftigen Einstellung eines auswärtigen Amtsleiters zu verdanken hatte, daß ich nicht in das Gefängnis eingeliefert wurde." (Rechtfertigungsschreiben nach Entlassung am 29.10.1945) Im Laufe des Krieges fungierte er zeitweilig als Betriebsobmann. Er wäre 1939 nur auf das besondere Zureden zweier Vorgesetzter hin stellvertretender Betriebsobmann geworden, „da wir im Interesse der Versuchsstation nicht wieder einen im Nationalsozialismus aufgehenden Betriebsobmann, sondern einen vernünftig sozial denkenden und handelnden Mann haben wollten, der vor allem auch das Vertrauen der Belegschaft hatte, was bei seinem Vorgänger durchaus nicht der Fall war.“ (Dr. Becker, 07.11.1945) 268 F. Rudolf 1907 Dr., Nahrungsmittelchemiker 1937 1924 bis Ende Mai 1933 Mitglied des Jungdeutschen Ordens, zuletzt Jugendführer der Jungdeutschen Jugend vom Elbgau, 15.6.1933 SA, SA-Rottenführer Franze Hermann 1875 Oberlaborant nein H. Traute 1911 Laborantin nein Heinecke Heinrich 1875 Laborant nein Hüllweck Gustav 1889 Dr., Chemiker, wiss.Ass. nein Inhaber EK II aus dem Ersten Weltkrieg sowie Anhaltisches Friedrichskreuz und Ehrenkreuz für Frontkämpfer, 1924-1933 Mitglied der Johannis-Loge „Baldur zu den 3 Sternen“ in Altenburg/Thüringen, Mitgliedschaft in DAF bzw. RDB, NSV (seit 1934), Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung (seit 1936, Sachbearbeiter für die fünf Ortsgruppen in Bernburg), Reichsluftschutzbund (seit 1936), Reichskolonialbund (seit 1936), Arbeitsdank (1935-37), DDAC (seit 1935). [Wahrscheinlich lief Dr. Hüllweck wegen seiner Logen-Mitgliedschaft nicht Gefahr, mit einer NSDAP-Mitgliedschaft behelligt zu werden. Im Gegenzug wurde er auch nicht verbeamtet. – T. K.] L. Charlotte 1923 Laborantin 1941? während der Schulzeit Jungmädelschaftsführerin; „Fräulein L[...] ist vom BDM in die NSDAP überwiesen.“ (Dr. Becker als Leiter der Versuchsstation, 29.11.1945) [Die Aussage ist unglaubwürdig. Der Vater war in den 40er Jahren stellvertretender NSDAP-Ortsgruppenleiter. Hierin dürfte eher der Auslöser der „automatischen Übernahme“ zu sehen sein. – T. K.] L. Werner 1900 Dr., Landwirtschaftschemiker, wiss. Ass. 1937 „Am 30. September 1933 erhielt ich [als Angestellter an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin seit 1925] die [...] Kündigung [zum Vertragsende], obwohl mein Vertrag noch bis zum 31.12.34. lief. Aus den Fragebogen, die damals im Auftrage der NSDAP von allen Beamten verlangt wurden, war ersehen worden, dass ich 1930 Mitglied der Demokratischen Partei geworden war. Man legte mir nämlich nahe, mich einer Gliederung der Partei anzuschliessen, wenn ich mit einer Belassung im 269 Dienst rechnen wollte. Da ich an meinem Beruf sehr hing und mein erstes Kind unterwegs war, entschloss ich mich, zum 1.XI.33. der SA beizutreten. Daraufhin wurde mein Vertrag wieder bis zum 31.12.35. verlängert. Meine Habilitation wurde aber trotzdem weiter verhindert und ich musste als Nicht-Parteigenosse zu dem genannten Zeitpunkt aus dem Hochschuldienst scheiden. Trotz vieler Bewerbungen war es mir auch nicht möglich gewesen, eine meiner Vorbildung entsprechende Stellung im Lande Preussen zu erhalten. Nach vieler Mühe und Not gelang es mir, nach vierteljähriger Erwerbslosigkeit - ich war nur freier wissenschaftlicher Mitarbeiter - die Anstellung als wissenschaftlicher Assistent an der Anhaltischen Versuchsstation Bernburg zu erhalten. Um mich der Tätigkeit in der SA und der Partei, in die ich zum 1. Mai 1937 übernommen wurde, fernzuhalten, widmete ich mich frühzeitig der Tätigkeit im Luftschutz [...]" (Rechtfertigungsschreiben nach Entlassung am 29.10.1945); Betriebsrat Dr. Hüllweck am 7.11.1945 über Dr. L.: „Meines Wissens ist weder von der Direktion noch von der damaligen Regierung ein Druck ausgeübt worden, in die Partei einzutreten, denn es befanden sich zu der Zeit 4 Akademiker an der Versuchsstation, die keine Pgs waren und auch nicht geworden sind. Ob und inwieweit von der SA ein Druck ausgeübt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. In seiner Stellung in der Versuchsstation hat er als Pg keine besonderen Vorteile gehabt, ob er selbst mit solchen Vorteilen durch den Eintritt in die Partei gerechnet hat, ist natürlich nicht festzustellen. Es ist selbstverständlich, daß er als Pg bessere Beziehungen zu den leitenden Pgs hatte als Nichtparteigenossen. Immerhin kann ich aufgrund von Gesprächen, die ich mit ihm über politische Dinge führte, sagen, daß er nicht als fanatischer oder restlos überzeugter Anhänger der Partei zu bezeichnen war.“ Der Übertritt Dr. L.‘s zur NSDAP 1937 erfolgte von der NSOG (früher Opferring), deren Mitglied er seit dem 01.10.1933 war; die SA-Mitgliedschaft datierte vom 01.11.33. Weiterhin gehörte er der NSV seit April 1934, dem RDB seit dem 01.06.1936 (Vertrauensmann), dem NS-Bund Deutscher Techniker (aus dem Verband Deutscher Chemiker überführt) und der Motor-SS an. 270 L. Hans 1896 Prof. Dr., seit 1938 Direktor (zuvor Abteilungsleiter) 1937 im Ersten Weltkrieg Leutnant, Inhaber des EK II, des Anhaltischen Friedrichskreuzes und des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer; 1921 als Student Zeitfreiwilliger in Halle, seit 1920 Orgesch später 12.5.1925-1.12.1933 Stahlhelm, DNVP 1924-33, Deutsche Kolonialgesellschaft 1925-34 (1929-33 Funktionär), 1924-29 Mitglied Reichsbund der höheren Beamten, vorher seit 1921 Reichsbund deutscher Diplomlandwirte; SA seit 1.12.33 [wahrscheinlich Folge der Übernahme des Stahlhelms in die SA], SA-Obertruppführer, NSV 1.4.34, 1.5.35 „NSKOB“; seit 1.5.1920 „BDO“ M. Werner 1916 Diplomlandwirt nein P. Hans 1898 Dr., Chemiker 1933 R. Richard 1899 Gartenbauinspektor nein R. Franz 1900 Dr., Diplomlandwirt, wiss. Ass., Abteilungs-leiter 1937 Sammet Kurt 1893 Dr., Diplomlandwirt, Abteilungsleiter ja S. Regina 1925 Laborantin 1943 „Fräulein S[...] ist vom BDM ohne ihr Zutun in die NSDAP überwiesen.“ (Dr. Becker als Leiter der Versuchsstation, 29.11.1945) [Die Aussage ist unglaubwürdig. Der Vater war städtischer Polizeileutnant und NSDAP-Mitglied seit 1937. – T. K.] S. Gerhard 1901 Dr., Agrikultur-Chemiker 1933 „Für meine endgültige Anstellung durch den Staat [als bisheriger Angestellter der Preußischen Bergwerks- und Hütten-AG im Kaliwerk Vienenburg] wurde als Voraussetzung erachtet, daß ich die Gelegenheit, im Mai 1933 der Partei beizutreten, nicht vorübergehen ließ, da ja Partei und Staat eins wären. Der Aufruf zum Beitritt in die S.A. im November 1933 erfolgte unter noch stärkerem moralischem Druck: 271 die Partei würde die Entlassung aller derer erwirken, die sich diesem Aufruf versagten, besonders soweit sie sich in staatlichen Stellungen befänden. Um meine Anstellung, die im August 1933 zur endgültigen geworden war, nicht zu verlieren und damit meine und meiner Familie Existenz erneut zu gefährden trat ich auch der S.A. bei. Weder in der Partei noch in der S.A. habe ich eine besondere Funktion ausgeübt.“ (Rechtfertigungsschreiben nach Entlassung, 29.10.1945) Unverdorben Otto 1880 Dr, Chemiker, Abteilungsleiter nein im Ersten Weltkrieg EK II, Verwundetenabzeichen, Ehrenkreuz für Frontkämpfer; 1921-24 Deutscher-Beamten-Bund, seit 1924 Reichsbund der höheren Beamten, 1935 RDB; Reichsluftschutzbund März 35, NSV 1.9.34, RDB 1.7.34, NSKOV Sept. 1933, NS Bund Deutscher Techniker (als Mitglied des Vereins Deutscher Techniker) Wimmer Gustav 1865 Prof. Dr., seit 1930 kommissarischer, seit Dez. 1932 bis Ende 1937 ordentlicher Leiter, danach Weiterarbeit auf Vertragsbasis nein W. August 1909 Feldverwalter 1937 „Feldverwalter W[...] ist nach seinen Angaben wegen Interessenlosigkeit aus dem NSFK ausgeschlossen worden und trat der NSDAP bei, da er [1937] bei der Stadtverwaltung in Zerbst beschäftigt war; das Amt eines Blockleiters der NSDAP hat er nur aushilfsweise etwa ein Jahr ausgeführt.“ (Dr. Becker als Leiter der Versuchsstation, 29.11.1945) 272 NSDAP-Sättigung in Bernburger Unternehmen und Verwaltungen 1944 Betrieb/Verwaltung Beschäftigte 1940542 NSDAPMitglieder bis Ende 1944543 NSDAPMitglieder in % Finanzamt Bernburg 96 62 65 Stadtverwaltung Bernburg544 350 210 60 Technischer Überwachungs-Verein Magdeburg e.V., Dienststelle Bernburg 20 11 55 Lehrer im Kreis Bernburg545 279 150 54 ............in Anhalt insgesamt546 --- --- 63 Vermessung[samt?] beim Landrat des Kreises Bernburg 15 8 53

