Wikiversity:Fellow-Programm Freies Wissen/Einreichungen/Autorenidentifikation und linguistische Merkmale der Rixdorfer Handschriften
Autorenidentifikation und linguistische Merkmale der Rixdorfer Handschriften: Eine Untersuchung anhand von Manuskripten aus dem 18./19. JahrhundertBearbeitenProjektbeschreibungBearbeitenOhne es zu merken, kommen einige von uns Wissenschaftler_innen früher oder später dahin: Die Wissenschaft lockt ihre Beute in den Elfenbeinturm. Natürlich bekamen viele Denker_innen in dessen Abgeschiedenheit manch eine Erleuchtung, die unsere Welt veränderte. Doch es gibt Erfindungen und Entdeckungen, die für Fachfremde nur schwer nachvollziehbar bleiben und somit in Gefahr geraten, vergessen zu werden. Deshalb sollten wir, die Wissenschaftler_innen, nie die Fragen vergessen: Was bringen unsere Erkenntnisse für die Gesellschaft und wie können wir unsere Arbeit ganz einfach erklären? Im Studium und in der Promotion habe ich bereits sowohl mit Open Sources als auch mit schwer zugänglichen Materialien (z.B. nicht erschlossene Archivbestände) Erfahrung gesammelt. In meiner Bachelorarbeit untersuchte ich die Benutzungswahrscheinlichkeit der Germanismen im Tschechischen und kam zur Schlussfolgerung, dass diese nicht allzu hoch ausfällt, obwohl die Tschechen selbst die Behauptung aufgestellt haben, ihre Sprache sei sehr germanisiert. Die Grundlage für meine Studie war das Tschechische Nationalkorpus, welches mit 3,6 Milliarden Wortformen des Tschechischen und 1,5 der anderen Sprachen nicht nur das größte öffentlich zugängliche Korpus in Ost- und Mitteleuropa bildet, sondern auch zu den Größten weltweit gehört. In meiner Masterarbeit beschäftigte ich mich mit der Sprache der Rixdorfer Autobiografien aus dem 18. Jahrhundert, die als individualisierte und nicht katholische tschechische Manuskripte dieser Zeit europaweit ein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen, denn diese wurden hauptsächlich von tschechischen Bauern und Handwerkern in einem deutschen Umfeld in Berlin verfasst. Allein, dass die Bauern und Handwerker zu jener Zeit alphabetisiert waren, ist ein seltenes Phänomen. Die Manuskripte sind bis heute (nahezu) unzugänglich. In meiner Doktorarbeit, an der ich seit April dieses Jahres arbeite, sind unter anderem diese Handschriften weiterhin das zu untersuchende Thema. Es geht aber auch darum, die Schreiber zu identifizieren, die Überlieferungsgeschichte ihrer Texte in der Brüdergemeine zu eruieren und besondere sprachliche Merkmale im Kontakt mit dem Deutschen und anderen Sprachen aufzudecken. Wissenschaft soll zugänglicher werden: Eine andere, eine neue, eine umgängliche Sichtweise auf die Forschung und ihre Ergebnisse, hilft nicht nur den Nicht-Forscher_innen, die Gesellschaft besser zu verstehen, sondern trägt auch zu einem Selbstverständnis der Forschung bei. Eine aufgeschlossene und kontaktfreudige Wissenschaft aktiviert im hohen Grade ihre Ressourcen der Realitätsrelevanz, die sie in sich birgt. Mithilfe des Konzepts von Open Science, zeigten beispielsweise bereits die Zwischenergebnisse meiner Dissertation, dass in der deutschen sowie auch in der Berliner Gesellschaft ein Zuwachs von Geflüchteten nicht erst seit ca. drei Jahren erfolgt. In Berlin können wir bereits von einer Tradition sprechen – Hugenotten, Salzburger Protestanten, die böhmischen Brüder, französische Adelige, Opfer der Balkankriege der 1990-er Jahre, Syrer und Homosexuelle aus Russland bilden nur eine kleine Anzahl von denen, die in Berlin ein neues Zuhause fanden. Und ich tue das, was ich kann - Ich möchte die Geschichte der tschechischen Refugianten