Transkription Probant 2 (weiblich, 25 Jahre, Russin)

LS

Du lebst jetzt schon seit einiger Zeit in Deutschland. Wenn du an deine ersten Monate hier zurückdenkst, verbindest du eher negative oder eher positive Gefühle mit dieser Zeit?

P2

Das war eher ein positives Erlebnis, weil ich nach Deutschland gekommen bin, um meine Sprache zu verbessern, und ich war als Au Pair Mädchen in einer guten Familie, ich wurde gut aufgenommen und empfangen, und die ganze Welt schien schön zu sein. Ja, das war sehr schön.

LS

Als du in Deutschland angekommen bist, war sicher alles neu und ungewohnt für dich. Haben die Menschen und die Umgebung auf dich fremd und seltsam gewirkt, oder fandest du das Neue interessant und spannend?

P2

Ich hab die Leute ganz normal wahrgenommen, viele schienen mir gleich auszusehen, und das war komisch... es ist nämlich so, dass ich in Russland immer Röcke getragen habe, und Schuhe mit Absätzen, immer alles tiptop, also hab ich mich in dem Ort, in dem ich angekommen war, auch so angezogen wie in Russland. Es war eine kleine Stadt, mit ungefähr 20.000 Einwohnern, und die haben mich deswegen alle ziemlich blöd angeschaut, aber ich hab das gar nicht kapiert, weil es ganz normal für uns ist, sich so anzuziehen. Das war der erste Schock.

LS

Das klingt jetzt aber Gott sei Dank nicht nach einem Kulturschock-Erlebnis...

P2

Nein, nein, auf keinen Fall.

LS

Hast du wegen all dieser neuen Personen und Umstände Heimweh bekommen oder hast du dich der Situation angepasst und konntest gut mit ihr umgehen?

P2

Also im ersten halben Jahr hatte ich gar kein Heimweh, ich hab mit meiner Familie telefoniert und mit meinen Freunden, und das war in Ordnung, ich habe dort auch jemanden kennengelernt.

LS

Hast du dich so verhalten wie zuhause auch, oder würdest du sagen, dass du dich mit der neuen Situation verändert hast?

P2

Natürlich hab ich versucht, mich anzupassen, aber ich weiß nicht, inwieweit das überhaupt klappt; ich kann das selbst nicht einschätzen, wie mich die anderen sehen.

LS

Das heißt, der Prozess der Anpassung hat für dich eher indirekt stattgefunden und hast dich der Situation nach und nach langsam angepasst...

P2

… immer noch nicht ganz (mit Augenzwinkern)

LS

Bist du selbst auf irgend eine Art „typisch deutsch“ geworden (z.B. pünktlich)?

P2

Manchmal schon. Nicht in allen Situationen, aber manchmal schon. Wenn es einen Plan gibt, möchte ich ihn jetzt auch einhalten. Aber das funktioniert auch nicht immer.

LS

Deutschland hat also auch deine Arbeitsweise beeinflusst.

P2

Genau.

LS

War es für dich gut und positiv, die deutsche Kultur (die für dich ja völlig neu war) kennenzulernen?

P2

Ja, auf jeden Fall. Ich wollte es auch.

LS

Das heißt, du hast für dich persönlich davon profitiert?

P2

Ich finde, jede Person wird davon reicher, wenn sie eine andere Person oder eine andere Kultur kennenlernt. Deine Denkweise ist dann nicht mehr so eingegrenzt, denn du weißt, dass es in anderen Kulturen anders ist als bei dir zuhause, und dass die Sichtweisen anders sein können.

LS

Als du die deutsche Kultur kennengelernt hast, warst du da eher kritisch oder hast du das Neue einfach übernommen?

P2

Ja. Alle Geschäfte haben am Sonntag zu. Und nicht jeder nimmt dich so wie du bist, und ich hatte auch ein paar negative Erlebnisse, als ich wegen meines Akzents oder wegen meiner sprachlichen Fehler blöd angeschaut wurde.