544 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 446, Bl. 222 f. (Stärken der Verwaltung per 05.12.1945, Zusammenstellung des Bezirkspräsidiums, Abteilung Inneres und Volksbildung); Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 799, Bl. 144 (Personal-Sollstand und Entlassungen aus politischen Gründen bis 03.12.1945). Ein geringer Teil dieser Entlassenen wird nicht der NSDAP selbst, sondern nur Anhangsorganisationen (NSF, NSKK etc.) angehört haben. Eine Meldung vom 19.06.1947 belegt in der Summe 31 % NSDAPMitglieder (276 entlassene NSDAP-Mitglieder bei gegenwärtig 883 Beschäftigten), doch ist einerseits die Dienststellenzuordnung hier eine andere und andererseits wohl auch der Personalbestand infolge geringerer Durchschnittsqualifikation ein höherer als im Zeitraum 1940/45. Vgl. Stadtarchiv Bernburg, 8/1775, o. Bl. 545 Quelle: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 821, Bl. 73 (Kreisschulaufsicht Bernburg per 20.08.1946: aus politischen Gründen entlassene und noch beschäftigte NSDAP-Mitglieder unter den Volks-, Mittel- und Berufsschullehrern sowie Lehrern an höheren Lehranstalten in Relation zur gegenwärtigen Ist-Stärke). 546 Summe aller zwischen 1932 und 1943 aktiven Lehrer in Anhalt, eingegangene Mitgliedschaften mit Stand vom 31.12.1943. Ermittelt von Ursula Breymayer im Rahmen eines Dissertationsvorhabens auf der Grundlage eines eigenen Datensatzes. 542 Quelle, sofern nichts anderes vermerkt: Stadtarchiv Bernburg 6/1251 und 6/1252. Es handelt sich um eine von der Stadt verlangte Aufstellung über die Beschäftigten in den Betrieben der Stadt per 10.10.1940 anlässlich der jährlichen Festsetzung der Ausgleichszuschüsse aus der Gewerbesteuer. Zur Wehrmacht einberufene „Gefolgschaftsmitglieder“ sollten mit aufgeführt werden, was in der Regel auch befolgt wurde. Die hier angegebenen Beschäftigtenzahlen sind nicht mit den Belegschaftszahlen identisch, sondern repräsentieren lediglich alle im Untersuchungsgebiet wohnhaften deutschen Belegschaftsmitglieder. Von außerhalb des Untersuchungsgebiets Einpendelnde, „Fremdarbeiter“ und Kriegsgefangene wurden in der Regel nicht in die Aufstellung aufgenommen; desgleichen auch auswärtige Zweigstellen Bernburger Unternehmen. Die Betriebsinhaber sind in den Listen nicht in jedem Fall mit aufgeführt worden und im Nachhinein schon aufgrund der Konstruktion von Unternehmen nicht mehr zu ermitteln. Eine weitere Aufschlüsselung nach konkreten Tätigkeiten ist nur in Ausnahmefällen möglich. 543 Bis einschließlich 1944 registrierte Ersteintritte der verzeichneten Beschäftigten ohne Berücksichtigung von Ausschlüssen, Todesfällen etc. Quelle, sofern nichts anderes vermerkt: im NSDAP-Datensatz nachgewiesene Mitgliedschaften. Aufgrund der Unvollständigkeit des NSDAP-Datensatzes handelt es sich hier in der Regel um gesicherte Mindestwerte. Mit einbezogen wurden drei Personen, deren Eintritt durch die Reichsleitung 1940 abgelehnt wurde, sowie eine auf der „Warnliste“ geführte Person. 273 Arbeitsamt Bernburg547 70 32 46 Elektrizitätswerk Bernburg 74 31 42 Bernburger Bank 18 7 39 Stadt- und Kreissparkasse Bernburg548 107 38 36 Stadtwerke Bernburg 60 18 30 Telegraphen-Baubezirk IV [Bernburg] des Telegraphen-Bauamtes Halberstadt 29 8 28 Elster & Cie, Opel-Automobile, ReparaturWerkstätten, Garagen, Groß-Tankstellen 15 4 27 Reichsbahndirektion Magdeburg549 --- --- 27 A. Kohlweyer, Bernburger Waagen- und Pumpenfabrik 13 3 23 Walter Feser, Kraftfahrzeuge-Reparatur-WerkstattErsatzteile-Bereifungen-Zubehör-Oele und FetteGaragen, Vertreter der Auto-Union AG 13 3 23 Junkers Flugzeug- und Motorenwerke Aktiengesellschaft, Flugzeugbau, Zweigwerk Bernburg550 619 141 23 Bauverwaltung beim Landrat des Kreises Bernburg 14 3 21 Otto Dornblüth Nachf. Inh. Gustav Kunze, Buchdruckerei und Verlag 14 3 21 Otto Riebe K.G., Eisenwaren 19 4 21 Deutsche Solvay Werke AG551 929 193 21 Anhaltische Versuchsstation 54 11 20 Karl Seufert, Spezialhaus für Elektrotechnik und Rundfunk 20 4 20 Heeresbauamt Bernburg 31 6 19 Oscar Zieseke, Eisen-, Kohlen- und Baustoffhandlung 16 3 19

