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2010 Christian Herwartz, Renate Trobitzsch (Hg.), Geschwister erleben

Umschlagtext

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In dieser Sammlung von Erzählungen spiegelt sich die Vielfalt des Lebens mit seinen Brüchen und Aufbrüchen. Auf der Suche nach einem sinnerfüllten Leben bekommen Fragen und Unsicherheiten einen Raum. Was bewegt mich zutiefst? Welche Sehnsucht zieht mich am stärksten? Wenn wir Zuhören lernen und das Teilen unserer Erfahrungen, dann können Begegnungen fruchtbar werden und die Hoffnung von einem auf die andere überspringen. Davon geben die Geschichten lebendiges Zeugnis. Sie laden ein in die Offenheit und Neugierde. Sie ermutigen aus den ängstlich errichteten Mauern zu treten. Um in Beziehung zu anderen Menschen zu gehen, sie als Geschwister zu entdecken und zu erleben, braucht es Vertrauen. Das ist lernbar. Diese Sammlung liest sich auch als Übungsbuch, Vertrauen zu lernen. Und jeder Lesende kann seine Geschichte entdecken, die ihm einen Spiegel vorhält: Baue ich auf Misstrauen oder auf Vertrauen? Traue ich mir selbst? Die Autoren und Autorinnen – zwischen 20 und 85 Jahre – teilen mit uns einen großen Erfahrungsschatz aus ihren unterschiedlichen Lebenssituationen: Oft Staunen, Zorn oder Freude beim Lesen auslösend. Eine Wirklichkeit wird sichtbar, die in den Medien weitgehend ausgeblendet ist. Und man bekommt unmittelbar Lust, die Erzähler und Erzählerinnen persönlich kennen zu lernen.

Umschlagtext


Zum Titelbild

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Die zwei Welten, die hier verbunden sind, die fantastische und die reale Welt, gehen auf die zwei Tätigkeiten – Malerei und Fotografie – zurück. Ich habe 20 Jahre gemalt, fotografiert nicht lange, später kam die Musik dazu. Zwei Dinge gleichzeitig habe ich nicht getan, immer nur eins. Entweder habe ich gemalt, fotografiert oder Musik gemacht – ich kann mich nur einer Kunstart ganz hingeben. Ein japanischer Freund hat seine Fotografie mit der Lyrik verbunden. Ich habe meine mit der Malerei und der Musik verbunden. In dem Bild Phantastische Realität zeigt das Foto die reale Welt, in der ich gelebt, gearbeitet habe und durch die ich gegangen bin. Der Clown in der Manege trägt die Phantasie ins Publikum, es staunt, es freut sich – und darüber freuen sich auch die großen staunenden Augen des Clowns. Augen sind mir wichtig. Auch in den Augen der anderen sehe ich mich, und was ich mache.

Christian Schmidt


Geschwister erleben. Zweite Textsammlung

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Zweite Textsammlung

von der Gemeinschaft Naunynstraße

und darin

der Jesuitenkommunität Kreuzberg

Berlin August 2010


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Impressum

Herausgebende: Christian Herwartz und Renate Trobitzsch

Kontakt: Wohngemeinschaft, Naunynstraße 60, 10997 Berlin

tel: 030-6149251, email: christian.herwartz@jesuiten.org

r.trobitzsch@gmx.de

Druck

Winddruck, Siegen

Druckvorbereitung

Umbruch-Bildarchiv e.V. in Berlin-Kreuzberg

Webseite: http://www.umbruch-bildarchiv.de

Bilder und Fotos

Phantastische Realität, Titelbild – Christian Schmidt

Suche, Kapitel 1, Seite 13,

Neugierde, Kapitel 2, Seite 101,

Der Weg, Kapitel 3, Seite 171,

Die starke Frau, Kapitel 4, Seite 206,

Rast auf dem Weg, Kapitel 5, Seite 255,

Verflechtung, Kapitel 6, Seite 291,

Hintergrund, Seite 344 – Bilderzyklus Christian Schmidt

Gemeinschaft, Seite 33 – Sybille Pieck

Demo-Schild, Seite 44 – Melchiow

Haustür Naunynstraße 60, Seite 54 – Urban Heck

Schmerzensmann, Seite 75 – Bronzestatue von Carl Blümel

Zeichnung, Seite 119 – Christian Schmidt

Einladung, Seite 162 – Miriam Bondy, Berlin 2002

Gebor(g)en, Seite 212 – Plastik von Manfred

Veröffentlicht unter http://www.con-spiration.de/wg-naunynstrasse

Diese Dokumentation ist nicht käuflich.

Ein Beitrag zu den Druckkosten ist möglich und erwünscht an

Christian Herwartz, Pax-Bank, BLZ 37060193, Konto 6003 349 010

5 Vorwort

So viele wunderbare Lehrer des Lebens

Das Buch Geschwister erleben hat einen Vorläufer – Gastfreundschaft. Dies war im Frühjahr 2004 als Textsammlung von vielen Autoren und Autorinnen zum 25jährigen Bestehen der Wohngemeinschaft Naunynstraße herausgekommen. Das Interesse an den erzählten Lebensgeschichten war so groß, dass wir noch im selben Jahr eine zweite Auflage drucken ließen. Dann war auch die vergriffen und wir fragten uns: Was tun?

Wir hatten immer wieder staunend erlebt, was das Vorlesen einzelner Geschichten auslöste: Ermutigung zum eigenen Erzählen. Das Mit-Teilen aus dem eigenen Leben war oft auch ein Schritt aus der Vereinzelung. Gespräche wurden möglich – sogar am großen Frühstückstisch –, in denen wir uns einander zeigen und sehen konnten, auch wenn wir uns kaum oder nicht kannten.

Diesen lebendigen Prozess wollten wir weiterhin – und auch ein Buch, das dies anstoßen kann. Wir entschieden uns gegen eine dritte Auflage und für ein neues Buch. Wir wollten lieber erneut Geschichten sammeln, um zu ermöglichen, dass weitere Menschen zu Wort kommen können. Im September 2009 verschickten wir dann weit streuend viersprachige Einladungen: Was bewegt dich? Welche Begebenheit soll nicht in Vergessenheit geraten? Welche Erfahrung möchtest du teilen? Schreibt selbst oder befragt die, die sonst nicht zu Wort kommen.

Wir hatten aber noch ein zweites Herzensanliegen: Franz Keller. In diesem Jahr kommen drei persönliche Festtage für ihn zusammen, wobei sein 60. Ordens-jubiläum für ihn das Wichtigste ist. 2010 blickt er außerdem auf 30 Jahre Leben in der Kommunität Naunynstraße zurück und im August ist sein 85. Geburtstag. Dieser Monat war für uns der angemessene Zeitpunkt für das Erscheinen des Buches, um das Zusammenleben mit Franz zu würdigen.

Die Texte, die dann bei uns eintrafen, waren überwältigend und haben uns oft sprachlos vor Freude gemacht. Rund hundert Frauen und Männer nahmen die Einladung zu schreiben an und wurden aktiv. So entstand erneut ein Buch, was eine/r allein gar nicht machen kann. Durch die unterschiedlichen Lebensge-schichten wird etwas sichtbar und gewürdigt, was oft übersehen wird, weil es still ist, klein, oder eher im Hintergrund wirkt.

Ein kleiner Junge namens Wendelin wird in seiner ganzen Größe sichtbar, weil er von seiner Mutter als wunderbarer Lehrer wahrgenommen wird. Mit seinen zwei Jahren ist er der hartnäckigste und gleichzeitig nachsichtigste


6 Vorwort

Lehrer, den sie je hatte. Besonders wenn es um Aufrichtigkeit und Klarheit geht.

Franz Keller, der eher still ist, wirkt deutlich und nachhaltig, wie in den Begegnungen mit ihm beschrieben wird. Er ist vielen Orientierung im Ringen um Wahrhaftigkeit und Vertrauen – ohne dass er je groß Worte macht.

Wir laden die LeserInnen ein, Neues zu entdecken, die oft lähmende Angst hinter sich zu lassen und in die Begegnung mit dem Nächsten zu treten. Dies geschieht in der Hoffnung, diese Menschen als Geschwister zu entdecken, sie also als Gleiche mit ähnlichen Sorgen und Sehnsüchten ans Leben wahrzunehmen und sie auch als ganz unterschiedliche, einmalige Menschen zu erfahren. Wir laden in diese bunte Vielfalt ein, in der wir uns gegenseitig besser kennen lernen können. Unsere Erfahrung macht uns oft blind für Neues und wir denken: Das kenne ich schon. Doch die Neugierde lockt auf noch unbekannten Wegen in die Offenheit.

So hat zum Beispiel jede/r von uns eine Meinung zum Thema Arbeit. Einige verstehen darunter ganz selbstverständlich nur bezahlte Arbeit, manche nur handwerkliche Arbeit, denn die Leute in den Büros machen sich ja nicht dreckig – also arbeiten sie nicht. Aus diesen „Selbstverständlichkeiten“ werden wir oft schmerzhaft in die Realität zurückgerufen, wenn eine Mutter von ihrer Arbeit mit den Kindern, ein Arbeitsloser von seiner Arbeitssuche erzählt, ein Kranker von der Disziplin, regelmäßig zur Krankengymnastik zu gehen. Noch dramatischer wird es vielleicht für einige, wenn jemand in der Runde ist, der überlegt, seine Arbeit in einer Rüstungsfirma oder wegen Mobbing zu kündigen. Wir stoßen auf grund-sätzliche Fragen der Wertschätzung. Wer gehört als aktives Mitglied verant-wortlich zur Gesellschaft? Wer fühlt sich eher als ein Mitgeschleppter oder Abgeschriebener? Manche sind innerlich schon ausgestiegen und finden auch durch ein wichtiges, freiwillig übernommenes Engagement keinen darüber hinausgehenden Anschluss an die Gesellschaft. Wie schließen wir uns in unserer Wertschätzung nicht gegenseitig aus? So haben wir die anvertrauten Geschichten mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Im Respekt vor den Schreibenden suchten wir aus den Kernaussagen ihrer Texte kurze Überschriften.

In der Sammlung wird auch um gemeinsame Anliegen gerungen und nach einem öffentlichen Handeln gesucht. Die in den Medien dargestellte Welt wird hinterfragt und der direkte Kontakt in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, im Gefängnis wird entdeckt. Treffpunkte werden wahrgenommen, wo der wohlwollende Blick auf andere Menschen vertieft wird und Vertrauen wach-


7 Vorwort

sen kann. Das bedeutet ein deutliches Nein zur Versuchung des Gaffens und des Bespitzelns. In den Texten der folgenden Gruppen ist gemeinschaftliches Suchen und Handeln zu spüren – in dem Freundeskreis um das interreligiöse Friedensgebet, bei den Arbeitergeschwistern oder den Ordensleuten gegen Ausgrenzung, die seit 1995 zu Mahnwachen-Gottesdiensten vor der Abschiebehaft in Berlin-Köpenick einladen. Ebenso drückt sich dieses gemeinsame Suchen in den aktuellen Texten zur sexuellen Gewalt oder in jenen zu der Ermordung der beiden Jesuiten in Moskau aus, die bei der Mahnwache vor der Russischen Botschaft verlesen wurden. Aus den Erfahrungen im öffentlichen Wahrnehmen und Handeln sind die Exerzitien auf der Straße entstanden. Von den genannten Ordensleuten im Jahr 2000 angestoßen, werden sie inzwischen von einer fast 60köpfigen Gruppe Männer und Frauen begleitet, die diese Erfahrungen regelmäßig gemeinsam reflektieren.

Die zusammengetragenen Geschichten sind ein Geschenk von Menschen, um uns an ihren Freuden und ihrem schmerzhaften Suchen teilnehmen zu lassen. Sie laden uns ein, ihnen zuzuhören und zu spüren, wann und wo wir selbst eingeladen sind zu sprechen und manchmal es auch gegen den Widerstand anderer tun sollten.

Das Buch Gastfreundschaft kann weiterhin unter

http://www.con-spiration.de/wg-naunynstrasse

gelesen werden.

Renate Trobitzsch und Christian Herwartz

8 Inhalt

5 So viele wunderbare Lehrer des Lebens


Pilgern, Lebensentscheidungen, Exerzitien

13 In diese Freiheit sind wir aufgebrochen – Claudia und Marivalda

16 Pilger in der Naunynstraße – Claus Recktenwald

17 Unter freiem Himmel – Jörg Machel

22 Der Clochard – Alexander Dreßler

23 Suche nach einem zukunftsweisenden Lebensstil – Christoph Albrecht

24 Weiter auf der Suche – Andre Hanke

26 Mosaik – Andrea Bredel

26 Wieder zurück auf Start – Klaus Augustin

29 Armer reicher Bettler, reiche arme Eva – Eva Maria Ogrodnik

31 Mich durch Gott stören lassen – Helga Hartmann

32 Räume, die uns neugierig machen – Sybille Pieck

32 Unseren Kairos heute neu erkennen – Christian Müller

37 Warum ist Gott so leise, das Böse so laut? – Helmut Haybach

39 Gott ist ein Halunke! – Johannes Mattes

42 Ermutigung auf meinem ver“queer“en Weg – Melchiow

45 Heilige Erde – Johannes Mattes

46 Wir und unser Haus – Benedikt

50 Alltäglicher Widerstand, prophetische Zeichen – Sandra Lassak

55 Das Entdecken menschlicher Würde – Christian Herwartz

58 Einführung in die Straßenexerzitien – Petra Maria Tollkötter

63 Guck doch mal nach links! – Michael Herwartz

63 Lebensspur, die ich hinterlasse – Sybille Pieck

64 Meinen Großeltern ein Denkmal setzen – Ingrid Hartmann

65 Das Geschenk der Straßenexerzitien auspacken – Christian Herwartz

68 Ich ziehe meine Schuhe aus – Petra Maria Tollkötter

69 Schwester – Mabel Marotti

72 Wohnzimmer Augustiner Platz – Patrick Jutz

74 Ich wollte die Nacht unter seinem Blick verbringen – Tamara

76 Geh, wohin dein Herz dich trägt – Dietlind Schaale

78 Kontrolle loslassen – Eric Studt

80 Eine völlig andere Welt – Christine Klimann

82 Straße und Kirche gehören zusammen – Hartmut Kreide


9 Inhalt

86 Schwellenerfahrungen – Jutta

89 Menschen am Rande bekehrten mich – Andreas Fisch

94 Exerzitien im Frauengefängnis – Benedicta Ewald

98 Nach innen schauen – Anica Heimsch-Mlac


Geschwister überall entdecken

101 Gott ist die Liebe – Franz Keller

102 30 Jahre in Kreuzberg – Christian Herwartz

103 Gott schreibt auf krummen Linien gerade – Pierre Emonet

106 Wo Willkommen im Raum steht – Barbara Höptner

107 Jeder Gemeinschaft wünsch ich einen Franz – Renate Trobitzsch

108 Gerecht, fromm, weit – Michael Hainz

110 Schweigsamkeit adelt ihn – Andreas Reichwein

111 Im Frieden leben – Ludger Hillebrand

112 Franz, der Missionar – Patrick Zoll

113 Advent – Hartmut Kreide

114 Immer neuer Himmel in uns – Katharina Prinz

114 Haferflocken – Bettina Kustner

114 Ein christliches Vorbild – Gila und Anton

116 Ein Weiser unterwegs – Willibald Jacob

117 Einsichten – Ruth Koschel

117 So wie ihr seid, seid ihr o.k. – Irene Bied

120 Gemeinschaft am Weg – Christian Herwartz

124 Die Kirche offen halten – Claudia Keysers

125 Sie sprechen dieselbe Sprache wie Er – Karin

128 Ich sitze … und weiß, dass Du da bist – Philippe Tibbal

131 Beziehung – Christian Schmidt

131 Obdachlose Junkies sind Menschen mit Würde – Patriz Bahadorifar

137 Der Bettler und die obdachlosen Junkies – Michael Bretzinger

140 Ein Gefühl – Ramesh Kompella

140 Gastfreundschaft lernen – Christian Herwartz

144 Um mich inspirieren zu lassen – Gerlinde Hamp

145 Ich möchte mich erinnern, immer wieder – Jens Klein-Bösing

146 Viel gelernt – Roland

148 Ein Jahr lang Weihnachten – Uli Webers

150 Den Graben überspringen – Kathrin

152 Führerschein für‘s Leben – Gerhard Fischer

152 Ich bin froh, Geschwister gefunden zu haben – Stephan Struve


10 Inhalt

156 Die Tür neben dem „Tor zur Hölle“ – Elisabeth Wackers

158 Da ist was in Berlin – Helmut Böddeling

158 Gastfreundschaft – Petra Maria Tollkötter

160 Gast-Freund-schaft – Sabine Hagendorfer

161 Naunyngesicht – Miriam Bondy

163 Wahrhaftige Leistungsträger – Alfred Vogt

167 Als Heilsbedürftige zusammen kommen – Christian Becker


Voll-, Teilzeit-, Nichtbeschäftigung

171 Beiseite schieben – Christian Herwartz

174 Mutter und Sohn – Anne-Marieke Koot

176 Eis-kalt bestraft! – Helene-Jacqueline

178 Wo sind wir hier eigentlich? – Georg Wolter

180 Demokratie für LeiharbeiterInnen? – Maria Jans-Wenstrup

182 Kurzarbeit – Gerhard Mayr-Reineke

183 Wenn Christen Menschen werden – Karin

185 Momente eines tastenden Lebens – Maria Jans-Wenstrup

187 Was sind Arbeitergeschwister? – Christian Herwartz

189 Europäisches Treffen 2007 – Arbeitergeschwister

191 Europäisches Treffen 2008 – Arbeitergeschwister

193 Europäisches Treffen 2009 – Arbeitergeschwister

198 Europäisches Treffen 2010 – Arbeitergeschwister


Beziehungen zwischen Generationen, Machtmissbrauch

206 Ein kleiner Lehrer zu Gast – Anke Klöpsch

209 Pia und der liebe Dott – Birgit Depenbrock

210 Eigenbedarf – Maria-Anna

211 Die Sakristei – Urban Heck

213 Dank für meinen Namen – Christian Herwartz

215 Von einer die auszog, das Fürchten zu lassen – Evelyn

216 Aus dem Kopf holen – Gudrun

219 Wahrnehmung: Prosa und Lyrik – Enrico Neumann

222 Möchtest du nach Golgatha gehen? – Karin + Michael Bretzinger

226 Ulla – Peter Vollmer

228 Rede für einen fremden Freund – Dietrich Schirmer

230 Verletzt – Lioba Zodrow

231 Wo bist du, Gerechtigkeit? – Alex Quirox


11 Inhalt

233 Die Kraft, die das Wort der Opfer hat – Klaus Mertes

238 Überlebende sexueller Gewalt – Marita Herwartz

239 Wer fühlt, was er sieht, tut, was er kann! – Patrick Zoll

242 Missbrauch und Institution – Klaus Mertes

250 Menschenhandel in Brasilien – Pfingstnovene

252 Menschenhandel in Uganda – Pfingstnovene


Mauern in und um Europa überwinden

255 Mariam und ihre neue Familie – Lissy Eichert

258 Samira und ich – Corinna Schwarz

262 Im Moment lebe ich bei meiner Familie – Smajl

264 Fort aus unserem Land – Ramesh Kompella

265 Grüße aus Indien – Bernd

267 Ein Freudenstrahl aus Simbabwe – Angelica Schulz

268 Unter‘m Deckmantel – Alexander Dreßler

269 Training im Hinsehen – Christian Herwartz

270 Warum stehen wir an diesem Ort? – Mahnwache März 2007

271 Grünes Holz, dürres Holz – Mahnwache März 2008

272 Dienst am Mammon – Mahnwache Oktober 2008

273 Seht, ich mache etwas Neues – Mahnwache Dezember 2008

274 Der Zaun – Mahnwache Juni 2009

275 Keine Abschiebung nach Griechenland – Mahnwache Dezember 2009

276 Nehmt sie mit in eure Fürbitten – Wilma Berkenfeld

277 Alltag der Abschiebehaft – Redaktion Fluchtpunkt

280 Geschwisterlich leben in der Abschiebehaft – Ludger Hillebrand

281 Migration, ein Lebenswille – Christian Herwartz

282 Auf dürrem Wüstenland – Ramesh Kompella

283 Morde in Moskau – Mahnwache vor der russischen Botschaft

285 Traueransprache in Novosibirsk – Bischof Joseph Werth SJ

287 Verleumdung in der Presse – Stefan Dartmann

288 Das Urteil – Ordensnachrichten

288 Der Gegensatz zu politisch ist privat – Christian Herwartz


Frieden, Interreligiöses Gebet

291 Nimm keine Bestechungsgeschenke an – Arbeitergeschwister

293 Bin ich, was ich arbeite? – Jens Klein-Bösing

296 No to nukes: Atomwaffen, nein danke – Elisabeth Wackers


12 Inhalt

300 Ein Weckruf für uns alle – Melannie

300 Was wird aus unserer Zukunft? – Kathrin Swaton

302 Mit einer Friedenskerze nach Jerusalem – Thomas Joachim Uhlig

305 Notizen aus Bethlehem – Giselher Hickel

309 Menschliche Großzügigkeit – Helene Bode

310 Zivilcourage – Hannelore Behrendt

312 Ziviler Ungehorsam – Gregor Böckermann

316 Alles, was alt ist – Sascha Peter Schuhardt

316 Die Kirche, die Hoffnung spenden kann – Peter Bretzinger

319 Vater unser Gedicht – Christian Schmidt

319 Interreligiöses Gebet Berlin – Klaus Mertes

327 Unser religiöses Anliegen ist Frieden – Christian Herwartz

329 Durch Teilen Trennendes überwinden – Friedensgebet Juni 2007

330 Einheit und Verschiedenheit – Friedensgebet Juli 2007

331 Da wurde unsere Lebensplanung geändert – Gebet Oktober 2007

332 Was möchte ich nicht weitergeben? – Friedensgebet Februar 2008

333 Geschwister sehen, Blindheit überwinden – Friedensgebet März 2008

334 Schein und Wirklichkeit – Friedensgebet Dezember 2008

335 Mitten im Streit Frieden zulassen – Friedensgebet Januar 2009

336 Die Würde des Menschen schützen – Friedensgebet Juni 2009

337 Verbunden im Schweigen – Friedensgebet August 2009

338 Welches Wohl-Verhalten ist nötig? – Friedensgebet September 2009

339 Depression und Suizid – Friedensgebet Dezember 2009

340 Kein Patent auf Leben – Friedensgebet Januar 2010

341 Drei-Königs-Preis 2009 – Diözesanrat in Berlin

342 Friedvoll – Bürgerinitiative Liebet Eure Feinde


Pilgern, Lebensentscheidungen, Exerzitien

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In diese Freiheit sind wir aufgebrochen – Claudia und Marivalda

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Zehn Wochen hat sie gedauert, unsere Pilgerwanderschaft von Berlin nach Assisi in Italien. Etwa 1600 km zu Fuß, mit wenig Gepäck und ohne Geld. Aufgebrochen mit der Sehnsucht nach dem Leben aus der Gnade Gottes, ohne voraus zu planen oder uns abzusichern für alle Fälle, nicht aus den eigenen


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Reserven zu leben, sondern aus dem Vertrauen. Aufbrechen aus dem Bekannten, dem Eingerichteten, der sich eingeschlichenen Enge – in uns und um uns herum – in`s Fremde, Unbekannte. Unterwegs-sein, sich auf Neues einlassen, loslassen und für das offen zu sein, was uns begegnet und was sich in uns bewegt. In diese Freiheit hinein sind wir – Marivalda und Claudia – am 6. Juli 2006 aufgebrochen.

Zu Anfang hieß es die Hürde der Scham zu überwinden und uns in unserer Bedürftigkeit anderen zu zumuten. Zu erspüren, was wir im Moment wirklich brauchen und darum auch zu bitten. Jedoch nur um eine Sache bitten, um die Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft nicht auszunutzen. In den vielzähligen Begegnungen wurden wir meistens über das Erbetene hinaus beschenkt, so dass aus dem erbetenen Brot ein Abendessen wurde, aus dem Abendessen ein Bett zum Schlafen und vor allem eine geschenkte Offenheit das Leben mitzuteilen. Dieser oft spontane Schritt in das Vertrauen, Fremde im eigenen Haus aufzunehmen ohne viel zu fragen oder zu wissen, sich zu öffnen und oftmals Schmerzhaftes sowie Hoffnungen und Träume zu offenbaren, hat uns auf dem Weg tief berührt. Es ist wie ein Mitnehmen der Menschen auf dem Weg und sicherlich von ihrer Seite aus ein Mitgehen unseres Weges – vielleicht ein gegenseitiges Tragen und Stärken den jeweiligen Weg fortzusetzen. Für uns war es stets ein Prozess des Loslassens: Von Vorstellungen, wie der Weg verlaufen wird, wo Gott auf uns wartet – sich nicht von Geplantem bestimmen lassen, sondern auf dem Weg inne zu halten, in’s Hören zu kommen und zu unterscheiden. Dies zu lernen durch Erfahrungen, in denen wir uns festgemacht haben an ein Ziel, an unserem Wollen und unsere Selbsteinschätzung. So war an einem Tag schon unser abendlicher Herbergsplatz vermittelt und reserviert in einem Übernachtungsheim für Obdachlose. Wir mussten jedoch bis 21:00 Uhr dort sein, was uns bei einer Entfernung von 28 km kein Problem erschien. Aber wir hatten nicht mit den Irr- und Umwegen gerechnet, die wir an diesem Tag einschlugen und wodurch sich der Weg um geschätzte 17 km erweiterte. Die Straßen schienen nicht enden zu wollen, dafür aber unsere Kraft und Geduld. Wir kamen an unsere eigenen Grenzen, körperlich durch Blasen an den Füßen und Muskelschmerzen, sowie psychisch durch innere Spannungen aufgrund eines falschen Verpflichtungsgefühls, die mit Aufwand verbundene vermittelte Herberge in Anspruch zu nehmen. Gehetzt und abgeschunden kamen wir schließlich am Übernachtungsheim an – es war 21:10 Uhr. Diese 10 Minuten sollten von großer Bedeutung sein, denn die Tür blieb für uns verschlossen. Wir hatten nicht auf die Stimmen der Menschen auf dem Weg gehört die vorausgesagt hatten, dass die Zeit nicht ausreicht, wir hatten die anderen eventuellen Ubernachtungsmöglichkeiten


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erst gar nicht in Erwägung gezogen. Wütend, fassungslos und sogleich ohnmächtig über die Gesetzlichkeit der Uhr, die institutionellen Strukturen und Regelungen, die für das Ungeplante im Leben keinen Platz haben, gingen wir durch die Stadt. Nach einer vergeblichen Anfrage setzten wir uns auf dem Marktplatz und schauten nach einer Ecke zum Übernachten. Wir fühlten uns allein, schutzlos und ein wenig ausgeliefert in einer unbekannten und von Menschen belebten Stadt. Wir erinnerten uns an die verbrachte Nacht auf einem Friedhof in einem kleinen Dorf und wären nun lieber abseits der Stadt gewesen, als hier in der Öffentlichkeit. In diesem Moment kam eine barfuß gehende Frau mit ihrem Hund, der an Marivaldas Rucksack schnupperte, zum naheliegenden Brunnen. Sie sprach uns an und wir fragten sie, ob sie uns einen Tip geben kann, wo wir um eine Übernachtungsmöglichkeit fragen könnten. Spontan lud sie uns ein mit ihr zu kommen und bei ihr zu übernachten. Uns fiel ein Stein vom Herzen und erleichtert gingen wir mit ihr. Unterwegs erzählte sie uns, dass sie alleinerziehende Mutter von fünf Kindern sei und den Wunsch habe irgendwann mit einem Esel durch die Lande zu reisen. Sie hatte uns auf der Bank sitzend um unsere Freiheit und Leichtigkeit beneidet, die für uns selbst in diesem Moment abhanden gekommen waren.

Unser Pilgerweg führte uns nicht nur über Landesgrenzen und den teilweise noch spürbaren historischen Verletzungen zwischen den Völkern hinweg, sondern auch zu den eigenen inneren Grenzen und Wunden. So sind wir an einem Tag unterschiedlichen Menschen mit besonderen Bedürfnissen, d.h. physichen oder psychischen Behinderungen begegnet. Sie nach der Richtung fragend wiesen sie uns den Weg und brachten in uns die Frage auf: „Was ist denn meine eigene Behinderung?“ In uns kamen Verletzungen und Verwundungen auf, die uns davon abhielten neu in Begegnung und Vertrauen zu kommen ohne Groll und Bitterkeit bzw. Traurigkeit. Diese Unversöhntheit mit der Realität und den eigenen Grenzen und die des jeweiligen Gegenübers, waren uns auf einmal klar vor Augen. Zum Beispiel unseren schmerzlichen Weggang von einer uns wichtigen Gemeinschaft, aufgrund des nicht Leben-könnens unserer Beziehung, hatten wir anscheinend immer noch nicht ganz losgelassen und vergeben. Da wir oft auf Friedhöfen Rast machten, trugen wir symbolisch all unsere schmerzlichen und unversöhnten Erfahrungen zu Grabe. Uns von ihnen verabschiedend, damit sie verwandelt werden können und uns nicht weiter behindern, zogen wir weiter. Nach der Rückkehr nach Berlin war dann zum Beispiel eine neue Begegnung mit der Gemeinschaft möglich. Das Wiedersehen wurde wirklich zur vollzogenen Versöhnung und Heilung durch eine Umarmung und ein „Herzlich Willkommen, schön, dass ihr da seid“.


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So waren die zehn Wochen anscheinend nur der Anfang unseres Pilgerweges, der sich bis heute fortsetzt. Unser nächster Schritt führte uns in die WG Naunynstr., in der wir zunächst für ein paar Wochen als Zwischenlösung ein Obdach fanden. Hier entdeckten wir im Mitleben den Reichtum der Gastfreundschaft von der „anderen Seite“ – im Aufnehmen des zunächst Fremden. Die stets offene Tür und das einfach so Da-sein dürfen, wie jede(r) ist, prägen für uns die Erfahrungen in der WG. Der Austausch, das gegenseitige Zuhören und Miteinander-teilen und -feiern sind weitere wichtige Elemente. Die WG ist keine jesuitische Institution und das Zusammenleben nicht von Plänen und Regeln bestimmt. Nicht das Helfen steht im Vordergrund und dennoch oder vielleicht gerade deswegen finden Prozesse der Stärkung, Heilung und Menschwerdung statt. So war sie für uns ein Ort, wo wir offen und wertgeschätzt in und mit unserer Beziehung leben konnten.

Nach zwei begegnungs- und erfahrungsreichen Jahren spürten wir einen neuen Anstoß zum Aufbruch. Es zog uns nach Brasilien im Vertrauen und in der Hoffnung auch dort eine Gemeinschaft zu finden, in der wir als Frauenpaar Spiritualität und Leben teilen können. Wir haben diese Geschwister in der Dreifaltigkeitsgemeinschaft in Salvador nach etwa vier Monaten gefunden. Und es ist immer noch erstaunlich, wie viele uns wichtige spirituelle Elemente als auch Lebensinhalte dort gelebt werden. Wir haben in ihnen Pilgergeschwister gefunden, die beides vereinen, die Seite des immer wieder Losziehens und die, des Vor-Ort-bleibens und der Aufnahme von Menschen der Straße.


Pilger in der Naunynstraße – Claus Recktenwald

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Ich bin als Pilger in die Naunynstraße gekommen, zusammen mit meinem Mitnovizen Markus. Wir waren Ende Juni im Noviziat der Jesuiten in Nürnberg aufgebrochen und in dreieinhalb Wochen zu Fuß und ohne Geld nach Berlin gepilgert. Unser Ziel: Die Hinrichtungsstätte von Plötzensee. Der Ort, an dem neben vielen anderen Menschen auch Alfred Delp hingerichtet worden ist.

Wir waren reichlich beschenkt durch viele Begegnungen unterwegs, aber auch sehr erschöpft, als wir an der Tür der Kommunität Naunynstraße klingelten. Ich erinnere mich noch gut an das mulmige Gefühl, dass ich immer hatte, wenn ich an einer Tür klingelte und wartete bis jemand öffnete. Nervös von einem Bein aufs andere tretend und die Mütze in der Hand wie ein Bittsteller, den man nicht gerufen hat.


17 Die Gastfreundschaft, die ich während der Tage bei euch erlebt habe, hat mich tief beeindruckt. Das zeigen mir die vielen Erinnerungen, die geblieben sind. Es waren zwar nur 3 Tage, die ich bei euch war, aber ich habe mich als ein Teil der Gemeinschaft gefühlt. Gastfreundschaft und Gemeinschaft hängen sehr eng zusammen. Die Kommunitätsmesse, die ich mit euch gefeiert habe, hat mir das gezeigt. Als Fremde wurden wir eingeladen, in euren Kreis dazuzukommen. Jeder erzählte, was er seit dem letzten Mal erlebt hatte. Durch diese Offenheit fühlte ich mich sehr willkommen geheißen. Es ist für mich ein Zeichen gewesen, wie uns Gott an seinen Tisch einlädt.

Zwar war die Naunynstraße nicht das ausdrückliche Ziel unseres Pilgerwegs, aber heute kann ich die beiden nicht mehr getrennt voneinander sehen. Sie stehen sich wie eine Antithese gegenüber. Auf der einen Seite steht Plötzensee, der Ort der Mauern und der Ausgrenzung. In der Nazizeit wurden dort die Menschen hingebracht, deren Gedanken, Worte und Taten ein Ärgernis waren und die aus dem Weg geschafft werden sollten. Auf der anderen Seite steht die Kommunität in der Naunynstraße. Für mich ist sie ein Ort, wo man versucht Offenheit zu leben, sich Zeit zu nehmen für Gespräche und sich einzulassen auf die Vielfalt des Anderen. Es ist auch ein Ort der Ärgernisse, die aber heilsam sein können.


Unter freiem Himmel – Jörg Machel

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Insofern ist Wohnen tiefenpsychologisch für mich verbunden mit Einengung, nicht Schutz. Es ist eine Bindung und Einengung. Ich kann im Freien leben, denn ich bin ja noch gesund. Und ich habe innen drin den sehnlichsten Wunsch, den Ort auf der Welt zu finden, wo ich keine Schlüssel brauche und keine Ausweise und auch kein Geld, dass ich nur da bin, wo die Natur mich erhält.“

Moni lebt unter freiem Himmel und sie sieht keinen Grund, sich dafür zu rechtfertigen. Niemals habe ich Moni jammern hören. Moni kämpft, fordert ein, manchmal doziert sie, übertreibt gelegentlich und Moni empört sich, aber sie jammert nicht. Moni ist eine starke Frau, sie ist stark selbst in ihren Niederlagen. Moni lebt nicht so wie sie leben möchte, aber wer tut das schon. Doch lebt sie auch nicht so, wie andere es ihr einreden oder vorschreiben wollen und das ist mehr, als viele von sich sagen können.

