Wikiversity:Fellow-Programm Freies Wissen/Einreichungen/Entwicklung eines Dokumentationsstandards für Einzelfallexperimente

Entwicklung eines Dokumentationsstandards für Einzelfallexperimente (RSSC)

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Projektbeschreibung

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Längst hat der Anspruch auf evidenzbasierte Praxis, der in medizinischen und klinischen Feldern seinen Ursprung hat, das Bildungssystem, die Schulen und die Lehrkräfte erreicht (Slavin, 2008[1]). Aus verschiedenen Gründen wird dieser Anspruch im Bildungsbereich aber kaum erfüllt (Spiel, 2009[2]). Ein häufig benannter, aber wenig bearbeiteter Grund ist die Tendenz zur top down-Kommunikation von Wirksamkeit: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führen kontrollierte, randomisierte Gruppenstudien durch und belegen die Wirksamkeit einer Fördermaßnahme und über die Bildungspolitik und –administration wird Lehrkräften deren Durchführung nahegelegt. Der Einbezug der Lehrkräfte bleibt dabei meist gering, obwohl dadurch eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit der dauerhaften Umsetzung erreicht werden könnte. Die Beteiligung der Lehrkräfte an der Erforschung effektiver Fördermaßnahmen würde ihre Identifikation mit evidenzbasierter Praxis vermutlich deutlich verbessern. Ein Forschungsdesign, das seinen Ursprung in der sonderpädagogischen Forschung hat, könnte hierbei helfen: kontrollierte Einzelfallstudien oder Einzelfallexperimente (nachfolgend: Single Case Design / Research).

Single Case Designs (SCD) werden überall dort verwendet, wo der Erfolg einer Intervention bei einem bestimmten Individuum erforscht werden soll. Für die sonderpädagogische, psychologische und medizinische Forschung sind sie seit vielen Jahrzehnten fester Bestandteil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses (Borckardt & Nash, 2014[3]; Kazdin, 2011[4]; Kratochwill & Levin, 2015[5]) und in allen gängigen Modellen evidenzbasierter Praxis verankert, auch wenn sie im Vergleich zu Gruppenstudien weniger Aufmerksamkeit bekommen. Unter SCD wird „die intensive Untersuchung eines Phänomens unter systematisch variierten Bedingungen an ein und demselben Individuum“ (Huber, 2018[6]) verstanden. In einer Zeitreihenanalyse mit sehr häufigen Messwiederholungen wird – im einfachsten Fall – die zu untersuchende Intervention systematisch variiert (ABAB-Design). Die Diskussion um ihre interne und externe Validität (Kratochwill & Levin, 1978[7]) gilt mittlerweile als weitgehend abgeschlossen. Ihre Daseinsberechtigung (neben Alternativen wie dem klassischen RCT) ergab sich lange aus niedrigen Prävalenzraten mancher Lernprobleme, Behinderungen oder Krankheiten, die größere Gruppenstudien ausschlossen.

In der Sonderpädagogik entwickelten sich neben visuellen Methoden zur Beurteilung der Daten (Barton, Lloyd, Spriggs & Gast, 2018[8]) zunächst basale statistische Bewertungsmethoden wie Mittelwert- und Medianvergleiche sowie später elaboriertere Überlappungsmaße (Kazdin, 2011[9]; Parker & Hagan-Burke, 2007[10]). In den letzten Jahren sind mit der zunehmenden Rechenkapazität verfügbarer Computer neue, statistisch anspruchsvollere Verfahren eingeführt und statistische Verfahren aus anderen Anwendungskontexten auf die Auswertung von SCR übertragen worden (Edgington & Onghena, 2007[11]; Grünke, 2012[12]; Maggin et al., 2011[13]; Swaminathan, Rogers, Horner, Sugai & Smolkowski, 2014[14]). Dadurch gewann Single Case Research (SCR) in vielen Wissenschaftsfeldern weiter an Bedeutung.

Die beschriebenen Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Anzahl der publizierten und nicht-publizierten (aber dokumentierten) Studien im SCD immer weiter steigt. Daraus ergibt sich wiederum der Wunsch die Ergebnisse verschiedener Einzelfälle zu aggregieren und so die externe Validität zu erhöhen. Hier werden aktuell verschiedene meta-analytische Ansätze diskutiert (Brosnan et al., 2016[15]; Heyvaert et al., 2016[16]; Moeyaert, Zimmermann & Ledford, 2018[17]).

Ein bislang wenig beachtetes Problem stellt allerdings die Dokumentation der Einzelfalldaten dar. In wissenschaftlichen Publikationen werden – selbst innerhalb kleiner Forschungsfelder, wie der Interventionsforschung bei spezifischen Verhaltens- oder Lernstörungen – sehr unterschiedliche Wege zur Dokumentation und Berichtlegung gewählt. Dies schränkt die Nachvollziehbarkeit, Replizierbarkeit sowie die Nachnutzung im Rahmen von Meta-Analysen, systematischen Reviews und anderen Studien stark ein oder schließt sie sogar aus.