547 Quelle: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 449, Bl. 50-54 (Personalstand per 31. August 1945, d. h. vor Beginn der allgemeinen Bereinigung). 548 Quelle: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Bezirksverwaltung Dessau, Nr. 820, Bl. 210-213 (Personalliste per 30.08.1945, d. h. vor Beginn der allgemeinen Bereinigung; alle Zweigstellen, einschließlich der kriegsgefangenen und vermissten Wehrmachtsangehörigen; Angaben anhand des NSDAP-Datensatzes ergänzt und korrigiert). 549 Quelle: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. M 60, FK, Teil 1, Nr. 2316, o. Bl. (noch beschäftigte und schon entlassene „Pg.'s“ in % der gegenwärtig Beschäftigten per 15.10.1945). Der Kreis Bernburg war in seinem gesamten Territorium der Reichsbahndirektion Magdeburg zugehörig. 550 NSDAP-Quote unter den Angestellten 40 %, unter den Arbeitern 21 %. Nicht berücksichtigt wurden eine große Zahl von Junkers-Beschäftigten, die für den Rüstungsbetrieb von auswärts angeworben bzw. dienstverpflichtet wurden (im Extremfall bis aus Wien), nur zeitweilig in Bernburg wohnten, in den Beschäftigtenlisten auch mit ihrem Heimatort vermerkt wurden und im Falle einer NSDAP-Mitgliedschaft sehr wahrscheinlich auch in ihrer Heimat-Ortsgruppe geführt worden sind. 551 Die der Stadt Bernburg 1940 von den Deutschen Solvay-Werken übergebenen Belegschaftslisten sind unvollständig und an etlichen Stellen unkorrekt. Die Fehlstellen verteilen sich zudem ungleichmäßig über die verschiedenen Zweigbetriebe und betreffen die Angestellten stärker als die Arbeiter. Daher wird die reale NSDAP-Mitgliedschaftsquote höher gelegen haben als hier errechnet. 274 Wintershall Aktiengesellschaft Werk Bernburg (Kalibergbau) 156 28 18 Wilhelm Oppermann & Co., Kohlengroßhandlung 18 3 17 Hermann Brehme, Gartenbauer 12 2 17 Hermann Klietz, Schuhgeschäft 12 2 17 Zuckerfabrik Dröbel GmbH 263 43 16 Friedrich M. Buhlmann, KolonialwarenGroßhandlung 32 5 16 Max Fritz, Tapeten-Linoleum-Teppiche-Gardinen 13 2 15 Anhaltische Studiengesellschaft mbH Betrieb A 20 3 15 Erich Rudolph, Leuchtreklame- und Schilderhersteller 14 2 14 Molkereigenossenschaft Bernburg 29 4 14 Berthold Höltge, Tiefbauunternehmung (Steinsetzmeister) 30 4 13 Anhalter Kurier. Bernburger Tageblatt und Generalanzeiger für Anhalt 68 9 13 Automobilhaus Ewald Kögler, Kommanditgesellschaft, Vertriebsstelle für Mercedes-BenzFahrzeuge 16 2 13 Buch & Staake, Getreide, Futter- und Düngemittel 16 2 13 Schultheiß-Brauerei AG, Niederlage Bernburg 16 2 13 Pfarrer (aktiv) im Kreis Bernburg 1933-45552 56 7 13 Richard Schrader, Türen- und Fensterfabrik 17 2 12 W. Siedersleben & Co. (Landmaschinenbau) 507 58 11 Keilmann & Völcker GmbH, Eisengießerei und Maschinenfabrik 246 28 11 Carl Kurts GmbH, Eisenhandlung 18 2 11 L. Kessler & Sohn, Metallwerke 157 17 11 Robert Mundt, Färberei und Korbwarenfabrik 19 2 11 „Handwerk und Gewerbe“553 1417 143 10 Wilhelm Wohlhaupt, Architekt und Zimmermeister, Baugeschäft 50 5 10 Gustav Sauer, Baugeschäft 20 2 10 Baumeister Otto Butzmann, Baugeschäft 41 4 10 Friedrich Köbbel, Dachdeckermeister 22 2 9 Baumeister Otto Zahn, Maurermeister 11 1 9 Richard Hey, Maschinen- und Apparatebau 11 1 9 Gebrüder Möbers, Bauunternehmung, WuppertalElberfeld, Baustelle Bernburg 34 3 9 Kuranstalt Bernburg der Reichsbahn- 34 3 9

552 Herrmann Graf, Anhaltisches Pfarrerbuch. Die evangelischen Pfarrer seit der Reformation, Dessau 1996, pass. Die Beitritte wurden ausschließlich bis zum 1. Mai 1933 vollzogen. 553 In dieser Sammelrubrik wurden sämtliche Betriebe mit bis zu zehn im Untersuchungsgebiet wohnhaften deutschen Beschäftigten zusammengefasst. Hierunter fallen auch Ärzte, Apotheken, Vereine, Rechtsanwälte, Landwirte, Zweigstellen auswärtiger Unternehmen, Alleinbetriebe etc. dieser Größenklasse. 275 Versicherungsanstalt Gebr. Lange GmbH, Papierfabrik und Holzschleiferei 103 9 9 Sächsisch-Anhaltische Armaturenfabrik & Metallwerke AG Bernburg 149 13 9 Ernst Sar, Zimmermeister 46 4 9 Ernst Schrader & Sohn, Holzhandlung 23 2 9 Anhaltische Waagenfabrik Bernburg, Friedr. Otto Müller, Kom.-Ges. 24 2 8 Paul Vogeley, Bernburger Drahtwaren- und Staket-Fabrik 12 1 8 Richard Weigel GmbH Schokoladenfabrik 113 9 8 Verbrauchergenossenschaft eGmbH Bernburg 63 5 8 Alfred Trauschke, Ingenieur/Zentralheizungsbau, Rohrleitungsbau 38 3 8 Hans Hensel, Herren- und Knabenbekleidung 13 1 8 Linden-Lichtspiele Friedrich Haberland 13 1 8 Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt, Filiale Bernburg 27 2 7 Theodor Hey GmbH, Weinberg 56 4 7 Baugeschäft Franz Beierling 28 2 7 Albert Jenssen, Installationsgeschäft-KlempnereiHeizungsanlagen 14 1 7 Capitol-Lichtspiele O. Tschakert 14 1 7 Hallescher Bankverein, Filiale Bernburg 14 1 7 Kniese & Obereich, Eisenwaren und Werkzeuge 14 1 7 Schütz & Sohn, vorm. Anhaltwerk 14 1 7 Curt Steinmüller, Handelsvertreter 43 3 7 Richard Beinhoff, Kaufmann 30 2 7 August Scherf, Dekorationsmaler 15 1 7 Gellendien & Haffner GmbH, DampfkesselfabrikGroßbehälterbau-Blechschweißerei-RöhrenwerkEisenkonstruktionen 106 6 6 Hermann Schütze, Dampfsägewerk und Nutzholzhandlung Bernburg und Aschersleben 19 1 5 Rudloff & Martz, Melasse-Spiritus-Fabrik 59 3 5 E.W.H. Sommer & Söhne, Metallwarenfabrik 20 1 5 Schweinefuss & Dolg, MaschinenfabrikMühlenbauanstalt-Eisengießerei 21 1 5 Saatzuchtwirtschaft C. Braune GmbH 130 6 5 Gustav Schulz, Steinbrüche und Tiefbau 198 9 5 Autohof Bernburg Kurt Grabaum 23 1 4 Papierwarenfabrik M. Korsch KG 24 1 4 Emil Kressmann, Kaufmann 77 3 4 Kaufhaus Werner Makowski 56 2 4 August Pape Nachf. Inh. Hermann Bermel, Baugeschäft und Holzhandlung 70 2 3 Scheller & Wöhner, Baugeschäft 75 2 3 276 Gebr. Huber, Berlin-Halensee, Beton- und Eisenbeton-Baugeschäft, Baustelle Bernburg 38 1 3 Treuhandgenossenschaft des Bauhandwerks, Abteilung: Ziegelwerke Bernburg 38 1 3 Hermann Theile & Sohn, Dekorationsmaler 56 1 2 GRUPE. Kommanditgesellschaft für Bauausführungen, Staßfurt, Baustelle Junkerswerke Bernburg-Neugattersleben 51 0 0 Dampfwäscherei „Edelweiß“ Fr. Röver, Komm.- Ges. 45 0 0 Max Zahn, Dekorationsmaler 39 0 0 Karl Scheimann, Baugeschäft 35 0 0 Hans Bertram, Architekt und Zimmermeister 32 0 0 von Spiegel, Markt 8-9 (Handel) 29 0 0 Wilhelm Bergner, Färberei und Chemischreinigung 27 0 0 Heinrich Alex Muthig, Kaufmann 23 0 0 Naverma-Haus (GmbH Magdeburg), versch. Filialen 22 0 0 Bernburger Möbelfabrik Boldt, Matthias & Co. 19 0 0 Albrecht Stiddien, landwirtschaftlicher Betrieb, Bernburg-Dröbel 18 0 0 Fuhrgeschäft Ferdinand Bodendiek 18 0 0 C. Samuel, Inh. C. Fischer, Holzhandlung 17 0 0 Haft & Lunze, Malermeister 16 0 0 Hotel „Goldene Kugel” 16 0 0 Robert Pistor, Karosserie- und Fahrzeugbau 16 0 0 Bernburger Durchschreibebücher-Fabrik Paul Schobes 15 0 0 Max Ermes, Chemische und technische Produkte für die Spiegelindustrie 15 0 0 Otto Thetmann, Möbelwerkstatt 15 0 0 Friedrich Spengler, Bauer 14 0 0 Louis Balzer, Inh. Otto Böttcher, Steinsetzmeister und Tiefbaugeschäft 14 0 0 Albert Buhlmann Nachf. Inh. Reinhold Hey, Kohlengroßhandlung 13 0 0 Carl Kruse, Malermeister 13 0 0 Kegel & Kirchberg o.H. 13 0 0 Carl Rudloff, [Landwirt?] 12 0 0 E. Sprunk & Co., Manufakturwaren/Wäsche 12 0 0 Emil Bergmann, Malermeister 12 0 0 Gaststätte Zum Erbprinz 12 0 0 Kraftverkehr Willi Wisnefski, Spedition und Möbeltransport, Omnibusbetrieb 12 0 0 Raumkunst-Werkstätten Dräger, Müller & Co. 12 0 0 August Haut, Damen-, Herren- und Kinderbekleidung, Schuhwaren, Wäsche und Berufskleidung 11 0 0 277 Fritz Ruhe, Klempnermeister 11 0 0 Knauth & Hohl, Getreide/Futter/Düngemittel/Saaten 11 0 0 Otto Tobies, Kaufmann 11 0 0 Rudolf Mandler, Atelier für Porträts: ArchitekturTechnische Aufnahmen-Reproduktion-Spezialhaus für Amateurphotographie-Projektion und Kino, Karlsplatz 31 11 0 0 Wilh. Lehmann, Dachdeckermeister, Inhaber: Wilh. und Walter Lehmann 11 0 0 278 Personalstatistik der Reichsbahndirektion Magdeburg per 15.10.1945554 Beschäftigte gesamt „Pg.'s“ Nicht-„Pg.'s“ bisher entlassene „Pg.'s“ noch beschäftigte „Pg.'s“ in % der gegenwärtig Beschäftigten noch beschäftigte und schon entlassene „Pg.'s“ in % der gegenwärtig Beschäftigten A Beamte a) Besoldungsgruppe