Vor allem Männer neigen immer wieder dazu, ihr Leben regeln zu wollen, empört sie sich. Dagegen ist Moni allergisch. Sie ist es seit Kindertagen, als


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ihr Vater meinte, es sei sein natürliches Recht, über ihr Leben bestimmen zu dürfen. Diese männliche Anmaßung begegnet ihr immer wieder. Selbst die Kerle, mit denen sie ihr Leben auf der Straße teilt, neigen zu der Annahme, dass sie am besten wüssten, was gut für Moni sei. Darauf reagiert sie geradezu panisch. Und diese Widerspenstigkeit trifft zu gegebenem Anlass auch Oberärzte, Polizisten und Sozialarbeiter.

Moni will ein selbst bestimmtes Leben führen. Das ist ihr wichtiger als jeder Komfort. Doch dieses selbst bestimmte Leben muss täglich neu erkämpft werden. Das war als Kind in der Schule so, als junge Frau im Beruf, das musste sie auf ihren Wanderjahren in Indien erleben, später im Obdachlosenheim und selbst auf der Straße hat sich daran nichts geändert. Als Moni etwa zehn Jahre alt war, ging sie zur Klassenlehrerin und kündigte einen Feueralarm zu Übungszwecken an. Die Lehrerin bedankte sich für diese Information. Was sie nicht wusste, war, dass die Kleine selbst den Alarm auslösen würde, um etwas Bewegung in den tristen Schulalltag zu bringen. Als Moni noch Sport unterrichtete, mit fester Anstellung beim Berliner Senat und gutem Auskommen, musste sie dafür kämpfen, dass sie während der Arbeitszeit ihr Baby stillen durfte. Das war nicht einfach in diesen Jahren, in denen selbst die Ärzte zur praktischen Fertignahrung rieten. Schon damals passte sie nicht in das allgemeine Raster und eckte ständig an. Nach vielen Schikanen war sie so genervt, dass sie mit ihrer kleinen Tochter nach Indien reiste. Mitten in der Monsunzeit und fast ohne Geld. Um sich und das Kind vor der extremen Witterung zu schützen, mietete sie sich in einem Hotel ein, das sie sich eigentlich nicht leisten konnte. Als sie beim Check out nicht genug Geld hatte, entschied der Hotelmanager: „ … dass, wer nicht zahlen kann, auch nicht abreisen darf.“ Das bescherte ihr weitere wunderbare Tage im Luxus, denn als sie merkte, dass man ihre Bestellungen anstandslos anschrieb, begann sie, auch indische Straßenkinder mit Eiskugeln zu verwöhnen. Lange allerdings ging das dann doch nicht gut. Schließlich stellte man ihr die Koffer vor die Tür und erklärte die Sache für erledigt.

Nach Deutschland zurückgekehrt und nach einigen Zwischenstationen vermittelte man ihr ein Zimmer im Obdachlosenheim. Das sollte sie vor dem Leben auf der Straße bewahren. Doch diese Hilfe brachte nicht viel. Man wollte ihr damit einen Lebensstil aufzwingen, der nicht der ihre war. Als sie ihr Zimmer eines Tages aufgeräumt wie eine Gefängniszelle vorfand, betrat sie es nicht mehr. Seither lebt sie aushäusig, wie sie es nennt. Doch auch diese Lebensform ist nicht ohne Tücken. Die Hunde beanspruchen den öffentlichen Raum in Berlin-Kreuzberg und dulden kaum jemanden neben sich. Herumziehende Kinderhorden sind unbarmherzig mit Menschen, die sie als


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schwächer ansehen. Und nicht zuletzt sind selbst die eigenen Genossen eine Gefahr. Auch da gibt es Respektlosigkeit, Anmaßung und Betrug. Manchmal muss sie weiterziehen, sich eine neue Bleibe unter freiem Himmel suchen. Sie ist genügsam. Aber sie hat Ansprüche an ihre Lebensqualität. Auch an das Wohnen. Als man ihr vom Amt eine Wohnung an einer Hauptverkehrsstraße anbot, schlug sie die aus. „Ich tausche meinen Platz im Park doch nicht gegen diesen Pestgestank“, erklärte sie einer fassungslosen Beamtin.

Ein See und eine Quelle mit frischem Wasser, das wäre ideal für ihr Wohlbefinden, sagt sie. Aber das findet sich in Kreuzberg nicht. Immerhin bieten die Sträucher am Landwehrkanal etwas Schutz und am Zaun vom Prinzenbad lassen sich Regenplanen befestigen, die vor allzu argem Wetter schützen. Doch richtig schützen kann man sich vor Nässe nicht, so erfahre ich. Gegen die Kälte kann man sich wehren, nicht aber gegen den Dauerregen, wenn nichts mehr trocknet und irgendwann alles zu stocken anfängt.

Die Notdurft ist ein Problem, wenn man keine Wohnung hat. Glücklicherweise gibt es die Notaufnahme im Urbankrankenhaus. Da ist die Toilette zu jeder Tag- und Nachtzeit offen. Eine Zeitlang gab es dort sogar heißes Wasser, so dass sie sich Tee oder Kaffee machen konnte. Doch irgendwann war das warme Wasser abgestellt und auch diese kleine Annehmlichkeit war vorbei. Von den Helferinnen und Helfern in der Heilig Kreuz Kirche schwärmt sie. Da bekommt sie einen wunderbaren heißen Kaffee und etwas zu essen. Ja, ein paar Orte in der Stadt gibt es, da ist sie willkommen, da kann sie durchatmen, duschen, entspannen.

Ich frage Moni, wie viel Euro sie zum Überleben in der Woche braucht? Sie überlegt kurz und sagt: „Eigentlich keinen einzigen.“ Es gibt in dieser Stadt alles im Überfluss. In der Mensa essen viele nur das Fleisch, sie nimmt sich die Beilage, die sonst in die Biotonne wandern würde. Vom Kiezbäcker bekommt sie mehr Reste als sie essen kann. Häufig aber nur lieblos herausgereicht. Sie hat doch extra einen Plastikeimer mit Deckel abgegeben, zurück bekommt sie einen offenen Pappkarton. Da ist der Kuchen schon nach ein paar Stunden ungenießbar, weil sich das Ungeziefer darüber hermacht, klagt sie. „Es macht aber auch Spaß, mal einen Euro zu haben, um etwas zu kaufen, was man kaufen möchte“, gibt sie zu. Und sie zeigt auf ihr Kleid, das sie für fünfzehn Euro im Second-hand-Shop erstanden hat. Moni kleidet sich gern in bunte weite Kleider und so erkenne ich sie meist schon von weitem, wenn sie mir in der Stadt begegnet. Doch sofort setzt sie nach, dass sie eigentlich schon wieder zuviel „Zeugs“ hat. Immer wieder kommen Leute und stellen Tüten und Koffer mit Kleidung vor ihre Notunterkunft. Viel mehr als sie braucht.

Manchmal wird sie beklaut. Das nimmt sie hin. „Es ist wichtig, sich trennen


20 zu können“, findet sie. „Dieses Leben ist eine Vorübung im Abschiednehmen.“ Und dann redet Moni, als wäre sie Clara, die Gefährtin des Franz von Assisi und suchte in seinen Spuren nach dem Ziel ihres Daseins. Die Armut nicht als Verlust ansehend, sondern als ein Gottesgeschenk. Einmal gesteht sie mir, dass sie einen Hang hätte, so wie eine Nonne zu leben. Sie sagt: „Ich weiß, da ist was, das kann man nicht beschreiben, das ist das Höchste.“ Und: „Ein Mensch, der bereit ist, alles liegen und stehen zu lassen und das Vertrauen entwickelt, so wie es da steht: Vertrau und guck auf die Lilien im Feld, die Sperlinge, alles ist gezählt und wenn du unter meinem Schutz bist, dann kannst du machen, was du willst. Ist auch egal, was passiert, ist vollkommen schnurz.“ Ich frage sie nach dem Alkohol. Welche Rolle spielt der in ihrem Leben? Sie überlegt eine Weile. Dann lacht sie. „Das ist zwielichtig, mal so, mal so!“, antwortet sie. Sie braucht ihn, um Hemmungen zu durchbrechen und sie braucht ihn, um nicht gleich in der „Klapse“ zu landen. „Man kommt ja mit dem Alkohol auf eine sehr eigenartige Ebene“, erklärt sie mir, „das ist dann eine Gratwanderung zwischen Wahnsinn und Blackout.“ Von einem dunklen Loch erzählt sie, und dass es „echt schwierig sei.“ Zwei Liter Rotwein am Tag trinkt sie etwa. Das tut ihr gut, findet sie. Oft kommt dann allerdings noch etwas dazu: Bier und Schnaps und das sei dann manchmal wirklich etwas reichlich. Doch so spannend, dass wir weiter bei dem Thema verweilen sollten, findet sie es denn doch nicht. Moni kommt noch einmal auf den inneren Weg zurück, den sie verfolgt. „Es ist vollkommen schnurz, was dir angetan wird“, erklärt sie mir. „Und diejenigen, die da durch müssen, haben keinen einfachen Weg vor sich, weil es keine breite Teerstraße ist. Es ist ein Dornenpfad mit sehr vielen Schluchten und Abhängen. Und das ist es, was ich im Grunde genommen praktiziere, aber ich will es nicht an die große Glocke hängen.“ Den 23. Psalm mag sie besonders: „Er deckt den Tisch im Angesicht meiner Feinde.“ Ja, sie hat Feinde. Menschen, die ihr vorwerfen, dass sie nicht arbeitet, dass sie auf ihre Kosten lebt. Doch sie will sich von denen, die ständig unter den Lasten des Alltags stöhnen und ächzen nicht runterziehen lassen. Sie findet es in Ordnung, dass man dem Stress irgendwie auszuweichen versucht, so wie sie es tut.

Sonntags treffe ich Moni oft im Gottesdienst. Die vielen Texte, die da so „abgespult“ werden, nerven schon, gesteht sie mir. Doch das Kerzengebet in unserer Gemeinde ist ihr wichtig. Da kann jeder ein Licht anzünden und aussprechen, was ihn gerade bewegt: Kann danken, bitten, klagen – je nach dem. Monis Gebete werden von vielen mit Spannung erwartet. Sie erzählt von ihren Erlebnissen in der U-Bahn oder im Park, bittet für kranke oder verstorbene Freunde. Manchmal gibt sie auch Erklärungen zur Weltlage ab,


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die zwar nicht jeden überzeugen, die zumindest in der Problemanzeige aber meist ins Schwarze treffen und oft sogar den Anknüpfungspunkt für das Nachgespräch im Anschluss an den Gottesdienst bieten. Ja, dieses Nachgespräch ist der zweite Grund für ihre regelmäßigen Gottesdienstbesuche. Da kommt jede und jeder zu Wort. Da kann gestritten werden und wird doch zugehört, da gilt jede Meinung gleich viel.

Ich erinnere mich an einen ihrer ersten Auftritte in meiner Gemeinde. Wir hatten einen Gastprediger eingeladen und freuten uns schon auf das Nachgespräch zu seiner Predigt. Doch Moni sah das anders. Schon nach dem Verlesen des Evangeliums hatte sie die Kirche wutschnaubend verlassen: Darin war von den zehn Jungfrauen die Rede, die höchst unterschiedlich vorbereitet zu einem Hochzeitsfest kamen. Fünf hatten genug Öl in ihren Lampen, um für das lange Fest gerüstet zu sein, die anderen fünf hatten sich verplant, ihnen ging das Licht aus und deshalb wurden sie abgewiesen. Zum Nachgespräch war Moni wieder da. „Ihr redet hier wie auf dem Sozialamt“, empörte sie sich. „Genau das bekomme ich zu hören, solange ich denken kann: Ich komme zu spät, ich bin schlecht vorbereitet, die anderen waren schneller, angepasster, besser vorbereitet als ich. Wenn ich in die Kirche komme, dann will ich etwas anderes hören, als diesen Quatsch.“ Zunächst machte ihr Ausbruch alle sprachlos. Der Gastprediger versuchte noch, mit einem Hinweis auf seine Predigt etwas zu retten, doch Moni blieb beim Text. Was will dieser Jesus von ihr, das möchte sie wissen und wir begannen nachzudenken: Über Recht und Gnade, über Solidarität und Verantwortung. Solche Diskussionen liebt Moni. Da lebt sie auf, sie ist klug und redegewandt und von einem großen Drang nach Wissen und Verstehen durchdrungen.

Als ich sie nach ihren Träumen frage, erzählt sie mir, dass in Potsdam kürzlich eine 90-jährige zum Studium zugelassen worden sei. Ja, dazu hätte sie auch Lust, noch einmal zu studieren. Welches Fach wäre dabei gar nicht so wichtig, „einfach nur in diesem Haufen illusionsbehafteter Jugendlicher rumzuschwirren,“ das stellt sie sich spannend vor. Und wenn die jungen Leute dann nicht sagen, „was macht denn dieses alte trockene Teil hier,“ sondern sie akzeptieren, das wäre toll. Das wünscht sich Moni: „Die Möglichkeit zu haben, jeden Tag etwas lernen zu dürfen, bis zum letzten Atemzug. Ich kann zehnmal die Straße runtergehen und ich kann noch immer das Gleiche sehen, wenn ich doof bin oder ich sehe auf der Straße in jedem Moment wieder etwas Neues“, schwärmt sie mit leuchtenden Augen.

Monis Repertoire reicht von kindlicher Neugier bis zu kaltem Zynismus. Man kann sich wunderbar mit ihr unterhalten und muss doch immer damit rechnen, gnadenlos abgekanzelt zu werden. Die Gratwanderung von der sie mir


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erzählt hat, vollzieht sie selbst Tag für Tag und die mutet sie auch ihrer Umgebung zu. Ich frage Moni, welche Menschen ihr die Liebsten seien? Die, die Anteilnahme zeigen, mag sie, und die zu ihr sagen: „Wir trauen uns nicht, so zu leben wie du. Das sind die Besten. Wir würden es ja auch gerne machen, aber wir können es nicht.“


Der Clochard – Alexander Dreßler

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Es war ‚ne Nebel und Nachtaktion

als wir mit dem Auto floh‘n.

Nur&xnbsp; schnell raus von Germany

und einmal in die Weite&xnbsp; zieh‘n.

Mit Gepäck und ‚nen Kollegen dann

schlenderten wir durch Amsterdam.

Wir deckten uns ein mit Koka, Hasch

und blieben dort nur eine Nacht.

Als wir dann in Frankreich war‘n

lag unsere Stimmung brach.

Ich merkte schon, er wollte geh‘n

müsst‘ ich alleine weiterseh‘n.

Ohne Abschied und ein Wort

ging er eines Tages fort.

Nicht gerade froh und heiter

zog ich meine Wege weiter.

Die größte Sorge war in mir

dass ich auf der Strass‘ krepier.

Wo krieg‘ ich was zu essen her

wenn mein Geldbeutel ist leer?

Brav bin ich in die Geschäfte rein

und das mit Erfolg im Nachhinein.

Ich konnte zwar die Sprache nicht

doch die Leute verstanden mich.


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Wie ich so durch Frankreich zog

kannte ich fast keine Not.

Irgendwie und Irgendwann

kam ich dann in Spanien an.

Und ein Deutscher zeigte mir

wie er sein Geld macht hier.

Gemeinsam dann

fingen wir zu schnorren an.

Keiner musste vor der Türe steh‘n

Jeder konnten zur Tafel geh‘n

Ob arm oder reich.

Hier waren alle gleich.

Wie ich kreuz und quer

hin und her, durch Europa bin

flog ich nur einmal

auf die Schnauze hin.

Manchmal denk ich daran zurück

doch besser in Deutschland

welch ein Glück !!!


Suche nach einem zukunftsweisenden Lebensstil– Christoph Albrecht

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Diejenigen, die mich als jungen Jesuiten vor 20 Jahren kennen gelernt haben, wissen, dass ich maßgeblich durch ökologische Fragestellungen bewogen auf die Idee gekommen war, mich dem Jesuitenorden anzuschließen. Der Weg, den ich seither geführt wurde, brachte mich immer wieder in Situationen, wo ich sehen musste, wie sehr die ökologischen mit den sozialen Ungerechtigkeiten verknüpft sind. In Bolivien habe ich miterlebt, wie die BewohnerInnen der improvisierten Stadtrandsiedlungen unter der Umweltzerstörung leiden, welche das System der Wohlhabenden dort verursacht, während sich die Reichen selbst in ihre privaten, grün-gepflegten Sicherheitszonen zurückziehen können. Manche sozial durchaus bewusst lebende Mitbrüder sagten mir damals, Umweltschutz sei ein Luxus der Reichen, die


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wirklichen Probleme der Armen seien wo ganz anders. Ich konnte und musste ihnen dann entgegnen, dass Umweltschutz die Pflicht der Reichen sei, weil die Armen aufgrund ihrer Prekarität oft keine Alternative zu einer Übernutzung ihrer nächsten Umwelt haben. Sie sind gezwungen, eine langfristige Erhaltung ihrer eigenen Lebensgrundlagen zugunsten einer kurzfristigen Überlebenssicherung zu vernachlässigen. Aus einem lesenswerten Büchlein von Hans-Peter Gensichen habe ich nun aber auch folgende Beobachtung gewonnen: Basierend auf Ignacio Ellacurías Theorie von der civilización de la pobreza macht er bewusst, wie die Menschheit nur weiterleben kann, wenn sie lernt, konstruktiv auf ständig weiteres (Wirtschafts-)Wachstum zu verzichten und mit den ihr aufgezwungenen Schrumpfungsprozessen kreativ umzugehen. Einer unter vielen Aspekten ist der Energie- und Ressourcenverbrauch der westlichen Wohlstandsbevölkerung. Gensichen schreibt: „Für den Nordwesten hängen Armut und Zukunft so zusammen: Im statistischen Durchschnitt leben die gegenwärtigen Armen zukunftsverträglicher als heutige Wohlhabende. Arme verbrauchen weniger Ressourcen, sparen härter, verwenden gebrauchte Dinge wiederum, verschmutzen weniger die Umwelt.“ (Armut wird uns retten, S. 43). Gensichen möchte das härtere Sparen-müssen sicher weder verharmlosen noch idealisieren. Aber es geht ja darum, welche Lebensweise uns in Zukunft auch noch fähig macht, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Und hierzu kommt ja dann eben die Chance der Gemeinschaften, die gemeinsame Haushalte führen, erfinderisch mit defektem Material umgehen, solidarisch einander aushelfen, etc. An euch denke ich auch häufig unter diesen Aspekten, denn ich habe den Eindruck, dass ihr für die Suche nach einem zukunftsweisenden Lebensstil immer wieder auch für andere zur inspirativen Quelle werdet. Dafür bin ich dankbar, das wünsche ich euch und darum bete ich.


Weiter auf der Suche – Andre Hanke

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Nun sind zehn Jahre vergangen, seit ich mein Lager aus einer speziellen, für circa vier Monate, Notsituation bei euch aufgeschlagen hatte. Es wird in meinem Text ständig Zeitsprünge und Jubiläen geben. Mit Franz seinem Jubiläum im Herzen schreibe ich diesen Text. Es ist jetzt das zweite Mal, dass ich Mitarbeiter bei einem Buch bin. Das erste Mal war vor fünf Jahren bei dem Sammelband „Gastfreundschaft“. Ich war beim ersten Schreiben mächtig stolz. Darauf, dass ich zweieinhalb Seiten abgeliefert habe. Zwischen zwei Buchdeckeln erscheinen zu dürfen, war mir eine Ehre. Ich glaube, jedem der


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Mitschreiber wird es so gegangen sein. Das macht auch die Faszination des Buches aus. So denn habe ich 1/200tel am Gelingen des preisgekrönten Buches beigetragen. Nach fünf Jahren ist in der schnelllebigen Zeit ein Rückblick angebracht. Wie dankbar bin ich, dass mir ständig einiges durch den Kopf geht und ich es jetzt im Laufe von zwei Monaten aufgeschrieben habe. Ein kleiner Test ist gut: Wen kenne ich noch nach 10 Jahren? Viele ohne Namen, aber mit Gesicht, andere mit Namen, so z.B. Alain, Alfred, Lena, Angelika, Albert, Renate und Philippe. Mit allen habe ich keine Scheu wieder zusammenzutreffen. Wie schön ist es, dass der Herrgott uns ein Erinnungsvermögen gegeben hat. Leider wird es meinem Vater zur Zeit genommen.

Ich bin in die Naunynstraßen-WG gekommen, weil ich Probleme bezüglich meiner Identität bekommen hatte. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin will ich gehen? Diese zentralen Fragen habe ich oft mit Christian erörtert. Kurz, ich brauchte Abstand von meiner Familie und nicht zu vergessen: Vom DDR-System, vom Deutschen Arbeiter- und Bauernstaat. Familiengeschichte aufzuarbeiten, ist eine sehr intime Sache und Gesellschaftssysteme aufzuarbeiten, ist ein politischer Vorgang. Ich war in beiden Geschichten verkeilt. Im Nachhinein muss ich sagen: Meine Eltern haben alles richtig gemacht im Hinblick auf die Politik und auf das Diktatorische daran. Sie hatten sich wie in einer Gaststätte eine Nische gesucht und darin Platz genommen. Ab und zu guckte mal einer (Stasi/IM) durch ein Loch und beobachtete unseren Seiltanz. Aber wir wurden nicht an den Pranger gestellt. Dieses unter Beobachtung Stehen betraf auch mein Leben mit all seinen Herausforderungen (Jugendweihe/Militärdienst, ja – nein). Das bereitete mir immer wieder unterschwellig Bauchschmerzen, so dass ich irgendwann regelrecht ausgebrannt war. Ich umgab mich aber instinktiv mit Leuten, die mich nicht aus den Latschen kippen ließen. Ich bin immer wieder aufgefangen worden. Aber im neuen System fiel ich auf die Nase. Das sind plötzliche Momente, die zum Weitermachen animieren oder in die Krankheit zwingen.

In den zwanzig Jahren seit dem Mauerfall ging ich durch viele unterschiedliche Situationen. Dann bin ich 1999 innerhalb von Berlin auf Wanderschaft gegangen, habe meine Familie verlassen und kam in die Naunynstraße. Doch Christian kannte ich damals schon zwanzig Jahre, denn er hatte unsere Familie einige Male besucht. Es war schon fast extremistisch für mich, von der wohl behüteten Familie in die Wohngemeinschaft zu ziehen. Ich musste es machen. Ich habe nun gelernt, unter anderen Bedingungen zu leben. Franz hat auch in die Kasse gegriffen, um mir wirtschaftlich zu helfen. Aus der Kirche war ich schon lange ausgetreten, aber ich hatte die Wurzeln noch in mir, zu denen ich gehörte. Für mich war die große katholische Kirche zwar


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ein Rettungsanker in der Familie, aber ich hatte nichts mit der Dreifaltigkeit am Hut, weil ich sie nicht verstanden habe. Wie kann ein Gott drei Personen sein?

Als ich in die WG kam, schien mir anfangs Franz unnahbar. Es gab eine Zeit, in der sich der Knoten auf einmal löste. Ich musste ihn auf einmal gern haben. Irgendwann war es nach einem inneren Prozess reif, Franz einfach in die Arme zu schließen. Wer bestimmt solche Vorgänge? Wie viele Anteile daran habe ich selber und wie viele hat Gott dabei? Heimliches Interesse hatte ich schon immer für sein Heimatland, aber ich bin dort nie gewesen. Aber immer, wenn ich etwas von der Schweiz höre, dann fällt mir Franz ein.

Ich musste damals drei Schritte – kein Alkohol, Arbeit, Ausbildung – auf einmal schaffen und hatte drei Fragen: 1. Was ist richtig und was ist falsch in der Familie gelaufen? 2. Wie kann ich mich mit dem DDR-System und seinen Folgen auseinandersetzen? Das ist eine bleibende Frage geblieben. Ich suche bis heute danach, wer mich bespitzelt hat. 3. Weiter frage ich, wo läuft mein Leben hin? Der Rahmen für diese Suche war mir in Kreuzberg gegeben.

Jetzt bin ich schon lange von Kreuzberg weg, aber die beiden letzten Fragen sind immer noch aktuell.

Mosaik – Andrea Bredel

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Aus vielen verschiedenen Bruchstücken wird langsam ein Ganzes. Es entsteht etwas Neues aus Teilen vergangener Zeit.

Manche sind hart und spröde und man kann sich daran verletzen, wenn man unachtsam ist. Andere hingegen angenehm weich und dennoch solide. Sie stammen alle von Dingen, die einstmals zerbrochen sind, sei es durch einen Sturz oder durch Einwirkung von Gewalt. Doch was für eine Freude ist es für den Künstler jetzt, sich dieser Stücke anzunehmen?

Wieder zurück auf Start – Klaus Augustin

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Ich bin Klaus, liebevoll KK oder Küchenklaus genannt – und „Mädchen für alles“ in St. Christophorus, einer Kirchengemeinde im Berliner Stadtteil Neukölln. Ich kann kochen, denke mir ständig neue Rezepte aus, mache sauber, organisiere, kaufe ein, schiebe Schnee, mähe Rasen und bin bei allem gerne dabei, wo Not am Mann ist. Bei „Pallotti Mobil e.V.– Bedürftige helfen


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Bedürftigen“ – habe ich eine 2-Jahresstelle mit einem tollen Team. Ich habe ein festes Einkommen, eine Wohnung, Ideen im Kopf und neue Freunde. Gott sei Dank! Aber allein schaffte ich das nicht. Denn vorher ging gar nicht mehr. Da war ich ausgebrannt. Keine Familie. Gar nichts! Da ging nichts mehr.

In den 80er Jahren hatte ich ein Restaurant in Neukölln. Aber es lief nicht so, wie ich es gedacht hatte. Eine Hundert-Stunden-Arbeitswoche, manchmal auch mehr, aber es hat sich trotzdem nicht gelohnt. Falsche Gegend, Altlasten, von denen ich nichts wusste …, viel, viel Geld investiert und verloren. Dann habe ich den Laden zugesperrt. Neunzehn Monate und 20 Tage später habe ich mich entschieden, auf die Straße zu gehen, weil ich meine Miete nicht mehr zahlen konnte. Seit Monaten schon hatte ich keinen Strom bezahlt, bin nur nachts nach Hause gekommen, um ungesehen dem Gerichtsvollzieher zu entgehen. Dann habe ich die Tasche gepackt und bin einfach weg. Jetzt weiß ich: Das war ein großer Fehler.

Von August 1991 bis Dezember 1998, sieben Jahre, habe ich auf der Straße geschlafen. Ich war nie in einer Notübernachtung. 98 habe ich auch am Bahnhof Zoo verkehrt und habe da Leute rumlaufen sehen, die haben da Stullen und Tee verteilt. Irgendwann habe ich erfahren, dass sie aus der katholischen Kirchengemeinde St. Christophorus sind. Einer war Kalle, also Pater Lenz, und der andere war Bruder Klaus Schneider. Irgendwann haben sie rumgefragt, ob einer mal Lust hätte, zum Gottesdienst zu kommen. Und dann dachte ich: Ich geh da einfach mal hin. Neugierig war ich auf jeden Fall, weil die Leute was für Bedürftige taten. Ich war auch sehr allein. Das war sicher auch einer meiner Gründe, weil ich niemanden mehr hatte.

Und ich kam da hin: Zwei Stunden Gottesdienst! Oh! Der Rücken tat mir danach weh. Der Hintern tat mir weh. Aber es hat mir gefallen und dann wusste ich: Da komm ich wieder! Die Predigten waren sehr ansprechend, vor allen Dingen wenn Kalle feiertags Witze erzählte.

Aber im Dezember war für mich finito. Da ging körperlich nichts mehr. Ich konnte kaum noch laufen. Mein Bein war so dick angeschwollen – da ging nicht mehr! Dann bin ich in ein Krankenhaus. Die haben mich vier Stunden untersucht und mich dann in ein anderes Krankenhaus geschickt, was meine Rettung war! Mit Infusionen und Salben haben die mich dann zehn Tage aufgepäppelt. Dann bin ich zum ersten Mal in einem Wohnheim gelandet. Später dann klappte es auch mit der Wohnung. Aber nicht für lange. Dann hat’s Peng gemacht. Liebesexplosion. Leider waren da zu viele Probleme mit dran. Ich wollte meine Freundin unterstützen mit dem Geld, das ich hatte. Solange, bis alles weg war.


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Wie beim ersten Mal: Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen. Briefe und Mahnungen habe ich nicht geöffnet. Weg, zurück auf die Straße! Da war ich noch obdachlos, als ich anfing, mich selbst in Christophorus ehrenamtlich zu engagieren. Ich mochte es, mit den Leuten dort zusammenzuarbeiten. Da lernte ich dann auch Lissy Eichert, die dritte im Pallotti-Dreiergestirn kennen. Zu Anfang habe ich in Christophorus nur bedient und Servietten gefaltet, Tische eingedeckt.

Seit dem ich regelmäßig nach Christophorus kam, ging’s kontinuierlich wieder aufwärts. Dafür bin ich super dankbar. Dafür braucht man natürlich schon Eigeninitiative und eisernen Willen. Jetzt musst Du selbst einen Schalter umlegen! Du musst es von alleine schon wollen.

Noch einmal von vorne. Wieder zurück auf Start. Das wollte ich.

Durch Hilfe von Freunden, die mir richtig geholfen haben, habe ich eine Wohnung in Köpenick bekommen – was ich mir nie hätte träumen lassen. Als Wilmersdorfer-Wessi mal in den Ostteil zu ziehen! Dann habe ich erzählt, dass ich ein ausgebildeter Koch bin mit Ausbildereignung und berechtigt, Azubis auszubilden. Zum ersten Mal habe ich in der Gemeinde beim Neujahrsempfang gekocht, später bei Café Platte, dem Begegnungsnachmittag mit Menschen von der Straße. Das habe ich von meinem eigenen Geld bezahlt: Hühnersuppe mit Kokosmilch und Kartoffeln für 120 Euro, was ich durchs Sammeln von Pfandflaschen finanziert hatte. Ich wollte von dem, was mir Gutes widerfahren war, was zurückgeben. Das war mein Bedürfnis. Weil: Jeder Obdachlose hat eine Geschichte, wurde betrogen oder schwer krank. Oft werden sie in einen Topf geschmissen, als Looser und Faulpelze. Wer will dich dann? Das war meine Art, Dankbarkeit zu zeigen! Ich glaube, auch mit kleinen Dingen kann man Großes tun. Denn jeder hat ein Schicksal. Darum ist es mir wichtig, jeden Menschen mit Respekt zu behandeln. Außerdem macht mir Helfen Spaß. Wenn ich sonntags bei Café Platte gearbeitet habe, geht es mir montags richtig gut.

Dann hat Bruder Klaus irgendwann mal gesagt: Nun wollen wir mal versuchen, dass du für deine Arbeit irgendwie entlohnt wirst. 21 Monate habe ich MAE (1,5-Euro-Job) gemacht bis Ende November 2008. Dann acht Monate ohne zusätzliches Geld. Glücklicherweise übernimmt jetzt die Reemtsma–Stiftung 25% der Kosten für meine derzeitige Stelle. Das ist wie zehn Richtige im Lotto plus hundert Zusatzzahlen! Endlich richtiges, eigenes Geld. Da könnte ich Bäume ausreißen!

Nie wieder draußen will ich sein. Ich versuche alles, damit das nie wieder passiert. Draußen kann man nur überleben, wenn man keinen Alkohol und keine Drogen nimmt. Sonst gibt es kein Überleben. Und sich von gewissen


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Leuten fernhalten. Die sind nur deine Freunde, solange die Flasche voll ist. Wenn sie leer ist, sind sie weg. Ich habe für mich schon einen ganz eigenen Weg zum Glauben gefunden. Ich gehe auch gerne in den Gottesdienst. Was mich in Christophorus besonders anspricht? Dass hier so viele Aktivitäten sind, dass ich so viele nette Leute kennen gelernt habe. Die meisten meinen es ehrlich. Ich kann es mir gar nicht mehr ohne vorstellen.


Armer reicher Bettler, reiche arme Eva – Eva Maria Ogrodnik

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Gelebter Glaube“ war zu Beginn meines JEV-Jahres (freiwilliges soziales Jahr mit Jesuiten) für mich eine sehr schwer zu verstehende Richtlinie. In mir steckte zwar von Anfang an eine Neugierde, aber zugleich eine Skepsis: „Was wollen die dabei von mir, was wird erwartet? Heißt das, wir/ich soll jeden Sonntag brav in die Kirche gehen, wie ich es als Kind musste oder geht das auch anders? Was nützt mir das bitte, wem helfe ich damit? Mir selbst, damit die Welt hinterher wieder ein bisschen erträglicher ist oder wie?“

Lange Zeit sah ich die Kirche eher als ein Hindernis als eine Unterstützung für meinen Glauben. Doch die ganze Zeit spürte ich schon, dass da irgendetwas tief in mir steckt. Das Bedürfnis zu helfen, einfach etwas zu tun, näher hinzuschauen wie die Welt ist und nicht einfach nur die Aussage, „das Leben ist halt mal so – unfair (Punkt)“, anzunehmen. Dieser Satz macht mich noch viel unzufriedener, als dass es mir weiter hilft. Darum denke ich, bin ich jetzt auch JEV und ich denke, dass uns das doch auch alle miteinander verbindet. Ich empfinde meine Arbeit als gelebter Glaube. Ich glaube an „meine Kinder“, ich glaube, dass gerade sie eine wichtige Rolle in der Gesellschaft haben und auch mir dabei die Augen öffnen. Das A und O ist daher für mich im Alltag die Augen geöffnet zu haben und sie nicht zu verschließen oder auf ein fest überzeugtes „richtiges“ Leben, Gottesbild oder wie auch immer zu fixieren.