Ziel meines Projektes ist die systematische Zusammenführung bestehender Dokumentationsempfehlungen für SCR sowie der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit aktueller meta-analytischer Ansätze zu einem Vorschlag eines Dokumentationsstandards für SCR.

Vorgehen

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Die älteren Empfehlungen zur Dokumentation von SCR, die noch nicht oder nur wenig an statistischen Auswertungen der Einzelfalldaten orientiert waren, werden zusammengefasst. Die Anforderungen neuerer Auswertungsmethoden, systematischer Reviews und Meta-Analysen an die Dokumentation von SCR werden recherchiert und in die Empfehlung eingearbeitet. Ergänzend wären schriftliche Befragungen von Expertinnen und Experten für die Meta-Analyse von SCR sinnvoll. Im Anschluss sollen die in Form von einsatzbereiten Vorlagen und Checklisten angeboten werden. Der gesamte Prozess wird möglichst offen gestaltet und in der Scientific Community bekannt gemacht, um möglichst umfangreiches Feedback einzuholen und die späteren Implementationschancen zu erhöhen.

Literatur

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  1. [1], Slavin, R. E. (2008). Perspectives on evidence-based research in education — What works? Issues in synthesizing educational program evaluations. Educational Researcher, 37, 5–14.
  2. [2], Spiel, C. (2009). Evidenzbasierte Bildungspolitik und Bildungspraxis – eine Fiktion? Problemaufriss, Thesen, Anregungen. Psychologische Rundschau, 60, 255–256.
  3. [3], Borckardt, J. J. & Nash, M. R. (2014). Simulation modelling analysis for small sets of single-subject data collected over time. Neuropsychological Rehabilitation, 24, 492–506.
  4. Kazdin, A. E. (2011). Single-Case Research Designs: Methods for Clinical and Applied Settings (2nd ed.). New York: Oxford University Press.
  5. Kratochwill, T. R. & Levin, J. R. (2015). Single-Case Research Design and Analysis: New Directions for Psychology and Education. London: Routledge.
  6. [4], Huber, H. (2018). Einzelfallexperiment. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie.
  7. [5], Kratochwill, T. R. & Levin, J. R. (1978). What time-series designs may have to offer educational researchers. Contemporary Educational Psychology, 3, 273–329.
  8. Barton, E. E., Lloyd, B. P., Spriggs, A. D. & Gast, D. L. (2018). Visual analysis of graphic data. In J. R. Ledford & D. L. Gast (Eds.), Single Case Research Methodology. Applications in Special Education and Behavioral Sciences (3rd ed., pp. 179–214). Milton: Taylor and Francis.
  9. Kazdin, A. E. (2011). Single-Case Research Designs: Methods for Clinical and Applied Settings (2nd ed.). New York: Oxford University Press.
  10. [6], Parker, R. I. & Hagan-Burke, S. (2007). Useful effect size interpretations for single case research. Behavior Therapy, 38, 95–105.
  11. Edgington, E. S. & Onghena, P. (2007). Randomization Tests (Statistics: A Series of Textbooks and Monographs, 4th ed.). Hoboken: CRC Press.
  12. Grünke, M. (2012). Auswertung von Daten aus kontrollierten Einzelfallstudien mit Hilfe von Randomisierungstests. Empirische Sonderpädagogik, 4, 247–264.
  13. [7], Maggin, D. M., Swaminathan, H., Rogers, H. J., O‘Keeffe, B. V., Sugai, G. & Horner, R. H. (2011). A generalized least squares regression approach for computing effect sizes in single-case research: Application examples. Journal of School Psychology, 49, 301–321.
  14. [8], Swaminathan, H., Rogers, H. J., Horner, R. H., Sugai, G. & Smolkowski, K. (2014). Regression models and effect size measures for single case designs. Neuropsychological Rehabilitation, 24, 554–571.
  15. [9], Brosnan, J., Moeyaert, M., Newsome, K. B., Healy, O., Heyvaert, M., Onghena, P. et al. (2016). Multilevel analysis of multiple-baseline data evaluating precision teaching as an intervention for improving fluency in foundational reading skills for at risk readers. Exceptionality, 1–25.
  16. [10], Heyvaert, M., Moeyaert, M., Verkempynck, P., van den Noortgate, W., Vervloet, M., Ugille, M. et al. (2016). Testing the intervention effect in single-case experiments. A Monte Carlo simulation study. The Journal of Experimental Education, 84, 1–22.
  17. Moeyaert, M., Zimmermann, K. N. & Ledford, J. R. (2018). Synthesis and meta-analysis of single case research. In J. R. Ledford & D. L. Gast (Eds.), Single Case Research Methodology. Applications in Special Education and Behavioral Sciences (3rd ed., pp. 393–416). Milton: Taylor and Francis.

Autor/in

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  • Name: Timo Lüke
  • Institution: Bergische Universität Wuppertal
  • Kontakt: lueke@uni-wuppertal.de