1 1 0 1 0 0 0
2 5 5 0 1 100 120
3 10 10 0 1 100 110
4 1 1 0 0 100 100
5 43 38 5 0 88 88

b) mittlerer gehobener Dienst 618 304 314 47 49 57 c) mittlerer Dienst 3.426 1.393 2.033 154 41 45 d) unterer Dienst 5.742 1.520 4.222 204 26 30 SUMME a) - d) 9.846 3.271 6.575 407 33 37 B Angestellte 18 1 17 1 6 11 C Arbeiter 7.119 839 6.280 140 12 14 Beschäftigte gesamt 16.983 4.111 12.872 548 24 27 554 279 554 Quelle: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. M 60, FK, Teil 1, Nr. 2316, o. Bl. Die Reichsbahndirektion Magdeburg umfasste auch das vollständige Territorium des Kreises Bernburg. Der obere Wert in der Schwankungsbreite des prozentualen NSDAP-Mitglieder-Anteiles ergibt sich aus der Hinzurechnung der zu diesem Zeitpunkt schon entlassenen Pg.‘s zur Basis. Andere Aufstellungen über Personalstärke, noch im Dienst befindliche und entlassene ehemalige NSDAP-Mitglieder aus den Jahren 1947/48 zeigen, dass innerhalb der Reichsbahndirektion Magdeburg der Anteil der NSDAP-Mitglieder unter allen Reichsbahnbeschäftigten sogar zwischen 42 und 46 % betragen haben kann. Berechnet nach: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. K3, Nr. 1025, Bl. 50, 64, 213 f., 344, 369; Nr. 1029, Bl. 3, 27, 108; Nr. 1067, Bl. 38. In der benachbarten Reichsbahndirektion Halle herrschten analoge Verhältnisse. Desgleichen im gesamten Post- und Fernmeldewesen der Provinz Sachsen (39-40 %). Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. K3, Nr. 1025, Bl. 394; Nr. 1029, Bl. 51. Eine 1947 erstellte, lediglich 38 % NSDAP-Mitglieder unter den dortigen Reichsbahnbeschäftigten vermerkende Aufstellung aus dem benachbarten Reichsbahndirektionsbezirk Halle lässt analog zur obigen Tabelle eine Differenzierung nach Angestellten- und Arbeiterstatus erkennen. Demnach waren dort 69 % aller Beamten „Pg.‘s“ (Arbeiter im Beamtendienst: 31 %, Arbeiter: 23 %). Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abt. Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle, IV/L2/5/100, Bl. 49. Als Ursache für die deutlichen Abweichungen im NSDAP-Anteil unter den Beschäftigten der Reichsbahndirektion Magdeburg zwischen den Erhebungszeitpunkten 1945 und 1947 kann vermutet werden, dass einerseits zu dem frühen Zeitpunkt 1945 die Parteimitgliedschaft nicht aller ehemaligen Pg.‘s schon gemeldet und erfasst war, dass andererseits aber auch durch die Rückführung von auf den Kriegsschauplätzen und in den besetzten Gebieten eingesetzt gewesenen Eisenbahnern sowie auch durch die Einstellung von Rückkehrern von der Wehrmacht resp. aus der Gefangenschaft sowie von „Umsiedlern“ der NSDAP-Anteil erst später wieder anstieg. Am 15.10.1945 wurden 4.659 noch im Dienst befindliche und schon entlassene NSDAP-Mitglieder gemeldet, am 28.02.1946 befanden sich 6.415 ehemalige NSDAP-Mitglieder im Dienst, während mit Stand vom 31.03.1947 nur 4.855 Anträge auf „Bereinigung“ (das war die den lokalen Kommissionen entzogene Entnazifizierung im Verantwortungsbereich der Reichsbahn) gestellt wurden. Zu beachten ist ferner, dass auch der Personalbestand der Reichsbahndirektion stärkeren Schwankungen unterworfen war. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. M 60, FK, Teil 1, Nr. 542; 569; 2316. 280 Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921-1944 1921/26 555 1929 556 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 557 ermittelte Neueintritte insgesamt558 124 87 118 243 395 996 190 87 127 1261 386 181 586 325 216 160 566 lokale Verteilung in %

  • Bernburg559 67,7 49,2 70,8 43,6 44,5 46,3 30,8 64,7 39,5 60,4 57,9 63,9 57,8 60,1 58,8 54,4 44,6
  • „5 Orte“560 11,3 23,7 15,6 23,2 25,0 27,0 14,6 27,1 32,3 23,5 19,2 13,0 20,8 21,8 23,0 26,6 30,5
  • „Dörfer“561 21,0 27,1 13,5 33,2 30,5 26,7 54,6 8,2 28,2 16,1 22,9 23,1 21,4 18,0 18,1 19,0 24,9