des 18. Jahrhunderts aus linguistischer und soziolinguistischer Sicht aufarbeiten, um die Berliner Tradition der Multikulturalität zu stärken, ihr eine öffentliche Plattform zu geben und aufzuzeigen, wie vielseitig die Stadt war und immer noch ist. Wie genau? Mehr dazu im Forschungsvorhaben. Forschungsvorhaben Im Rahmen meiner Dissertation zum Thema “Autorenidentifikation und linguistische Merkmale der Rixdorfer Handschriften: Eine Untersuchung anhand von Manuskripten aus dem 18./19. Jahrhundert” behandle ich Predigten und Lebensläufe einer protestantischen Flüchtlingsgemeinde aus Berlin-Rixdorf. Die Dissertation findet im Rahmen des Projekts “Tracing patterns of contact and change: Philological vs. Computational approaches to the handwritings of a 18th century migrant community in Berlin” statt, gefördert durch die Volkswagen Stiftung ('Mixed Methods'). Das Ziel des Projekts ist die Erstellung eines (halb-)automatischen Assistenzsystems für Autorenidentifikation und Manuskriptenvergleich, das sowohl linguistische als auch visuelle Eigenschaften der Texte berücksichtigt. Realisiert wird das Vorhaben mithilfe des Fachgebietes der Westslawischen Sprachen der Humboldt-Universität, dem Fraunhofer IPK und der Musterfabrik. Die Rixdorfer Handschriften dienen dem Projekt als Trainingsmaterial. Es wird beabsichtigt, das Assistenzsystem als Ergebnis des Projekts in Form einer öffentlich zugänglichen online Anwendung zur Verfügung zu stellen. Die Rixdorfer Handschriften werden letztendlich auszugsweise als Vorschau- bzw. Übungsmaterial im fertigen System verwendet. Da die Predigten und die Lebensläufe selbst sowie (teilweise) ihre Inhalte im Projektergebnis eine zweitrangige Rolle spielen und in meiner Doktorarbeit nur zweckgemäß dem Dissertationsthema behandelt werden können, ist der Grad an ihrer öffentlichen Repräsentation gering. Ihrer historischen und aktuellen Bedeutung entsprechend, soll ein breiteres Zielpublikum in und außerhalb der Wissenschaft erreicht werden. Das Konzept dafür besteht aus zwei Hauptkomponenten: öffentliche Lesereihe und Open Source- sowie Printpublikationen. Öffentliche Lesereihe Im Rahmen des Hauptprojekts werden bis zu 25 % der Lebensläufe und Predigten transkribiert, eine Übersetzung ist jedoch weder personell noch finanziell vorgesehen. Dabei ist der Inhalt von einem großen historischen Wert. Die Migrantenschicksale aus dem 18.Jh. sind alltagskulturelle Zeugnisse, die der böhmischen Brüdergemeine einen Teil ihrer Geschichte wiedergeben und sie zugleich öffentlich bekannter und zugänglicher machen. Die erzielten Erkenntnisse können ebenfalls ein neues historisches Schlaglicht auf den heutigen sozialen Brennpunkt Berlin-Neukölln werfen. Dazu kommt die religiöse und die politische Dimension: Bevor die Böhmen und Mähren aus ihrer Heimat fliehen mussten, bestand ein intensiver Austausch zwischen der Brüdergemeine und solchen Größen der Zeit, wie Calvin, Erasmus von Rotterdam und Martin Luther (Motel 1987, S. 10; Müller, Ss. 250-267). Gegenüber Bruder Johann Horn äußerte sich Luther bereits 1522 in einem persönlichen Gespräch: „Es sind seit der Apostel Zeiten keine Leute aufgestanden, deren Kirche der apostolischen Lehre und Ordnung näher gekommen wäre, als die der Böhmischen Brüder (Adeo nusquam est in orbe puritas evangeli)“ (Motel 1983, S. 12, Gieseler, S. 438). Weiterhin beeinflusste die Brüderunität den kontinentaleuropäischen Protestantismus sehr: „Auf den deutschen Pietismus hat Comenius maßgebend durch seine Schriften und auch durch persönliche Verbindungen eingewirkt.