Eines Tages war ich trotz des einfachen Lebensstils mal bei Mc Donalds mit einem Bekannten. Ich kaufte mir zwei Burger und noch was Süßes zur Nachspeise. Während ich mich an einen Tisch setzte und bereits zu essen begann, ging Benny, der Bekannte, noch kurz zur Toilette. Ziemlich hungrig, weil ich den ganzen Tag noch nicht recht viel gegessen hatte, fing ich einfach schon mal an zu essen. Nach kurzer Zeit kam schließlich ein Bettler, die Hand ausgestreckt und einem etwas schleimig wirkenden Lächeln, zur Tür herein. Ich beobachte, wie er es wagte von Tisch zu Tisch zu gehen und die essenden


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Leute um Geld zu bitten. „Hat man nicht mal beim Essen hier seine Ruhe?“, dachte ich ziemlich egoistisch und fühlte mich wie eine alte Oma, die nur frustriert über ihr eigenes Leben keinerlei Verständnis für andere zeigen kann. Ich bin ja wirklich „arm dran“! Doch als er zu meinem Tisch kam, dachte ich, den Bettler einfach mal auf die Probe zu stellen. Ich hatte nach dem ersten Burger eigentlich sowieso gar keinen Hunger mehr und bevor ich den zweiten wegschmeißen würde, wäre es doch ganz interessant mal zu überprüfen, ob ihm denn dieses Nahrungsmittel auch gut genug ist oder ob er sowieso nur auf Geld aus ist. Eher die Noch-mehr-wollende-Reaktion des Bettlers abwartend winkte ich ihm mit dem noch verpackten Burger in der Hand zu. Was dann kam, machte mich einfach nur sprachlos. Der Mann bedankte sich mehrmals, lächelte mich an und drückte mir ein fünfzig Cent Stück in die Hand. Noch immer so verblüfft kam ich nicht einmal dazu ihm das Geld dankend zurückzugeben, schon hatte er das Lokal verlassen.

Kurz darauf kam Benny, der Bekannte, von der Toilette zurück und erzählte mir, es hätte so lange gedauert, weil auf der Toilette, wie er hören konnte, Drogen gedealt wurden. Echt traurig, aber naja! Ich dagegen erzählte ihm begeistert von der Geschichte mit dem Mann. Doch es dauerte nicht lange da kam dieser Mann erneut in das Lokal und kaufte sich von „seinem“ Geld nun ein ganzes Menü mit Pommes und so weiter. Er musste wohl doch nicht so wenig Geld bekommen haben. Aber diese abwertenden Gedanken waren schon wieder fehl am Platz. Er setzte sich trotz der skeptischen Blicke der anderen Gäste durch mein Winken an den Platz neben uns. Ich fühlte mich nun irgendwie, als wenn ich ihm damit etwas zurückgegeben hätte für das, was er mir zuvor gegeben hatte. Doch dass er mir nun auch noch anbot sein Essen mit ihm zu teilen, war die zweite Überraschung. Ich sagte dankend nein, weil ich auch wirklich schon satt war.

Aber wie sagt man, aller guten Dinge sind drei, was hier genau passte. Ich traf ihn nämlich nochmals und zwar unmittelbar um die Ecke von unserer JEV-Wohnung. Man sollte betonen, dass Wien immerhin doch 21 Bezirke hat und der, in dem ich ihn bei Mc Donalds erlebt hatte, keineswegs derselbe war wie der, in dem wir wohnen. Zufall oder Schicksal? Auf jeden Fall ging der Mann mir entgegen und wünschte mir, auch wenn es mit dem ausländischen Dialekt etwas schwer verständlich war, strahlend lächelnd einen schönen Tag. Er fragte mich nicht nach Geld oder sonstigem … Es fühlte sich einfach himmlisch an, wie ein Geschenk Gottes und lie? mich an eine Geschichte aus der Bibel denken, in der Gott sich auch in den Armen zeigt: Ein Arzt wird doch auch nicht von den Gesunden gebraucht, sondern von den Kranken.

Auch den Begriff Reichtum (wie auch im Titel zu lesen ist) ließ mich diese


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Erfahrung nochmal neu überdenken und daraus Kraft zu glauben schöpfen. Danke!


Mich durch Gott stören lassen – Helga Hartmann

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Es gab Jahre, da war ich bereit und so offen, mich von Gott sogar mitten in der Nacht aus dem Schlaf und aus dem Bett klingeln zu lassen, um eben mal nach Hannover oder Dresden und so weiter zu trampen. Oder hier in Berlin zu Menschen mich führen zu lassen, denen Hilfe zukommen musste. Selbst Heizungsanlagen hat Gott mir mitten im Winter fern der Heimat und des Nachts nach Holland trampend anvertraut, da Monteure nicht die Gabe besaßen, diese Heizungsanlagen zu reparieren. Nun meine aber nicht, dass ich die Heizanlagen repariert habe. Mein Auftrag war es, mit den Heizungsanlagen zu sprechen, um von ihnen zu erfahren, dass sie nicht genügend geliebt wurden, denn danach sehnten sie sich. Auch Pflanzen und auch das Gewitter sowie ein Regenbogen sollten durch Gottes Auftrag an mich Hilfe erfahren.

Nun war es nicht gerade meine Gabe, dem Herrn sofortigen Gehorsam zu leisten vom Herzen her. Doch ging ich um seinen Willen zu erledigen und so war ich hinterher in der Seele und am Leibe aufgeblüht. Hieraus ergossen sich Tatendrang und Wohlgelüste des Tätig-Seins für Gott bis hin zur völligen wohltuenden Erschöpfung. Ich selber war nicht mehr vorhanden als menschliche Person. Ich hatte mich selbst nicht mehr genug um mich gekümmert und so ergab es sich, dass mich das Tätig-Sein für den Herrn in Selbstbestätigung verwarf, was zur Folge hatte, dass ich unzufrieden wurde, mürrisch, arrogant, um mich selbst drehend. Am Schluss war mir die Klarheit geschenkt, dass der Egoismus in meiner Person die Macht errungen hatte. Ich erhielt das Geschenk der Erkenntnis und mit viel Geduld fand ich zu mir selbst zurück. Und so ist es mir wichtig geworden, dass ich nicht vor die Haustür trete, sondern dass ich fähig werde, bei mir zu bleiben um dem Herrn zu begegnen, für Ihn da zu sein mit meiner ganzen von Ihm geschenkten Persönlichkeit. Nun danke ich für diese Nachdenkpause, wie ich mit Gott umgehe.


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Räume, die uns neugierig machen – Sybille Pieck

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Das Bild „Gemeinschaft“ ist eins der Bilder, die ich mit alten Menschen mit Demenz in einem Altenheim in Bad Godesberg male. Nachdem ich im November eine Ausbildung als ehrenamtliche Hospizhelferin abgeschlossen habe, gehe ich nun einmal wöchentlich in diese geschlossene Wohngruppe für Menschen mit Demenz. Gleichzeitig male ich alle 14 Tage mit erwachsenen Frauen, Strafhaft, in der JVA Köln Ossendorf. Wir malen unsere Mandalas. Wir malen einen Kreis. Der Kreis, das sind wir und die Kreislinie, das ist unsere Grenze. Nun gestalten wir das Blatt und es entstehen Räume: Die Räume innerhalb des Kreises, das sind die Räume, die uns ganz allein gehören, die wir gerade so gestalten, wie wir das mögen. Die Räume außerhalb des Kreises sind die Räume, die uns so neugierig machen, dass wir bereit sind, unsere eigenen Grenzen zu verlassen, um diese Räume zu erkunden. Eine Freundin sagt: „Du landest immer irgendwie dort, wo etwas eingesperrt ist.“ Wird mich das in die Freiheit führen? Oder: Wohin führen mich die Straßenexerzitien? Mit ihnen fing alles an und ich bin dir sehr dankbar, denn mit deiner Idee der Straßenexerzitien hast du, Christian, mich auf den Weg gebracht.


Unseren Kairos heute neu erkennen – Christian Müller

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Liebe Gemeinde, ich will nicht alle Regeln, Mahnungen, Gebote, die der Apostel Paulus der Gemeinde in Rom schreibt, wiederholen (Bibeltext siehe unten). Die eine oder andere haben Sie, habt Ihr noch im Sinn. Regeln, die nicht speziell „christliche Verhaltensmaßregeln“ sind. Menschen aus anderen Religionen, auch Menschen, die von sich sagen, sie sind nicht religiös, sondern einfach menschlich und versuchen humanistisch zu sein, könnten ihnen zustimmen. Ich möchte nur Weniges herausheben, um am Schluss dann zu dem zu kommen, von dem Paulus aus das Leben sieht, das von Christus bestimmt ist.

Kurz vor dem letzten Vers unseres Predigtwortes steht ein kleiner Satz. Fast unauffällig neben den viel eindringlicheren Mahnungen – „Die Liebe sei aufrichtig. Verabscheut das Böse, seid zärtlich in der Geschwisterlichkeit …“ – und anderen. Nein, da steht auch ein weiterer kleiner Satz, oft überlesen und die Exegeten, die Ausleger, streiten sich darum, wie es genau zu übersetzen ist. Da heißt es: „Dienet der Zeit.“ Dies ist natürlich auch wieder sehr unterschiedlich zu verstehen: Dienet der Zeit!, kann heißen, eurer Lebenszeit, eurer


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Gemeinschaft – Bild von Sybille Pieck


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Lebensphase. Andere lesen: Passt euch der Zeit an, versucht nicht dagegen zu leben, sondern versucht euch hinein zu geben, mit zu schwimmen. Doch was kann dabei „dienen“ heißen?

Paulus spricht von der Zeit als vom Kairos. Kairos ist nicht die dahin fließende Zeit, die vergeht, in die wir unser Leben eben einbringen. Nein, Kairos ist eine besondere Zeit, es ist eine Zeit, ein Zeitpunkt in der sich etwas entscheidet. Es ist eine Zeit, in die wir nicht als Zuschauer hineingestellt sind, sondern als Handelnde, als Menschen, die dazu aufgefordert sind, Stellung zu nehmen, zu entscheiden. Es gibt im Leben Zeiten, die nicht wiederkommen, sondern wo sich Möglichkeiten auftun für uns, für die Gemeinde, für die Gesellschaft. Und wer diese Zeiten verpasst, wer das Sich-hinein-Geben verpasst, wer das Wahrnehmen, das Wahr-handeln in diesem Kairos verpasst, ist wie die berühmten Jungfrauen, die kein Öl mehr haben, die nicht da sind, als der Bräutigam kommt.

In was für einer Zeit leben wir? Ich möchte heute nicht auf die Krisen schauen, die in unserer Gesellschaft oder in der Welt sichtbar sind. Nein, und dies ist dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom vielleicht auch angemessener, sondern auf die Situation unserer Gemeinde, unseres Kirchenkreises, unserer Landeskirche. Wir haben am letzten Sonntag auch gehört, welch große Konflikte es in unserer Nachbargemeinde St. Petri-St. Marien gibt, dass dort mit dem Mittel des Hausverbotes Gottesdienste verhindert werden. Darüber können wir uns empören – und viele von uns tun dies auch. Doch was steht dahinter?

Es ist die Frage, wie Kirche in Zukunft aussehen soll. Und da gibt es die eine Position: Wir müssen uns attraktiv machen, wir brauchen Glanzbroschüren, wir brauchen hervorragende Prediger und Veranstaltungen, die nach außen ausstrahlen. Die Presse, die Medien müssen auf uns aufmerksam werden, damit nicht noch mehr austreten, sondern im Gegenteil: „Wachsen gegen den Trend“ – das wollen wir damit. Und mit dieser Perspektive werden dann Gelder verteilt, werden Gebäude geschlossen oder auch Luxus saniert, wird Geld eingespart oder verschwenderisch ausgegeben. Und dann gibt es andere, die sagen: Nein, wir brauchen die Gemeinde, die Schwestern und Brüder, die sich kennen, die miteinander die Bibel lesen, sich zum Gottesdienst treffen, auch kleine Gruppen, Hauskreise haben ihr Existenzrecht. So stehen wir in Entscheidungen über den Weg unserer Gemeinden, auch unserer St. Thomas-Gemeinde, deren Folgen erst später sichtbar sind, doch die wir ahnen können, über die wir uns streiten müssen. Wir müssen, wir dürfen „der Zeit dienen“.

Freilich manchmal möchte man sich in eine andere Zeit, an einen anderen Ort


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wünschen, hat der Konflikte genug. Doch, so Paulus, wir sind nicht zufällig an diesem Ort, nein, Gott hat uns hierher gesetzt, hierher gestellt – will, dass wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Gottes sind für sein Reich, für sein Evangelium. So ist es gut, dass es inzwischen einen Gemeindebund in Berlin und Brandenburg gibt, in dem sich gut dreißig Gemeinden zusammengeschlossen haben, weil sie der offiziellen Linie des Sparens, des Wegschneidens und woanders großartigen Aufbauens, nicht mehr folgen wollen, weil sie genug haben von dem Wort: Immer mehr müssen zusammengelegt werden, damit wir weiter wie bisher existieren können. Nein, dies ist, dies kann nicht der Weg unserer Gemeinden sein. Was richtig ist: Vieles bleibt nicht, wie wir es vielleicht kannten – vor vierzig, vor fünfzig Jahren. Wenn schon Mauern fallen, die einmal hundert Jahre stehen sollten, dann darf sich auch in unseren Gemeinden und Kirchen etwas ändern. Ja, dann dürfen selbst Kirchgebäude aufgegeben werden – wenn’s nicht grad unsere Thomas-Kirche ist. Dann können wir uns Kirche in Berlin auch ohne St.Marien, ohne den Dom, ohne die Gedächtnis-Kirche vorstellen, natürlich auch ohne die Thomas-Kirche. Lasst uns diesen Streit annehmen und für die Gegenwart des Geistes Gottes kämpfen, für sein Recht da zu sein, wo zwei oder drei zusammen sind, und natürlich ihm auch zutrauen, dass er da ist, wo hundert oder auch tausend in seinem Namen zusammen sind.

Liebe Gemeinde, ich, manche unter uns, wir haben unsere Positionen. Doch was machen wir damit? Wie soll der Streit aussehen? Hinterrücks? Entscheidungen per Macht? Per Taktik? Auch das ist in unserer Kirche möglich und wirklich. Und wer von seiner Position überzeugt ist, der wird mit Klauen und Zähnen darum kämpfen. Paulus kennt dies. Wer seine Briefe liest, weiß, wie er sich erregen kann, zornig, traurig, kämpfend, angreifend. Doch daran erinnert er sich und alle Mitchristen immer wieder, auf welchem Fundament stehe ich, auf welchem Fundament steht ihr, wenn ihr vom Kairos sprecht, den es anzunehmen gilt? Und so soll der erste Vers des heutigen Predigtwortes am Schluss stehen. Nicht um die Konflikte wieder klein zu reden, um doch alles zu harmonisieren, sondern als Grund auf dem und um den wir streiten. „So sage ich auf Grund der mir gegebenen Gnade zu jedem von euch, er und sie wolle sich in seinem, in ihrem Sinn nicht auf eine Höhe begeben, die keinen Sinn hat, sondern darauf sinnen, besonnen zu sein.“

„Auf Grund der mir gegebenen Gnade“: Hier ist nicht nur die besonderes Begabung gemeint, nein, Paulus blickt zurück auf sein bisheriges Leben, er weiß, wie oft er sich verrannt hat, welche Irrwege er gegangen ist. Und es war nicht seine Vernunft, seine Klugheit, die ihn zur Umkehr brachte. Nein,


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Gott selbst war es, der ihn zur Einsicht brachte, ihn vom hohen Ross holte, ihn blind machte, hilflos, damit er hinterher neu sehen konnte, seinen Kairos erkannte und zum Boten und Apostel dessen wurde, den er verfolgt hat. Diese Erfahrung spricht zutiefst aus allem Bitten und Raten und Mahnen. Gottes Barmherzigkeit ist es, dass wir nicht gar aus sind. – Nichts sonst.

Und in dieser Barmherzigkeit Gottes darf ich mitarbeiten und mittun und mitdenken und manchmal auch mit streiten. Denn auch dies gilt, und davon schreibt er einige Kapitel vorher: Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Ich elender Mensch. Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe? – Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn.“ Lasst uns dies vor manchen Konflikten beten – und dann lasst uns streiten um den Weg unserer Gemeinden und unserer Kirche. Und diesem Jesus Christus dürfen wir uns im Leben und im Tod anvertrauen. Dass wir dies glauben und darauf hoffen, dazu helfe uns der barmherzige Gott. Amen


So sage ich auf Grund der mir gegebenen Gnade zu jedem von euch, er wolle sich in seinem Sinn nicht auf eine Höhe begeben, die keinen Sinn hat, sondern darauf sinnen, besonnen zu sein. Besonnen zu sein ermahne ich euch, im Hinblick auf das Ziel des Glaubens, das Gott einem Jeden zugewiesen hat. Denn wie wir an einem Leibe viele Glieder haben, wenn auch nicht alle Glieder dieselbe Verrichtung haben, so sind wir in unserer Vielheit ein Leib in Christus, wenn wir uns auch als Einzelne zueinander verhalten wie Glieder und also auf Grund der uns gegebenen Gnade verschiedene Begnadungen haben. Vielleicht einer das prophetische Wort – möge er es dem Glauben gemäß reden! Vielleicht einer den Sinn für das Dienende – möge er ihn haben für das Dienende. Vielleicht einer als Lehrer – möge er’s sein zur Belehrung. Vielleicht einer als Prediger – ja, möge es zur Predigt kommen! Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn. Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s in Heiterkeit. Die Liebe sei aufrichtig! Verabscheut das Böse, klammert euch an das Gute! Seid gegenseitig zärtlich in der Geschwisterlichkeit. Kommt euch zuvor in der Ehrerbietung! Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Brennet im Geist. Dienet der Zeit!.Freut euch in der Hoffnung. Beharret in der Bedrängnis. Haltet an im Gebet. Nehmt Anteil an dem, was für die Heiligen getan wird. Pfleget die Gastfreundschaft. Segnet die Verfolger, segnet und fluchet nicht. Freuet euch mit den Fröhlichen, weinet mit den Weinenenden.“ (Römer 12,3-15)

Predigt, Januar 2010


Warum ist Gott so leise, das Böse so laut? – Helmut Haybach

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Als ich vor sieben Jahren meinen Rückblick zu den 25 Jahren Naunynstraße einbrachte, berichtete ich von vielen Begegnungen und Anstößen, die persönliche Geschichte zu reflektieren. Mit diesem Artikel will ich etwas von dem berichten, wie diese Anstöße dazu beigetragen haben, meinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben.

Tja, warum ist Gott so leise und das Böse so laut? Manchmal kommen einem Fragen, die etwas Persönliches zum Ausdruck zu bringen, von denen man aber weiß, dass sie eigentlich nicht zu beantworten sind. Nachdem ich nun seit bald 40 Jahren mehr oder weniger bewusst mit meinem Christsein umgehe, drückt diese Frage einerseits meine Faszination von diesem Gott in seiner Geheimnishaftigkeit aus, verdeutlicht aber auch meine Unsicherheit, wie man diesen Gott denn hören soll. Die Frage zwingt mich zu mehr Aufmerksamkeit. Das Leise geht ja bekanntlich im Getöse des Alltags häufig unter. Zu sehr wird dieser gut durchstrukturiert, um allen möglichen Erwartungen zu entsprechen – aber sind dies auch die Erwartungen Gottes? Die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens erfordert Behutsamkeit. Ständig bleibt die Frage, was treibt dich? Das unerbittlich Drängende ist zumeist nicht der Ruf Gottes. Ist es das Schöpferische, das Gute zum Leben, die Hoffnung oder doch eher die Sehnsucht nach Sicherheit oder die Angst, nicht genug zu bekommen.

Die Bibel ist voll von diesen Berufungsgeschichten, häufig wenig spektakulär, aus dem Alltag heraus. Nachdem ich selbst vier Jahre parallel zu meiner beruflichen Tätigkeit Theologie im Fernkurs wahrgenommen hatte, stand danach die Frage im Raum, war das jetzt eine intellektuell interessante Beschäftigung oder könnte mehr daraus werden. Dabei stand der Schritt zum Diakon im Raum, sich stärker einbinden zu lassen in die konkrete katholische Kirche.

Über all die Jahre war mir der Kontakt zur Kirchengemeinde vor Ort immer wichtig. Aber ich verblieb dabei auch immer in kritisch-intellektueller Distanz. Meine Besuchserfahrungen der Kirche in Kenia und Venezuela hatten mir einen gewissen Weitblick vermittelt. Auch die Kontakte zu Christian und der Naunynstraße vermittelten mir einen nachhaltigen Eindruck, was Kirche sein kann. Und da tut man sich doch schwer mit der konkreten Wirklichkeit der eigenen Kirchengemeinde vor Ort. Strukturen, Hierarchien, Traditionen – das kann schon erschlagend sein. Die Frage, ob ich als Diakon mich hiermit


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identifizieren lassen möchte, lässt sich nicht einfach beantworten.

Hinzu kommt die Familie. Meine Frau und meine beiden Kinder sind ein tragender Teil in meinem Leben – inwieweit steht das in Konkurrenz zu dem Anspruch der Kirche gegenüber dem Diakon? Mir war schnell klar, dass ich diesen Weg zum Diakon nur mit meiner Familie und auch wegen meiner Familie gehen kann. Von diözesaner Seite wurde mir zunächst einmal empfohlen, einen solchen Schritt ausführlich mit einem Seelsorger zu besprechen. Als ich daraufhin bei verschiedenen Seelsorgern anfragte, bekam ich von Dreien eine Absage und erst beim Vierten war es gerade so möglich, Zeit zu finden für eine solche Aussprache. Dies verdeutlicht auch die heutige Situation der Kirche. Immer beschäftigt mit irgendwelchen offiziellen Fragen und Aufgaben, aber für das konkrete Gespräch mit den Menschen bleibt immer weniger Zeit. Aber diese Gespräche mit dem Seelsorger waren wichtig. Sie haben mir geholfen besser zu verstehen, wo ich stehe, was mir wichtig ist. Ich habe mich danach gestärkt gefühlt in dem Entschluss zum Diakonat, aber auch deutlich gesehen, wo ich Reibungspunkte habe. Das Leben ist sehr selten eindeutig und klar. Die Entscheidung für einen Schritt bleibt ein Risiko, jeder Schritt zu mehr Glauben gleicht dem Schritt auf dem Wasser des Lebens. Wenn es Jesus ist, der uns ruft, wird das Wasser auch uns tragen.

Als Diakon steht man nicht nur für die konkrete Kirche, man verpflichtet sich auch zum Gehorsam gegenüber seinem Bischof. Ein Anliegen, dass heutzutage nicht viel Begeisterung auslöst. Damit kommt aber auch ein Reibungspunkt zu meinem Trauversprechen meiner Frau gegenüber ins Spiel. Meine Familie ist Teil meiner Geschichte, ist Teil meines „Leibes“, der mein Leben geprägt und strukturiert hat. Und so ist es kaum verwunderlich, dass ein gewisses Misstrauen von meiner Frau diesem Gehorsamsanspruch der Kirche gegenüber aufkommt. In den kirchlich-offiziellen Beschreibungen liest sich dies eher als ein großes Bestreben nach einem harmonischen Nebeneinander, mit dem man Kirche und Familie gerecht werden soll. Ob ich ein solcher Wunderknabe sein kann, ist mehr als unwahrscheinlich. Das Gebot zur Gottes- und Nächstenliebe wird zumeist als vollkommener Harmonieanspruch interpretiert. Aber wie man an der konkreten Lebensgeschichte Jesu sieht, ist da der Ärger vorprogrammiert. Die Entscheidung für das Leben, für die eigene persönliche Ausrichtung hat immer auch mit Ärger zu tun. Leider fehlt es gerade in den kirchlichen Gemeinden an Instrumenten und Konzeption mit Konflikten „konstruktiv“ umzugehen. Zu oft wird unter den Tisch gekehrt oder hinten herum die Fäden gezogen. Christian machte mich zudem darauf aufmerksam, dass Gehorsam etwas mit Hören zu tun hat, hinzuhören


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auf den Willen Gottes in meinem Leben. Kirche und Welt bleibt ein Konflikt mit ihren jeweils eigenen, relevanten Ansprüchen. Die Welt nur als Hort des Bösen auszumachen, spielt dem Teufel geradezu in die Hände.

Jeder braucht seine Kommunität, seine Familie, um diesen Weg zu gehen. Nur, Familiengeschichten sind auch keine Friedensgeschichten. Wenn man aber mit der eigenen Familie gelernt hat zu leben und sie zu akzeptieren, kann man vielleicht auch die etwas größere Familie der katholischen Kirche ertragen – oder besser mittragen, damit es an irgendeinem Ende weitergeht.


Gott ist ein Halunke! – Johannes Mattes

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Meine Weihnachtsgeschichte beginnt vor 16 Jahren am 25. Dezember 1993. Ich arbeitete damals als Medizinstudent im südafrikanischen Homeland Transkei. Im Weihnachtsgottesdienst in der katholischen Cathedral of Christ the King in Queenstown hatte ich Gott mein Ja gegeben, nach dem Medizinstudium Seelsorger zu werden. In meinem Reisetagebuch von 1993 beginnen die Aufzeichnungen am 25.12.1993 mit einem Zitat von Alfons Deissler: „In das Dunkel Deiner Vergangenheit und in das Ungewisse Deiner Zukunft, in den Segen Deines Helfens und in das Elend Deiner Ohnmacht lege ich meine Zusage: ICH BIN DA“.

Im Tagebuch steht, dass ich meinen Platz bei denen sehe, die „im Dreck stecken“. Ich schrieb damals davon, dass sich mein Kirchenbild geändert habe. In Zeiten, wo ethnische, religiöse und politische Konflikte Menschen spalten, in Ländern, wo so wenig Einigkeit herrscht wie in Südafrika oder in Israel/Palästina, machte ich eine positive Kirchenerfahrung. Die Kirche bleibt bzw. stellt eine Chance dar, dort Brücken aufzubauen, wo unüberwindbare Gräben zu sein scheinen. In der katholischen Kirche Südafrikas hatte mich damals sehr beeindruckt, dass es da keine Rassentrennung gab. Bei anderen christlichen Gemeinschaften waren weiße und schwarze Gemeinden getrennt.

Damals habe ich von drei für mich wichtigen christlichen Wurzeln geschrieben, dem Kommunionsunterricht (im Alter von neun Jahren) und der Geschichte vom römischen Offizier, der Jesus um Hilfe für seinen kranken Sohn bittet: „ Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eintrittst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Wir haben das im Kommunionsunterricht gespielt. Die zweite Wurzel war Anfang 20 der heilige Augustinus und die Lektüre seiner Bekenntnisse. Die dritte Wurzel war während


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meiner ersten Studienjahre der heilige Franziskus. Im 12. Jahrhundert war die Kirche ein Machtapparat mit einem Papst, der über Könige bestimmte. Ausgerechnet in dieses machtorientierte 12. Jahrhundert schenkt uns Gott den heiligen Franziskus. Papst Innozenz III. führte das mittelalterliche Papsttum auf den Gipfel seiner weltlichen Macht. In dieser Zeit lebt Franz von Assisi als Bettler und Wanderprediger.

Nach Abschluss meines Medizinstudiums in München (1996) und der AiP-Zeit (Arzt im Praktikum, 1997) in Berlin trat ich im September 1997 in das Jesuitennoviziat zu Nürnberg ein, um Priester zu werden. Die Wochen vor meinem Eintritt in das Jesuitennoviziat verbrachte ich in der Jesuitenkommunität in der Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg. Der Weg schien vorgezeichnet und doch kam alles anders …

Die ignatianische Spiritualität gehört zu den wichtigsten Erfahrungen in meinem Leben. Während der Novizitatszeit habe ich mit mir und Gott um den weiteren Weg gerungen. Es war ein anderes Ja, das mir Gott jetzt abverlangte. Es war das Ja zu meiner Homosexualität. Ich wollte kein Doppelleben führen und habe mich meinen Oberen und meiner Familie gegenüber offenbart. Weihnachten 1998 hatte ich dann bereits entschieden, die Ordensgelübde nicht abzulegen und nach meinem Seelsorgepraktikum Anfang 1999 aus dem Orden auszutreten. Ich fühlte mich dennoch der Kirche und dem Orden weiterhin verbunden. Ich arbeitete zunächst als Assistenzarzt in Wuppertal. Im Februar 2000 habe ich dann in Köln meinen heutigen Lebenspartner Uli kennen gelernt. Er arbeitete als Rechtsanwalt in Düsseldorf. Im August 2001 haben wir in der Bezirksregierung in Düsseldorf unsere eingetragene Lebenspartnerschaft begründet. Seit Ende 2001 leben wir in Berlin.

Der Bruch mit der Amtskirche kam im September 2002. Die Kirchen klagen beim Bundesverfassungsgericht gegen das Lebenspartnerschaftsgesetz. Im Falle einer eingetragenen Lebenspartnerschaft droht Mitarbeitern der Kirche die fristlose Kündigung. Ich habe das nicht verstehen können, da verheimlichte, nicht verantwortete Sexualität ein Problem vieler Kleriker darstellt. Ich habe dann im September 2002 beim Amtsgericht Tiergarten meinen Austritt aus der katholischen Kirche erklärt.

Bei meinem damaligen Arbeitgeber, dem jüdischen Krankenhaus in Berlin, wurde ich mit offenen Armen aufgenommen. Mein damaliger Oberarzt umarmte mich mit den Worten: „Wir gehören beide einer Minderheit an, ich bin Jude und sie sind homosexuell.“ In den folgenden Jahren habe ich mich von der Kirche mehr und mehr entfremdet. Gottesdienste habe ich nicht mehr besucht, da ich meinen Groll über die Doppelmoral nicht verwinden konnte. Ich habe die Kirche regelrecht aus den Augen verloren.


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Am 20. August 2009 wäre meine Oma hundert Jahre alt geworden. Sie war gleichzeitig meine Taufpatin. In der Nacht habe ich an sie gedacht und als ich am nächsten Morgen zu früh am Drogeriemarkt stand (der Laden hatte noch nicht auf), schlich ich mich in die nahegelegene Dominikanerkirche. Dort fand gerade eine Eucharistiefeier statt. Ich war überwältigt und habe an diesem 21.8.2009 innerlich überwältigt die heilige Kommunion empfangen. Der Priester beendete den Gottesdienst mit der Bitte um die Fürsprache von Papst Pius X. Der 21.8. ist der Gedenktag von Papst Pius X.

Der Groll war verschwunden. Statt Enge war da plötzlich Weite und ich fühlte mich stark zur Kirche hingezogen. Ich dachte, dies sei ein flüchtiges Gefühl. Doch es blieb auch am Tag danach. Nach Jahren rief ich P. Christian in der Jesuitenkommunität in der Naunynstraße an, um ihm von meinem Erlebnis zu erzählen. Christian lachte und sagte: Gott ist ein Halunke. Wir haben uns kurz darauf zum Kommunitätsfrühstück in der Naunyn getroffen. Die Kommunität gab es immer noch.

Ich hatte den Wunsch, in die Kirche zurückzukehren. Ich habe dann im Internet recherchiert, zu welcher Pfarrei ich gehören würde. Es ist die Franziskanerpfarrei St. Ludwig am Ludwigkirchplatz in Berlin-Wilmersdorf. Ich bin spontan ohne Termin in das Pfarrbüro und wurde dort sehr freundlich vom Gemeindepfarrer empfangen. Es schien alles so einfach und ich hatte das Gefühl angekommen zu sein. Ich habe von meinem Wunsch erzählt, wieder in die katholische Kirche eintreten zu wollen. Wir haben uns für den 16. Dezember 2009 verabredet.

Ich hatte gehofft, dass sich nun ein Kreis schließt, aber das Leben spielt eben doch anders, als wir uns das erträumen: Am 2. Dezember 2009 berichtet mein Lebenspartner Uli von den bestürzenden Aussagen des Kardinals Javier Lozano Barragan in Rom. Anlässlich eines Interviews sagte er, „Homosexuelle werden niemals in das Himmelreich kommen.“ Hierbei beruft er sich auf den Apostel Paulus. Woher weiß Kardinal Barragan, wer in das Himmelreich kommt? Kein Mensch und kein Apostel kann dieses Wissen beanspruchen. Dem Kardinal fehlt es an Demut. Zweifel und Selbstzweifel sind ein Zeichen von Demut. Als Grundschulkind hat mich zutiefst eine alte Franziskanerschwester (Sr. Augustina) beeindruckt , die nicht oft genug wiederholen konnte: „Wir werden uns alle wundern, wer in den Himmel kommt.“ Das hat sie gerade dann gesagt, wenn Menschen allzu vorschnell über einen anderen gerichtet haben.

Was den Apostel Paulus anbelangt, so sehe ich als Arzt und Psychotherapeut die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen verantworteter und nicht verantworteter Sexualität und Partnerschaft. Der heilige Ignatius hat gro-


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ßen Wert auf die „Unterscheidung der Geister“ gelegt. Dies trifft eben auch hier zu. Die Sexualität prägt die Existenz des Menschen. Ihre Integrierung in die Person und der verantwortliche Umgang sind eine wichtige Aufgabe. Integrierung und verantwortete Sexualität sind aber gerade bei vielen katholischen Priestern unbewältigte Aufgaben.

Mich haben die Worte des Kardinals erschrocken. Nach tagelangem Ringen bin ich zur Entscheidung gelangt, „draußen zu bleiben“ bei denen, die „niemals in das Himmelreich kommen“. Und hier schließt sich auch irgendwie ein Kreis. Da bin ich wieder bei meiner Berufung von vor 16 Jahren. Ich spüre, dass dies mein Platz ist. Und wo ist Jesus? Im Büro des Päpstlichen Rates für Krankenpastoral?

In die Jesuitenkommunität in der Naunynstraße kommen Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, die nicht über ihre Vergangenheit sprechen können, die eine ungewisse Zukunft haben. Es wird nicht gefragt, ob sie christlich sind oder schwul oder geschieden. Und im Elend ihrer Ohnmacht erfahren sie, dass da jemand ist. So vollzieht sich die alttestamentliche Zusage: ICH BIN DA. Nun endet meine Geschichte ganz anders als geplant. Gott ist eben ein Halunke. Aber Gott ist noch mehr. Und hier möchte ich mit meinem Taufnamen antworten: Johannes = Gott ist gnädig.


Ermutigung auf meinem ver“queer“en Weg – Melchiow

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Als Kind wuchs ich als Mädchen auf, wurde so gekleidet und als solches erzogen. Schon in der Schulzeit kamen Wünsche auf, kurze Haare zu tragen. Später wurde es deutlicher. Als Mädchen im Schützenverein (die ganze Familie war Mitglied), spürte ich das Verlangen, ein Junge zu sein. Ich bekam Spaß an Waffen, wollte Soldat werden und auch zur Bundeswehr gehen. Dennoch hielten die Eltern an meinem weiblichen Geschlecht fest. Nach meinem Schulbesuch verdiente ich meinen Unterhalt in verschiedenen Dienstleistungen.