Frauenanteil in % 5,6 4,6 2,5 2,1 6,3 5,4 3,2 4,6 1,6 9,6 14,0 21,5 21,2 24,0 34,7 39,4 36,2 Durchschnittsalter562 33,3 32,3 30,1 32,7 34,7 36,4 40,5 41,6 44,3 38,9 37,7 31,8 37,8 36,4 31,2 23,5 18,5 555 Summe aller im Zeitraum registrierten Mitgliedschaften. 556 1929 abweichend nicht Neueintritte, sondern Gesamtbestand der nachgewiesenen Mitglieder Ende des Jahres. 557 Die Angaben zur Berufsstruktur der Neueintritte des Jahres 1944 müssen aus quellenbedingten, jedoch nicht nachträglich zu korrigierenden Gründen heraus als nicht korrekt angesehen werden. Wahrscheinlicher erscheint eine Berufsstruktur analog dem Eintrittsjahrgang 1943. Vgl. auch Kapitel 7. 558 Für etwa ein Fünftel der im NSDAP-Datensatz erfassten Mitglieder liegt kein konkretes Eintrittsjahr vor, diese konnten daher keine Berücksichtigung finden. 559 1939 ca. 40.000 Einwohner, Anteil an der Wohnbevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 45,9%. 560 Güsten, Hecklingen, Nienburg, Neundorf, Sandersleben. 1939 jeweils zwischen 3.000 und 6.000 Einwohnern, Anteil an der Wohnbevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 26,9%. 561 1939 jeweils unter 1.500 Einwohner, Anteil an der Wohnbevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 27,2%. 562 Nur ganze Jahre bei Eintritt und Geburt berechnet, deshalb quellen- und vereinfachungsbedingt sehr geringe Abweichungen möglich. 1921/26 für Ende 1926 berechnet. 281 1921/26 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Berufe der Mitgliedschaft in %563 1 Landarbeiter 1,8 2,5 6,2 2,3 2,4 2,2 2,8 4,2 3,7 1,8 1,5 0,9 1,9 2,9 1,5 0,0 2,7 2 ungelernte Arbeiter 16,1 8,6 15,0 7,0 6,8 4,8 3,5 4,2 1,9 5,4 3,3 8,8 3,1 3,3 7,5 4,5 2,2 3 Hausangestellte 0,9 1,2 0,0 0,5 0,3 0,2 0,0 0,0 0,0 0,0 0,4 0,0 0,2 1,4 1,5 3,4 4,4 4 Metallfacharbeiter und -angelernte 3,6 11,1 8,0 6,5 5,6 6,0 4,9 4,2 7,4 9,5 11,1 8,8 10,3 11,0 9,7 15,7 27,0 5 Bau- und Holzfacharbeiter und – angelernte 3,6 2,5 0,9 3,7 4,5 3,2 2,1 2,8 2,8 3,3 4,1 2,7 2,9 5,2 5,2 1,1 5,7 6 Facharbeiter und Angelernte des polygraphischen Gewerbes 2,7 0,0 0,0 0,0 0,0 0,5 0,7 0,0 0,9 1,0 0,7 0,9 0,5 0,5 0,7 0,0 0,8 7 Bergleute 4,5 0,0 1,8 0,9 0,3 0,5 4,2 1,4 1,9 1,4 0,4 0,0 1,0 0,5 0,0 1,1 0,3 8 andere Facharbeiter 11,6 13,6 14,2 17,3 7,1 7,2 2,8 8,5 4,6 6,9 6,3 6,2 3,6 3,8 7,5 4,5 14,2 9 Arbeiter im öffentlichen Dienst 1,8 0,0 0,0 1,4 3,3 2,6 3,5 7,0 2,8 5,5 4,4 6,2 5,7 5,2 5,2 3,4 2,7 563 Es fanden ausschließlich zuordnungsrelevante Angaben Berücksichtigung; für die konkreten Berufszuordnungen siehe die Beschreibung des NSDAP-Datensatzes im Teil B: Dokumentation. 282 1921/26 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 10 kaufmännische Angestellte und Handlungsgehilfen 15,2 25,9 23,0 13,1 11,3 9,2 5,6 11,3 7,4 9,4 9,2 8,8 13,4 12,9 13,4 14,6 14,8 11 Lehrer 0,0 1,2 2,7 0,5 9,8 12,9 1,4 1,4 3,7 11,3 1,5 3,5 7,2 4,3 3,7 4,5 2,5 12 Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes (außer Lehrer) 15,2 11,1 7,1 11,2 15,1 23,3 15,4 18,3 16,7 23,9 21,8 28,3 30,1 22,4 17,9 21,3 7,4 13 landwirtschaftliche Angestellte 0,0 0,0 0,0 0,9 1,2 0,4 0,7 0,0 2,8 0,6 0,7 2,7 0,7 1,0 0,7 0,0 0,0 14 Werkmeister 1,8 2,5 0,0 2,8 2,1 1,7 2,1 4,2 1,9 1,8 1,5 0,0 2,2 2,4 5,2 0,0 0,3 15 andere Angestellte 9,8 7,4 8,0 7,5 6,8 6,1 7,7 8,5 7,4 5,8 11,1 10,6 7,4 10,0 6,7 14,6 11,7 16 Handwerk und Gewerbe 5,4 6,2 7,1 12,6 11,9 11,6 22,4 15,5 22,2 7,5 14,8 8,8 6,2 11,4 10,4 5,6 0,5 17 Fabrikbesitzer und Direktoren 2,7 0,0 1,8 0,5 0,6 1,8 2,8 1,4 2,8 1,4 0,4 0,9 0,5 1,0 0,7 0,0 0,0 18 Landwirte und Gutsbesitzer 0 3,7 2,7 7,5 9,5 4,5 17,5 5,6 7,4 2,3 3,7 0,9 1,9 0,5 0,7 0,0 0,8 19 freie Berufe 2,7 2,5 1,8 1,9 1,5 1,2 0,0 1,4 1,9 1,2 3,3 0,0 1,0 0,0 1,5 2,2 0,0 20 Schüler und Studenten564 0,9 0,0 0,0 1,9 0,0 0,1 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,9 0,2 0,5 0,0 3,4 1,9 564 Große Teile der 1944 als „ohne Beruf“ im NSDAP-Datensatz vermerkten Eintretenden waren wahrscheinlich Schüler, so dass für dieses Jahr eine nicht auszugleichende Verzerrung des Ergebnisses besteht. 283 1921/26 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Arbeiter gesamt (Kategorien 1-9) 46,4 39,5 46,0 39,7 30,3 27,1 24,5 32,4 25,9 34,8 32,1 34,5 29,2 33,8 38,8 33,7 60,1 Angestellte und Beamte (Kategorien 10-15) 42,0 48,1 40,7 36,2 46,3 53,6 32,9 43,7 39,8 52,9 45,8 54,0 61,0 52,9 47,8 55,1 36,6 Selbständige (Kategorien 16-19) 10,7 12,3 13,3 22,4 23,4 19,2 42,7 23,9 34,3 12,3 22,1 10,6 9,6 12,9 13,4 7,9 1,4 öffentlicher Dienst (Kategorien 9, 11, 12) 17,0 12,3 9,7 13,1 28,2 38,8 20,3 26,8 23,1 40,7 27,7 38,1 43,1 31,9 26,9 29,2 12,6 relevante Angaben absolut 112 81 113 214 337 819 143 71 108 1.016 271 113 418 210 134 89 366 284 1921/26 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Prozentuale Verteilung der Eintritte aus verschiedenen Sozialschichten auf Geburtsjahrgangsgruppen in %565 Summe der Eintritte 1893 bis 1912 56 75 81 69 61 61 44 59 44 67 66 37 53 48 49 17 2 1901 bis 1910 34 53 43 40 35 31 21 30 13 32 31 18 24 23 24 11 1

  • Arbeiter gesamt

1893 bis 1912 59 76 91 88 68 71 61 61 46 76 69 32 59 52 56 20 2 1901 bis 1910 41 61 50 54 43 39 35 33 13 39 38 14 32 22 31 12 1

- darunter Facharbeiter

1893 bis 1912 80 96 88 85 71 72 76 54 47 78 66 33 56 46 55 19 2 1901 bis 1910 56 78 35 52 44 40 47 23 16 41 34 14 30 20 23 14 1

  • Angestellte und Beamte

1893 bis 1912 53 70 74 57 63 61 47 75 53 64 66 40 48 43 43 9 2 1901 bis 1910 28 43 43 34 34 29 12 38 27 28 25 20 20 19 20 6 1

  • Selbständige

1893 bis 1912 50 89 73 50 44 48 27 30 32 48 62 50 70 67 50 100 0 1901 bis 1910 33 67 20 24 23 23 15 10 0 25 34 50 30 56 17 67 0 565 In die Berechnung fanden nur jene Mitglieder Eingang, für die sowohl Eintritts-, als auch Geburtsjahr zuzüglich zum Beruf ermittelt werden konnten. 285 Statistische Kerndaten der NSDAP im Untersuchungsgebiet 1929-1944 (jeweils Jahresende, Ausgangsbasis 1929) 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944566 Mitgliederzahl

- einfach kumulativ567 87 205 448 843 1.839 2.029 2.116 2.243 3.504 3.890 4.071 4.657 4.982 5.198 5.358 5.924
- Annäherungsberechnung568 133 312 683 1.285 2.803 3.092 3.225 3.418 5.340 5.928 6.204 7.097 7.593 7.922 8.166 9.028

lokale Verteilung der Mitgliedschaft in % (kumulativ, verzerrungsbereinigt)