LS

Alles in allem war also dein Hineinwachsen in die deutsche Kultur eine Mischung daraus, neue Dinge kennenzulernen und zu akzeptieren, aber auch ein bisschen kritisch zu hinterfragen?

P2

Ja, wie bei allem. Das ist doch normal.

LS

Als du nach Deutschland kamst, hat da deine Religion eine große Rolle in deinem Leben gespielt?

P2

Nein. Also wir haben zwar Weihnachten und die Fastenzeiten und Ostern und alles mögliche, aber das ist für mich nicht mehr religiös, sondern Feste mit der Familie oder mit Freunden, oder einfach ein Feiertag, an dem man nicht arbeiten muss.

LS

Würdest du sagen, dass du ein religiöser Mensch bist, oder eher nicht?

P2

Also, ich glaube zwar an Gott, aber ich bin nicht gläubig in dem Sinn, dass ich ständig in die Kirche gehe und alle formellen Regeln einhalte. Ich bin gläubig für mich selbst, und nicht für die anderen.

LS

Du hast gerade gesagt, du bist für dich selbst gläubig. Weißt du, was deine Religion überToleranz sagt?

P2

Die Orthodoxe Kirche ist soweit ich weiß sehr streng... zum Thema Toleranz weiß ich jetzt nicht so viel... Ich weiß nur dass damals, als die Orthodoxe Religion sich abgespalten hat, in die Altgläubigen und die sogenannten Neugläubigen, es viele Kämpfe und Kriege gab und dass deshalb viele Menschen von beiden Seiten getötet wurden. Daher denke ich mir, dass sie zwar tolerant sind, wie die ganze Welt heutzutage, aber nicht über-tolerant.

LS

Betrachtet deine Religion Andersgläubige, zum Beispiel Moslems, kritisch?

P2

Ich komme aus einer Region in Sibirien, wo Muslime und Christen und Menschen, die an verschiedene Götter glauben, zusammenwohnen. Ich gehe zwar nicht in die Kirche, aber ich habe sie immer als tolerant empfunden, und die Leute waren auch ganz normal.

LS

Wie wurde in deiner Kindheit das Thema „Toleranz“ angesprochen / wie hast du als Kind gelernt, tolerant zu sein?

P2

Es wurde uns niemals beigebracht. Wir haben uns auch mal gegenseitig geschlagen, wie das alle Kinder tun, und ich war auch nicht immer nur das 'brave Mädchen'.

LS

Wie entwickelte sich dann die Toleranz bei dir?

P2

Für mich ist das etwas, das dann später eher indirekt entsteht, etwas, das mit dem Alter kommt, und das man im Alltag lernt. Es hat für mich auch viel damit zu tun, wie man sich gegenüber Älteren und Schwächeren verhält.

LS

Du spielst also darauf an, dass die Toleranz eher von der Gesellschaft gelernt wird?

P2

Ja, so war das auch.

LS

Was hast du in deiner Kindheit über Toleranz in deiner Religion gehört?

P2

Ich habe in meiner Kindheit nichts spezielles über meine Religion gelernt. Außerdem gibt es in Russland auch keinen Religionsunterricht. Wie gesagt denke ich, dass Toleranz nicht aus der Religion abgeleitet wird, sondern dass sie durch die Familie vermittelt wird und durch die Gesellschaft, als Kind macht man das nach, was die anderen tun.

LS

Könntest du kurz in eigenen Worten zusammenfassen, ob es für dich einen Zusammenhang zwischen deiner religiösen Erziehung und der Toleranz gegenüber einer fremden Kultur gibt?

P2

Also ich kann nicht sagen, ob es von der Religion abhängt dass ich andere Kulturen und auch die Mitglieder aus anderen Religionsgemeinschaften positiv wahrnehme. Generell bin ich auch nicht religiös erzogen worden, keiner weiß mehr die Bedeutung der Feste und Bräuche. Für mich gibt es da keinen direkten Zusammenhang.