Ich lernte nette Menschen kennen und ging eine Ehe ein und wurde schwanger. Ratschläge, abzutreiben, wies ich von mir. Mein Herz sagte ein deutliches Ja zu dem neuen Leben in mir, was ich freudig spürte. So brachte ich ein gesundes Kind zur Welt. Ich ging diesen Weg getrennt und alleinerziehend. Der Weg war oft beschwerlich und so konnte ich mit der Hilfe meiner Eltern rechnen.

Meine Neigung ging zu Männern, ich hatte wechselnde Partner und bekam eine HIV-Infektion. In den folgenden Jahren machte ich meine Erfahrungen.


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Ich liebte Gospelmusik über alles. Langsam veränderte sich mein wildes Beziehungsleben und ich lernte 1998 eine Freundin kennen. Uns verband eine gemeinsame Liebe zur afroamerikanischen Musik und Bewegung. Sie war Christin. Wir trafen uns regelmäßig bei den sonntäglichen Gottesdiensten. Mir wurde mehr und mehr bewusst, mein wildes Leben passt nicht mit dem christlichen Weg zusammen. Meine Taufe in dieser Zeit verhalf mir, mein bisheriges Leben umzukrempeln. Einige Mitglieder aus der Gemeinde versuchten immer wieder, gegen meine Gefühle mich in die Frauenrolle zu pressen. So suchte ich nach neuen Wegen und fand im Jahre 2002 Zuflucht und Beratung in hilfreichen Organisationen. Wie ein Geschenk öffneten sich neue Freundeskreise und mein Leben konnte weiter wachsen. Immer mehr fand ich innerlich zu meinen männlichen Anteilen und es folgten auch die dazu nötigen äußeren Veränderungen.

Im Jahre 2008 lernte ich die Jesuitengemeinschaft in Kreuzberg kennen. Ein Freund und Nachbar hatte mir von der WG erzählt. Er wohnte mir gegenüber, war homosexuell und verstarb ganz plötzlich. Ich fühlte mich sehr allein gelassen. Ich beherbergte für einige Zeit einen Gast bei mir. Durch ihn kam ich in Not und suchte nur für eine Nacht eine sichere Bleibe. Ich erinnerte mich an die christliche Gemeinschaft in Kreuzberg und ging in die Naunynstraße. Ich hatte Angst und Vorbehalte: Wie wird die Gemeinschaft mit mir als Transident umgehen? Kann/darf ich das ansprechen? Werden sie mich akzeptieren? Mich ablehnen und meiden? Es kam ganz anders. Ich erfuhr Angenommensein und Schutz meines ganzen Menschseins. Christian und die Gemeinschaft nahmen mich erst einmal freundlich auf. In der Folgezeit konnte ich erzählen, wie ich mich fühlte, was für Probleme ich mit mir trug. Niemand verurteilte mich. Ich durfte so sein, wie ich bin. Für einige waren es noch unbekannte, fremde Bekenntnisse und ich konnte sie doch mit ihnen teilen. Darüber war ich sehr erstaunt. Die Besuche wurden mir dann zur wichtigen Lebensschule. Ich sah auch andere Menschen mit ihren Problemen und ihrer Not. Und so lerne ich immer wieder das zu teilen, was je an Schmerz, Sorgen und Freuden in die Mitte gelegt wird. Für mich war es ein Neuanfang. Es machte mir Mut, mich als Mensch spüren und fühlen zu dürfen, geliebt und akzeptiert zu sein, so wie ich bin. Von Christian bekam ich das große Geschenk, Halt zu finden und Frieden mit mir selber und meiner Umwelt zu lernen. Ich bin froh und dankbar, dass ich diese Gemeinschaft kennen lernen durfte. Dort Gast zu sein, gibt mir Kraft und Mut, weitere Schritte in meinem Leben zu gehen.

Gott liebt alle Menschen unterschiedlicher Hautfarbe. Er hat Freude an der Vielfalt der Natur, der Kontinente und des Kosmos, an den Pflanzen, Tieren


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und an allen seinen Geschöpfen unterschiedlicher Gestalt und Geschlechter. Ausgrenzung von Unterschieden gehört verboten und hoffentlich bald der Vergangenheit an. Wie schön, wo Menschen leben, die Gottes Schöpfung lieben und bewahren in vielerlei Form und Farbe.


Schild auf der Demonstration zum Transgender Day von Melchiow, Berlin, November 2009. Seit zehn Jahren wird dieser Tag in vielen Ländern gegen Gewalt und Diskriminierung auf Grund von Geschlechtsidentität begangen.


Heilige Erde – Johannes Mattes

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Als ich am 16. Dezember beim Pfarrer von St. Ludwig war, erzählte er mir zwei Geschichten aus seiner Gemeindearbeit.

Ein schwules Paar bittet im katholischen Gemeindekindergarten um Aufnahme für ihr Kind. Die Kindergartenleiterin fragt den Pfarrer um Rat. Beide sind mit der Anfrage überfordert und stehen einer Aufnahme des Kindes ablehnend gegenüber. Zu Gesprächen hatte beiden der Mut gefehlt. Das Kind wird schließlich im nahegelegenen evangelischen Kindergarten aufgenommen.

Die zweite Geschichte beginnt mit der Notfallaufnahme des Pfarrers ins Krankenhaus. Es war eine akute Blinddarmentzündung festgestellt worden. Während des Krankenhausaufenthaltes lernt er eine Frau kennen, welche gerade einen Jungen geboren hatte. Sie lebte in einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft. Die Frau berichtet dem Pfarrer über ihre katholischen Wurzeln. Sie möchte ihren Sohn taufen lassen. Die Lebenspartnerin stand diesem Wunsch skeptisch gegenüber. Das Paar und der Pfarrer haben sich dann zu Taufgesprächen getroffen. Der Junge ist inzwischen in St. Ludwig getauft worden.

Da habe ich gespürt, dass da etwas passiert, gerade wenn wir uns trauen, unsere eigenen Geschichten zu teilen. Es ist immer auch ein Wagnis verbunden mit der Angst, Blöße zu zeigen und verletzt zu werden. Und trotzdem ist es die Chance für Veränderung. Du hörst zu und spürst, da geschieht etwas. Der Heilige Geist kommt da auf die Erde, völlig unerwartet.

Als ich meine Weihnachtsgeschichte zusammen mit einem Weihnachtspäckchen an einen Freund geschickt hatte, fasste er den Mut , mir über seine Erkrankung zu erzählen. Er war depressiv geworden und hatte sich geschämt, dies zu offenbaren, zuzugeben, dass er da alleine nicht mehr herauskommt. Bisher war er immer stark gewesen, so war sein Bild von sich. Traurigkeit und fehlender Lebensmut gehörten da nicht hinein. Michael ist verheiratet und hat zwei kleine Töchter. Zuletzt hat er nur noch wie eine Maschine funktioniert. Doch indem wir uns offenbaren, ist schon der erste Schritt getan. Die Not ist damit nicht verschwunden. Aber dennoch ist etwas Gewaltiges passiert. Und auf dem Boden dieser heiligen Erde tut sich etwas auf, was unsere Vorstellungskraft übersteigt. So muss es auch Moses und den Aposteln ergangen sein. Sowohl Moses als auch die Apostel befanden sich in scheinbar ausweglosen Situationen.


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Wir und unser Haus – Benedikt

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Seit wir uns unseres Hauses angenommen haben, stehen wir nach getanen Arbeiten regelmäßig vor neuen Aufgaben. Wie im wirklichen Leben. Gerade bemerke ich, wie der Einzug sich ankündigt. Bislang habe ich das nicht als Aufgabe wahrgenommen. Mir dämmert, dass ich damit all die bisherige Arbeit zu ihrer Frucht bringe. Denn all das dient ja dazu, dieses Haus wieder bewohnbar zu machen, es neu mit Leben zu füllen. Bald, am 1. Advent 2009, ziehen wir, Stefanie und Benedikt, in unser Haus ein! Dann werde ich mit Haut und Haaren darin sein – bislang habe ich ja „nur“ an dem Haus gebaut, d. h. es gab immer eine Distanz zwischen mir und dem Objekt. Mit dem Einzug verschmilzt das. Aufregend! Gerade fühle ich mich für diesen Schritt noch nicht bereit. Mit einem Rückblick auf das bisher Erlebte fällt mir das hoffentlich leichter.

Wie beginnt die Geschichte? Mit einem Eis. Im Frühjahr 2007 nahm mich Stefanie mit auf einen Spaziergang durch Belzig und zeigte mir ein paar alte Häuser und Baugrundstücke. Nichts davon konnte mich begeistern. Also beschlossen wir den Spaziergang mit einem Besuch in der Eisdiele. Ohne mir weiteres dabei zu denken, sagte ich: Komm, lass uns das Eis in dem verwilderten Garten der leerstehenden Villa essen. Wir kannten den Ort, weil wir zwei Jahre zuvor mit einem anderen Paar zusammen erwogen hatten, dort heimisch zu werden. Doch war das Haus für vier Erwachsene und drei Kinder viel zu groß, so dass wir uns das aus dem Kopf schlugen. Als wir dann am Eis leckten, sahen wir uns plötzlich an und beide hatten wir denselben Gedanken: Das ist es! Das Haus war in der Zwischenzeit natürlich nicht kleiner geworden. Stefanies Eindruck war: Es ist ein Traum; meiner: Ich habe einen Platz gefunden. Abends dann beschlossen wir, das Erlebte Ernst zu nehmen. Am nächsten Tag fragte Stefanie bei der Belziger Wohnungsgesellschaft nach dem Haus und erfuhr, dass es in zwei Monaten versteigert würde.

Damit waren wir gefordert. Zwei Monate waren genau ausreichend Zeit, um uns vorzubereiten. Es gab dabei drei Ebenen: Die eigene Haltung, den baulichen Zustand des Hauses und den Aufwand der Sanierung. Dabei war die eigene Haltung der Schlüssel zum Rest. Mein Vater hatte mir einmal gesagt, die wichtigsten Entscheidungen im Leben würden offenbart und es gehe lediglich darum, ja oder nein zu sagen. Genau so war es. Und unser beider Ja war klar, warum oder woher auch immer. Das zu wissen war auch gar nicht nötig. Um den baulichen Zustand des Gebäudes zu erkunden, haben wir einen altbauerfahrenen Architekten angesprochen. Mit seiner Erfahrung und


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seinem Blick konnten wir uns ein ausreichend genaues Bild vom Umfang der anstehenden Baumaßnahmen machen. Uns wurde klar, was alles zu tun war. Der Aufwand der Sanierung war offensichtlich größer als alle Baustellen, die ich als Zimmerer bislang in meinem Leben verantwortet hatte. Dennoch fühlte ich mich der Sache gewachsen. Stefanie hatte von ihren Eltern den Erlös aus dem Verkauf eines Hauses bekommen, mit der Aufgabe, damit etwas Sinnvolles zu tun. Beides zusammen – meine handwerklichen Fähigkeiten und ihre Vorab-Erbschaft – schienen uns auszureichen. Zum geflügelten Wort entwickelte sich in dieser Phase: Gesetzt den Fall, wir kriegen sie. Gemeint war damit die Villa und in meinen Ohren klang die Satzmelodie wie: „Wir bitten dich, erhöre uns.“ Am 29.5.2007 war die Versteigerung und außer uns hat niemand geboten.

Da hatten wir also ein Haus mit einem guten Dutzend, meist großzügigen Räumen, dazu einen verwilderten Garten mit ausgewachsenem Baumbestand etwa so groß wie ein Fußballfeld. Das Gelände liegt mit Blick auf die Burg zentral zwischen Marktplatz und Bahnhof und grenzt doch an Schrebergärten, Ackerland und Wald sowie eine kopfsteingepflasterte Gasse. Bis Berlin ist es mit der Bahn etwas mehr als eine Stunde. So etwas steht meist nur auf der Immobilienwunschliste. Wenn uns jemand fragte, was wir damit wollen, konnten wir nur sagen: Das wissen wir nicht. Wir wussten eigentlich immer nur, was zum Handeln notwendig war.

Vor Jahren hatte ich einmal von einem Handwerker gelesen, der sieben Jahre seines Lebens einen Bauernhof in Frankreich hergerichtet hat. Zeit haben und dem eigenen Anspruch an seine Arbeit gemäß arbeiten, das hätte auch ich gern gehabt. Doch schien mir das damals unrealistisch, zudem wollte ich mich nicht in Abhängigkeit eines für solch ein Projekt notwendigen Mäzens begeben. Praktisch hatte ich nun genau das, wovon ich damals träumte, zwar nicht in Frankreich und kein Bauernhof, sondern eine Villa in Belzig und das ohne unangenehme finanzielle Abhängigkeit.

Als erstes haben wir an alle Hauseingänge Zettel gehängt mit der Aufschrift: Wir machen dieses Haus wieder schön, gefolgt von unser beider Namen. Diese Ansage wurde offensichtlich Ernst genommen und wir als neue Hüter des Hauses akzeptiert. Solange das Haus leer stand, sind dort immer wieder Gegenstände beschädigt und entwendet worden. Das hat mit dieser Einbruchsicherung aufgehört. Als nächstes haben wir Haus und Gelände aufgeräumt. Dann war Winter und wir haben die nächsten baulichen Schritte überlegt.


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Systematisch haben wir uns im darauf folgenden Jahr von außen nach innen gearbeitet: Erst neue Dachdeckung, Austausch der Fenster, Fassadendämmung. Dann ging‘s nach innen. Nach zweieinhalb Jahren können wir jetzt einziehen. Zum Frühjahr ist hoffentlich das Obergeschoss komplett fertig mit unserer Wohnung, einem Appartement, einem Büroraum und dem Rosenzimmer. Diesen Raum haben wir frühzeitig zum Schönsten des Hauses erkoren und ihn deshalb frei gelassen. (Als erstes wurde er in diesem Sommer bereits genutzt von einem Freund, der dort begonnen hat, einen Roman zu schreiben.)

Einige Wochen nach der Versteigerung waren Stefanies Eltern zu Besuch. Besonders ihrem Vater gefiel das Gelände. Kurze Zeit später wurde ihm ein aggressiver Hirntumor diagnostiziert. Es ist schade, dass er den Fortschritt der Bauarbeiten nicht mehr miterleben konnte. Das Wesentliche war jedoch, dass er aus ganzem Herzen gut geheißen hat, wofür wir das Geld eingesetzt haben, was er größtenteils erwirtschaftet hatte. Nach seinem Tod ist seine Frau in eine Mietwohnung gezogen und hat uns auch seine Haus- und Gartenwerkzeuge weitergegeben.

Solch ein Bauprojekt war auch für unsere Partnerschaft herausfordernd. Wir können nach wie vor meist nicht gut zusammen arbeiten. Unsere Arbeitsstile sind sehr unterschiedlich und gemeinsame Aktionen sind des öfteren in Streit versandet. Unsere Stärken waren, dass wir die ganze Zeit ungebrochen Lust auf das Bauprojekt hatten und uns jeden Tag neu gemeinsam über Vorgefundenes und Geschaffenes freuen konnten. (Durch Exerzitien auf der Straße habe ich gelernt, großartige Erlebnisse am besten zu verarbeiten, in dem ich mich freue, und Stefanie hat an der Stelle so etwas wie eine natürliche Begabung.) Außerdem können wir zusammen gut mit Geld umgehen. Schließlich mussten wir unser Budget, dass ja keiner von uns in irgendeiner Weise sich verdient hatte, zunächst beherzt annehmen und dann auch immer wieder entscheiden, wofür wir es verwenden. Wir hatten ein gutes Händchen, die richtigen Handwerker zu finden und auch die wesentlichen baulichen Entscheidungen haben sich bewährt.

Weiter oben ist von einer Hausbesichtigung vor dem Versteigerungstermin berichtet. Anschließend saßen wir zu dritt vor dem Haus im Gras und sprachen über Besitzverhältnisse. Jörg meinte, dass Eigentum an Land unmöglich sein sollte. Und er berichtete aus der Ukraine, wo es im gesellschaftlichen System überhaupt keine gesetzliche Möglichkeit gab, sich Land privat an-


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zueignen und dass das – leider – dort jetzt auch privatisiert wird. Wir drei waren uns einig – ziemlich verrückt, da wir uns ja anschickten, zu zweit für ein bebautes Grundstück zu bieten. Eine unmittelbare juristische Folge des Zuschlags bei der Versteigerung war, dass wir Eigentümer von Haus und Grundstück wurden. Das wird im Grundbuch vermerkt. Und weil das da so steht, ist das so. Oder doch nicht? Mir erschien das unwirklich.

Als unser Haus gebaut wurde, wollten sich die Erbauer bzw. diejenigen, die das Geld hatten, um es bauen zu lassen, damit auch nach außen hervortun. Es war ursprünglich ein Statussymbol. Mir ist klar, dass ich daran nicht wieder anknüpfen will. Ich will damit nicht ein Stück meiner Identität vorgeben. Ob mit oder ohne dieses Haus bin ich ja derselbe Benedikt. Das klingt gut, doch ich war skeptisch, ob ich mir da nicht etwas vormache. Also habe ich mich geprüft und mich gefragt, ob ich denn Haus und Grundstück nicht nur nehmen kann, sondern ob ich es auch geben könnte. Die Antwort war ein klares Ja, nicht nur von mir, auch von Stefanie. Doch bestand weiterhin der Widerspruch zwischen unserem inneren Vorbehalt gegenüber Privateigentum an Land und Wohnhäusern und unserem Eintrag im Grundbuch. Etwa zwei Jahre später machte ich Exerzitien auf den Straßen von Paris. An einem Tag kam ich am Seineufer unter einer Brücke hindurch. Es roch nach Urin, in einem vergitterten Raum, der in die Ufermauer eingelassen war, lagen vergammelte Matratzen, etwas weiter stand ein Zelt, in dem offensichtlich Menschen übernachteten. Ich fühlte mich wohl. Hier war ein Platz, der nicht wie der Rest von Paris für irgendeinen Zweck vorherbestimmt war, wie all die Cafés, Bürgersteige, Parks, Geschäfte, Museen, Wohnungen und so weiter. Und hier durften die Spuren von Menschen bleiben, die sonst schnell weggemacht worden wären. Am nächsten Tag bin ich wiedergekommen und habe mich auf eine Bank gesetzt, die etwas seitlich von dem Zelt stand. Dort saß ich länger und schaute auf den Fluß vor mir. Plötzlich schoß mir ein Satz in den Kopf: La propriéte est une illusion. Eigentum ist eine Vorstellung, die nicht der Wirklichkeit entspricht. Diese Erkenntnis erlebte ich als eine geistige Befreiung. Ich kenne mich nicht in buddhistischer Spiritualität aus, doch stelle ich mir so die Erfahrung von der Überwindung der Anhaftungen vor. Jedenfalls war der Widerspruch aufgelöst.

Dann gab es direkt am Ufer aufgebaut noch einen Broiler auf einem Korbgestell, der mit allerlei buntem Zeug geschmückt war. Mir war dieser Fetisch-Gegenstand zuwider. Ich mag es nicht, Gegenstände mit den eigenen Wünschen zu befrachten, um damit Gott um deren Erfüllung zu bitten. Zudem machte diese Opfergabe auf mich den Eindruck, als solle damit Gott bestochen werden.


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Ich saß nach wie vor auf der Bank. Es war Juli, die Sonne schien heiß. Ab und an ging ein Windzug den Fluss entlang und hüllte mich in den süßlichen und strengen Geruch dieses in Zersetzung begriffenen Hühnchens. Dann schoss mir noch ein Satz durch den Kopf: Dieu, Toi, qui nous a fait offrande de cette maison et de ce jardin. Gott, Du, der uns dies Haus und diesen Garten dargeboten hat. An dem deutschen Begriff Opfer(gabe) habe ich mich immer gestoßen. In meinen Ohren klingt das nach unfreiwilligem Verzicht und damit verknüpft nach erwarteter Erfüllung eines Anliegens. Im Französischen kommt der Begriff offrande von offrir, darbieten. Darin steckte für mich weder Verzicht noch Erwartung, sondern dieses Wort ließ Geben und Nehmen völlig frei. Mit diesem Satz hatte ich eine Übung bei den Exerzititen auf der Straße gemeistert, die mir immer wieder erst nach Tagen gelingt: Einen persönlichen Namen Gottes finden. Das Verrückte daran war, dass das gewohnte Verhältnis zwischen Gott und Mensch in Bezug auf Opfergaben darin umgekehrt war. Nicht Mensch gibt Gott, sondern Gott gibt Mensch. Aber genau so war es.

Als ich aus Paris wieder zurück in Belzig war, haben wir eines Sonntags unser Selbstverständnis im Umgang mit dem Haus zu Papier gebracht und in eine tönerne Kugel mit Spitz gesteckt, die nun auf dem First steht. Halleluja!


Alltäglicher Widerstand, prophetische Zeichen – Sandra Lassak

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Seit meinem einjährigen Freiwilligendienst als „Missionarin auf Zeit“, den ich 1995/96 absolvierte, wurde bei mir nicht nur das Interesse für die Auseinandersetzung mit Lebenswirklichkeiten von Menschen anderer Kontinente, besonders Lateinamerika, geweckt, sondern die dort gemachten Erfahrungen gaben mir auch den Impuls, mich hier bei uns im Bereich von Eine-Welt- und Internationalismus-Arbeit zu engagieren. Das in meiner Münsteraner Studienzeit begonnene Engagement setze ich nun vor allem in meiner Arbeit mit jungen Leuten, die, ebenfalls von der Sehnsucht nach einer geschwisterlichen und solidarischen Welt angetrieben, über den eigenen Tellerrand hinaus,schauen wollen und sich für ein Jahr auf Erfahrungen in Afrika, Asien und Lateinamerika einlassen, fort. Ein anderer wichtiger Ort meiner theologisch-politischen Arbeit ist seit einigen Jahren das Institut für Theologie und Politik in Münster. Das Institut ist nicht nur ein Raum, in dem kritisches Nachdenken über die bestehenden Verhältnisse und ihrer Veränderung möglich ist, sondern gemeinsam mit anderen Gruppen und sozialen Bewegungen engagieren wir uns für die Überwindung von Armut und Un-


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gerechtigkeit. Besonders wichtig ist uns bei diesem Suchen nach einer Welt für alle, dass dies gemeinsam mit den Menschen aus dem Süden geschieht. Denn nur im miteinander Nachdenken und durch gegenseitiges voneinander Lernen können mögliche Perspektiven und Alternativen entwickelt werden. Mit PartnerInnen aus dem Süden organisieren wir Workshops und Seminare, beteiligen uns an Sozialforen und Protestaktionen. In den unterschiedlichen Projekten politischer und theologischer Zusammenarbeit spielen auch persönliche Beziehungen und Freundschaften eine wichtige Rolle. Begegnungen mit brasilianischen Kolleginnen und Kollegen gaben mir nicht nur Einblicke in einige Facetten der Lebenswirklichkeit Brasiliens, sondern motivierten mich zu einer tieferen Auseinandersetzung damit. Brasilien gehört weltweit zu den Ländern, in denen die soziale Ungleichheit am größten ist. Während eines ersten vierwöchigen Aufenthaltes im Jahr 2003 konnte ich erste Eindrücke und Erfahrungen vor Ort sammeln. Während dieser Zeit lernte ich verschiedene sozialpastorale Arbeitsbereiche, wie z.B. die Kommission für Landspatoral CPT, kennen. Da mich als feministische Theologin und politisch Engagierte besonders Situationen von Frauen interessieren, begleitete ich Mitarbeiterinnen der Landpastoral bei ihrer Arbeit und lernte so Frauen aus unterschiedlichen Lebenszusammenhängen vor allem in ländlichen Gebieten kennen. Besonderen Eindruck machte auf mich der entschiedene und selbstbewusste Kampf der Landfrauen, die unter der armen Landbevölkerung zu denjenigen gehören, die von Benachteiligung und Diskriminierung besonders betroffen sind. Denn stärker als in den Städten setzen sich auf dem Land patriarchale soziale Verhältnisse durch. Die Ungleichheit äußert sich nicht nur auf der Ebene familiärer Beziehungen, sondern ist auch institutionell verankert. So haben Frauen kaum die Möglichkeit auf eigenen, unabhängigen Erwerb eines Landstücks und werden von agrarreformerischen Maßnahmen ausgeschlossen oder darin benachteiligt. Darüber hinaus existiert eine geschlechtsspezifische hierarchische Arbeitsteilung, die Landarbeit von Frauen nicht anerkennt oder gänzlich unsichtbar macht. Obwohl Frauen ebenso wie Männer Landarbeit verrichten und diejenigen sind, die für den Lebensunterhalt der Familie sorgen, gilt Landarbeit als Domäne von Männern und weiterhin herrscht kulturell das Bild des männlichen Landerbeiters vor. Gegen diese Situation haben Frauen ab Mitte der 1980er Jahre begonnen, sich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Dies geschah in einer Zeit, die geprägt war von unterschiedlichem feministischen Engagement, das sich vor allem in den Städten artikulierte. In sämtlichen gesellschaftlichen Sektoren waren Frauen- und feministische Gruppen entstanden. Angefangen von Nachbarschafts-oder Stadtteilorganisationen in den Armenvierteln,


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die sich für eine Verbesserung der alltäglichen Lebensbedingungen (z.B. Einrichtungen für die Kinderbetreuung, verbesserte Wohnverhältnisse und Infrastruktur) einsetzen bis hin zu universitären Zirkeln und Frauengruppen in Parteien, die für Geschlechtergerechtigkeit kämpfen. Einen Impuls für die Gründung einer autonomen Landfrauen-Organisation hatte auch die kurz zuvor entstandene Bewegung der landlosen LandarbeiterInnen MST gegeben. In dieser gemischtgeschlechtlichen Bewegung, der überwiegend landlose Familien angehören und die sich eine gleichberechtigte Beteiligung von Männern und Frauen vorgenommen hatte, sahen viele Frauen ebenso wie in anderen Organisationen, z.B. den Gewerkschaften, ihre Anliegen nicht ausreichend vertreten. Daraufhin wurde von einer Gruppe Landarbeiterinnen die Initiative ergriffen, sich zu einer eigenständigen Organisation zusammenzuschließen. Unterstützt wurden sie dabei auch von befreiungstheologisch inspirierten ChristInnen und den Basisgemeinden. Besonders die kirchlichen Basisgemeinden, die sich seit den 1960er Jahren unter der armen Bevölkerung auszudehnen begannen, waren für viele Frauen ein erster Raum der Entwicklung von Selbstbewusstsein, Bewusstseinsbildung und Politisierung. Auch der persönliche und gemeinschaftlich gelebte Glaube an einen Gott der Befreiung, der allen Menschen ein Leben in Fülle verheißen hat, war eine wichtige Quelle, aus der die Frauen Motivation und Kraft für ihr Engagement schöpften. In den darauffolgenden Jahren bildeten sich eine Reihe von organisierten Frauengruppen auf dem Land. Landlose, Kleinbäuerinnen, Erntearbeiterinnen, Fischerinnen, Kokossammlerinnen verbindet eine Gemeinsamkeit: Sie alle sind auf unterschiedliche Art und Weise für die Produktion von Nahrungsmitteln zuständig. Als erstes Glied in der Versorgungskette sorgen sie und nicht die Agroindustrie für mehr als 70% der Nahrungsmittelversorgung der brasilianischen Bevölkerung.

In den Anfängen der Organisierung kämpften die Frauen somit um die soziale und wirtschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit. Gefordert wurde dabei auch die Umsetzung von Arbeitsrechten für Frauen, wie z.B. der Anspruch auf Rente, Mutterschutz und Krankenversicherung. Durch zahlreiche Protestaktionen, Demonstrationen, Besetzungen von Regierungsgebäuden und landesweiten öffentlichen Kampagnen konnten die Frauen schließlich erreichen, dass Gesetze verändert und ihnen diese Rechte garantiert wurden. Die veränderte rechtliche Situation hatte auch positive Auswirkungen in Bezug auf das Selbstverständnis und die Identität der Frauen. So hatten die Erfolge doch gezeigt, dass man gemeinsam stark sein und etwas erreichen kann. Im Jahr 2004 haben sich die verschiedenen Landfrauenbewegungen und -gruppen dann zu einer landesweiten Bewegung unter dem Namen „Movimen-


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to de mulheres camponesas“, kurz MMC, zusammengeschlossen. Dieser ins Deutsche mit „Bewegung der Landfrauen oder Bäuerinnen“ übersetzte Name drückt nicht nur eine gemeinsame Identität aus, sondern möchte auch auf das Charakteristische aller Landfrauen hinweisen: Als Landfrauen und Bäuerinnen sind sie diejenigen, die die Versorgung und damit das Wohlergehen ihrer Familien, aber auch der Gesellschaft, das Zusammenleben von Mensch und Natur gewährleisten.

Was bedeutet nun die Situation armer brasilianischer Landfrauen und ihr Widerstand für uns hier in der BRD und was können wir als engagierte ChristInnen von ihnen lernen? Wie viele andere Frauen an unterschiedlichsten Orten der Welt so setzten sich die brasilianischen Landfrauen durch ihren alltäglichen Widerstand für das Überleben ihrer Familien, für die Wahrung der Natur, für das Leben auf dem Planeten insgesamt und schlussendlich für eine andere, eine gerechte Gesellschaft ein. Mit ihrem Motto “Fortalecer a luta em defesa da vida tudos os dias – Den Kampf stärken zur Verteidigung des Lebens jeden Tag” und vielfältigen Aktionen des Widerstands haben die Landfrauen das Schweigen gebrochen über das gewaltvolle Vorgehen internationaler Konzerne gegenüber der lokalen Bevölkerung, der Missachtung ihrer Rechte und der skrupellosen Aneignung ihres Lebensraums unterstützt von Regierungen und herrschenden Eliten. Indem sie somit die Sünden eines Systems, das Lebensrechte unzähliger Menschen und das Leben des gesamten Planeten bedroht, aufdecken und das Unrecht anklagen, wird ihr Handeln zu einem prophetischen Akt.

Die Bewegung der brasilianischen Landfrauen ist ein Beispiel dafür, wie Organisationen von unten, soziale Bewegungen Schritte der Veränderung anstoßen können und das Denken und Umsetzen von Alternativen möglich machen. Sie werden so zu HoffnungsträgerInnen der Utopie einer anderen möglichen Welt. Ihr prophetisches Handeln im alltäglichen Widerstand, im Angesicht des Todes, einem System das würdiges Leben für die meisten verneint, steht für die Hoffnung auf Leben, das den Tod überwindet und darauf, dass Auferstehung Wirklichkeit werden kann. Es ist die Hoffnung auf die Macht der Solidarität und im gemeinschaftlichen Miteinander, die Realität verändern zu können. Und es ist die Hoffnung darauf, dass Auferstehung(en) im Hier und Jetzt glaubhaft gelebt und die Vision einer gerechten und geschwisterlichen Welt in die Tat umgesetzt werden können. In diesem Sinne kann die Landfrauenbewegung wie viele andere soziale Bewegungen zu einem kritischen Impuls für eine Kirche werden, die zunehmend mehr der Selbstgenügsamkeit und Abschottung unterliegt. Und sie sind auch Aufforderung an uns, an Christen und Christinnen, Orte aufsuchen, wo Christus ge-


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genwärtig ist, in den Konflikten und sozialen Kämpfen der Gegenwart, gerade unter denen, die auf unterschiedliche Weise diskriminiert und unterdrückt werden und gemeinsam mit ihnen Wege für diese andere mögliche Welt, in der alle gleichermaßen Platz haben, einzutreten.


Haustür Naunynstraße 60 fotografiert von Urban Heck


Das Entdecken menschlicher Würde – Christian Herwartz

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Im Evangelium hören wir drei Ratschläge, wie wir voreinander und in der Einheit mit Gott wachsen können. Diese drei evangelischen Räte setze ich in Verbindung mit drei Namen für unsere Würde, wie sie in der Taufe genannt werden. Die Taufe verwurzelt uns sichtbar in der Beziehung zu Jesus Christus und damit in seiner Würde. Bei der Chrisamsalbung wird sie als königlich, prophetisch und priesterlich beschrieben. Aus dieser Würde heraus sind wir befähigt und verpflichtet, Entscheidungen zu fällen und umzusetzen, Konsequenzen unseres Handelns zu sehen und zu beherzigen, geschichtliche Erfahrungen erinnernd gegenwärtig zu setzen und das Gute segnend zu benennen. Im gegenseitigen Ernstnehmen und Entdecken unserer königlichen, prophetischen und priesterlichen Begabungen wird unsere Würde sichtbar.

In der Taufvorbereitung steht wie zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu ein dreimaliges Nein. Wir hören von den drei Versuchungen Jesu und seinen Antworten. Ein deutliches Nein ist notwendig, um auf dem Weg der Menschwerdung weiter zu gehen. Wir lernen zu unterscheiden, zwischen gutem und menschenverachtendem Handeln, ebenso zwischen schätzenswertem Tun und dem Verfolgen von zentralen Motiven häufig durch schmerzhafte Etappen hindurch. Der Weg in die Fülle und in die Freiheit des Lebens ist kein Mitschwimmen mit der aktuellen Mode. Es ist ein Entdecken und Abschwören von falschen Göttern, die uns entfremden von unserer Würde als Könige oder Königinnen, als Propheten oder Prophetinnen, als Priester oder Priesterinnen.