  • Bernburg569 49,2 61,6 51,9 48,4 47,3 45,7 46,5 46,1 51,2 51,9 52,4 53,1 53,6 53,8 53,8 52,9
  • „5 Orte“570 23,7 19,1 21,3 23,0 25,2 24,2 24,3 24,8 24,3 23,8 23,3 23,0 22,9 22,9 23,1 23,8
  • „Dörfer“571 27,1 19,3 26,8 28,6 27,5 30,1 29,2 29,1 24,4 24,3 24,2 23,9 23,5 23,3 23,1 23,3

Frauenanteil in % (kumulativ) 4,6 3,4 2,7 4,4 4,9 4,8 4,8 4,6 6,4 7,1 7,8 9,5 10,4 11,4 12,3 14,6 Durchschnittsalter (kumulativ, verzerrungsbereinigt) 32,3 31,5 32,6 34,1 35,8 37,1 38,3 39,6 39,9 40,6 41,2 41,6 42,2 42,7 43,1 41,7 566 Die Angaben zur Berufsstruktur der Neueintritte des Jahres 1944 müssen aus quellenbedingten, jedoch nicht nachträglich zu korrigierenden Gründen heraus als nicht korrekt angesehen werden. Die Abweichungen in der kumulativ ermittelten Berufsstruktur für 1944 gegenüber den Vorjahren sind in erster Linie darauf zurückzuführen. Vgl. auch Kapitel 7. 567 Addition der im NSDAP-Datensatz mit Eintrittsjahr nachgewiesenen Eintritte. 568 Gleichmäßig auf alle Eintrittsjahrgänge angewandter Ausgleichsfaktor für die im NSDAP-Datensatz erfassten Mitglieder, für die kein korrektes Eintrittsdatum nachgewiesen werden konnte (unter der Annahme der gleichmäßigen Verteilung über aller Eintrittsjahrgänge): 1,27; Ausgleichsfaktor unter der Annahme, dass der NSDAP-Datensatz etwa 80 % aller NSDAP-Mitglieder erfasst: 1,2. 569 1939 ca. 40.000 Einwohner, Anteil an der Wohnbevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 45,9%. 570 Güsten, Hecklingen, Nienburg, Neundorf, Sandersleben. 1939 jeweils zwischen 3.000 und 6.000 Einwohner, Anteil an der Wohnbevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 26,9%. 571 1939 jeweils unter 1.500 Einwohner, Anteil an der Wohnbevölkerung im Untersuchungsgebiet 1939 27,2%. 286 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Berufe der Mitgliedschaft in % (kumulativ, verzerrungsbereinigt)572 1 Landarbeiter 2,5 4,9 3,1 2,6 2,3 2,3 2,3 2,3 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2 ungelernte Arbeiter 8,6 12,8 8,6 7,5 5,3 5,3 5,3 5,2 5,3 5,2 5,3 5,1 5,0 5,1 5,1 4,9 3 Hausangestellte 1,2 0,4 0,5 0,4 0,3 0,3 0,3 0,3 0,1 0,1 0,1 0,1 0,2 0,2 0,2 0,5 4 Metallfacharbeiter und - angelernte 11,1 9,1 7,2 6,2 6,0 6,0 6,0 6,0 7,9 8,1 8,1 8,3 8,3 8,4 8,4 9,7 5 Bau- und Holzfacharbeiter und -angelernte 2,5 1,4 3,1 4,0 3,3 3,3 3,3 3,3 3,3 3,4 3,3 3,3 3,4 3,4 3,4 3,5 6 Facharbeiter und Angelernte des polygraphischen Gewerbes 0,0 0,0 0,0 0,0 0,4 0,4 0,4 0,4 0,7 0,7 0,7 0,7 0,7 0,7 0,7 0,7 7 Bergleute 0,0 1,2 1,0 0,5 0,5 0,6 0,6 0,6 1,0 1,0 1,0 1,0 1,0 1,0 1,0 0,9 8 andere Facharbeiter 13,6 14,0 16,4 10,4 7,8 7,7 7,7 7,7 7,2 7,2 7,2 6,9 6,8 6,8 6,8 7,3 9 Arbeiter im öffentlichen Dienst 0,0 0,0 1,0 2,5 2,5 2,6 2,6 2,6 4,2 4,2 4,2 4,4 4,4 4,4 4,4 4,3 572 Es fanden ausschließlich zuordnungsrelevante Angaben Berücksichtigung; für die konkreten Berufszuordnungen siehe die Beschreibung des NSDAP-Datensatzes im Teil B: Dokumentation. 287 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 10 kaufmännische Angestellte und Handlungsgehilfen 25,9 24,0 16,2 13,0 9,9 9,8 9,8 9,8 9,6 9,6 9,6 9,9 10,0 10,0 10,1 10,4 11 Lehrer 1,2 2,2 0,9 6,7 11,7 11,4 11,4 11,3 11,3 10,9 10,8 10,5 10,3 10,3 10,2 9,7 12 Angestellte und Beamte öffentlicher Dienst (außer Lehrer) 11,1 8,5 10,4 13,5 21,3 21,2 21,2 21,1 22,6 22,6 22,7 23,3 23,3 23,2 23,2 22,2 13 landwirtschaftliche Angestellte 0,0 0,0 0,7 1,0 0,5 0,5 0,5 0,5 0,6 0,6 0,6 0,6 0,6 0,6 0,6 0,6 14 Werkmeister 2,5 0,9 2,3 2,1 1,8 1,8 1,8 1,8 1,8 1,8 1,8 1,8 1,8 1,8 1,8 1,7 15 andere Angestellte 7,4 7,8 7,6 7,1 6,3 6,3 6,4 6,4 6,1 6,3 6,3 6,4 6,5 6,5 6,5 6,9 16 Handwerk und Gewerbe 6,2 6,8 11,0 11,6 11,6 11,9 11,9 12,0 9,5 9,8 9,8 9,4 9,5 9,5 9,5 8,9 17 Fabrikbesitzer und Direktoren 0,0 1,2 0,7 0,6 1,6 1,6 1,6 1,6 1,5 1,4 1,4 1,4 1,3 1,3 1,3 1,2 18 Landwirte und Gutsbesitzer 3,7 3,0 6,2 8,3 5,3 5,6 5,6 5,6 3,8 3,8 3,8 3,6 3,5 3,5 3,5 3,3 19 freie Berufe 2,5 2,0 1,9 1,6 1,3 1,3 1,3 1,3 1,2 1,3 1,3 1,3 1,2 1,2 1,2 1,2 20 Schüler und Studenten573 0,0 0,0 1,3 0,5 0,2 0,2 0,2 0,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,2 573 Große Teile der 1944 als „ohne Beruf“ im NSDAP-Datensatz vermerkten Eintretenden waren wahrscheinlich Schüler, so dass für dieses Jahr eine nicht auszugleichende Verzerrung des Ergebnisses besteht. 288 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Arbeiter gesamt (Kategorien 1- 9) 39,5 43,8 40,9 34,0 28,5 28,4 28,4 28,4 31,9 31,9 31,9 31,7 31,7 31,8 31,8 33,7 Angestellte und Beamte (Kategorien 10-15) 48,1 43,3 38,0 43,4 51,5 51,1 51,0 50,9 52,0 51,7 51,7 52,5 52,6 52,5 52,5 51,4 Selbständige (Kategorien 16- 19) 12,3 13,0 19,8 22,1 19,8 20,4 20,4 20,6 16,1 16,3 16,3 15,7 15,6 15,6 15,5 14,6 öffentlicher Dienst (Kategorien 9, 11, 12) 12,3 10,6 12,4 22,6 35,6 35,2 35,1 35,0 38,1 37,7 37,7 38,2 38,0 37,9 37,9 36,1 289 Mitgliederentwicklung (kumulativ) und nachgewiesene jährliche Neueintritte in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1929-1944 0 200 400 600 800 1.000 1.200 1.400 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahr nachgewiesene jährliche Neueintritte 0 1.000 2.000 3.000 4.000 5.000 6.000 7.000 Mitglieder (kumulativ) Eintritte im Jahr Mitglieder kumul. auf Basis 1929 290 Anteil der Ortsgrößenklassen an der NSDAP-Gesamtmitgliedschaft im Untersuchungsgebiet 1929 bis 1944 (kumulativ) 0 10 20 30 40 50 60 70 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahresende % Bernburg "5 Orte" "Dörfer" 291 Frauenanteil unter den NSDAP-Mitgliedern im Untersuchungsgebiet 1929 bis 1944 (kumulativ) 0,0 2,0 4,0 6,0 8,0 10,0 12,0 14,0 16,0 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahresende % 292 Durchschnittsalter der NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1929-1944 (kumulativ und verzerrungsbereinigt) 30,0 32,0 34,0 36,0 38,0 40,0 42,0 44,0 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahresende Durchschnittsalter 293 Mit Geburtsjahr im NSDAP-Datensatz erfaßte Mitglieder (unbereinigt) 0 50 100 150 200 250 300 350 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 Geburtsjahr Anzahl 294 Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder unter den Beschäftigten der Reichsbahndirektion Magdeburg per 28.02.1946, geordnet nach Altersgruppen und Qualifikationsstufe 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 bis 20 J. 21-25 J. 26-30 J. 31-35 J. 36-40 J. 41-45 J. 46-50 J. 51-55 J. 56-60 J. 61-65 J. über 65 J. Altersgruppe