“ (Winter, Ss. 81 -82). Der hallesche evangelische Theologe August Hermann Francke war ebenfalls ein angeregter Rezipient der Werke des Brüderbischofs und Gelehrten. Comenius' und trug seine Ideen weiter: „Das Vorwort zur Ausgabe Comenius über „die Erneuerung der kirchlichen Lehre“ stammt von dem Freund und Kollegen Franckes, F. Buddeus“ (ebd.). Dadurch wurde „Die Hochachtung, die Luther für [Jan] Hus hegte, […] in Halle wieder lebendig“ (ebd., S. 83). Das sind aber nur die wenigen Meilensteine in der Geschichte der Brüderunität. Bei der Lesereihe sollen die Texte nicht nur im Original und in deutscher Übersetzung präsentiert, sondern auch ergänzend kommentiert werden. Die Manuskripte, die das Leben der böhmischen Flüchtlinge in Berlin zeigen, spiegeln auch gleichzeitig die Berliner Gesellschaft und ihren Umgang mit den Neuankömmlingen im 18. Jahrhundert wider. In Kommentator-Funktion werden Kolleg_innen aus der Theologie, Soziologie, anderen Slawistiken, Gender Studies, Ethnologie, Erziehungs- und Geschichtswissenschaften sowie Vertreter der Evangelischen Kirche und der Brüdergemeinde miteinbezogen. Durch diverse Kanäle der Universität, Partner des Fachbereichs (Tschechisches Kulturzentrum, Osteuropa Tage Berlin, Stadtsprachen Literaturfestival, Senatskanzlei etc.) und der Rixdorfer Gemeinde (diverse Vereine in und die Bezirksregierung von Berlin-Neukölln) sehen die Chancen für eine hohe organische Reichweite der Veranstaltungsreihe vielversprechend aus. Bei ähnlichen Lesungen unseres Fachbereichs konnten wir u.a. durch ungesponsorten Einsatz von Facebook bis zu 60 Besucher_innen pro Event erzielen. Durch eine gezielt finanzierte Kommunikationsstrategie können somit noch mehr Interessentinnen erreicht werden. Open Source- und Printpublikationen Die Motivation für meine Bewerbung ist nicht nur von einer persönlichen Vorstellung über die Öffnung der Wisenschaft geprägt, sondern ist auch das Ergebnis des Engagements unseres Fachgebiets der Westslawischen Sprachen, das seinerseits aktiv an der „Forschungsdaten - Initiative“ der Fakultät mitwirkt und seit Kurzem eine Open-Access-Fachbuchreihe (mit-)herausgibt – Open Slavic Linguistics (http://langsci-press.org/catalog/series/osl). Die Ergebnisse der Lesungen in Form von interdisziplinär (aber zugänglich) kommentierten Lebensläufen können als Open Source-Publikation und zusätzlich in einer limitierten Auflage als Printmedium erscheinen. Das Zielpublikum gleicht dem Zielpublikum der Lesereihe – professionelle Forscher_innen und interessierte Berlin-Fans. Die Veröffentlichung soll zusätzlich diejenigen erreichen, die an den Lesungen nicht teilnehmen konnten oder die Inahlte noch Mal genauer nachlesen möchten. Das Ziel der Lesereihe und der Publikationen ist es aufzuzeigen, dass in Berlin eine Tradition der Multikulturalität und der Aufnahme von Verfolgten seit Jahrhunderten gepflegt wird. Dessen Verständnis soll das Publikum für die aktuelle politische Lage sensibilisieren, die Geschichte der böhmischen Exulanten in Berlin aufarbeiten sowie die lange Historie der Einwanderung nach Berlin und Deutschland in Erinnerung rufen und verfestigen. Literaturhinweise: Gieseler, J. C. L.: Lehrbuch der Kirchengeschichte, Bonn 1840 Motel, M.: Das Böhmische Dorf in Berlin, Berlin 1983 Motel, M.: Zum Böhmischen Dorf in Berlin-Neukölln (Rixdorf). In: Korthaase, W. (Hrsg.): Das Böhmische Dorf in Berlin-Neukölln 1737-1987. Dem Kelch zuliebe Exulant, Berlin 1987 Müller, J. T.: Dějiny Jednoty Bratrské, Praha 1923 Winter, E.: Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1955 BerichteBearbeitenDatenmanagementplanBearbeitenSiehe /Datenmanagementplan Autor/inBearbeiten
|