Einfach leben

Der erste Rat, den Jesus einzelnen Menschen gibt und den er vorlebt, heißt: Verkaufe deinen Reichtum und lebe arm. Auch die Seligpreisungen beginnen damit, die Armut vor Gott zu loben: Vor Gott können wir uns mit nichts brüsten, sondern nur als Arme begreifen. Alles andere wäre lächerlich. Wie können wir diese Grundhaltung gegenüber unseren Mitmenschen leben, in denen uns Jesus als Schwester oder Bruder begegnen will? Der evangelische Rat lädt dazu ein, keine Distanz in der Beziehung zu Gott und in der Begegnung mit anderen Menschen zu suchen. Wir dürfen einfach, brauchen also nicht kompliziert leben. Wir können das Leben, und alles was dazu nötig ist, miteinander teilen. Diese Elend- und Mangel überwindende Haltung fördert Gemeinschaft und wehrt sich gegen Neid, Habsucht und Selbstgerechtigkeit. Mitten in der „Religion der Sicherheit“, in der wir in unserem Land leben, rät uns das Evangelium Unsicherheit. Es ermahnt uns, Sicherheiten loszulassen


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und in Gott den Grund zu suchen, der uns Halt gibt. Gehen wir diesen Weg, dann sehen wir deutlicher die Versuchung der Götzen falscher Sicherheiten: Die Sicherheit des Geldes, des Besitzes, der gesellschaftlichen Stellung, des richtigen Passes, der erfolgreicheren Hautfarbe, der Beziehungen. Der prophetische Blick wird geschärft. Wir sehen besser, was nötig und unnötig ist für ein glückliches Leben. So verwurzelt uns der erste evangelische Rat in unserem Hunger nach Glück, der in unserem Wunsch nach Einheit, nach Liebe begründet ist und der oft von einer Sucht nach Besitz und Anerkennung verstellt wird. Deshalb sagt Jesus seinem Versucher, der ihm einen Weg zu Reichtum und Anerkennung zeigt: „Der Mensch lebt nicht nur vom Brot; er lebt von jedem Wort, das Gott spricht.“ Dieser vorausschauende Satz ist prophetisch: Bestand hat das Wort und das Handeln aus der Liebe.

Menschen, die in dieser Tradition ein Gelübde der Armut und Einfachheit ablegen, aktualisieren ihre Taufe. Aber oft wird das Leben in einer religiösen Gemeinschaft nicht einfacher. Ordensleute sind oft reicher und einflussreicher als Menschen in ihrer Umgebung. Das ist ein Skandal, wenn sie diesen Reichtum für ihr eigenes Leben privatisieren. Dann leben sie nicht mehr die prophetische Kritik des Evangeliums gegen die Privatisierung von Ressourcen, die eine eigene Bereicherung und eine Verarmung vieler Menschen ist. Sie zerstört die Gemeinsamkeit untereinander und mit Gott. Ordensleben ist in seinem Ursprung aus der Kritik an der herrschenden Gesellschaft und der Kirche entstanden und in Liebe zu den Menschen am Rande. So haben die Wüstenväter zur Zeit der konstantinischen Wende, in der die Kirche durch den Kaiser Ansehen erhielt und es förderlich wurde, Christ zu sein, ihren Protest in großer Schlichtheit am Rande der Nordafrikanischen Wüsten gelebt. Auch heute leben wir in Interessenkonflikten und brauchen den evangelischen Rat der persönlichen Einfachheit, um für ein Leben in Gemeinschaft offen zu sein. Dabei wird das prophetische Vertrauen, dass die Ressourcen dieser Welt für alle reichen, im Kontext von Flüchtlingen, Arbeitern, Landwirten oder Prostituierten sich unterschiedlich ausdrücken.


Geschwisterlich leben

Leben wir für Gottes Liebe empfänglich, so wie Maria ansprechbar für die Botschaft Gottes durch den Engel Gabriel war? Sie lebte ganz gegenwärtig und sagte ja zu dem unvorstellbaren Ansinnen Gottes. Sie gebar Jesus jungfräulich, wie es im Text des Glaubensbekenntnisses heißt. Die Worte keusch oder jungfräulich kommen in unserer Alltagssprache nicht mehr vor. Wie könnten wir den Rat der Offenheit für die Liebestaten Gottes benennen? Wir sind eingeladen, mit allen Menschen, in denen Jesus uns begegnen will, als Bruder


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oder als Schwester zusammen zu leben. Wenn wir diese verwandtschaftliche Beziehung in Christus ernst nehmen, können wir nicht mehr heiraten. Das wäre Inzucht. Eine Ausnahme ist gestattet: Einen Menschen können wir als Mann oder als Frau erkennen. Aber wer die Liebe Gottes ahnt, der uns alle zu Brüdern oder Schwestern macht, der bleibe ehelos. So lautet der Rat des Evangeliums. Ich muss fassungslos über die unbegrenzte Liebe Gottes sein, um auf die Einheit in einer intimen Beziehung zwischen Mann und Frau oder unter Männern oder Frauen zu verzichten.

Die geschwisterlichen Begegnungen können aus der priesterlichen Würde des Menschen lebendig werden. Im Mittelpunkt der Botschaft Jesu steht ja sein Wunsch nach Einheit jedes Menschen mit Gott. Deshalb hat er ein vermittelndes Tempel-Priestertum abgeschafft. Jeder Mensch kann aus seiner priesterlichen Würde heraus direkt mit Gott sprechen. Ja, er kann das Handeln Jesu gegenwärtig setzen, er kann daran erinnern. Um besonders das letzte Abendmahl Jesu und den Auftrag des Verzeihens nicht zu vergessen, werden einzelne zu Priestern geweiht. Sie sollen die Gläubigen an ihre priesterlichen Vollmachten durch die ihnen anvertrauten Sakramente erinnern. Denn der priesterliche Dienst ist allen anvertraut: Das Brot den Armen zu brechen, den Segen Gottes auszusprechen, die 99 Schafe zurückzulassen, um dem verlorenen nachzugehen – kurz, die Menschen wohlwollend anzusehen, sie im Guten zu bestärken und sich über die Umkehr zu freuen. So können wir mitten in aller Entfremdung uns gegenseitig als Brüder und Schwestern erkennen. Das Gelübde der Ehelosigkeit erinnert mich an meinen Wunsch geschwisterlich zu leben.

Unabgelenkt im Jetzt leben

Die königliche Würde des Menschen begründet seine Entscheidungsfähigkeit. Ihr ist der evangelische Rat des Gehorsams Gott gegenüber beigegeben. Dieser Gehorsam ist keine Fremdbestimmung, sondern ein Wachsen in der inneren Einheit mit Gott. Ohne die göttlichen Anteile in uns finden wir keine volle Identität. Fremdbestimmende Ideologien und Fluchtbewegungen in Vergangenheit und Zukunft können wir darüber abweisen.

Aber mit dem Wort Gehorsam ist in der Geschichte viel Missbrauch getrieben worden. Besonders im Faschismus wurde im Namen des Gehorsams die Aufgabe des eigenen Urteilens und die Unterwerfung unter die Anweisungen eines Führers verlangt. Auch in der Kirche haben sich unaufgeklärte Vorstellungen zu dem Thema gehalten, die uns mit Recht sehr fremd vorkommen. Doch Gehorsam ist der Anker im Lebensursprung oder im Gewissen. Durch ihn finden wir die Freude und Freiheit unabgelenkt im Jetzt zu leben. Der


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von Jesus gewünschte königliche Gehorsam ist herrschaftskritisch, wie ihn uns Jesus vorgelebt hat. Willenlose Anpassung oder Selbstanbetung ist damit nicht begründbar. Nur vor Gott können wir niederfallen und ihn anbeten. Auf dem Weg des Gehorsams treten wir aus dem Druck fauler Kompromisse heraus, zwei Herren dienen zu sollen. Wir lernen den Menschen großzügiger zu dienen, die in der größeren Not leben. Dies geschieht nicht, weil sie bessere Menschen sind, sondern aus der uns geschenkten Freude am Leben. Die ärmeren Menschen zeigen den Weg in die Geheimnisse des Lebens. Sie werden uns zum Sakrament, also zur Anwesenheit Gottes. Auf dem Weg des Gehorsams verschwinden unsere Vorbehalte ihnen gegenüber und wir treten ein in die Gegenwart Gottes. Wir werden offen auch für seine unvermittelten Anfragen. Der Gehorsam ist ein Reinigungsprozess von herrschaftlichen Wünschen, die in jedem Menschen stecken. Herrschaft missbraucht die Menschen oft, Gehorsam entdeckt ihre Würde neu.

Das Gelübde des Gehorsams soll das gemeinschaftliche Suchen nach den Wegen Gottes und die gegenseitige Korrektur untereinander bestärken.

veröffentlicht 2002

Einführung in die Straßenexerzitien – Petra Maria Tollkötter

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Zum ersten Mal habe ich im Jahr 2001 teilgenommen. Zehn Tage bin ich auf die Straße gegangen, habe Ausschau gehalten nach Gott. Einmal saß ich zwei Stunden im Park zwischen zwei mir unbekannten alkoholisierten Männern, die mich begrüßt hatten mit:“Auf dich haben wir gewartet!“ Ich hatte an diesem Tag eine denkbar schlechte Stimmung, fühlte mich hohl und leer, ziellos und genervt. Ich hatte nichts zu bieten, ganz sicher nichts in irgendwelchen menschlichen Kontakten. Das Angebot der beiden nahm ich an, hockte mich müde zwischen sie, nuckelte an meiner Wasserflasche wie sie an ihrem Bier. Wir wechselten gelegentlich Ein- bis Dreiwortsätze. Meistens aber schwiegen wir. Sie hatten genauso wenig zu bieten wie ich und machten keinen Hehl daraus. Da entstand etwas zwischen uns jenseits der Worte, gerade im Ausgelaugtsein, in der Erschöpfung, im müden Schweigen. Als ich nach zwei Stunden weiter ging, war ich auf eigenartige Weise getröstet und belebt. Da habe ich eine lebendig machende, sich Jahr für Jahr vertiefende Gottesspur entdeckt: Ich darf sein – ohne (Vor-) Leistung, ohne intellektuelle Schminke, ohne emotionale Kontur, ohne Anspruch, ohne Wollen. Und dieses Da-Sein einfach zuzulassen – dazu haben mich die beiden ganz elementar angesteckt und mir etwas von Gottes großem Ja zu mir vermittelt. Noch jetzt


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im Schreiben steigt tiefe, warme Freude in mir auf in der Erinnerung an diese beiden Männer und was sie mir als persönliche Gottesbotschaft offenbarten.

Ein kleine persönliche Erfahrung aus meinen Straßenexerzitien. Was habe ich da gemacht, in diesen zehn Tagen? Was machen Gruppen von bis zu zehn Personen, die sich auf solch einen Weg begeben, der sich „Straßenexerzitien“ nennt?

Viele Menschen ersehnen seit Menschengedenken ein Mehr an Leben. Das Alltägliche – mit seinen vielen Annehmlichkeiten, Festen und Freuden, mit seinen Mühen und seinen nicht zu verstehenden Leidensphasen reicht ihnen nicht. Sie halten Ausschau nach etwas Größerem. Oder anders: Etwas in ihnen ist mit nichts zufrieden. Etwas in ihnen will mehr, Größeres, Intensiveres, Dichteres, Tragenderes.

In Exerzitien machen sich Menschen auf einen Weg nach innen. Der Wechsel an einen anderen Ort geht traditionell einher mit einer gewissen Abgeschiedenheit von der Welt, in der sie sonst leben. Meist sind es Orte des Schweigens, ein Kloster etwa oder eine Bildungsstätte. Man bezieht ein Einzelzimmer. Für Leib und Seele wird gut gesorgt, denn die Zeit der Exerzitien ist auch eine Zeit des Genießens und der äußeren Versorgung. Häufig sind Exerzitien teuer. Durchgängig können die Teilnehmenden bei einem Exerzitienbegleiter oder einer Exerzitienbegleiterin ihren Prozess und ihre Fragen und Gedanken formulieren und in den Gesprächen zu mehr Klarheit und Tiefe finden.

Die ExerzitantInnen üben sich ein in eine Aufmerksamkeit für sich selbst, achten auf ihre Resonanz im Einlassen auf etwas oder jemanden und machen sich weit für neue Erfahrungen. Menschen in Exerzitien folgen einer inneren Sehnsucht nach Leben, die über das Sichtbare und Greifbare und Erfaßbare hinaus geht.

Es gibt verschiedene Formen von Exerzitien: Im Meditieren eines Bibeltextes oder im Lauschen eines Vortrages, im Achten auf ihren Atem oder im Einschwingen auf ein Wort oder in der Wahrnehmung der Natur werden sie aufmerksam für den, den wir Gott nennen, der auf sie zukommt und sich ihnen zeigen will. Plötzlich erkennt der Mensch einen Zusammenhang, plötzlich erfährt er Trost und Ermutigung, plötzlich versteht er, plötzlich erahnt er einen tieferen Sinn, plötzlich zeigt sich eine Spur wie nie zuvor. Manchmal auch gar nicht plötzlich, sondern ganz langsam und behutsam entwickelt sich etwas Neues, für das die Zeit der Exerzitien eine Etappe ist.

Was aber sind Straßenexerzitien? Initiiert wurden sie im Jahr 2000 von der Gruppe „Ordensleute gegen Ausgrenzung“ aus Berlin. Seidem finden sie jährlich an verschiedenen Orten, auch über Deutschland hinaus, statt. In den Stra-


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ßenexerzitien wird den Begebenheiten auf der Straße die besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Die TeilnehmerInnen nehmen die Straße als Ort der möglichen Gottesbegegnung mit sehr wachen und aufnahmebereiten Augen, Ohren und Herzen wahrg und spüren ihrer inneren Resonanz nach. Die entrale Geschichte für Straßenexerzitien ist die Erzählung von Mose, der in der Wüste auf einen brennenden Dornbusch stößt, in dem Gott sich ihm offenbart als sein ganz persönlicher Gott (Ex 3). Für Mose ist es Alltag, wenn er die Schafe hütet, nichts Besonderes, dass ein trockener Dornbusch brennt. Aber als ein Dornbusch nicht aufhört zu brennen, folgt Mose seiner Neugierde, die durch Wachsamkeit geweckt ist, und tritt näher. Der Dornbusch steht für das Harte, Unbeugsame, Knorrige, Verdorrte und Stachelige in meiner Alltagswelt und auch in mir. Dies wahrzunehmen, anzunehmen und sich ein Mehr schenken zu lassen ist die Erfahrung des Mose, die uns ansteckt, uns unseren eigenen Dornbüschen zuzuwenden in Erwartung eines Mehr.

Um solche Prozesse zu erleichtern, beziehen die Teilnehmenden einfache Unterkünfte, in denen sie gemeinsam schlafen (Pfarrheim, Winterobdachlosenunterkunft, kleine Wohnung) und versorgen sich selbst. Die Exerzitien sind kostenlos, da die BegleiterInnen (pro Fünfergruppe eine Frau und ein Mann) ehrenamtlich ihr Mitgehen anbieten. Die konfessionelle Ausrichtung ist kein Kriterium für die Teilnahme – an den Straßenexerzitien kann teilnehmen, wer möchte.

Auch der Ablauf der Exerzitien ist einfach strukturiert: Mit einem von der Gruppe gestalteten Tagesimpuls beginnen die Teilnehmenden ihren Tag und sind anschließend über den Tag in der Regel alleine unterwegs, denn die Exerzitien sind Einzelexerzitien in der Gruppe. Privilegierte Orte der Gottesbegegnung sind die zufälligen, nicht geplanten Begegnungen auf der Straßen sowie Plätze, wo sich ausgegrenzte Menschen aufhalten – z.B. Drogenumschlagplatz, Agentur für Arbeit, Krankenhaus, Aids-Beratung, Suppenküche. Am späten Nachmittag finden sich alle wieder in der Unterkunft ein. Um 17 Uhr wird dort ein Gottesdienst angeboten, es folgt das selbst bereitete Abendessen. Anschließend findet das Gruppengespräch statt, in dem die Teilnehmenden ihre Tageserfahrungen erzählen und die gesamte Gruppe eingeladen ist, darauf zu reagieren. Verbindlich ist während der Exerzitien nur das Gruppengespräch.

Es gibt drei Impulse in diesen Tagen. Am Anfang steht die Frage nach der eigenen Sehnsucht und dem damit verbundenen persönlichen Gottesnamen. Nach einigen Tagen wird die Geschichte von Mose am Dornbusch als Wegbegleitung und Deutungshilfe für das Geschehen des Tages angeboten. Und gegen Ende steht die Emmauserzählung (Lk 24) im Vordergund. Die Exerzitien


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enden mit einem gemeinsamen Gottesdienst in einer Gemeinde oder einem anderen Kreis von Glaubenden.

Was erfahren Menschen in diesen Tagen? Das ist sehr unterschiedlich und sehr persönlich. Alle werden in diesen Tagen stiller, gesammelter, wacher. Viele erzählen von ihrem Erlebnissen, denn unsere Gotteserfahrungen sind nicht unser Privateigentum, sondern sind oft bewegend und ansteckend für die Zuhörenden. Zudem werden sie vom Erzählenden oft noch einmal neu und anders erfahren. Die eine erlebt in der Auseinandersetzung um ihrem Arbeitsplatz durch die Begegnung mit Menschen auf dem Friedhof eine deutliche Aufforderung, sich Sterbenden zuzuwenden und erfährt die Verstorbenen als Verbündete und wie Engel. Ein anderer sieht sich versetzt in die Trauer um ein verstorbenes Kind und erlebt in der Begegnung mit einem gleichnamigen Kind und dessen Mutter Trost und Erlösung von seinem Schmerz. Wieder eine andere erinnert im Überqueren einer weitgespannten Brücke, die ihr Angst macht, alte Ohnmachtserfahrungen und wird spontan von zwei Menschen über diese Brücke begleitet. Plötzlich verändert sich eine große Angst und im Erleben von so konkreter Begleitung scheint Gott als treuer Begleiter auf.

In diesem Jahr wird zum zweiten Mal ein Kurs von Frauen für Frauen angeboten. Aus langjährigen Erfahrungen wurde deutlich, dass es immer wieder Frauen gibt, die ihre Schönheit und ihre Lebendigkeit zurückhalten, wenn Männer dabei sind. Manchen mögen auch nicht über schmerzhafte Dinge reden, wenn Männer anwesend sind. Ziel dieses Kurses ist es, Frauen im Rahmen der Straßenexerzitien einzuladen, ihrer Wahrnehmung zu trauen und sich mehr auf diese Welt und ihr Sosein einzulassen.

Damit sie ein wenig Geschmack an dieser Form der geerdeten Exerzitien finden, lade ich sie zu einer kleinen Übung ein, die etwa vier Stunden dauert und die sie in einer ihnen vertrauten oder auch neuen Gruppe machen können. Hintergrund dieser Übungen sind folgende Überlegungen: Wir alle tragen Sehnsüchte in uns. Diese haben wir uns nicht ausgesucht, sie sind einfach da. Durch die Frage nach der Wut, der Traurigkeit oder der Erstarrung kommen wir ihr sozusagen umgekehrt etwas näher. In dieser Sehnsucht verbindet sich Gott mit uns, denn er hat sie in uns gelegt als einen ganz wesentlichen Teil von uns. Daher können wir nach einem Namen für ihn suchen, wie er gerade von mir angeredet werden möchte als mein Gott.

Ein Beispiel: Da ist eine Frau, die reagiert jedesmal sehr ärgerlich, wenn ein Mensch in ihrer Umgebung übersehen wird. Sie erkennt dahinter ihre eigene


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elementare Sehnsucht, gesehen und wertgeschätzt zu werden von Menschen, mit denen sie zu tun hat. In der Gruppe kristallisiert sich mehr und mehr eine Anrede Gottes heraus: „Gott, der/die du mich liebend anschaust!“. Im Mitgehenlassen dieses Satzes wächst ihre Selbstachtung.

Ein anderes Beispiel: Einer spürt regelmäßig eine große Wut, wenn ihm oder einer anderen Person Dinge unterstellt werden, die nicht stimmen oder die sehr pauschal und reduzierend sind. In ihm ist eine Sehnsucht, nicht verurteilt zu werden, nicht als Verlierer dazu stehen. Die Gruppe erspürt mit ihm den Namen Gottes: „Du, der/die du lieber selbst den letzten Platz einnimmst, als dass ich ihn bekomme!“. Dass der letzte Platz durch Gott besetzt ist, befreit ihn zur Selbstannahme mit seinen Schwächen und Fehlern.

Übung in der Gruppe: Treffen sie sich als Gruppe zum Beginn dieser Einheit und stimmen sie sich mit einem Lied ein.

Nehmen sie sich etwa ein bis zwei Stunden Zeit, gehen sie – jede/r für sich allein – nach draußen. Lassen sie die Frage mitgehen: Was macht mich regelmäßig wütend oder traurig? Was lässt mich erstarren?

Wenn sie fündig geworden sind, fragen sie sich: Wie hätte ich es denn gerne? Welche Sehnsucht steckt in dem, was mich lähmt, was mich traurig oder wütend macht?

Kommen sie zu einem vorher festgelegten Zeitpunkt wieder mit ihrer Gruppe zusammen und teilen sie diese Erfahrungen mit ihrer Gruppe. Nehmen sie sich etwa zwei Stunden Zeit, damit jede/r zu Wort kommen kann. Wenn eine erzählt, spüren die anderen bei sich nach, welche Wirkung ihre Worte, ihre Gesten, ihre Mimik auf sie hat und stellen sie ihr dies wertschätzend zur Verfügung. Nachdem eine erzählt hat, schauen sie gemeinsam hin: Welcher Name Gottes verbirgt sich hinter dieser Sehnsucht? Wie kann sie ihren Gott ansprechen als ihren ganz persönlichen Gott?

Gehen sie mit diesem gefundenen eigenen Namen Gottes durch die nächste Woche. Vielleicht ist es möglich, nach der Woche mit der einen oder anderen aus der Gruppe über das zu sprechen, was mit dem Namen Gottes in ihr geschehen ist.

Für manche ist die Erzählung von Hagar, der Magd Sarais hilfreich (Gen 16). Diese erfährt ihren Gott als den, der nach ihr schaut, in einer existentiell verunsichernden Situation. Die Geschichte können sie vor oder nach ihrer gemeinsamen Austauschzeit vorlesen oder erzählen.

veröffentlicht in: EFiD (Evangelische Frauen in Deutschland), Arbeitshilfe zum Weitergeben,

Juli 2010


Guck doch mal nach links! – Michael Herwartz

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Straßenexerzitien in Kreuzberg, zweiter Tag. Ich sitze im Café. Der Anfang ist für mich jedesmal schwierig. Ich fühle mich unsicher ohne meine Funktionen, meinen Beruf, weiß nicht, wie das gehen soll in den nächsten Tagen. Ich bete: „Es ist so schwer anzufangen dich zu suchen. Ich bin wehrlos vor dir, sehne mich danach, dass du mich einfach annimmst …“ Auf der anderen Seite des Cafés steht ein junger Mann auf, kommt zu mir, nimmt mich in den Arm und sagt: „Wie schön, dass du da bist! Auf dich habe ich gewartet!“ Ich bin völlig verdattert … Der Betreuer des jungen Mannes kommt, entschuldigt ihn, er sei halt behindert.

Fünfter Tag. In den Tagen danach entwickelt sich der Gedanke, dass ich noch viel mehr loslassen muss. Ich nehme mir vor mich als Bettler in die U-Bahn zu setzen. Aber als es soweit ist, traue ich mich nicht. Ich verlasse die U-Bahn, trete auf die Straße und sehe ein Plakat: „Geht nicht gibt‘s nicht!“ Jetzt gegen Ende der 10 Tage sitze ich auf einer Bank. Ich bin glücklich, bete, danke Gott für seine Begleitung und bitte, dass er auch im Alltag bei mir sei. Es kommt eine Antwort, wie eine Stimme, etwas gelangweilt, wie von jemanden, der eine selbstverständliche Antwort gibt: „Guck doch mal nach links!“ … Dort sitzt meine Frau.


Lebensspur, die ich hinterlasse – Sybille Pieck

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Christian, als ich dich am Samstag, 29. Oktober, im Gubbio zu Franziskas Ordensjubiläum wieder sah und dich predigen hörte, war es für mich, als würde sich ein Kreis schließen: Ein Kreis um den brennenden Dornbusch. Der Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt, die Liebe, die brennt und doch nicht verbrennt. Der Impuls, mit dem ich mich 2005 auf den Weg machte; der erste Schritt, den ich mich auf den Straßen in Köln zu machen traute über meine Grenze hinaus mit offenen Augen und offenen Ohren, bereit, die Liebe zuzulassen in allen Fassetten: Liebe geben, Liebe annehmen. Liebe zulassen. Das ist die Lebensspur, die ich hinterlasse. Leben ist Hineingleiten in den Grundstrom der Liebe. Ich nähre diesen Strom mit mir, bin ein Tropfen im Großen und Ganzen. Ohne mich kein Strom, ohne die anderen Tropfen kein Ich. Wir alle sind der Strom der Liebe. Die Liebe nährt das Leben.

Viele Jahre war ich traurig, weil ich so allein war. Niemand da, der mich begleitete auf meinem Weg, niemand an meiner Seite. Dann hatte ich in einer Kölner Kirche eine Vision. Ich stand vor einer Antoniusfigur und sah auf das


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Kind. Und plötzlich brannte es in meinem Herzen (der Impuls am Morgen: Die Emmaus-Jünger, die sprachen: „Brannte es nicht in unseren Herzen …“) und ich erkannte. Mein Leben ist wie ein Staffel-Lauf. Ich bin der Stab, der weitergereicht wird. Bevor mich ein Mensch verlässt, ist schon ein anderer da. Ich bin nie allein und in den Menschen begegnet mir Jesus. Er ist immer bei mir, er verlässt mich nie. Ich danke dir, dass du durch dein Projekt der Straßenexerzitien mir den Raum gegeben hast, die Grenze zu überschreiten, die es mir ermöglicht hat zu sehen.


Meinen Großeltern ein Denkmal setzen – Ingrid Hartmann

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Alles begann mit meinen Straßenexerzitien im August 2004. Christian begleitete mich in Einzelgesprächen. Unsere Unterkunft lag sehr nahe hinter dem Nürnberger Gerichtshof und dem Gefängnis. Ein wichtiger Ort für meine Herkunftsgeschichte, wie ich heute weiß. 2004 konnte ich nur mit Schweißausbrüchen an meinem ganzen Körper und Tränen in meinen Augen den Gehweg vor dem Hauptportal passieren. Ich dachte dabei an die nationalsozialistischen Gesetze und an die armen Juden.

Heute möchte ich meinen Großeltern mit meiner Geschichte ein Denkmal setzen. Ihnen danken für ihren Mut und ihre Liebe zueinander. Dieser Liebe verdanke ich mein Leben. Meine Großmutter Anna-Sibylla verlor ihr Leben, wegen ihrer Liebe zu meinem Großvater. Sie wurde ledig schwanger, zählte zu „unwertem Leben“, weil sie an Rachitis erkrankt war. Auf Grund ihrer Beckenschiefstellung war zur Geburt meiner Mutter ein Kaiserschnitt notwendig. So wurde die angeordnete Zwangssterilisation sofort nach der Geburt ausgeführt. Anna-Sibylla verließ das Krankenhaus sieben Tage später als Tote.

Mein Großvater war arbeitslos und Sohn einer armen, kinderreichen Familie. Er konnte keinen Unterhalt bezahlen für meine Mutter, welche zu einer Pflegefamilie gegeben wurde. Deshalb wurde er verhaftet, ins Arbeitslager gesperrt und kam nach dem Krieg nicht zurück.

Bis 2004 war mir meine Herkunft unbekannt. Ich hatte keinen Opa und keine Oma mütterlicherseits. Sie waren eben schon tot. Ich habe mich weiter nie darum gekümmert. Heute weiß ich, dass die Ängste, die Wut, die Ohnmacht, die Traurigkeit usw. meiner Großeltern in mir weiter lebten. Vor allem dieser


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nationalsozialistische Stempel. „Ich bin es nicht wert“ hat 50 Jahre in mir weiter gewirkt, bis ich ihn entlarvt habe.

Überall, in Deutschland, Europa, der ganzen Welt, wiederholt sich heute die Geschichte meiner Großeltern in anderer oder ähnlicher Form mit Armen, Obdachlosen, Flüchtlingen und vielen anderen Ausgegrenzten.

Im Namen meiner Großeltern bitte ich euch, begegnet euch selbst und euren Schwestern und Brüdern mit Wertschätzung und Liebe, damit Frieden werden kann auf unserer Erde, die uns nährt und trägt. Wir sind alle gleich.


Das Geschenk der Straßenexerzitien auspacken – Chr. Herwartz

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Mitte der 90er Jahre klopften einige Menschen in unserer Wohngemeinschaft in Berlin-Kreuzberg an, die ihre jährlichen Geistlichen Übungen bei uns machen wollten. Das konnte ich mir nicht vorstellen, da wir keinen Stilleraum haben und unser Leben oft turbulent ist. Wie soll da jemand Aufmerksamkeit üben und innerlich hörend werden? Doch die Gespräche am Ende des jeweiligen Tages zeigten mir, dass dies gut geht. Wie jemand in diese innere Stille kommt, weiß ich bis heute noch nicht. 1998 kam ein Jesuit, der einen Exerzitienkurs im Stadtteil anbieten wollte, da Ignatius von Loyola ja auch seine ersten Exerzitien auf den Straßen entdeckt hat. Er wohnte in einer Höhle am Fluss und begegnete in diesen Monaten den Menschen in Manresa. Während dieser Zeit entdeckte er in sich eine Entwicklung, der wir in seinem Exerzitienbuch nachgehen können. Die Wärmestube der evangelischen St. Thomasgemeinde gab uns in der Sommerpause Unterkunft. Drei Jesuiten ließen sich auf das Experiment ein. Im Jahr 2000 gab es dann zwei Einladungen: In Hamburg trafen sich fünfzig Leute aus den verschiedenen Exerzitienwerken der katholischen Bistümer. Sie suchten bei ihrer Jahresversammlung nach der Beziehung von spirituellen und sozialen Fragen. Einen Tag besuchten die TeilnehmerInnen in kleinen Gruppen soziale Einrichtungen und halfen dort mit. Die TeilnehmerInnen einer anderen Gruppe gingen einzeln durch die Stadt und suchten für sie interessante Orte auf: Sie verweilten vor einem Gefängnis oder vor Schiffen, die Asylsuchende beherbergten. Einer setzte sich mit einer Bierflasche im Bahnhof auf eine Treppe zu einer Gruppe Obdachloser. Viele Menschen strömten an ihnen vorbei und sahen sie nicht. Darunter waren auch KursteilnehmerInnen. Staunend sagte er anschließend immer wieder: „Ich habe drei Stunden nicht existiert.“ Erfüllt von


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den Erfahrungen dieses Tages, die am Abend ausgetauscht wurden, fuhr ich nichts ahnend wieder nach Berlin zurück. Dort fand im Sommer desselben Jahres ein zehntägiger Exerzitienkurs in Kreuzberg statt. Die TeilnehmerInnen wohnten in der winterlichen Notschlafstelle im Keller des Gemeindehauses von St. Michael. Aus der Berliner Gruppe „Ordensleute gegen Ausgrenzung“ übernahmen zwei Frauen und zwei Männer die Begleitung der beiden Untergruppen. Diese Ordensleute luden schon seit einigen Jahren regelmäßig zu Gottesdiensten vor der Abschiebehaft ein und besuchten anschließend die Gefangenen. Sie kannten das Staunen an einem solchen Ort und die Veränderungen, die dadurch in ihrem Leben begonnen hatten. Zum Abschluss der Tage sagten mir die drei anderen Begleiter eindringlich: „Christian, du bist arbeitslos geworden und hast jetzt Zeit, auch im nächsten Jahr zu solch einer Besinnungszeit einzuladen.“ Wir waren alle sehr beeindruckt von den Erlebnissen dieser Tage und ich hatte einen Auftrag bekommen.

Schon im nächsten Jahr waren es zwei Kurse in Berlin und Münster, zu denen wir einluden. Noch im selben Jahr wurde ich von der Ordenszentrale in Rom angefragt, von diesen Exerzitienerfahrungen zu berichten. Der Text erschien Ende 2001 weltweit im Jahrbuch der Jesuiten. Die Exerzitien in Kreuzberg wurden jetzt Exerzitien auf der Straße genannt. Der „zufällig“ gefundene Ort der Gottesbegegnung irgendwo wurde um den Heiligen Ort in uns selbst ergänzt, wo Gott auch brennt und nicht verbrennt. Er begründet ja unsere Würde. Zehn Jahre später konnte nach Paarexerzitien noch ein dritter Heiliger Ort benannt werden: Das Staunen und Entdecken der andauernden Liebe in der Beziehung zu einem anderen Menschen, die brennt und nicht verbrennt. In den nächsten Jahren kamen viele Orte im In und Ausland dazu, an denen 10tägige Exerzitien auf der Straße angeboten wurden. Dazu kamen einzelne Tage manchmal für große Gruppen, z.B. für 80 GefängnisseelsorgerInnen in Magdeburg. Einer der Teilnehmer dort suchte den grausamsten Platz der Stadt. Er fand ihn an einem Denkmal für die Gefangenen eines Konzentrationslagers. Dort wurde ihm klar: Den Gefangenen, denen er im Gefängnis begegnet, ihnen wird wohl nie mit einem Gedenkstein gedacht.

Ein besonderer Juwel in dieser Geschichte wurde uns auf dem Weg zum Weltjugendtag geschenkt. Die TeilnehmerInnen bereiteten sich auf die Begegnungen in Köln 2005 mit stillen Zeiten, Pilgern, Begegnungen mit Menschen in Heimen usw. vor. Uns wurde eine Gruppe von 21 jungen Menschen aus Taiwan, Frankreich und Texas anvertraut und wir schickten sie auf die Straßen von Fulda. Wie können wir so viele Menschen, deren Sprache wir meist nicht verstehen, in ihren Exerzitien begleiten? Die Geschichte von Mose vor dem Dornbusch haben wir vor einem Gefängnis gespielt. Dort wurde uns deutlich:


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Vor diesen Menschen, die uns aus den Zellenfenstern zuwinken, können wir Heiligen Boden entdecken. Die innere Offenheit der Einzelnen wurde durch die große weltumspannende Gemeinschaft gefördert und in den kulturell ganz unterschiedlichen Mahlzeiten gefeiert. Dorthin luden sie spontan obdachlose Menschen ein und feierten mit ihnen die Begegnungen des Tages. Viele fanden überwältigende Erfahrungen auf einem Friedhof. So fand die Abschlussrunde dort statt. Einige hatten den Eindruck, dass die Deutschen ihre Toten in einem Blumenparadies betten. Diese Wertschätzung der Toten waren sie aus ihrer Heimat nicht gewohnt.