Anteil in % alle Beschäftigten Arbeiter (Lohnbedienstete, die nicht oder nicht überwiegend im Beamtendienst beschäftigt werden) Beamte, Angestellte und Lohnbedienstete, die ständig oder überwieg. als Beamtendiensttuer beschäftigt werden 295 Anteil der Geburtsjahrgänge 1901 bis 1910 unter den in die NSDAP im Untersuchungsgebiet neu eintretenden Personen nach Eintrittsjahrgängen und sozialer Zugehörigkeit 0 10 20 30 40 50 60 70 1921/26 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Eintrittsjahrgang % der Eintretenden Arbeiter Angestellte, Beamte und Selbständige 296 Anteil der Kernjahrgänge an den jährlichen Neueintritten in die NSDAP im Untersuchungsgebiet 1921- 1944 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 1921/26 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahr % 1893 bis 1912 1901 bis 1910 297 Soziale Zugehörigkeit der NSDAP-Mitglieder im Untersuchungsgebiet 1929-1944 (kumulativ und verzerrungsbereinigt) 0 10 20 30 40 50 60 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahresende % der Mitgliedschaft Arbeiter Angestellte und Beamte Selbständige öffentlicher Dienst 298 Teil C: Anhang Nachweis der ungedruckten Quellen Bundesarchiv Berlin, Berlin, Berlin Document Center; 15.01 RMdI; NS 5; NS 22; NS 25; NS 26; NS 51; R 72 / alt 61 Sta 1; R 43 II; R 45 II alt Vo 1/1; R 1507; R 8005; Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv / Zentrales Parteiarchiv der SED. Bundesarchiv Berlin, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZA; ZA I; ZB II; ZE; VgM. Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg, Rep. 502. Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Zentralarchiv, HA IX/11, ZUV 45. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg, Rep. C 34 Magdeburg; Rep. C 127 Anhang: Justiz PA; Rep. Rep. K 3 Ministerium des Innern; Rep. M 60 Reichsbahndirektion Magdeburg. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Dessau, Regierung Dessau, Abteilung des Innern; Regierung Dessau, Abteilung Schulwesen; Staatsministerium Dessau 3; Bezirksverwaltung Dessau; Kreisverwaltung Bernburg; Deutsche SolvayWerke. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abteilung Merseburg, SED-Bezirksleitung Halle; FDGB-Bezirksvorstand Halle. Stadtarchiv Bernburg, Findbücher 6-8; Adressbücher. Kreisarchiv Bernburg, Bestände der Gemeinden. Einzelne Vorgänge: Kreisarchiv Quedlinburg, Kreisarchiv Staßfurt, Stadtarchiv Dessau, Stadtarchiv Güsten, Evangelisches Pfarramt Güsten, Archiv der Verwaltungsgemeinschaft „Bördeblick“ Sitz Hecklingen, Stadtarchiv Nienburg/Saale, Stadtarchiv Sandersleben, Stadtarchiv Staßfurt, Gemeindearchiv Amesdorf, Gemeindearchiv Drohndorf, Gemeindearchiv Groß Schierstedt, Gemeindearchiv Hohenerxleben, Gemeindearchiv Neundorf, Gemeindearchiv Rathmannsdorf, Archiv der Verwaltungsgemeinschaft „Wippertal“ in Schackenthal. Privatbesitz: Lebenserinnerungen Ulrich Freiherr von Bothmer; Tagebuchauszüge und biographische Notizen Kurt Kleinau. 299 Nachweis der Literatur und gedruckten Quellen Gedruckte Quellen Adreßbuch der Stadt Bernburg abgeschlossen am 12. April 1934 / nach dem Stande vom 15. April 1938, Bernburg 1934 / 1938. Adreßbuch der Städte Staßfurt und Leopoldshall sowie folgender Orte: HecklingenLöderburg-Neundorf 1938/39, Staßfurt 1938. Adreßbuch des Landkreises Bernburg 1925 / 1931, Bernburg o. J. (1925 / 1931). Adreßbuch für sämmtliche Ortschaften des Kreises Bernburg (ausschließlich der Kreisstadt) 1899, Bernburg 1899. Anhalter Abendpost. Abendzeitung für nationalsozialistische Weltanschauung für Stadt und Kreis Bernburg, die Kreise Ballenstedt und Köthen, Bernburg 1 (1933) [L]. Anhalter Kurier. Bernburger Tageblatt und General-Anzeiger für Anhalt, 23, 57-65 (1898, 1930-1938) [L]. Anhaltische Bürgerzeitung (Güstener Zeitung), Güsten, 1927, 12.10.1931. Anzeiger für die Kreise Aschersleben Quedlinburg-Calbe-Mansfeld, Aschersleben 1931. Archivalische Quellennachweise zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung aus dem Kreisarchiv Bernburg, Stadtarchiv Bernburg und dem Betriebsarchiv Vereinigte Sodawerke „Karl Marx“ Bernburg-Staßfurt, Bernburg o. J. (ca. 1980). Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeinde-Angelegenheiten in der Stadt Bernburg für die Zeit vom 1. April 1920 bis 30. März 1924, Bernburg o. J. (1924) Bericht über die Verwaltung und den Stand der Kreiskommunalangelegenheiten des Landkreises Bernburg für das Rechnungsjahr 1933, o. O. o. J. (Bernburg 1934). Bernburger Wochenblatt, Bernburg 1898. Bernburgische Zeitung. Amtsblatt des Kreises und der Stadt Bernburg. Bernburger Wochenblatt. Anhaltische Allgemeine Zeitung, 57 (1919) [L]. Deutsche Handelswacht. Blätter für deutschnationale Handelspolitik und soziale Reform im Kaufmannsstande. Zeitschrift für Angelegenheiten der Berufsgenossenschaft Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Verband, Hamburg, 5-8 (1898-1901). Deutsche Metallarbeiter-Zeitung, Nürnberg, 9 (1891). Deutsches Frauenblatt. Zeitschrift für Frauen aller Stände [seit August 1929 unter dem Titel Deutsches Frauenblatt. Zeitschrift für Frauen aller Stände und Berufe. Nachrichtenblatt des Bundes Deutscher Frauen-Dienst e.V.], Magdeburg, 1-8 (1926-1933). Feldpostbrief der Gauleitung für das Führer-Korps des Gaues Magdeburg-Anhalt der NSDAP, o. O. o. J. (Dessau, Juni 1944). Freie Scholle. Wochenschrift für Kleinbauern, Pächter, Landarbeiter und Siedler, Dessau, 1-9 (1925-1933). Freiheit. Mitteldeutsche Tageszeitung (Ausgabe Bernburg), 2-3 (1947-1948). Führerblätter der NSDAP. Gau Halle-Merseburg, Halle/Saale 1934-1939. Führer-Briefe für die Mitglieder des Ringes der Getreuen im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, Hamburg, 1921-1929 [L]. 