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Wie lernen wir Gesichter? Die Entstehung und Verarbeitung mentaler Repräsentationen von Gesichtern über die Lebensspanne Bearbeiten

Projektbeschreibung Bearbeiten

Gesichter gelten in der Wahrnehmungspsychologie als eine besondere Reizklasse. Sie dienen uns im Alltag zur Identifikation und sind zentral bei der Erkennung und Kommunikation von Emotionen. Aktueller Forschungsgegenstand meiner Arbeit ist die Art und Weise wie wir Gesichter wahrnehmen, in unser Gedächtnis integrieren und nach einiger Zeit wieder abrufen. Der aktuelle Stand der Forschung geht dabei von einem erschöpfenden Prototypen-Modell aus, bei dem sich die mentale Repräsentation eines Gesichts (Prototyp) aus der Summe aller Einzelrepräsentationen zusammensetzt (Durchschnitts-Modell). In einer ersten Pilotstudie (Schneider & Carbon, 2015) konnte jedoch erfolgreich demonstriert werden, dass die Annahme eines komplexeren Modells geeigneter erscheint. Hierbei wird ein gewichtetes resp. episodisches Prototypen-Modell postuliert, welches bestimmte Variablen interindividuell gewichtet (bspw. wie oft oder wann ein bestimmtes Gesicht gesehen wurde oder wie distinkt eine bestimmte Repräsentation wahrgenommen wird). Diese Befunde werden durch sog. Exemplar-basierte Modelle der Gedächtnispsychologie gestützt, wonach eine mentale Repräsentation auf sämtlichen antizipierten gewichteten Exemplaren (z.B. Gesichter) basiert, vergl. MINERVA-2 Modell von Hintzman (1984, 1986).

Neure Modelle postulieren, dass eine mentale Repräsentation eines Gesichts stets auch die idiosynkratrische Variabilität eines Gesichts mit abbildet (z.B. Burton, Kramer, Ritchie, & Jenkins, 2016; Menon, White, & Kemp, 2015; White, Kemp, Jenkins, & Burton, 2014). Es wird also angenommen, dass wir beim Lernen eines Gesichts ebenso dessen „Vielfalt“ lernen (bspw. verschiedene Gesichtsausdrücke, perspektivische Veränderungen, verschiedene Frisuren, etc.). Dabei vernachlässigen diese Modelle die zeitliche Veränderung eines Gesichts, welche je nach Alter einer Person dramatisch sein kann (vergl. Carbon, 2009; Carbon & Wirth, 2014; Schneider & Carbon, 2014). Üblicherweise lernen und speichern wir Gesichter von Personen durch visuell-kognitive Lernprozesse über mehrere Jahre hinweg oder mit einigen Unterbrechungen (z.B. Familienmitglieder oder Partner, die wir nahezu regelmäßig sehen vs. alte Kommilitonen, die wir nach Jahren erst kürzlich wieder getroffen haben). Folglich können diese Modelle den lebensnahen Prozess des Lernens eines Gesichts nur sehr unbefriedigend abbilden.


Forschungsfragen: Wie verändert sich die mentale Repräsentation eines Gesichts über die Zeit? Spielt es eine Rolle, wann und wie oft wir das Gesicht einer Person gesehen haben?

Ziele:

  • Erstellung eines adäquaten Modells des Lernens von Gesichtern (mit dem Fokus auf temporale und natürliche Veränderungen eines Gesichts). Ein solches Modell leiten wir aus Erkenntnissen einer jüngsten Pilotstudie sowie sog. Exemplar-basierten Modellen ab.
  • Simulation eines Lernprozesses im Labor mittels geeignetem Paradigma (Repeated Evaluation Technique, RET nach Carbon & Leder, 2005). Hierbei sollen Probanden Gesichter einer Person über eine Zeitspanne von ca. 30 Jahren lernen (z.B. Kleinkind bis mittleres Erwachsenenalter). Gruppe A lernt mehr jüngere Bilder, Gruppe B lernt mehr ältere Bilder.
  • Evaluation/Recall: Welche Merkmale weist die jeweilige Repräsentation auf (mehr jüngere vs. ältere Anteile)?
  • Empirische Validierung des postulierten Modells.
 
Studiendesign "Learning Faces" am Beispiel eines Gesichts (hier über 60 Jahre)

Autor/in Bearbeiten

  • Name: Tobias Matthias Schneider
  • Institution: Lehstuhl für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre, Universität Bamberg
  • Kontakt: tobias.schneider@uni-bamberg.de


Burton, A. M., Kramer, R. S. S., Ritchie, K. L., & Jenkins, R. (2016). Identity from variation: Representations of faces derived from multiple instances. Cognitive Science, 40(1), 202-223. doi:10.1111/cogs.12231
Carbon, C. C. (2009). What “exactly” is a prototype? Not sure, but average objects are not necessarily good candidates for. Journal of Vision, 9(8), 512-512. doi:10.1167/9.8.512
Carbon, C. C., & Leder, H. (2005). The Repeated Evaluation Technique (RET). A method to capture dynamic effects of innovativeness and attractiveness. Applied Cognitive Psychology, 19(5), 587-601. doi:10.1002/acp.1098
Carbon, C. C., & Wirth, B. E. (2014). Neanderthal paintings? Production of prototypical human (Homo sapiens) faces shows systematic distortions. Perception, 43(1), 99-102. doi:10.1068/p7604
Hintzman, D. L. (1984). Minerva-2 – a simulation-model of human-memory. Behavior Research Methods Instruments & Computers, 16(2), 96-101. doi:10.3758/BF03202365
Hintzman, D. L. (1986). Schema abstraction in a multiple-trace memory model. Psychological Review, 93(4), 411-428. doi:10.1037//0033-295x.93.4.411
Menon, N., White, D., & Kemp, R. I. (2015). Variation in photos of the same faced improvements in identity verification. Perception, 44(11), 1332-1341. doi:10.1177/0301006615599902
Schneider, T., & Carbon, C. (2015). On the genesis and processing of facial representations and prototypes. Paper presented at the 38th European Conference on Visual Perception (ECVP), Liverpool/England (23.08.-27.08.2015).
Schneider, T. M., & Carbon, C. C. (2014). Why is this specific image of Madonna the most prototypical one? Predicting prototypicality on basis of inspection frequency and familiarity. Paper presented at the 37th European Conference on Visual Perception (ECVP), Belgrade/Serbia (24.08.-28.08.2014).
White, D., Kemp, R. I., Jenkins, R., & Burton, A. M. (2014). Feedback training for facial image comparison. Psychonomic Bulletin & Review, 21(1), 100-106. doi:10.3758/s13423-013-0475-3