Auffallend sind die vielen Geschichten, die TeilnehmerInnen in ihrem alltäglichen Umfeld erzählt und aufgeschrieben haben. In vielen Publikationen ist von den Erfahrungen dieser Tage oder Stunden zu lesen. Das kleine Buch „Auf nackten Sohlen“ erschien in der Reihe ignatianische Impulse und zeichnet die Geschichte dieser Exerzitienform nach. Es wurde auch schon in der Schule für Projektunterricht benutzt. Auch gab es eine eindrucksvolle Ausstellung von Herzensbildern, die eine Fotografin in ihren Exerzitien gemacht hat. Andere haben in wissenschaftlichen Arbeiten versucht, den Exerzitien nachzuspüren. Für den Katechetenverein hat Peter Hundertmark die Broschüre „Mit offenen Augen beten“ herausgebracht.

Wichtig ist mir die Aussage einer Teilnehmerin: „Sonst habe ich Exerzitien mit all ihren Vorsätzen immer nach zwei Wochen vergessen. Diesmal gehen sie weiter und ich sehe vieles in meinem Alltag neu.“ In der Freude über dieses Geschenk waren TeilnehmerInnen bereit Zeit und Kraft zu investieren, anderen bei ihrem Suchen beizustehen und sie während ihrer Exerzitien zu begleiten. In diesen Zeiten werden wir Begleitenden oft neu innerlich glühend und selbst beschenkt. Wie vor eigenen Exerzitien können wir diese Erfahrungen nicht planen. Das Begleiten ist ein Zulassen des eigenen Weges jedes Übenden.

In dieser Haltung wollten wir uns gegenseitig bestärken und unsere Erfahrungen austauschen. Die Begleiterwochenenden entstanden. Die Haltung des Begleitens, die drei Etappen der Exerzitien, der Sinn und die Durchführung der Fußwaschung, der Ablauf des letzten Tages wurden angesprochen. Die Einladungen zu diesen Wochenenden einmal im Jahr werden unterdessen an 75 Personen verschickt, die ihre Bereitschaft zum Begleiten erklärt haben. Die Durchführung geschieht selbstständig an unterschiedlichen Orten und auf ganz verschiedene Weise.

Besonders erwähnenswert sind noch die Exerzitien im Alltag mit Tagen oder Stunden auf der Straße. Die Straße ist ja in der christlichen Theologie ein Bild für Christus. Jesus sagte in den Abschiedsreden: Ich bin der Weg und


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die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6). Wenn wir in sein Gesicht mit der Dornenkrone sehen, dann finden wir den brennenden und nicht verbrennenden Dornbusch mitten in der Verspottung vor Pilatus wieder. Das Gesicht Jesu, der uns den Blick auf das Leben immer neu öffnet.

Häufig werden Exerzitien auf der Straße auch alleine gemacht, meist in einer Wohngemeinschaft, in der sich die Übenden geschützt fühlen und nicht nur die BegleiterIn haben. Ihr Suchen ist dann auch für die Menschen in der Nähe eine herausfordernde Wirklichkeit.

weitere Informationen: http://www.con-spiration.de/exerzitien


Ich ziehe meine Schuhe aus – Petra Maria Tollkötter

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Ich begebe mich in eine Auszeit.

Ich gehe fort von Zuhause.

Ich reduziere Komfort und Annehmlichkeiten.

Das Leben schrumpft auf das Jetzt.

Das Leben wird weit für das Jetzt.

Ich ziehe meine Schuhe aus.

Ich erspüre meine Sehnsucht.


Auf der Straße, in der Öffentlichkeit will ich Gott/

Jesus näher kennen lernen.

Die Straße ist das Evangelium, das ich übe zu lesen.

Mich selbst übe ich zu lesen.

Ich ziehe meine Schuhe aus.


Ich lasse mein Leben ausrichten auf das „Mehr“, aus dem

und zu dem hin ich geschaffen bin.

Auf der Straße erspüre ich meine Begrenzungen im Blick auf dieses „Mehr“

und setze mich bewusst aus.

Ich ziehe meine Schuhe aus.


Ich bleibe nicht bei mir und meinen Begrenzungen,

lasse mich nicht von ihnen einwickeln.

Ich bleibe auch nicht bei mir und meiner Leistung,

lasse mir nicht von der Erinnerung

oder von meinem Tun in diesen Tagen

schmeicheln.


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Ich ziehe die Schuhe aus.


Ich halte das aus.

Ich halte mich aus.

Ich nehme die Herausforderungen und die Geschenke der Straße an.

Ich lasse mich halten von dem, was mir auf der Straße geschenkt wird.

Ich ziehe die Schuhe aus.


Ich traue mich in fremde Welten, zu fremden Menschen.

Ich werde gefunden von fremden Menschen.

Ich werde mehr Mensch

durch die Begegnungen mit den Menschen auf der Straße.

Ich werde in meine Menschwerdung geführt,

die Gott in Jesus wollte

für alle.

Ich ziehe die Schuhe aus.


In diesen Tagen darf ich ahnen,

wie sehr ich geliebt bin von Gott

und wie er mir dadurch meine Würde verleiht.

Und was für mich gilt, das gilt für alle.

Ich staune.

Ich lebe auf.

Ich erfahre tiefe Freude.

Ich stehe auf nackten Füßen.


Schwester – Mabel Marotti

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Ich hab nichts Besonderes zu erzählen. Meine Geschichte ist eine Geschichte des Alltags. Wer soll ein Interesse an meinem Leben haben? Das waren meine ersten Gedanken, als ich von Christian sehr sanft und mit großem Respekt angefragt wurde, ob ich auch etwas zu diesem Buch beitragen möchte. Aber jetzt sitze ich am Computer und überrascht höre ich eine leise Stimme in mir, die sagt, dass mein Alltag gesegnet wurde und deswegen heiliger Boden geworden ist. Auf diesen Boden darf jeder Mensch treten, der in die Konstellation meines Lebens tritt. Der Boden ist die Erde, wo alle Menschen sein dürfen und wo wir Menschen uns als gleichberechtigte Geschwister bewegen.


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Bevor ich weiter schreibe, möchte ich aber einen Titel für diese Zeilen haben, auch wenn ein Titel nicht unbedingt am Anfang einer Geschichte sein muss. Ich bin eine Ordensschwester, die in den letzten Jahren immer weniger über Gott und von Gottes Wegen verstanden hat. Im Orden habe ich früher immer eine gewisse Sicherheit gefühlt, die ich heute verloren habe. Diese Sicherheit hieß „Wissen über Gott“. Deswegen möchte ich mich gerne nicht mehr Ordensschwester nennen, sondern einfach Schwester. Und vielleicht soll dieses Wort „Schwester“ der Titel dieses Beitrages sein.

2006 kam ich nach Berlin zu Straßenexerzitien und zwar kurz nach meiner Rückkehr in meine Heimat Italien, wo ich mit meinen Oberinnen versucht habe zu verstehen, warum ich in den letzten Jahren bzgl. meines Ordenslebens so unruhig geworden war. Sieben Jahre lang habe ich in Dubai in einer großen multiethnischen Schule für Gastarbeiterkinder gearbeitet. Ich war einerseits mit den Schülern und der Vielfalt der Kulturen sehr glücklich, andererseits mit dem Leben im Orden und mit der Macht der Religionen – der christlichen wie der muslimischen – sehr gespalten, konnte aber nicht klar sehen, wo das Problem lag.

Nach Berlin kam ich während dieser Zeit zusammen mit meiner Mitschwester Margit, die auch auf der Suche nach neuem Leben war, auch wenn es ihr nicht so bewusst war. Die Tatsache, dass sie auch auf der Suche war, und dass sie wenig über Gott und Gottes Wege sagen konnte, zog mich an. Sie war die richtige Reisegefährtin. In Berlin war es kalt. Die Obdachlosen auf der Straße hatten nicht viel zu sagen. Eine Frau in einem Altenheim winkte mich aus dem Fenster zu sich herein und mit einem liebevollen Lächeln packte sie mich am Arm und sagte immer wieder: „Ich weiß nicht“. In der WG in der Naunynstraße waren Menschen von allen Lebensrichtungen, deren Träume ganz alltäglich waren, im Gegensatz zu ihren Geschichten. Am Tisch wurde viel in der einfachsten Art besprochen. Ich fühlte mich zu Hause, geborgen, auch wenn ich spürte, dass mich diese neue Welt, in einer Fremdsprache, die ich nicht konnte, so weit entfernt von meinen Erwartungen, alle meine Sicherheiten, auch über Gott und Gottes Wege, weggenommen hatte.

Wo war ich? Wer war ich dann? Im Orden nannten es viele Mitschwestern Midlife Krise und versuchten mich zu trösten. Sie hielten das für normal, etwas wie ein eindeutiger Fall von Masern, wo man nur im Bett bleiben und sich auskurieren soll, bis die Krankheit vorbei ist. Verschiedene Kuren wurden vorgeschlagen von Psychotherapie bis zur Promotion in Übersee. Dann würde alles ok sein. Mabel würde wieder zu sich kommen. Aber ich wusste,


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dass etwas in mir mich ständig in einer ruhigen Art rief, eine subtile Stimme, deren Gesicht ich nicht sehen konnte. Weiter in Berlin zu bleiben bedeutete für mich, die Sicherheiten der vorgeschlagenen Kuren wegzulassen und mich auf diese Stimme einzulassen. Margit war auch im selben Boot und das war ein Zeichen der Liebe Gottes, die ich nicht mehr verstehen, aber nie wie jetzt spüren konnte.

Christian, der Mann hinter diesem Buch, sagte nichts. Ich hätte so gerne eine geistliche Begleitung gehabt, die mir sagen konnte, was eigentlich mit mir los war, ob ich den Orden verlassen sollte, ob ich mich geirrt hatte, ob Gott mich noch als Ordensschwester wollte … Christian hatte aber immer nur ein strahlendes Gesicht, wenn wir über meine inneren Bewegungen geredet haben. Und das war für mich ein Spiegel. In seinem Gesicht sah ich meines und das von Gott. Nur indirekt konnte ich sehen und spüren, dass ich nun auf dem alltäglichen Weg bleiben musste, ohne etwas anderes von Gott zu verlangen, ohne zu wissen.

Eines Tages rief jemand an und sagte, dass Sr. Lea Ackermann zwei Schwestern suche, die bei SOLWODI (Solidarity with Women in Distress – Solidarität mit Frauen in Not) in Berlin mitmachen würden. Die Berufung war klar: Mit Frauen wie ich, Migrantinnen wie ich, die auf der Straße gelandet oder wegen Armut und Perspektivlosigkeit gestrandet waren, arbeiten zu dürfen, war für mich die Gnade Gottes, der mir meinen Weg nicht mehr nach meinen gewohnten Vorstellungen zeigte, sondern durch den Ruf dieser inneren Stimme. Schwierig, dem Orden zu erklären, dass ich nur auf diese Stimme hören musste. Es war wie ein innerer Zwang, der zur Freiheit beruft.

Heute lebe ich meinen Alltag nach dieser Stimme. Gott ist leiser geworden, aber spricht viel mehr in allem und durch alles. Die leise Stimme höre ich heute, wenn eine Frau in der Abschiebehaft weint oder lacht, wenn eine gestrandete Mutter ein Frühchen zur Welt bringt, wenn Margit gerne isst, was ich koche, wenn Menschen Leben suchen, wenn die Stadt in ihrer Vielfalt lebendig zu sein scheint, wenn die Natur mich still werden lässt, wenn ich wegen der Ungerechtigkeit des Lebens für so viele Menschen aufschreie. Auf meine Fragen, ob ich noch Ordensschwester bin, ob ich den Orden verlassen soll, bin ich nicht oft eingegangen. Es ist nicht mehr eine relevante Frage, weil es nicht mehr um den Intellekt geht, sondern um das Leben in seinem geheimnisvollen Sinn.

Zwei unserer Ordensoberinnen haben uns vor einiger Zeit besucht. Sie haben gesagt, dass wir weiter als Comboni Missionschwestern unsere „Mission“


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in Berlin leben dürfen. Ich bin nicht mehr über Begriffe wie Mission sicher, aber ich habe die Geschwisterlichkeit gespürt und das war schön. Dies ist mir heute wichtig: Schwester zu sein, Schwester aller Menschen, universelle Schwester, oder einfach Schwester.


Wohnzimmer Augustiner Platz – Patrick Jutz

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Ich lernte Christian am Ende meiner ersten Straßenexerzitien in Berlin 2007 kennen. An einem Nachmittag durfte ich mit Jens zusammen die Naunynstr. besuchen und Renate führte uns durch die Wohnung. Ich war sehr stark beeindruckt von den Menschen, die dort lebten, auf engstem Raum, z.B. mehrere Stock-Betten im Männerzimmer.

In Berlin war ich am Anfang noch am Umkreisen der Orte und Menschen, die mir heilig schienen:

Die Menschen der Wagenburg neben St. Thomas oder auch Detlev, der die St. Thomas-Kirche in Ordnung hielt und den Obdachlosen Frühstück bereitete. Langsam überwandt ich wahrnehmbare Hemmschwellen im Gespräch mit meinem Nachbarn in der Suppenküche oder im Erzählen von meinen Enttäuschungen und Verletzungen abends in der Austauschrunde.

Mit meiner Frau habe ich vereinbart, dass wir uns gegenseitig alle zwei Jahre Exerzitien zugestehen und der andere dann zu Hause auf die Kinder aufpasst. Also war ich 2009 wieder dran, diesmal war ich in Freiburg zu Gast. Ich hatte in Freiburg das Gefühl viel schneller auf der Straße anzukommen. Saß ich am ersten Tag noch am Rande des Augustiner Platzes, so war ich ab dem zweiten Tag mittendrin. Auf Empfehlung meines Begleiters nahm ich mir jeden Tag eine feste längere Zeit am Augustiner, wo ich mich mittendrin fühlen durfte. Ich saß auf der gleichen Holzbank wie die Alkis und Obdachlosen. Ich war bald schon akzeptiert, als wenn ich schon jahrelang dazugehörte. Diese bedingungslose Annahme war für mich Gottes Segen und erfüllte mich mit großer Dankbarkeit. Bei allen kritischen Momenten des Streits oder eines Polizeieinsatzes am Augustiner erlebte ich Menschen, die mir täglich wichtiger wurden. Mit Willi träumte ich den Traum von Afrika. Er brachte mir sein „Heiligtum“, einen Afrika-Bildband, an den Augustiner mit und ich durfte darin blättern. Ich erzählte von meiner Sehnsucht, diesen fernen Kontinent zu besuchen und er entwickelte daraus ein gemeinsames Afrika-Projekt. Viele Menschen erzählten mir von sich aus von ihrem Leben und immer gab es dabei auch schöne Momente. Der Augustiner Platz kam mir vor wie


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das Wohnzimmer der Alkis und Obdachlosen und trotz Schicki-Micki-Cafes außenrum wurden diese Menschen dort so akzeptiert und ich war ein Gast dieses Wohnzimmers. Am vorletzten Tag kam ich mit Rashed, den ich vorher schon flüchtig kennengelernt hatte, ins Gespräch. Er ist Tunesier und erzählte mir, dass er nun Christ ist. Ich war froh über dieses Bekenntnis und erzählte ihm auch von meinem Glauben. Die ganzen Tage davor hatte sich dieses Thema am Augustiner nie ergeben. Wir stellten dann fest, dass wir beide die gleiche Richtung nach Hause hatten und machten uns gemeinsam auf den Weg. Rashed erzählte mir von sich, seiner Familie und seinen Brüchen im Leben. Kurz vor seiner Wohnnung kauften wir noch Bier und Lebensmittel im Supermarkt, weil er mich in seine Wohnung einladen wollte. Ich wollte und konnte diese Einladung nicht abschlagen, obwohl ich wusste, dass ich die geplante Uhrzeit mit meinem Begleiter dann nicht einhalten würde. In der Küche setzen wir uns an den Tisch und ich erzählte ihm von meiner Erfahrung während des Spaziergangs; ich empfand dies als Emmaus-Spaziergang. Ich las ihm aus meiner Bibel die Stelle vor und er zeigte mir seinen Tauftext, den er aus dem Alten Testament abgeschrieben hatte. Da ihm ein katholischer Priester die Taufe verweigert hatte, wurde er nämlich evangelisch getauft. Dann trank ich Bier mit Rashed und kam eine Stunde zu spät zu meinem Begleitgespräch. Mein Begleiter, Uli, saß geduldig lesend auf der Couch und hatte sogar mit dem Abendessen auf mich gewartet.

Wieder daheim angekommen, gehe ich anders durch die Fußgängerzone. Ich bemühe mich achtsamer zu gehen, auch mal Zeit zu haben für ein Lächeln oder eben einfach nur die Straßenzeitung zu kaufen. Ich denke noch sehr viel an meine Freunde am Augustiner. Willi hat mich sogar noch zweimal auf dem Handy angerufen und wollte sich nochmal mit mir treffen. Ich habe ihn vermutlich enttäuscht, als ich ihm sagte, dass daraus wohl nichts mehr wird. Mein Lebensmittelpunkt ist eben zu weit weg und meine Zeit ist für Frau, Kinder und diverse Ehrenengagements sowieso immer rar. Ich habe mich also wehmütig dazu entschieden, dass ich Willi nicht mehr treffen werde, obwohl ich schon gerne wissen würde, wie es ihm gerade geht.


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Ich wollte die Nacht unter seinem Blick verbringen – Tamara

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Eine wundersame Zeit erlebte ich in Berlin. Eine „Schulung des Herzens“, diese Beschreibung von Christian umschreibt meine Gefühle bezüglich dieser Woche am besten. Jeden Tag zog ich los in den Tag, ließ mich leiten, ließ mich vom Gefühl führen, ließ mich vom Straßenleben überraschen. Ich hatte keine Aufgabe zu erledigen, kein Ziel, an dem ich unbedingt ankommen sollte, ich hatte das Geschenk bekommen, mich diese Woche einfach mal ins Dasein zu stürzen und genauer hinzuschauen. Auch an Orten zu verweilen, an denen ich sonst meine Schritte beschleunige. Ich nahm mir die Zeit mich auf Begegnungen einzulassen, zu verweilen und wirklich zu hören und zu spüren und durfte manchmal spüren, wie ich mich diesem Lebenssog Tag für Tag etwas mehr öffnen konnte. Manchmal ging ich in die Richtung meiner Angst. Ich wollte ihr begegnen, die Konfrontation suchen, schauen, was mich da unruhig werden lässt. Am Abend saßen wir in einer kleinen Gruppe zusammen und erzählten uns gegenseitig unseren Tag. Niemand blickte auf die Uhr oder schien in Gedanken bei dem nächsten Termin. Die Freude oder auch der Schmerz, den ich den Tag über erleben durfte, konnte ich am Abend nochmals ausdrücken und mit den anderen teilen. Die eigene Freude durfte Funken schlagen und schien auch die anderen zu entfachen und was an Schmerz da war, wog am Abend nicht mehr so schwer. Ich durfte spüren, dass auch andere dies nachfühlen können und dass ich auf Verständnis stoße. Jeder erzählte einfach ungeschönt von sich und seinem Leben an diesem einen Tag. Und welcher Reichtum häufte sich auf einmal in unserer Mitte an. Welcher Gefühls- und Erlebnisreichtum, an Tagen, an denen nichts außer schlichtem „Dasein“ geplant war. Sonst habe ich oft das Gefühl, ich müsse funktionieren, müsse bestimmte Ziele erreichen um angenommen, um gewertschätzt zu werden. Diese Woche durfte ich neue Erfahrungen machen. „Gott, der du mich liebevoll anschaust, auch wenn ich nichts leiste“; „der, der du mich achtest, wertschätzt, einfach weil ich bin, nicht wegen … oder weil…“; „Gott, der du mich ganz sein lässt, der du mich nicht zerschneidest.“ Ich spürte meine brennende Sehnsucht nach Achtung und Würde für alles Leben, nach bedingungsloser Liebe.

In der Kirche sitzt eine Figur am Rand mit einer unglaublichen Ausstrahlung. Jesus. Sie bannte meine Aufmerksamkeit. Die Figur sitzt dort allein, gebeugt, einsam und eine unsagbare Traurigkeit geht von ihr aus. Ich wollte in ihrer Nähe sein. So nah wie möglich, einfach neben dran sitzen. Die ganzen Tage über suchte ich sie immer wieder auf und spürte, wie vertraut mir dieser Jesus ist. Er ist nicht der Held, der Wunderheiler, er ist gerade in seiner Verletz-


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Schmerzensmann – Bronzestatue von Carl Blümel, fotografiert von Angelika Goder


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lichkeit unglaublich würdevoll. Ich wollte die Nacht dort unter seinem Blick verbringen. Sein Blick gab mir den Mut alleine in dieser Kirche zu bleiben bei Dunkelheit. Ich fand überraschenderweise sogar Schlaf. „Der, der du mich liebevoll anblickst, auch wenn ich schlafe.“

Am Morgen sah ich das Gesicht meines Vaters in diesem Gesicht. Er starb, ohne dass ich ganz versöhnt in meinem Herzen mit ihm gewesen wäre. Er forderte viel von mir, was ich fast nie erfüllen konnte und wo ich mich immer wieder scheitern sah, seine Achtung nie ganz erkämpfen konnte. In diesem Moment, wo ich sein Gesicht sah, merkte ich, dass mir dieser Jesus die Hand hin streckt. Ich musste nicht mehr kämpfen. Ich ergriff sie und spürte Zuneigung, so stark und überwältigend schön und Liebe zu meinem Papa, einen liebevolleren Blick auf mich selbst und meinen Weg. Ich bin oft träumerisch, die Welt erscheint mir oft zu komplex für meine Auffassungsgabe. Nun reichte mir dieser Jesus die Hand und ich spürte, dass ich wertvoll und angenommen bin. Jesus als Christus ist mir seit dieser Begegnung nicht mehr so fern und fremd. Doch dieses Gefühl des Angenommen-seins ist nichts, was ich entdeckte und was ich begreifen könnte. Ich durfte es aber hier erfahren, diese geheimnisvolle Wurzel allen Lebens. Am letzten Abend beim Gottesdienst sitzt diese stille, stumme Figur, die mir in den letzten Tagen so wichtig wurde, in unserer Runde, mein Herz ist prall voll Liebe, Erlebtem und Dankbarkeit.


Geh, wohin dein Herz dich trägt – Dietlind Schaale

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Voller Neugier und Offenheit, aber auch immer wieder von Ängsten und Unsicherheit begleitet, hatte ich mich auf meine ersten Straßenexerzitien eingelassen.

Die Überschrift über meinem Bericht hatte sich mir als Botschaft aus einem Traum während der Straßenexerzitien aufs Herz gelegt und ließ mich nicht mehr los. Er setzte mich am folgenden Tag auf einen Weg, von dem ich reich an Erfahrungen und erfülltem Herzen am Abend in unser Pilgerquartier nach St. Martin am Glockenbach zurückkehrte.

Blauer Himmel, spätsommerlich angenehme Temperaturen luden mich an besagtem Morgen zuerst an die Isar ein. Dem Fließen des Wasser zuschauen, meine Füße ins fließende Wasser hängen und einfach nur sein. Wohin wohl führt mich die Stimme meines Herzens, was hat es mit meinem Traum der letzten Nacht auf sich, waren Fragen, die sich mir am Fluss aufdrängten. Als ich nach einer Weile aufstehe, trifft mein Blick auf einen ausländischen Mann ( seine indianische Abstammung ist unverkennbar), leere Bierflaschen stehen


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vor ihm; aus einer anderen nimmt er immer wieder einen Schluck. Unsere Augen treffen sich; in mir ist der Impuls nicht weiterzugehen, sondern diesen Mann anzusprechen. Ich frage ihn, ob ich mich zu ihm setzen dürfe und ob er Deutsch verstehe, was er bejaht und mich einlädt mich zu ihm zu setzen. Eine Begegnung beginnt, unvergesslich und nachhaltig für mich – und für ihn wohl auch. T. vertraut mir seine ganze Lebensgeschichte an, erzählt von seiner Familie, seinem Scheitern im Medizinstudium und in seiner Beziehung zur Mutter seines Sohnes; er macht keinen Hehl aus seinem Alkoholproblem und dass er jetzt seit einem halben Jahr in einem Obdachlosenquartier hier in der Nähe wohne und immer wiederholt er, „ dass du mir so einfach zuhörst“ und ist sichtlich berührt. „Trotz allem, was er an Schwerem erlebt habe, trotz des Scheiterns in seinem Leben habe das Schicksal es gut mit ihm gemeint!“ Ich höre ihm weiter zu, bis er innehält und dann plötzlich meint, jetzt habe er mir sein ganzes Leben erzählt, nun müsse ich ihm auch aus meinem Leben erzählen, von meiner Familie etc. Ich zögere einen Augenblick. Jetzt galt es, meine Schuhe ein zweites Mal „auszuziehen“ (das erste Mal zog ich sie aus, als ich seinem Blick nicht auswich und mich zu ihm setzte). Ich erzähle vom erst wenige Monate zurückliegenden Tod meiner Mutter, dass auch mein Vater und mein Bruder schon über 10 Jahre nicht mehr leben und dass ich jetzt noch die einzige aus meiner Herkunftsfamilie sei. Mir laufen Tränen über mein Gesicht. T. ist voller Anteilnahme, wir umarmen uns spontan, T. sagt seinen Namen und ich meinen – es ist ein sehr berührender und unvergesslicher Augenblick, durch Wahrhaftigkeit, Offenheit und Absichtslosigkeit gekennzeichnet. Wir haben gegenseitig unsere Verletzlichkeit zugelassen und uns heilungsbedürftig gezeigt. T. erzählt mir, dass er dringend auf die Zusage einer Therapie wartet, um von seiner Alkoholabhängigkeit loszukommen. Er wolle ein neues Leben beginnen und ist voller Hoffnung!

Ich erinnere mich an meinen kleinen „Schutzengel“ (der Bronzeengel von „andere Zeiten“) in meiner Hosentasche. Er ist immer mein Begleiter, wenn ich unterwegs bin. Spontan denke ich, den Engel jetzt T. zu schenken mit der Bemerkung, dass der kleine Engel jetzt ihn begleiten und beschützen werde; ich hätte den Eindruck, dass er ihn nun nötiger brauche als ich. T. ist sichtlich berührt, was er kurze Zeit danach beim Anruf seiner Schwester zum Ausdruck bringt; ich müsse jetzt auch unbedingt kurz mit seiner Schwester reden, reicht mir das Handy und ein kurzes und herzliches Gespräch folgt. Die Begegnung mit T. hat noch viele Facetten – Mittagessen im indischen Restaurant; ich lerne den Ort in der Obdachlosenunterkunft kennen, wo er derzeit lebt mit seinen wenigen Habseligkeiten. Ich lerne eine ganz andere, mir fremde Welt kennen. Erneut ziehe ich meine Schuhe aus, lasse mich auf


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seine Welt ein. In manchen Augenblicken in dieser Begegnung schaue ich mir selbst zu und staune einfach, was möglich geworden ist. Nach den ca. fünf Stunden verabschiede ich mich von T., erfüllt, innerlich reich beschenkt durch eine ungewöhnliche, sehr kostbare Begegnung. Mir kommen die fünf Stunden fast wie eine Woche vor, weil ich so viel erlebt habe; mehrfach meine Schuhe auszog, indem ich meine Klischees und Vorurteile abgelegt, meine mir „vertraute Welt“ verlassen habe. Und was die Botschaft meines Traumes in der Nacht davor war, konnte ich umsetzen und tatsächlich ohne Konzept losgehen und der Stimme meines Herzens vertrauen. Hier war das göttliche Geheimnis mit im Spiel!

Überzeugt bin ich auch, dass meine Achtsamkeit durch die Tage davor gewachsen war. Der intensive Austausch in unserer Gruppe der Teilnehmenden an den Straßenexerzitien, das tägliche Feiern der Gottesdienste, das Singen, Beten, Schweigen und dem Geschehen hinter den Kulissen, d.h. die Begleitung durch die Verantwortlichen der Straßenexerzitien. Mein großes Danke an Renate, Franziska, Christian und Urban!! Und an St. Martin am Glockenbach mit seiner selbstverständlichen Gastfreundschaft. Die 10 Tage Straßenexerzitien in München waren ein Abenteuer für mich, das sich gelohnt hat. Sie haben mir in meiner Trauer geholfen.


Kontrolle loslassen – Eric Studt

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Im Sommer 2009 machte ich meine Jahresexerzitien in der WG Naunynstraße. Schon als ich zum ersten Mal in die Wohnung trat, fühlte ich mich durch die Gastfreundschaft der Gemeinschaftsmitglieder und durch die herzliche Atmosphäre sofort wie zu Hause. Die Geschichten und die Unterstützung der Gruppe halfen mir, meinen eigenen Weg in die Exerzitien zu finden.

Ich verbrachte fast meine ganze Exerzitienzeit im Treptower Park, auf der Abteibrücke, die die Freundschaftsinsel mit dem Park verbindet. Im Sommer ist dieser Ort wunderschön, auch durch die vielen unterschiedlichen Leute, die vorbeigehen, mal stehen bleiben und die Atmosphäre genießen. Diese Brücke wurde für mich zum Symbol der Versöhnung, im Sinne einer persönlichen und zwischenmenschlichen Einheit, die in meinem Leben fehlte. Aber wie kann man diese Versöhnung, diese Einheit schaffen, wenn die innere Spaltung und die Distanz zu anderen unüberbrückbar scheinen? Ich möchte anhand zweier kurzer Erlebnisse erzählen, wie es mir gelang, dieses Rätsel aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Eines Tages, als ich bei Sonnenuntergang auf der Brücke betete, kam ein Paar


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und saß neben mir. Ich erfuhr aus ihrem Gespräch, dass sie in den Park kamen, um sich mit Freunden zu treffen und um zu grillen. Doch schlugen alle ihre Versuche fehl, per Handy herauszufinden, wo genau diese Freunde im Park waren. Ich bemerkte auch, dass der Name des Freundes, mit dem sie in Kontakt treten wollten, Eric war. Die Situation hat mich so abgelenkt, dass ich aus meinem meditativen Zustand gerissen und geistig mitten in ihre Klärungsversuche hineingezogen wurde. In ihrer Frustration während dieser stundenlangen Geduldsprobe spiegelte sich mein eigenes Gefühl der Hilflosigkeit bezüglich meines Rätsels wider. Endlich kam eine Freundin und sie gingen zusammen zum Grillen. Als ich gerade dabei war, auch zu gehen, kam einer zurück und lud mich zum Grillen ein. Christian Herwartz hatte mir am Anfang der Exerzitien eingeschärft, dass ich solche Einladungen wahrnehmen solle. Ich ging mit ihm und hatte einen wunderbaren Abend mit ihnen zusammen. An diesem Abend bekam ich keine konkrete Antwort auf meine Frage, aber dieses Abendessen mit den unwahrscheinlichsten Leuten war ein Moment der Hoffnung und der Ermutigung. So einfach konnte man einen Moment des geglückten Zusammenseins, für mich ein Gefühl der Einheit, erleben.

Am gleichen Tag, Stunden früher, sah ich, wie zwei junge Männer von der Brücke sprangen. Ich war von dieser Tat stark beeindruckt. Die Brücke ist nicht sehr hoch, nur etwa zehn Meter, aber das Wasser ist auch nicht sehr tief. Ich sprach mit einem der Männer und er meinte, dass ich auch springen solle. Irgendwie wurde mir auch klar (ich weiß bis heute immer noch nicht wie), dass ich es auch tun sollte. Am nächsten Tag ging ich von der Naunynstraße zu Fuß zur Brücke. Ich brauchte das Doppelte an Zeit, weil ich so viel Angst vor meiner Entscheidung hatte. Als ich den höchsten Punkt der Brücke erreicht hatte, zog ich alles außer meinen Shorts aus und ließ alles an der Seite des Fußweges liegen. Ich kletterte über die Brüstung und nahm mir einen Moment Zeit zum Überlegen. Ein Passant schaute mich an, als ob ich mich umbringen wollte, was überhaupt nicht der Fall war. Die Brücke wurde für mich von einem Symbol der Einheit zu einem Symbol der Kontrolle: Wie kann ich meine Beziehungen und mich selbst kontrollieren? Ich musste mein Festhalten an dieser Kontrolle loslassen. Dann ließ ich die Brüstung los und sprang in die Spree. Kurz bevor mein Körper auf dem Wasser aufschlug, hatte ich mehr Angst als je zuvor und als mein Rücken auf dem Wasser landete, hatte ich unvorstellbare Schmerzen. Aber dann erkannte ich, dass alles okay und das Wasser erfrischend war.

Ich ziehe immer noch Einsichten und Trost aus meinem kurzen Aufenthalt. Ich erfuhr, dass die Arbeit an der Versöhnung mit anderen und ebenso die


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Arbeit an sich selbst, bis man mit sich im Einklang ist, mit viel Angst verbunden ist und sehr schmerzhaft sein kann. Aber sie ist auch befreiend. Ich weiß, dass mein Sprung von der Brücke unvernünftig war. Aber die Ängste, die mich von den anderen und von mir selbst trennen, sind ebenso unvernünftig.


Eine völlig andere Welt – Christine Klimann

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Als ich losfuhr, hatte ich keine Ahnung, was mich erwarten und was ich tun würde. Und dann kam ich an in der Naunynstraße und fand: Eine kleine schmuddelige Küche – ein Ort, an dem ich mich sofort wohlfühlte. Ein Wohnzimmer, in das schon mal auch 30 Leute hineinpassen – Ort des legendären, für alle offenen Samstagfrühstücks und des Kommunitätsabends. Eine WG ohne Koch-, Putz- und Spülplan. Gespräche über Gott und die Welt. Das Sieben-Bett-Männer-Schlafzimmer. Eine Eucharistiefeier, die meinen liturgischen Standards sicher nicht genügt – aber von welcher Feier könnte ich mit größerer Überzeugung sagen, dass wir direkt dran sind am Evangelium? Die beiden Zwei-Bett-Frauen-Schlafzimmer. Und viele, viele Gesichter, die mir ans Herz gewachsen sind. Franz, der 83-jährige Jesuitenbruder mit seinem unvergleichlichen Lächeln. Ramin aus Afghanistan, der von seiner Familie verfolgt wird, mit seiner stillen Herzlichkeit. Renate, die Zimmer, Lachen, Fragen und Sehnsucht mit mir geteilt hat und die mir zur Schwester geworden ist. Uli, ein liebenswerter Chaot, der nach einem Spaziergang mit mir weiß, was er will: Bahai werden. Jean aus Madagaskar, der viele Jahre auf der Straße gelebt hat und am ehesten nachts anzutreffen ist. Simona, die Piercings so liebt und deren Lachen mir immer noch im Ohr ist. Rainer, dessen Herz noch viel größer ist als sein Bauch. Am liebsten würde ich sie alle erwähnen, so sehr sind sie mir ans Herz gewachsen!