300 Gemeindelexikon für die Provinz Posen. Auf Grund der Materialien der Volkszählung vom 1.Dezember 1905 und anderer amtlicher Quellen, Berlin 1908. Görlitzer, A. (Hg.): Adreßbuch der nationalsozialistischen Volksvertreter, Berlin 1933. Graf, Herrmann: Anhaltisches Pfarrerbuch. Die evangelischen Pfarrer seit der Reformation, Dessau 1996. Grey, M., und H. Schmidt (Hg.): Adreß-Buch des Landkreises Bernburg 1907, Bernburg 1906. Handbuch über den Freistaat Anhalt 1929, Dessau 1929. Die handelsgerichtlich eingetragenen Firmen im Herzogthum Anhalt nach den verschiedenen Geschäftszweigen geordnet, Dessau 1898. Heimat-Kalender für die Alt-Bernburger Lande /1928-1936/, Bernburg 1927-1935. Jahres-Bericht des Gewerkschafts-Kartells zu Bernburg für das Geschäftsjahr 1900, Dessau o. J. (1901). Der Kalibergmann. Wochenschrift für ihre Gefolgschaftsangehörigen. Herausgegeben von der Wintershall Aktiengesellschaft, Kassel, 14-19 (1939-1944). Konsum- und Spargenossenschaft für Bernburg und Umg. Bericht 1932/1933, o. O. o. J. (Bernburg 1933). Konsum- und Spargenossenschaft für Bernburg und Umgegend. Jahresbericht über das 36. Geschäftsjahr vom 1. Juli 1928 bis 30. Juni 1929, o. O. o. J. (Bernburg 1929). Landbund-Jahrbuch für Mitteldeutschland /1923-1928/, Erfurt o. J. Landwirtschaftliches Adreßbuch der Güter und Wirtschaften in Anhalt (= Niekammer’s Landwirtschaftliche Güter-Adreßbücher, Bd. 13), Leipzig 1924. Mitteilungen des Herzoglich Anhaltischen Statistischen Bureaus, Nr. 51, Dessau 1912. Der Mitteldeutsche. Anhalter Nachrichten. Tageszeitung für nationalsozialistische Weltanschauung (ab 1935: „ ... Amtliches Organ der NSDAP und sämtlicher Behörden im Gau Magdeburg-Anhalt“), Bernburg, 3-9 (1934-1940). Mitteldeutsche Angestellten-Rundschau. Monatszeitschrift des Gaues Mitteldeutschland im Gewerkschaftsbund der Angestellten (G.D.A.), Magdeburg, 6-9 (1929-1932) [L]. Mitteldeutsche Kaufmannspost. Zeitschrift für die kaufmännischen Angestellten in Handel und Industrie Mitteldeutschlands. Monatsschrift des Gaues Sachsen-Anhalt im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband, Magdeburg, 20 (1922); ab November 1922 Nachfolgerin: Mitteldeutsche Kaufmannspost. Monatsschrift des Gaues Mitteldeutschland im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband. Zeitschrift für die kaufmännischen Angestellten in Handel und Industrie Mitteldeutschlands, Halle/Saale, 1-12 (1922-1933) [L]; ab Juli/August 1933 Nachfolgerin: Mitteldeutsche Kaufmannspost. Monatsschrift des Bezirkes Mitteldeutschland im DHV., Deutscher Handlungsgehilfenverband. Zeitschrift für die kaufmännischen Angestellten in Handel und Industrie Mitteldeutschlands, Halle/Saale, 1-2 (1933-1934). Mitteldeutsche Presse und Staßfurter Tageblatt. Ein deutsches Blatt zur Befreiung des deutschen Volkes [bis 15.08.1921: Staßfurter Tageblatt. Unabhängiges Blatt für nationale Interessen; seit Jahresbeginn 1922 hinzugefügt: ... Organ des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes für den gesamten Gau Sachsen-Anhalt und die Thüringischen Staaten; seit 02.08.1922 Untertitel: Ein deutsches Blatt zur Befreiung des deutschen Volkes und zur Bekämpfung jeglicher Fremdherrschaft], Staßfurt, 58/59 (1921/22) [L]. Mitteldeutsche Wirtschaftszeitung. Amtliches Organ des Wirtschaftsverbandes Mitteldeutschland E.V., Halle/Saale 1923-1926. 301 Munzinger-Archiv/Internationales Biographisches Archiv 1/02, P 001316-3. Offizielles Industrie- und Handelsadreßbuch des Mitteldeutschen Wirtschaftsgebietes, Erfurt 1929. Organisationsverhältnis, Arbeitszeit, Akkord- und Prämienarbeit, Gruppeneinteilung in der chemischen Industrie. Statistische Erhebungen im Jahre 1929, o. O. o. J. (Hannover ca. 1930). Parteiamtliches Ortsverzeichnis des Gaues Magdeburg-Anhalt der NSDAP, Magdeburg o. J. (1936). Possart, Fedor: Geographie und Statistik des Herzogthums Anhalt Bernburg, Bernburg 1858. Der Propeller. Werkzeitung für die Gefolgschaft der Junkers-Flugzeug- und Motorenwerke Aktiengesellschaft, o. O. (Dessau), 3-4 (1937-1938) [L]. Reichsband. Adressenwerk der Dienststellen der NSDAP mit den angeschlossenen Verbänden des Staates, der Regierung-Behörden und der Berufsorganisationen in Kultur, Reichsnährstand, Gewerbliche Wirtschaft, Berlin o. J. (1939). Die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung auf Grund der Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1925, Dessau 1926 (= Mitteilungen des Anhaltischen Statistischen Landesamtes Nr. 58). Röver, Carl: Der Bericht des Reichsstatthalters von Oldenburg und Bremen und Gauleiter des Gaues Weser-Ems über die Lage der NSDAP. Eine Denkschrift aus dem Jahr 1942, bearbeitet und eingeleitet von Michael Rademacher, Vechta 2000. Sächsisch-Anhaltische Wacht. Monatsschrift des Gaues Sachsen-Anhalt des deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, Magdeburg, 7-9 (1907-1909) [L]. Sanderslebener Zeitung. Amtliches Kommunalblatt der Stadt Sandersleben. Amtliches Nachrichtenblatt für die Ortschaften des Amtsgerichtsbezirks Sandersleben, 46 (1931). Schallehn, Fr. Wilhelm (Bearb.): Adreßbuch für die Zuckerindustrie und den Zuckerhandel Europas, Betriebsjahr 1941/42, 71. Jahrgang, Magdeburg o. J. Schulblatt für Braunschweig und Anhalt, Braunschweig, 31-46 (1918-1933) [L]. 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Unterbezirk der SPD, umfasst die Kreise Bernburg und Ballenstedt sowie den Teil des Kreises Köthen westlich der Bahnlinie Magdeburg-Halle (einschließlich der Stadt Köthen) BDC Berlin Document Center BDM Bund Deutscher Mädel DDAC Der Deutsche Automobilclub DDP Deutsche Demokratische Partei DDR Deutsche Demokratische Republik DHV Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband DMV Deutscher Metallarbeiterverband DNVP Deutschnationale Volkspartei DStP Deutsche Staatspartei DVP Deutsche Volkspartei F Freiheit (Ausgabe Bernburg) FAV Verband der Fabrikarbeiter Deutschlands (Fabrikarbeiterverband) GdA Gewerkschaftsbund der Angestellten Gedag Gesamtverband deutscher Angestellten-Gewerkschaften HJ Hitlerjugend KPD Kommunistische Partei Deutschlands Ms. Maschinenschrift NSBO Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation NSFK Nationalsozialistisches Fliegerkorps NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDFB Nationalsozialistischer Deutscher Frontkämpferbund NSDStB Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund NSKK Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps NSKOV Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung NSLB Nationalsozialistischer Lehrerbund NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt OG Ortsgruppe OV Ortsverein Pg. Parteigenosse RDB Reichsbund Deutscher Beamter SA Sturmabteilung SAP Sozialistische Arbeiterpartei SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS Schutzstaffel StDR Statistik des Deutschen Reiches UB Unterbezirk 312 Uschla Untersuchungs- und Schlichtungsausschuss VbA Volksblatt für Anhalt (Dessau) Vw Volkswacht (Bernburg)

  1. Napoleonische Post in Norddeutschland - StampsWiki Dekret von Fontainebleau 18. Oktober 1810 von stampswiki.de.
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