Wie wohl habe ich mich dort gefühlt, wie sehr wurde ich beschenkt und wie viel habe ich gelernt! Über Kontakt auf Augenhöhe und Autorität, über Konflikte und Friedensgruß, über offene Türen und die Notwendigkeit Grenzen zu ziehen, über das Teilen und das eigene Unvermögen, darüber, Gast zu sein und Gastfreundschaft zu schenken.

Tagsüber war ich viel unterwegs. Christian hatte mir von den Exerzitien auf der Straße erzählt. Vom brennenden Dornbusch und den heiligen Orten, die ich in Berlin finden könnte und in mir selbst. Wo würde ich meine Schuhe ausziehen? So lief ich die ersten Tage durch Berlin, diese faszinierende, geschichtsträchtige Stadt, lief zu Fuß und ohne Geld und ohne Essen. Dann ging


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ich in eine Suppenküche – nicht um zu helfen, sondern um mich mit den anderen anzustellen und um Essen zu bitten. Das war so ungewohnt, dass mir das Essen nicht schmeckte. Dann lief ich wieder, lief und lief und wusste nicht, ob ich dem Impuls trauen sollte, der da aus meinem Herz aufstieg: Geh betteln. Am dritten Tag dieser Überlegungen hatte ich mein Zaudern satt, packte Zeitungen und ein kleines Schüsselchen ein, ging zum Görlitzer Bahnhof und … setzte mich an das Fußende der Treppe, die zur Hochbahn hinaufführt.

Und nun saß ich dort fast zwei Wochen lang, mal hatte ich ein Schüsselchen, mal hielt ich die Hand auf und bettelte. Erstaunlicherweise ergaben sich viele Begegnungen. Menschen, die mir ansahen, dass ich nicht wie eine typische Bettlerin aussah und fragten, warum ich denn bettele. Meine stotternde Antwort lautete meist, dass ich die Welt aus dieser Perspektive kennen lernen wolle. Niemand war dabei, der mir das Übel nahm. Dann war da der betrunkene Punk, der minutenlang seine Taschen durchwühlte, bis er fand, was er suchte: Ein 1-Cent-Stück. „Da, ein Glückspfennig für dich!“ Oder die junge Frau, die sich zu mir setzte und von ihrer Not erzählte: Strich, Drogen, Freund im Knast, aber sie will doch ihrer Tochter eine gute Mutter sein. Und der Mann, der mich fragte, ob ich ihn so anlächelte, weil ich Geld von ihm wolle? Ehrlichen Herzens verneinte ich. Noch nie sei er auf der Straße so angelächelt worden und schon im Weggehen stellte er die Frage: „Sind Sie gläubig?“

Mein Platz war am Fußende der Treppe; der Halbstock war das Revier der Fahrkartenverkäufer, die den Leuten ihre alten und noch gültigen Tickets abschnorrten und für einen Euro weiterverkauften. Mehrere Tage wurde von mir keine Notiz genommen, dann aber, ganz langsam, entstand Kontakt. Ein „Hallo!“ in der Früh, immer wieder einmal ein kurzes Gespräch, einmal sogar ein spendierter Kaffee. Victor, der jeden Tag da steht, hat mir erzählt, dass er damit sehr gut verdient. Ob er sich davon etwas auf die Seite legen kann? „Was glaubst denn du – ich bin schwer drogenabhängig“, war seine Antwort. Eine für mich völlig andere Welt. Dieser Kontakt, der hier entstand – jenseits aller Rollen, die Solidarität (so weit es sie auf der Straße gibt) und ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl, die Aufrichtigkeit in den Gesprächen (was ist schräger: Sich für Pornohefte fotografieren zu lassen oder Ordensfrau zu sein?), viel Not und meine engen Grenzen, die Herzlichkeit beim Abschied – all das sind mir kostbare Erfahrungen.

Wenn ich auf der Straße saß, war ich unglaublich zufrieden. Mir war oft kalt und ich war hungrig, aber ein großer Frieden und eine Freude stiegen in mir auf. Viel, viel Wohlwollen den Menschen gegenüber, die da an mir vorbeiströmten, von denen die meisten mich nicht beachteten. Eine Meditation über


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das Aushalten und Sich-verletzlich-machen. Eine Ahnung von der Art der Gegenwart Gottes in unserem Leben. Schenken und Beschenkt werden.

Ich könnte noch viele Geschichten erzählen. Was aber diese Erfahrung in Berlin für mich bedeutet? Spätestens seit der Begegnung mit meinem „Ernstfall“ – Angie ist vermutlich so 20 und lebt seit vier Jahren vom „Schnorren“ – ist mir klar, dass mein Betteln eine „Luxus-Bettel-Erfahrung“ ist. Ich konnte jederzeit aussteigen, ich hatte ein warmes Bett und außerdem ein anderes Leben. Ob mich diese Erfahrung daher den wirklich armen Menschen näher gebracht hat, weiß ich nicht. Aber ich hoffe doch, dass ich sensibler, aufmerksamer geworden bin, suchend nach Gerechtigkeit und nach einer Art zu leben, die meiner Sehnsucht entspricht.


Straße und Kirche gehören zusammen – Hartmut Kreide

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Die Stadt Berlin ist mir recht gut bekannt – als Ausbildungsort vor vielen Jahren, heute als Wohn- und Dienstort. Damit waren Bedenken und Zweifel verbunden: Wird eine innere Sammlung hier bei den Exerzitien auf der Straße möglich sein, eine innere Stille? Christian sah meine Bedenken eher als Anlass, es unbedingt zu tun und meine Sorgen verschwanden mit der Begrüßung im Haus von St. Michael/Kreuzberg am Alfred-Döblin-Platz. Am Freitag nach dem Abendbrot neben der persönlichen Vorstellung auch persönliche Erwartungen. Christian hatte im Einladungsbrief angeregt, einen Gegenstand sprechen zu lassen, der die persönlichen Erwartungen verdeutlichen kann.

Ich reichte eine kleine griechische Ikone herum, die das Abendmahl darstellte. Für mich unbedingt auch das Bild für jede Gemeinschaft und für mich selbst: Habe ich JESUS eingeladen, nehme ich IHN wahr und wer bin ich in dieser Runde? Da sehe ich zuerst auch gern das, was mich abhebt und so grenze ich aus. JESU Antwort auf meine Frage – Bin ich‘s? – wird wohl kaum ausgrenzen. Ich bin gespannt und voller Erwartungen. Sicher bin ich: Es wird gut werden.

Zwei Fragen gab es mit auf die ersten Wege, auf die Ankommstrecke: Worüber ärgerst du dich immer wieder? Worüber wirst du regelmäßig traurig? Die Zeit zum Ankommen ist sehr wichtig, denn es darf noch dies oder jenes angesehen werden, wenn ich schon mal in Berlin bin. Es kann auch noch Vergessenes per Telefon oder auf anderem Weg geregelt werden. Dann bin ich innerlich auch frei zum Hören auf die Stille, auf den Ruf aus dem brennenden Dornbusch.


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Ich fuhr schnell nach Hause (einige Stunden später wird mir schon deutlich werden: „Schnell mal“, muss nicht sein): Frau, Tochter und Enkeltochter bekamen eine Rose, einige Worte und nach 15 Minuten ging ich zur U-Bahn. In der U-Bahn kaufte ich Frank eine Obdachlosen-Zeitung ab – wir kennen uns, weil auch er kein Auto hat – und fuhr nach Tegel. Der Friedhof der Russischen Orthodoxen Gemeinde mit der Kirche der hll. Konstantin und Helena ist mir ein bekannter Ort. Friedhöfe sind neben Oasen der Stille auch Orte der Auferstehungshoffnung. In der Kirche war nun Zeit und Stille. Ich brauchte nicht „schnell mal“ Kerzen anzünden. Weder Priester noch Kirchendiener erwarteten von mir straffe Zeitplanung. Also Stille, Ruhe, Gebete und Kerzen für CHRISTUS, die Gottesmutter, den hl. Seraphim, für die in Moskau ermordeten Pater Victor Betancourt-Ruiz SJ und Otto Messmer SJ sowie für Vater Alexander Men. Hier ist heiliger Ort, hier ist im Grunde die Erfüllung der Worte Vater Alexanders geheiligt: „Für mich sind alle Menschen GOTTes Kinder.“

Wären nicht der Priester und der Kirchendiener hier: Es ware an der Zeit und dem Ort, die Schuhe auszuziehen. Tu ich es also innerlich: Die Schuhe der Ausgrenzung,des Rechthabens, der eifernden Rechtgläubigkeit, auch der Resignation … Im Tausch: Die Hoffnung der Auferstehung!

Nach meditativen Gedanken an diesem und für diesen Ort will ich mich nun auf den Weg machen. Im Gehen taucht das mir vertraute JESUS-Gebet auf. Christian wird in den nächsten Tagen noch häufig auf das Geführt-Sein hinweisen.

Am Sonntag läuteten die ersten Glocken, als ich die Straße betrat. Ich ging zu Fuß, denn die Stille war wohltuend. Das JESUS-Gebet war wieder da und ich dachte an die Stranniks, diese russischen Pilger und Wahrheitssucher. Der hl. Ignatius ging sehr weite Wege zu Fuß – unterwegs mit JESUS. In der Marienkirche wurde Frederik getauft und seine Großmutter war aus St. Petersburg gekommen. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“, war der Impuls für die Predigt. Und Pfarrer Führer wurde erwähnt, der 1989 im Zusammenhang mit den Leipziger Demonstrationen sagte: „Straße und Kirche gehören zusammen.“

Wie fügt sich das alles wieder, dachte ich. Und ich erinnere mich auch an den 1.000-Kreuze-Marsch für das Leben, der im September hier bei der Kirche begann. Und ich hörte Menschen einer Gegen-Demo schreien:

„Hätt‘ Maria abgetrieben,

wärt ihr uns erspart geblieben!“

Jeden Abend erzählten wir uns unsere Begegnungen, auch tiefere Gedanken und persönliche Betroffenheiten und Erschütterungen.


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Am Montag dann früh der besondere Impulstext: Der brennende Dornbusch, der nicht verbrennt und GOTTes Ruf an Mose (2. Mose 3). Mit dem heutigen Impulstext ausgerüstet im tieferen Sinn, gingen wir nun hinaus auf unsere persönlichen Wege.

Mit U-Bahn, S-Bahn und zu Fuß erreichte ich die Gedächtniskirche vom Karmelitinnen-Kloster Maria Regina Martyrum. Dann suchte ich das Gemeindezentrum Plötzensee auf und nach einer Zeit des Verweilens führte mich ein Weg zur Hinrichtungsstätte. Unweigerlich kam es zu einer Betrachtung des Todes – auch meiner Endlichkeit im besonderen und übertragenen Sinne.

Ich sehe Pater Delp an dieser grauenhaften Stätte am 2. Februar 1945, 15.23 Uhr – perfekte Dokumentation – hingerichtet, oben die Eisenträger, die Haken, unten der Fußboden eigentümlich gefärbt …, ich ziehe die Schuhe aus … eine Stimme …, jedenfalls murre ich heute noch, hege heute noch „Zorn gegen Unbekannt“ wegen der unterdrückten Bildungsmöglichkeiten als christliche Lehrerfamilie in der DDR. Pater Delp SJ und viele Märtyrer beendeten hier ihr Leben – sie waren, sie sind geführt. Und ich in meiner noch aktuellen Wut bin doch auch geführt.

Ich denke auch an Dietrich Bonhoeffer: Am 9. April 1945 hingerichtet. Fünf Jahre später – es ist ein Ostermorgen – komme ich auf die Welt. Jetzt scheint draußen die Sonne, ich setze mich auf eine Bank und sitze zwischen Gefängnismauern. Welche sind es für mich?!

Am nächsten Tag: Morgens wieder zu Fuß, das Kreuz weit sichtbar über unserer Stadt. Der Fernsehturm verdeckt je nach Sichtweise die Marienkirche. Unbeabsichtigt ist das Kreuz jetzt besser sichtbar! Bald stehe ich vor der St. Hedwigs-Kathedrale und bin beim Grab des seligen Bernhard Lichtenberg. Ein mutiger Prediger gegen die Euthanasie-Aktionen. Ich bin wohl sehr lange hier unten – jedenfalls ruft der diensthabende Küster, ob alles in Ordnung sei. Lebensrecht und Euthanasie sind wieder aktuelle Themen. Auf dem Platz vor der Kathedrale wurde während des 1.000-Kreuze-Marsches eine Heilige Schrift angezündet und in der Kathedrale fand der Abschluss-Gottesdienst statt.

Nachher sitze ich mit einem Bettler auf einer Bank (heute ist der zweite der beiden sonnigen Tage – äußerlich) und wir werden belächelt. Er lacht, als ich sage: „Die meinen uns beide“ – und mir fällt die schöne Bezeichnung aus dem Buch „Aufrichtige Erzählung eines russischen Pilgers“ für Bettler ein: Christi Brüderschaft.

Mit jeder abendlichen Tagesauswertung wird mir deutlicher, was es bedeuten kann, geführt zu werden. Auch hat jeder Ort, zu dem ich gelange, etwas mit mir zu tun.


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Am nächsten Tage fahre ich sehr umständlich nach Lichtenberg und laufe dann zum Krankenhaus und finde das damalige Kinder-Krankenhaus. Damals, am 26. Oktober 1950, erhielt ich hier die Not-Taufe, weil ich schwer erkrankt war. Heute fiel mir der Text ein, der Taufspruch aus der Losung der Herrenhuter Brüdergemeinde: „Der HERR ist bei dir, dass du dich vor keinem Unheil mehr fürchten musst.“ (Zephanja 3,15) und aus dem Neuen Testament „Nun aber ist CHRISTUS auferstanden von den Toten und der Erstling geworden unter denen, die da schlafen“ (1. Kor. 15,20). Lange konnte ich auf dem Rückweg nachsinnen, wie deutlich oft Führung war und ist.

In Kreuzberg suchte ich eine Moschee auf und verspürte deutlich: Wenn hier ein persönlicher Dornbusch steht, so spricht aus ihm die Stimme: „ICH bin auch hier, wenn du MICH hier suchst“ – mir kommt in den Sinn: Wie herrlich, wie groß ist GOTT und wir alle sind des EINEN Kinder.

Schuhe ausziehen? – Ja, gewiss und nicht nur wegen der Moschee. Für mich können es die Schuhe falsch verstandener Rechtgläubigkeit sein. Im übertragenen Sinne auch in Alltagsdingen und auch im Sinne einer Recht-Gläubigkeit. Fehlende Geisteshaltung kann mit Rechtsvorschriften etikettiert werden – da möchte ich auch wachsam sein.

Ein Besuch im Anne-Frank-Haus zeigte mir auch eine (noch) Verständnisgrenze und vielleicht geht es gar nicht um das Verstehen, sondern um das Annehmen göttlicher Wahrheit: Auch Anne Frank ist geführt worden – durch Freude, Glück, viel Elend und viel Leid zum frühen Tod.

Am Ende unserer gemeinsamen Exerzitien stellten sich mir noch drei sehr beeindruckende Ereignisse dar – Ereignisse im tiefsten Sinne: Freitag die Fußwaschung, Samstag der Emmaus-Weg und Sonntag der Gottesdienst mit der Gemeinde.

Auf dem Emmaus-Weg tauschten Christian und Andreas ihre Eindrücke der letzten Tage aus und forderten uns dann auf, besser luden uns ein, mit ihnen zu gehen und unsererseits zu erzählen, was uns anrührte, berührte. Die Fußwaschung in dieser Form war sehr beeindruckend und für die Gemeinschaft aller Weggefährten auch wichtiger Meilenstein auf dem Unterwegs-Sein.

Am Anfang hatte ich die Abendmahls-Ikone als Bild einer heilen Gemeinschaft im ganz weiten Sinne. Meine Grenzen, mein Abgrenzen wurde mir gezeigt und deutlich das Geführt-Sein. Bei jeder abendlichen Gesprächsrunde wurde mir deutlich: Es gab keine katholischen Begegnungen, keine evangelischen Eindrücke – aber immer auch in Berlin das Unterwegs-Sein mit JESUS.


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Die Exerzitien auf der Straße gehen weiter als Impuls mit vielen persönlichen Eindrücken und Erinnerungen.

Einige Tage später besuchte ich einen Mitbruder, der als Heimleiter in Lobetal tätig war und nun im Krankenhaus lag. „Behütet – wie auch immer“, war sein Abschiedsgruß nach der Besuchszeit. Krankenhaus als der Ort der Heilung und Heiligung. Beim Montagbesuch bei meiner Mutter im Pflegeheim hörte ich vom Pflegenotstand in Brandenburg und verspürte auch seine Auswirkung. Ein persönlicher Dornbusch für die hier tätigen Schwestern und Pfleger. Aber auch für die Menschen, die hier leben. Gelassenheit, Zeit für ein Gespräch mit den zu betreuenden Menschen – die Schuhe „schnell mal“ ausziehen(!) – Zeit zu haben, ist auch schwierig in alltäglicher Zeitplanung. Ein Impuls ist aber da, der deutlich gleich zu Beginn in der Kirche der hll. Konstantin und Helena mir sagte: Du hast alle Zeit der Welt – im Hinblick auf die Ewigkeit.

Nun, und vielleicht ist die Straße ohnehin ein Stück Zukunft unserer Kirche. Die Apostel predigten häufig auf den Straßen und Plätzen, auch der hl. Ignatius tat das mit seinen Gefährten.

Unterwegs mit JESUS in der großen, lauten, unruhigen Stadt – das geht. Dank IHM.

JESU, geh voran

auf der Lebensbahn!

Und wir wollen nicht verweilen,

Dir getreulich nachzueilen;

führ uns an der Hand

bis ins Vaterland.

Nikolaus Ludwig von Zinzendorf


Schwellenerfahrungen – Jutta

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2004 – Exerzitien auf der Straße, Nürnberg

Ich bin die Erste, die anreist. – Da ist schon eine gewisse Schwellenangst vor dem, was mich erwartet, wenn ich anfange, mich auf Gott in ganz anderen Räumen einzulassen als gewohnt. Ein Einzelzimmer gibt es. Ich lege schon mal meinen Rucksack dorthin und denke: Da hast du wenigstens einen Rückzugsort, wenn dir die Gruppe zu viel wird. Dann kommt B. Sie leidet unter Schlafstörungen und wird wohl herumgeistern in der Nacht. Da wechsle ich dann doch ins Vierer-Zimmer. Schon am zweiten Tag merke ich erstaunt:


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Ich fühle mich richtig wohl. Mein Bett ist Rückzugs- und Schweigeraum, der respektiert wird – das genügt.

2005 – Exerzitien auf der Straße, Berlin

Mein Übungsweg führt im Laufe der 10 Tage irgendwann direkt in die Naunynstraße. Ich spüre: Mit der Entscheidung, diese Schwelle zu überschreiten, hat ein neuer, unumkehrbarer Weg begonnen, aber ich habe keine Ahnung, wohin mich das führt. Nach einer Stunde des darauf Zugehens stehe ich am frühen Nachmittag an der Haustür. Ich werde eingelassen, in die Küche eingeladen, kann Platz nehmen am Tisch. Der junge Afrikaner hat das ihm mögliche getan, er widmet sich wieder seinem Handy. Wir schweigen. Ich schaue mich um und warte. Noch könnte ich einfach wieder gehen. Eine Umgangsregel für Ordensinteressenten fällt mir ein: Man sollte es dem, der eintreten will, nicht zu einfach machen. Ich bleibe!

Eine Viertelstunde später kommt ein älterer Mann in die Küche. Er räumt die rote Pennytüte aus, sortiert die Milch in den Kühlschrank. Dann bemerkt er mich. Ich stelle mich vor als eine von den Exerzitienleuten. Franz überlegt: Er müsse noch mal weg, Brot holen – ob ich die Wohnung sehen will? Gern, wenn er sich die Zeit dafür nehmen kann. Franz zeigt mir die Räume, macht nicht viele Worte. Ich kann im Wohnzimmer warten. Bald taucht Christian auf und bei einer Tasse Kaffee reden wir, was in den Exerzitien sich gerade als Frage zeigt: Leben in Gemeinschaft, neu ein Thema für mich eingefleischten Single? Ich komme am Samstag wieder.

Beim Frühstück gegen zehn Uhr: Der große Tisch, noch ist Platz. Intuitiv setzte ich mich in die Nähe von Franz. Da fühle ich mich irgendwie sicher. Es entwickelt sich ein engagiertes Gespräch, ich werde zum Erzählen eingeladen. Dann ein heftiger Streit, einer verlässt wütend seinen Platz. Selbst Konflikte, die ich nur mitbekomme, ängstigen mich schon. Aber ich merke, dass die hier am Tisch damit umgehen können. Ich steige innerlich also nicht aus, sondern bleibe da. Franz bleibt ja auch ruhig und „nur“ einfach da.

2006 – Dreißig Tage in der Naunyn: Tisch und Schwelle – Heiliger Boden

Ich schlafe im Stockbett mit C. im Zimmer. Rücksicht und Achtsamkeit sind gefragt. Das fällt mir nicht schwer. Aber das turbulente Leben in der Naunyn ist anstrengend. Trotzdem genieße ich es mehr, als ich gedacht hätte. Mir wird in diesen vier Wochen unendlich viel geschenkt, was mich wachsen lässt – langsam: Abbau von Ängsten vor Menschen, die von einem anderen Leben als meines geprägt, manchmal auch gezeichnet sind. Beziehung, Nähe, ja Freundschaft mit Menschen und deren Themen und Fragen, die in meinem


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Mittendrin viel ansteckende Freude aneinander. Wir sind fünf Frauen in dieser Zeit, an manchen Tagen kommen weitere dazu, was Franz einmal trocken-humorvoll kommentiert: Er sei doch da mal in einen Männerorden eingetreten … Schneller als ich dachte, bin ich zu einem Teil der Naunyn geworden und in der Phase des Abschieds stelle ich fest: Die Naunyn ist auch ein Teil von mir geworden. Als ich eine Zeit ganz alleine in der Wohnung bin, gehe ich noch einmal durch die Zimmer. Jeder Raum steht für eine Lebenserfahrung, jeder äußere Ort für einen inneren, den es auch in mir gibt. Am kostbarsten, ja heilig, ist mir neben dem Tisch die abgetretene Schwelle der Wohnungstür geworden, durch die Straße und Tisch verbunden und füreinander durchlässig sind.

2010 – Immer wieder „auf der Schwelle“

Inzwischen liegen ein Sabbat-Orientierungsjahr, der Tod meiner Mutter und ein Stellenwechsel hinter mir. Zurück im „pastoralen Dienst“ bin ich unterwegs von Dorf zu Dorf in den strukturell immer größer werdenden Seelsorgeräumen. Das mich Hineintasten in die Lebens -und Glaubensgeschichten der Leute auf dem Land löst viele Fragen aus. Viele Kräfte ziehen und reißen an den einstmals stabilen, heimatstiftenden, aber auch oft starren dörflichen Gefügen und Traditionen. Ich erlebe tragfähige Solidarität und geerdete Frömmigkeit, aber auch soziale, geistige und religiöse Enge, bisweilen brutale Ausgrenzung und Kontrolle und dazwischen existentiell suchende, fragende, experimentierbereite Menschen. Das Zusammenspiel mit überwiegend indischen Priestern in meiner Gegend ist spannend und macht mir Freude. Bei genauerem Hinsehen sind alle globalen Herausforderungen bis ins kleinste Dorf spürbar. Kirche aber scheint, was die Verteilung der Kräfte angeht, mit der internen Rettung ihrer klerikal-hierarchischen Struktur vollauf beschäftigt zu sein. Gott sei Dank gab und gibt es für mich immer mal wieder die


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Kontakte mit der Naunyn – direkt oder bei Begegnungen rund um die Exerzitien auf der Straße: Sie helfen mir, nicht zu vergessen, was da an neuer Freiheit, Verfügbarkeit und sorgloser Gelassenheit in mir gewachsen ist, seit ich mich „über die Schwelle“ getraut habe und eingetreten bin. Eingetreten? In eine Gemeinschaft? Ja, in eine, die ich suche, finde, gestalte, verliere, neu suche in der Sehnsucht nach der „Gesellschaft Jesu“. Sie folgt keiner speziellen Regel, braucht keine bestimmte Hierarchie. Diese Gemeinschaft ist eine, die ich entdecke oder die sich bildet an Tischen oder auf der Straße. Sie lässt sich weder definieren noch festhalten. Aber sie kennt bevorzugte Orte: Wo Leben und Lebensnot geteilt und geheilt wird und wo in Worten und Gesten „gesät“ wird, was Jesus in der Bergpredigt als Willen Gottes zeigt. Mal zählt meine Gemeinschaft zwei oder drei, mal viele. Mal bin ich Gast, mal Gastgeberin, mal Weggefährtin, mal Geführte und Begleitete.

Vielleicht gehört das ja zu meinem Auftrag in der Kirche: Schwellenfrau sein und mitsorgen, dass es immer eine lebendige Verbindung und Austausch gibt zwischen den Plätzen am Tisch drinnen (Kirche als Herberge und Erzählgemeinschaft) und der Straße draußen (Kirche unterwegs auf den heutigen Wüstenwegen mit und zu den Menschen) – in mir selber und dort, wo ich lebe und arbeite. Open end!


Menschen am Rande bekehrten mich – Andreas Fisch

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Als Christian mich um einen Beitrag für dieses Buch anfragte, schickte ich ihm zunächst einige theologische Reflexionen. Er fragte, ob ich „als guter Erzähler“ nicht auch von meinen Erfahrungen erzählen mag. Ich bin dieser Bitte nachgekommen, obwohl mir eigene und anderer Leute persönliche Erfahrungen immer sehr heilig sind und ich intuitiv vor dem Aufschreiben zurückscheue. Solche Erfahrungen gehören für mich angemessen in ein vertrauensvolles Gespräch mit Menschen, denen ich in die Augen schauen kann. Sie sind mir heilig und manchmal wirken religiöse Erlebnisse, wenn ich sie in Worten fixiere, banaler als ich sie erlebt habe. Bisweilen habe ich den Eindruck, sie müssten auch vor antireligiösen und religiös unmusikalischen Banausen geschützt werden. Ich wage es dennoch auf Christians Bitte hin, zwei Glaubenserfahrungen hier schriftlich mitzuteilen. Im Erzählen rede ich meistens unwillkürlich leise oder bin wieder neu ergriffen, als vergegenwärtige das Erzählen die eigentliche Begegnung. So war dies auch beim Schreiben dieser Zeilen.


90 Wie mir die Familie dos Santos ganz nebenbei die politische Dimension des Evangeliums erschloss und mir damit meinen Glauben rettete …

Bevor ich zu meinen Erfahrungen als Missionar auf Zeit (MaZ) bei Pallottinern in Codó, einem (damals) kleinen Städtchen im Nordosten Brasiliens komme, muss ich erzählen, wie ich vorher mit meinem Glauben an Gott haderte. Schon in meiner Jugend habe ich den Glauben sehr ernst genommen und täglich gebetet. Die Bibel habe ich bestimmt mehr als einmal komplett von vorne bis hinten gelesen. Stets bemühte ich mich, meinen Glauben in die Tat umzusetzen. Als Jugendlicher, der bei seinen Eltern lebt, drehte sich dies um so Dinge wie: Den Eltern gehorchen, allem Spott zum Trotz die Heilige Messe feiern, ohne Widerworte den Müll heraustragen, sich nach einem Streit mit Freunden wieder versöhnen und die Nachbarn freundlich grüßen. Ich nahm all dies so ernst wie ein pubertärer Jugendlicher, der etwas Göttliches gespürt hat, dieser Spur nur folgen kann.

Doch stand mein Glauben plötzlich auf der Kippe. Mit einem Mal kam mir alles so belanglos vor. Die hochtrabenden Worte von Christi Tod und Auferstehung sollten dazu dienen, dass ich heute meinen Nachbarn grüße und widerspruchslos den Müll heraustrage?! Es war so bieder, so bürgerlich im schlechtesten Sinn des Wortes, ein funktionaler Gott für bürgerliche Werte, für brave Kinder und Alltagskleinklein. All dies deckte sich nicht mit den Erfahrungen der Heiligen Schrift und dem Leben von mir heiligen Menschen. Ich war maßlos enttäuscht, das Projekt ‚Glaube’ schien es nicht wert zu sein, dass ich weiter Energie und Seele hinein investierte. Heute im Rückblick spüre ich die Leere noch deutlich, denn es fiel das aus meinem Leben heraus, was ihm zuvor einen festen Halt und eine Fülle an Lebenssinn gegeben hatte. Eine schmerzliche Leerstelle klaffte wie eine Wunde auf. Ich kann nicht genau rekonstruieren, warum ich überhaupt Gott treu geblieben bin. Ich vermute, die vielen guten und intensiven Erfahrungen all die Jahre zuvor ließen sich nicht einfach so ausbrechen: Im Gebet und ganz konkret in der guten Jugendarbeit in meiner Heimatgemeinde St. Pius in Bad Neuenahr-Ahrweiler – vieles, für das ich noch heute froh und dankbar bin. Aber die Sehnsucht nach einem größeren Gott als dem, wie ich ihn mir zusammengeschustert hatte oder ihn vorgesetzt bekommen hatte, blieb lange Zeit unausgefüllt …

Das änderte sich während eines Aufenthalts als Missionar auf Zeit (MaZ). Das ist ein Programm von religiösen Gemeinschaften, um Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Aufenthalt im Ausland zu ermöglichen; meist in sogenannten Dritte-Welt-Ländern ist dies eine Einladung, Leben und Arbeit der Menschen dort zu teilen. In St. Pius gab es bereits Jugendliche, die in unserer


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Partnergemeinde Esperantina, einem Städtchen im Nordosten Brasiliens, gewesen waren. Stephan, einer von ihnen, hatte mich durch einen Diavortrag zum ersten Mal neugierig auf dieses faszinierende Land gemacht. Über sieben Jahre träumte ich diesen Traum und lernte sicherheitshalber schon mal brasilianisches Portugiesisch, mit einem Eifer, den sich meine Sprachlehrer in der Schule vergeblich gewünscht hatten. In dieser Zeit machte ich Abitur, Zivildienst, eine Lehre als Tischler und begann das Studium in Katholischer Theologie in Münster. Kurz vor dem Vordiplom dann traf es mich, dass ich meinte, wenn ich jetzt nicht nach Brasilien führe, dann steckte ich womöglich im Berufsleben fest und würde mich nie mehr trauen. Esperantina aufzusuchen war zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht möglich, da sich der Padre dort mangels Alternative als Bürgermeister aufstellen lassen wollte. Alle freundlichen Angebote (USA und Australien) schlug ich aus – Brasilien und sein Nordosten mussten es schon sein. Dann teilte mir ein befreundeter Pallottiner aus dem Haus Wasserburg mit, er hätte erfahren, dass von den (damaligen) Süd-Pallottinern ein Pater und Tischler Wolfgang nach Brasilien fahren würde. Die Türen öffneten sich ganz schnell und gerade rechtzeitig: „Einen Freiwilligen ins Haus einladen, das wollten wir schon immer mal machen!“ Ich war herzlich willkommen und Erfahrungen warteten auf mich, die meinen Glauben und mein Leben tiefgreifend verändern sollten.

Zuvor war ich an Politik völlig uninteressiert gewesen, egal ob in Deutschland oder weltweit. Ein Wunder, dass ich den Mauerfall und die friedliche Revolution bemerkt habe. Mein Glaube war fern solcher Dimensionen, eher interessierten mich in meiner „fundamentalistisch-christlichen Pubertät“ Zungenrede und außergewöhnliche Charismen. Natürlich habe ich fair eingekauft und den Geschehnissen in unserer Partnergemeinde Esperantina gelauscht, aber darin erschöpfte sich dieses Interesse dann doch. In Codó erlebte ich einen Kulturschock, als ich die Armut und die widrigen politischen Verhältnisse mit eigenen Augen und Ohren sah. Padre José und viele andere Menschen aus Codó standen mir als wunderbare Begleiter bei diesen neuen Erfahrungen zur Seite. Menschen, die in Lehmhütten lebten, die ein einziges gutes Ausgeh-Kleidungsstück besitzen, die hungrig an der Tür betteln und sich gierig auf die angebotene Mahlzeit stürzen. Richtig hin eingenommen wurde ich in diese so ganz andere Welt zum Beispiel durch die Freundschaft mit der Familie dos Santos. Sie luden mich in der Stadt zum Essen ein. Oder die Familie Almeidos lud mich ein, eine Woche im Landesinneren (Interior), abgeschnitten vom Stadtleben, mitzuleben. Viele andere liebe Menschen müsste ich an dieser Stelle nennen. Die Einladung zum Essen hat mich in diesen neuen Erfahrungen bekehrt, denn hier betraf die Armut nicht mehr


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die „ach so armen Menschen in der Dritten Welt“, sondern meine Freunde. Und mich betraf die Armut genauso, denn eine Woche im Interior oder Zuhause, da interessiert es plötzlich, ob die Familie einen Wasserfilter besitzt oder ob das angebotene Trinkwasser von Lamblien und Amöben wimmelt; beides habe ich mir eingefangen. Die Bekehrung fand nicht mit großartigen Predigten oder klugen Vorträgen statt, sondern durch das Mitleben, dem Teilen von Erfahrungen und durch den Aufbau von Freundschaften.

Darum ist mir eine Erzählung ganz wichtig geworden, in der gefragt wird, was es für uns im reichen Westen bedeutet, dass Jesus sich den Armen und Randständigen zugewandt hat und sich von ihnen zum Essen hat einladen lassen. Die europäisch-westliche Antwort könnte lauten: Spenden und Einkaufen auf einem wohltätigen Basar. Die gefragten Tansanier sagten jedoch, darum müssten auch wir mit den Armen und Randständigen befreundet sein und uns von ihnen zum Essen einladen lassen.

Meine Erfahrungen waren nachhaltig! Durch Demonstrationen für Menschenrechte, deren Demonstrant(inn)en zugleich und völlig selbstverständlich an einer Station den Rosenkranz beteten, verbanden sich Mystik und Politik, Aktion und Kontemplation, Glaube und Engagement – die Leerstelle in meinem Glauben wurde ausgefüllt. Auf einmal gingen mir die Augen auf, dass Gott es durchaus wertschätzt, wenn ich meine Nachbarn grüße, aber sein Traum von einer gerechten Welt, die seinen Namen heilig hält, ist viel größer als meine kleinbürgerliche Welt es gewesen war. Sie umspannt alle Menschen und die ganze Welt! Hier war ein Projekt, das ich alleine nicht stemmen konnte, ich war auf Mitstreiter und auf die Gemeinschaft der Kirche angewiesen. Das war ein Projekt, das eines Gottes würdig ist, da wurden Leben, Tod und Auferstehung wieder lebendig und machten Sinn. All diese Erfahrungen führten dazu, dass ich Wirtschaft (und Volkswirtschaftslehre als Studienfach) entdeckte und mich vorsichtig mit dem Probeabo einer großen Tageszeitung an die Politik heranpirschte, um später zu Kampagnen und Arbeitskreisen zu finden. Als ich anschließend über Verschuldung von Entwicklungsländern forschte und mich in der Schuldenerlassjahr-Kampagne einsetzte, hatte ich „meine Familien“ vor Augen, so als würde ich für sie forschen und für ihren Schuldenerlass Öffentlichkeitsarbeit machen. Irgendwie führte dieser Weg direkt zu meiner jetzigen Tätigkeit als Referent für Wirtschaftsethik an der Kommende Dortmund, dem Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn. Ohne diese Begegnungen und diese Bekehrung wäre mein (Glaubens-)Leben wohl anders verlaufen.


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Wie mir die Begegnung mit einem Arbeitslosen meinen eigenen Leistungsdruck offenbarte und mich von falschen Gottesbildern befreite …

Die Begegnung mit einem Arbeitslosen wurde mir sehr wichtig, seinen Namen habe ich leider wieder vergessen, die Begegnung nie. Es war in Berlin-Kreuzberg, während meiner Straßenexerzitien. Es war ein harmloses Gespräch und doch stülpte sich in der Begegnung mit ihm ganz Entscheidendes von innen nach außen. Er erzählte von seiner Arbeitslosigkeit, von vergeblichen Versuchen und von der einkehrenden Antriebslosigkeit. Im Hören auf seine Geschichte nahm ich meine Abneigung wahr gegen so jemand „Unproduktiven“, jemanden, der (scheinbar) so wenig aus seinem Leben machte, Gaben brachliegen ließ und Zeit zwecklos verpulverte. Zugleich wusste ich im Kopf, aber nicht im Herzen, dass Gott diesen Menschen liebt, ganz so wie er ist, ohne Vorbedingungen. Ich merkte meinen Widerständen bei dieser Begegnung an, dass ich selber kaum an diesen menschenfreundlichen Gott glaubte, wenn ich es nicht hier konkret gegenüber diesem Arbeitslosen fühlte und leben könnte.

Das war der Kern, denn auch mich selber setze ich oft unter Leistungsdruck und bin schnell in Gefahr, mich nach Leistung und Erfolg Wert zu schätzen und erst dann die Wertschätzung Anderer zu glauben. Oder noch zerstörerischer: Auch wenn etwas gut gelang, konnte ich alles sogleich klein reden, als würde nichts wirklich genügen, als würde ich nie wirklich genügen und als dürfte ich niemals zufrieden sein. Meine spontane Abneigung gegen diesen Menschen, gegen sein Leben als Arbeitsloser, das war mein eigener Leistungsdruck, eng verschlungen mit meinem eigenen Selbstwertgefühl. Ich mag nicht spekulieren, welche Erfahrungen der Kindheit solche Einstellungen geformt haben oder was in der gegenwärtigen Arbeitssituation und Gesellschaft immer noch einen starken Zwang ausübt: Innere, eigene Antreiber, die einen nie zur Ruhe kommen lassen, die immer nur Leistung, Leistung, Leistung schreien, koste es, was es wolle. Hier lag der Kern, warum ich in der Begegnung mit diesem Mann ohne Erwerbsarbeit so viele innere Widerstände spürte, ich projizierte meine inneren Verwicklungen auf ihn.

Es war spürbar: Solange ich mich nicht annehme, kann ich ihn nicht annehmen. Und wenn ich ihn annehme und wertschätze, verändere ich zwangsläufig meine mich knechtenden Leistungsmaßstäbe. Was sich sonst nur schwer greifbar in inneren Konflikten abspielt, das bekam in dieser Begegnung Gestalt und ein Gegenüber. Ich konnte ihn fair behandeln, selbst wenn sich darin noch nicht meine Einstellung von Grund auf geändert hatte. Ich konnte ihn wertschätzen und damit mein inneres Gefängnis verlassen, selbst


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wenn der Sog stark blieb, wieder dort einzuziehen. In der Begegnung mit ihm konnte ich neue, greifbare Erfahrungen machen, um alte, knechtende Verhaltensmuster abzulegen.

So wie diese Begegnung vom Äußerlichen zu diesen inneren Auseinandersetzungen führte, so lockte sie auch ins Transzendente, zu Gott. Denn dieses Leistungsdenken verdrängt einen Gott, der mich zwar herausfordert, aber mich immer anerkennt, nicht nur nach Einsatz und Erfolg. So erkannte ich in dieser so alltäglichen Begegnung, dass ich den wahren, uns zugewandten Gott entweder verdrängte und an seine Stelle die falschen Götzen des Leistungsgedankens gesetzt hatte. Das Schlimmste, ja Blasphemische wäre, wenn ich Gott selber mit diesen Götzen identifizierte und an ein Gottesbild glauben würde, das religiöse Leistung, ethische Pflichten und 120 prozentige Erfüllung meiner Berufung fordern würde und Liebe nur als Belohnung dafür zu vergeben hätte. Dann würde ich mich von dem zärtlich und bedingungslos liebenden Gott abwenden, weg von dem Gott der (manchmal) das Gute im Scheitern erkennen lässt und auch krumme Wege mitgeht, der Herr, der will, dass die Menschen wirklich ausruhen und ausgelassen feiern. Und so drängte sich mir immer dringlicher eine Frage auf, als würde sie mir Gott persönlich stellen: „Glaubst Du wirklich, dass ich Dich liebe wie Du bist? Glaubst Du tatsächlich, dass ich Dich vor allem anderen annehme wie Du bist?“ Die Frage bewegt mich immer wieder und dann rufe ich mir stets dieses Gespräch ins Gedächtnis und begreife, was mir diese Begegnung in Kreuzberg Gutes getan hat.

Meinen Erfahrungen gehe ich weiter nach in „Die Armen als Sakrament: In ,Statuslosen‘ Christi Antlitz erkennen“ (A. Fisch, Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität, Berlin 2007, S. 160-185) und „Die Armen als Sakrament der Präsenz Christi: Zum befreienden Potenzial der Begegnung mit ihnen“ (Theologisch-praktische Quartalsschrift 4/2009, S. 407-415).


Exerzitien im Frauengefängnis – Benedicta Ewald

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Schwäbisch Gmünd, ein Städtchen am Rande der Ostalb in Baden-Württemberg, birgt zwei Klöster, in denen Frauen leben. Das eine Kloster trägt den Namen „Gotteszell“ und ist seit 200 Jahren Justizvollzugsanstalt (JVA) für Frauen in einem geschichtsträchtigen ehemaligen Dominikanerinnenkloster. Im anderen, einem zur Jahrtausendwende gebauten neuen Kloster, leben Franziskanerinnen der ewigen Anbetung. Beide Klöster liegen am Ran-


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de der Stadt, Gotteszell im Nordwesten und das der Franziskanerinnen im Südwesten.

2007 traf sich die Klostergemeinschaft eine Woche lang zu Beratungen mit Blick auf die Zukunft. Nach einem intensiven Erneuerungsprozess, der 1989 begonnen hatte und 1997 zur Abgabe der klostereigenen Werke in der Jugend- und Altenhilfe führte, wie auch zum Umzug in das neue Kloster im Jahr 2000, wurde uns zunehmend bewusst, dass wir uns in dem neuen Gebäude nicht fest machen dürfen, sondern unsere Schritte wieder nach außen lenken müssen. Eine Präsenz in der Stadt bzw. ihrer Umgebung war im Gespräch. Sie sollte uns wieder näher zu den Menschen und ihrem Leben führen. Ein weiterer Gedanke war die Kontaktaufnahme zu Frauen der JVA Gotteszell. Wir wollten damit eine Brücke von ‚Kloster‘ zu Kloster bauen. Bei unseren Überlegungen versuchten wir Bezüge herzustellen, indem wir uns mit diesem „Andersort“ beschäftigten: Das Gefängnis ist ein Ort, der anders ist als alle anderen uns bekannten Orte, als unser gewohnter Lebensraum. Und das „Überschreiten der Schwelle“ – zunächst in unseren Gesprächen – eröffnete uns neue Räume, Andersräume.

Die Schwestern verglichen beide Orte miteinander – Gleiches und Anderes begegnete ihnen. So leben in Gotteszell Frauen zusammen, die einander nicht ausgesucht haben. Die Schwestern im Kloster haben sich ebenso nicht gesucht. Sie haben sich auf einen gemeinsamen Weg eingelassen. Der Aufenthalt im Gefängnis ist unfreiwillig, die Frauen leben in Zellen eingeschlossen. Die Franziskanerinnen sind aus freiem Willen im Kloster. Auch sie bewohnen Zellen, aber diese sind offen. Beide Frauengruppen sind in einen festen Tagesrhythmus eingebunden. Die Frauen in Gotteszell sind „Außenseiterinnen“ durch den Strafvollzug, die anderen durch ihre Lebensform in der Klostergemeinschaft. Die einen leben in äußerer Unfreiheit, die Franziskanerinnen in äußerer Freiheit; ob sie alle innerlich frei sind? Beide Gruppen tragen eine tiefe Sehnsucht nach Leben in sich, die sich allerdings in Süchten festigen kann, in Drogen- und Alkoholsucht, in übertriebenem Leistungsstreben und der Suche nach Anerkennung. Diese Überlegungen führten zur persönlichen Reflexion: Mein Gefangen-sein, meine Fesseln, mein Schuldig-werden, Gefängnisse, in denen ich andere „gefangen“ halte. Sie weckten aber auch das Interesse einer Reihe von Schwestern, diesen „Andersort“ aufzusuchen und mit den Frauen in der JVA ins Gespräch zu kommen. Ein Austausch mit beiden Seelsorgerinnen der JVA war der erste Schritt. Danach konzentrierte sich das Gespräch auf die evangelische Pfarrerin und die Schwestern.

Im Sommer 2009 boten die evangelische Seelsorgerin und eine Kontemplationslehrerin „Exerzitien im Kloster“, in Gotteszell an. Elf inhaftierte Frauen


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nahmen daran teil, unterstützt und begleitet durch das Gebet der Schwestern. Impulse aus der Berufungsgeschichte des Mose führten durch die Tage.

Einige Schwestern nahmen jeweils am Abendlob in der alten Klosterkirche in Gotteszell teil. Am ersten Abend waren etwa sechs oder sieben Schwestern zu Erstkontakten mit dabei. Gemeinsam mit den Gefangenen nahmen wir das Abendessen vor der Gebetszeit ein. Das Mahl wurde von der Pfarrerin vorbereitet – fürs Auge ansprechend und für den Gaumen wohlschmeckend. Wir saßen in einem kleinen Innenhof des ehemaligen Klosters und kamen dabei miteinander ins Gespräch, erste Schritte eines vorsichtigen Kennen-lernens und Vertrauen-fassens. Ich selbst hatte den Eindruck, dass es für die Frauen eine Erfahrung der Wertschätzung war.

In der angrenzenden Klosterkirche trafen wir uns zum Abendlob. Es war bemerkenswert, mit welcher gespannten Stille die Frauen im Chorgestühl saßen und dem Abendläuten lauschten. Nach dem letzten Glockenschlag begann die Gebetszeit, gestaltet in Anlehnung an das klösterliche Abendlob.

In der Mitte der Exerzitienwoche erhielten die Frauen die Erlaubnis, uns im Kloster zu besuchen. Mit vergittertem Gefängniswagen kamen sie an. Etwas scheu in der fremden Umgebung betraten sie unsere Klosterkirche. Das Abendlob hatte den ihnen schon vertrauten Aufbau. Die Meditation zu Moses gestalteten die Schwestern. Wiederum beeindruckte, wie gesammelt die Frauen mit dabei waren. Im Anschluss an die Gebetszeit trafen sich Gefangene und Schwestern in unserem Gästehaus zu einem Imbiss. Nachdem sie miteinander warm geworden waren, entwickelte sich ein lebhafter Austausch. Ich hatte den Eindruck, es geriet völlig in den Hintergrund, dass die Frauen Gefangene von Gotteszell und wir Klosterfrauen waren. Der Abend war für beide Seiten eine gute und heilsame Erfahrung.

Nach der Sommerpause fand und findet einmal im Monat ein Abendlob mit der Exerzitiengruppe und einigen Schwestern in Gotteszell statt. Ein kurzer Plausch danach ist für beide Gruppen zur guten Gewohnheit geworden.

In einem späteren Gespräch richtete die evangelischen Pfarrerin an uns die Anfrage, ob wir für die Frauen, die in der Untersuchungshaft einsitzen, im 14tägigen Rhythmus an einem Nachmittag verschiedene Aktivitäten anbieten könnten. Mitte Oktober 2009 trafen wir uns in Gotteszell, einige Schwestern, die Pfarrerin zusammen mit den Untersuchungsgefangenen (zwischen 30 und 40 Frauen). Zunächst stellten wir uns und unser Kloster vor, erzählten von unserer Geschichte und von unserem Leben. Die Frauen stellten Fragen und äußerten Wünsche, was sie gern mit uns zusammen machen wollten. Dabei ging es ihnen um einfache Projekte, zum Beispiel miteinander Sprechen,


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Singen, Texte besprechen, Basteln, Handarbeiten. Wir vereinbarten, dass wir mit unseren Möglichkeiten auf sie zukommen. Spontan entschieden sich vier Schwestern, ihren Stärken entsprechend, für folgende Angebote: Kreatives Tun, Märchen erzählen, Singen, Gespräche über Glauben, Leben und die Bibel. Eine Schwester, die mit den gefangenen Frauen arbeitet, zu ihrem Engagement: Meine Motivation war und ist, unsichtbare, zwischenmenschliche Mauern zu durchbrechen, der „Klostermauer“ Transparenz zu verleihen und meinerseits Schritte hinter die Gefängnismauer zu wagen. Frauen mit unterschiedlichen Lebenswegen treten in Kontakt miteinander, ermöglichen und gewähren gegenseitig Einblick in ihr Leben, schenken sich Zeit. Langsam taste ich mich hinein in die momentane Lebenswelt der Gefangenen, ist es doch eine Welt, die mir bislang fremd war.

Unser Angebot des kreativen Tuns ermöglicht es, selbst bei Frauen mit geringen Sprachkenntnissen, durch Migrationshintergrund bedingt, in Kontakt zu treten. Handwerkliche und musische Begabungen bekommen Raum. Die Frauen äußern Freude an selbst gefertigten Produkten – ein persönliches Geschenk für sie, vielleicht auch zum Weiterschenken. Ich entdeckte, dass wir ganz zwanglos ins Gespräch kommen. Wenn die Sprachkenntnisse nicht ausreichen, helfen Gebärden. Das Vertrauen beginnt langsam zu wachsen. Ein schöner Zusatzeffekt ist, dass sich die Frauen zunehmend gegenseitig helfen. Eine andere Schwester berichtet: Seit Oktober 2009 kommen wir vierzehntägig nach Gotteszell, um mit den Frauen zu basteln, zu singen, Geschichten vorzulesen, uns über Texte aus der Bibel auszutauschen. Wir Schwestern freuen uns über die Spontaneität der jungen Frauen, ihre Pläne, ihre Aufgeschlossenheit, aber wir leiden auch mit ihnen in ihrer schwierigen Situation. Es tut ihnen gut und uns ebenfalls. Es zeigt uns ein Stück Leben außerhalb des uns Gewohnten auf.

Eine Schwester arbeitet schon mehrere Jahre vierzehntägig mit einzelnen Frauen. Sie erzählt: Bei meinem ersten Einsatz in der JVA hatte ich ein mulmiges Gefühl: Aufschluss, Einschluss, Warten, Begleitung durch eine Vollzugsbeamtin oder einem Beamten mit gewichtigem Schlüsselbund, Einschluss in einen tristen Raum, aufkommende Angst, wenn ich hier mit einer Frau, von der ich nichts weiß, eingeschlossen bin … Schon das Warten auf den Moment der Begegnung brachte mir Beklemmung.

Meine Erfahrungen waren recht unterschiedlich. Einige der Frauen zeigten sich sehr verschlossen, ich kam kaum an sie heran. Andere waren so redselig, dass ich heraus filtern musste, was davon mit der Realität tatsächlich zu tun hat und was phantasievolles Gedankengebäude ist. Das ist manchmal


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ganz schön schwierig. Aber insgesamt bereitet mir die Arbeit in Gotteszell Freude. Es geht mir bei den Begegnungen darum, die Frauen anzuhören, sie ernst zu nehmen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihnen zu helfen, in kleinen Schritten Selbstverantwortung für ihr Tun zu übernehmen. Ich bete für sie und bitte meine Mitschwestern ebenfalls darum. Das beklemmende Gefühl mit Einschluss und Aufschluss habe ich nicht mehr. Ich bewege mich inzwischen fast wie selbstverständlich in den Räumen von Gotteszell. Das sind einige Blitzlichter unseres Engagements bei den Frauen in Gotteszell. Es sind keine großen Dinge, die wir einbringen. Vielleicht sind es kleine Zeichen der Wertschätzung und der Achtung ihrer Würde als Frau.


Nach innen schauen – Anica Heimsch-Mlac

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Im Rahmen der Naikan-Woche in der Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd bekamen junge weibliche Gefangene die Möglichkeit, sich ihrer Vergangenheit „anders“ als bisher zu stellen. Naikan bedeutet wörtlich „nach innen schauen“. Mit dieser Methode ist es möglich, seine Vergangenheit mit wichtigen Bezugspersonen oder Themen anhand dreier Fragen zu betrachten.Was hat beispielsweise die Mutter in einem bestimmten Zeitraum für mich getan?

Was habe ich für diese Person in diesem Zeitraum getan?

Welche Schwierigkeiten habe ich der Person in dieser Zeit bereitet?

Die Teilnehmerinnen wurden in einer separaten Abteilung untergebracht. Durch diese Abgeschiedenheit und durch dekorative Veränderungen (Blumen, Kräuter, Kerzen, Lichterketten und anderes) wurde eine ruhige Oase geschaffen, die die Frauen beim Eintreffen als „Paradies“ bezeichneten. Die Zellen wurden nur mit Bett, Bettzeug, Tisch und Meditationskissen ausgestattet, die Zellentüren mit abgelegten Gefangenen-Decken verhängt. Die Gefangenen mussten in dieser Woche auf folgendes verzichten: Telefonate, Briefverkehr, Besuch, Radio, Fernsehen, Lesen jeglicher Lektüre, Hofgang und Vergütung. Die Meditationszellen sollten nach Möglichkeit während der gesamten sieben Tage, außer zum Duschen, Rauchen und während der Arbeitsmeditation, nicht verlassen werden.

Die regelmäßigen Gespräche mit den Begleiterinnen beginnen mit einer tiefen Verbeugung vor und in der Zelle. Die Verbeugung bezeugt die Achtung vor dem Lebensweg der Übenden und der Tatsache, dass sie sich dieser anspruchsvollen Aufgabe stellt. Bei diesen Begegnungen wird immer die gleiche Frage gestellt: Zu wem und in welchem Zeitabschnitt haben sie sich geprüft?


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Es war nicht ohne weiteres anzunehmen, dass die jungen Frauen diese Form des kontemplativen Rückzugs durchhalten würden. Junge Menschen sind durchaus bereit, sich auf diesen langen Rückzug einzulassen. Beeindruckend war, dass die Frauen die dritte Frage (Welche Schwierigkeiten habe ich der Person bereitet?) leichter und konkreter beantworten konnten als dies Erwachsene in der Regel machen. Daraus resultierte mein größter Erkenntnisgewinn: Es ist überflüssig (oder gar schädlich), den jungen Menschen auf sein Fehlverhalten aufmerksam zu machen. Mit der richtigen Fragestellung kennt und erkennen sie es selbst! Zudem dürfen die Erwachsenen nicht dem Klischee erliegen, junge Menschen seien in einem gewissen Alter überhaupt nicht erreichbar. Sie müssen ihnen jedoch geeignete Hilfsmittel anbieten.

Auszüge aus den Abschlussberichten der Frauen:

Es war ein Schritt, mit meiner Vergangenheit klar zukommen, sie so zu akzeptieren, wie sie nun mal war und sie ein Stück weit abzuschließen.

Mir ist klar geworden, dass die Kunst meine Wut zu beherrschen, nicht nur darin liegt, nicht handgreiflich zu werden, sondern als erstes meine Wut zu erkennen und bevor ich aus Wut handle, nachzudenken.

Dass ich an erster Stelle vergeben muss – von Herzen – bevor mir vergeben wird. Und anders herum, so wie mir vergeben wird, so muss ich auch vergeben.

Ich habe gelernt, dass man nicht nur die Fehler von anderen sehen, sondern auch mal die Fehler an sich erkennen soll.

Ich fühle mich nun befreiter, weil ich auch zum ersten Mal nicht vor meinen Ängsten, Problemen und Gefühlen weggelaufen bin. Ich habe mich den Tatsachen gestellt und eine tolle Erfahrung mit Naikan gemacht.


Besonders überwältigend fand ich eine tief und echt empfundene Dankbarkeit uns Naikan-Begleiterinnen gegenüber. Sie wurde am Schluss durch eine tiefe Verbeugung ihrerseits ausgedrückt.

Nach dieser Woche berichteten Bedienstete von einigen Verhaltensänderungen: Eine Lehrerin sagte, dass eine Gefangene zum „ersten Mal versteht, dass ich es gut mit ihr meine“; eine andere Bedienstete: „Die Gefangene war nicht mehr so fordernd“. Wenn ich heute, zwei Monate nach der Naikan-Woche, die beteiligten Gefangenen treffe, begegnen sie mir anders als früher – freier, echter, freundlicher und gelassener – was eher untypisch für das komplizierte Gefüge in einer Justizvollzugsanstalt ist.

Die Gefangenen können das Gefühl der echten Akzeptanz bis hin zur Einsicht der eigenen Verantwortung gegenüber ihrem bisherigen Lebensweg entwickeln. Und das auch dann, wenn dies aus gesellschaftlicher, moralischer oder


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eigener Sicht nicht gut war. Darüber hinaus kann es auch dazu kommen, dass Gefangene die Frage der Schuld (hier ist die wahre, nicht die juristische Schuld gemeint) sowie die Fremdschuldzuweisung mit anderen Augen sehen als bisher. Weiter können Teilbereiche des destruktiven Verhaltens (gegen sich selbst und andere) gemildert werden. Auszug aus einem Bericht


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Neugierde – Bild von Christian Schmidt

Geschwister überall entdecken

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Gott ist die Liebe – Franz Keller

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Die Grundzüge des ignatianischen Lebens habe ich im Noviziat der Gesellschaft Jesu von meinem Novizenmeister Josef Stierli gelernt. Ihm war ich bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden. Beim Neubau des Exerzitienhauses in Schönbrunn haben wir fünf Jahre (ab 1965) zusammen gearbeitet. Mir war damals die Bauleitung anvertraut.


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Mein geistliches Leben hat sich weiter entwickelt. Dabei war mir sehr wichtig die regelmäßige geistliche Lesung. Da habe ich so manches Buch auch zweimal gelesen. Ebenso die praktische Arbeit hat mein Leben immer mehr vereinfacht und dann hat das Alter auch noch dabei geholfen. Heute kann ich mein geistliches Leben in dem Satz zusammenfassen: Gott ist die Liebe. Ihm möchte ich mich anvertrauen.


30 Jahre in Kreuzberg – Christian Herwartz

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Am 19. August 1925 wurde Franz Keller in Wettingen (Bürgerort Endingen) geboren. Schon durch diese Angaben können wir ahnen, wie er sich in der Schweizer Geschichte verwurzelt weiß. Seine Familie zog 1926 nach Rapperswill am Zürcher See, wo er seine ganze Kindheit und Jugend verbrachte. Während des um die Schweiz grausam tobenden Krieges absolvierte er in dieser Hungerzeit – in der Schweiz waren die Nahrungsmittel schon früher rationalisiert als in den Nachbarländern – eine Lehre als Hochbauzeichner in Zürich. Es folgte 1944 ein Militätdienst von fünf Monaten bei der Gebirgsbautruppe. Beim gemeinsamen Schleppen der Baumstämme für den Bau von Brücken usw. hat er sich wohl einige Male verhoben. So blieb ihm diese Zeit lebenslang oft schmerzhaft in Erinnerung. Nach dem Krieg absolvierte er in Winterthur das Technikum, Abteilung Hochbau.

Nach drei Jahren war er Architekt. Es folgte im Mai 1950 der Eintritt als Bruder in den Jesuitenorden, dem bis 1973 jede Tätigkeit in Schule und Kirche verfassungsgemäß verboten war. Sein Noviziat und darin die großen Exerzitien wurden unterbrochen, weil er mit seiner Pioniereinheit die besonders schweren Schäden durch Lawinen aufräumen musste.

Trotz des Verbotes wurde von den Schweizer Jesuiten ein Gymnasium mit Internat geführt. Sie lag kurz hinter der Grenze in Österreich in der Stadt Feldkirch. Statt wie erwartet nach Indien – das Land war in dem Jahr nach dem Noviziat für Missionare aus politischen Gründen plötzlich geschlossen – ging Franz 1952 nach Feldkirch an das Kolleg der Jesuiten und war für den Gebäudeausbau und -erhalt zuständig. 1978 wurde die Schule wegen mangelnden Nachwuchs bei den Jesuiten geschlossen. Doch Franz blieb noch eine Weile dort und betreute einen Neubau, der älteren Mitbrüdern als Altersheim diente und außerdem zur Ausbildung von Religionslehrern genutzt wurde. 1980 suchte Franz nach einer neuen Beschäftigung und entschied sich ab Herbst in der kleinen Kommunität in Berlin-Kreuzberg zusammen mit seinen Mitbrüdern Michael Walzer und Christian Herwartz zu leben. Und er such-


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te wie sie – nun schon 55 Jahren alt – eine einfache Beschäftigung in der Elektroindustrie. Da er als Ausländer keine unbeschränkte Arbeitserlaubnis erhielt, war die Arbeitssuche schwierig. Erst wenn kein Deutscher, Spanier, Türke … Interesse an einer bestimmten Arbeitsstelle zeigte, dann durfte sich als Neunter auf der Liste ein Schweizer mit Aussicht bewerben. Franz fand – ein wenig getrixt – Arbeit bei Elektrolux und zog fünf Jahre im Tempelhofer Werk die Innenhaut für Kühlschränke. Das Werk wurde dann geschlossen und Franz bot seine Arbeitskraft auf dem Bau an: In der Regenbogenfabrik, einem besetzten Haus in Kreuzberg, bei Sanierungen von Altbauten, im Altersheim der Jesuiten in Berlin-Kladow. Zwischendurch half er bei der Pflege des totkranken Michael Walzer, der am 29.1.1986 starb.

Seine große Liebe zur Natur zog Franz in der Schweiz in die Berge, aber in Berlin entdeckte er mit dem Fahrrad das Umland. Der Mauerfall – pünktlich zum Rentenbeginn – eröffnete ihm dann eine neue Weite, die er bis an die polnische Grenze, nach Magdeburg, an die Mecklenburgische Seenplatte für Tagestouren weit über 200 Kilometer nutzte.

Wichtig – wenn auch meist still – war er immer für das Zusammenleben in der weit über die kleinen Anfänge hinaus wachsenden Gemeinschaft. Er hat sie auch durch viele Krisen hindurch mit seiner Treue ermöglicht.

Am 19. August 2010 ist Franz 85. Geburtstag, der 11. Mai 2010 ist sein 60. Ordensjubiläum und im Herbst 2010 ist er 30 Jahre in Kreuzberg.

Ich bin sehr dankbar, dass ich in dieser Zeit mit ihm leben durfte. Franz ist jedes Misstrauen fremd. Das Vertrauen darein ist für mich ein großes Geschenk.


Gott schreibt auf krummen Linien gerade – Pierre Emonet

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Angesichts der Aufgaben und Notwendigkeiten des Kollegs und Ihres Alters werden wir diese Pläne heute endgültig begraben.“ So lautete ein Brief des Provinzials vom 21. März 1960 an Bruder Franz Keller. Welche Pläne sollte Franz endgültig begraben? Seinen Wunsch in die Missionen zu gehen. Mit diesem Wunsch hatte er sich für den Orden der Jesuiten entschieden. Er fühlte sich für die Missionen berufen. Diese Hoffnung hatte ihm Mut und Beharrlichkeit geschenkt, um den schweren Weg der Ausbildung zu durchgehen. Jetzt aber war er eingeladen, seinen Wunsch endgültig zu begraben. Was er als guter Jesuit tat. Ermutigend fügte der Provinzial hinzu: „Keineswegs begraben dürfen Sie aber Ihre Missionshaltung, die im Gebet und Opfer und praktischem Interesse für die Missionsaufgaben der Kirche Ausdruck


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finden soll. Hingegen denke ich fest daran, in naher Zukunft einen oder zwei jüngere Brüder in die Missionen zu senden. Das soll dann Ihre Vertretung sein.“ Schöner Trost für den 35jährigen Bruder Keller, der zu alt war, um in die Missionen zu gehen. Eine andere Aufgabe wartete auf ihn. Da er zum Baumeister ausgebildet war, sollte er im Kolleg Feldkirch arbeiten. So ist Franz nach Feldkirch umgezogen, um dort den technischen Dienst im Kollegium bis 1980 zu übernehmen, mit einer Unterbrechung von zwei Jahren (1968-1970) um als Bauführung des Lassalle-Hauses anzutreten. Sein Weg schien endgültig bestimmt zu sein.

Gott schreibt auf krummen Linien gerade. Zwanzig Jahre später kam unverhofft wieder die Einladung, in die Mission zu gehen. Zwar nicht in das ferne Asien wie damals, sondern in ein schwierigeres Milieu, die säkularisierte westeuropäische Konsumgesellschaft.

Um die Forderung der 32. Generalkongregation ernst zu nehmen, hatten sich die jesuitischen Provinzen von Deutschland und der Schweiz entschieden, eine Kommunität von Arbeiterpriestern in Berlin-Kreuzberg zu gründen. Der Ruf der Provinzen richtete sich unter anderen an Franz Keller. Jetzt, endlich, wurde sein Wunsch, Missionar zu werden, Wirklichkeit, als der damalige Provinzial am 31.3.1980 ihm schieb: „Also, auf nach Berlin“ und er fügte hinzu, „nicht nur kurzfristig, für ein oder zwei Jahre, sondern für eine längere Zeit“. So lautete die Einladung, aus seiner Welt auszuwandern, um sich in einer anderen Kultur zu beheimaten, um dorthin den Sauerteig des Evangeliums zu bringen. Franz ging in die Arbeiterkommunität Berlin, nicht nur für die Zeit eines Experiments wie viele andere, sondern für immer. Was der junge Franz (35) nicht konnte, konnte jetzt der alte Franz (55). Und dies dauert schon 30 Jahre.

Der missionarische Einsatz ging unerwartete Wege, die Franz sich nie vorgestellt hätte. Statt die Romantik der Reise in ferne Länder um das Evangelium als eine Neuigkeit für Nichtchristen zu bezeugen, war er eingeladen, solidarisch mit allen möglichen Einwanderern zu arbeiten und zu leben und sich für Gerechtigkeit im Namen des Evangeliums einzusetzen. In solchem Milieu ist der Missionar weder ein Lehrer, noch ein Prediger oder ein Katechet, der von oben her lehrt oder predigt. Er kann nur ein einfacher Mensch sein, der ganz unten steht, der als gewöhnlicher Arbeiter lebt und arbeitet, der an der Ungerechtigkeit leidet, der sich für die Würde der Mitmenschen einsetzt. Seine Sendung wirkt als die zeitgemäße Verwirklichung der Menschwerdung: „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern entäusserte sich und wurde … den Menschen gleich“ (Phil 2,5-7).


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Für den Ausländer und Ordensmann Franz ist der Weg sicher nicht leicht gewesen. Die Beheimatung in Berlin glich einem richtigen Sprung aus seiner eigenen Welt. Sich an den berlinischen Jargon zu gewöhnen bedeutete aus seiner eigenen Kultur herauszuwandern, um in eine neue Kultur zu tauchen. Ähnlich wie alle eingewanderten Arbeiter brauchte Franz eine Aufenthaltbewilligung und er musste eine Arbeit finden. So wurde der Baumeister zum einfachen Mitarbeiter und Monteur in einer Firma für Kühlschrankmontage.

So fing es mit der Mission an. Franz, der sich nie als aktiver Missionar verstand, fand in diesem Milieu sein Missionsland. Da er immer gewisse Hemmungen im Umgang mit Menschen hatte, hat er seinen eigenen Stil als Helfer in der Gruppe entwickelt. Die Gastfreundschaft, die Präsenz als Kollege bei einfacheren und ärmeren Menschen, die Teilnahme an Gruppen, ohne große Rederei, sondern mit nüchternen Bemerkungen, die aus der Tiefe seines Glaubens und seiner Menschlichkeit heraus kommen, das ist die Art und Weise, wie er sich als Missionar versteht. Von seiner beruflichen Ausbildung her ist er auf sachliche, technische Aufgaben hingeordnet. So fühlt er sich voll als Missionar und legt für Christus Zeugnis ab. Was ihm damals verweigert worden ist, wurde ihm in Berlin reichlich geschenkt. Er schreibt: „Mir scheint für die Mission sind nicht nur der Islam und die fernöstlichen Länder ein ‚hartes Pflaster‘, ebenso ist es die hiesige satte Konsum- und Wirtschaftswelt“.

Samt den Mitbrüdern der Kommunität Berlin-Kreuzberg, hat Franz für unsere Provinzen neue Wege für die Missionsarbeit geöffnet. Dank der Kommunität Kreuzberg konnten unsere Provinzen den Ruf der 32. Generalkongregation und den Impuls von Pater Arrupe nachvollziehen. Der Dienst am Glauben und der Einsatz für Gerechtigkeit sind nicht nur theoretische Träume geblieben. Ein neues Missionsland hat sich angeboten. Dank der Kommunität von Berlin haben sich viele Mitbrüder und die Leitungen unserer Provinzen die neuen Bedürfnisse der Evangelisation bewusst gemacht.

Wer sich engagiert, um das Los der Ärmeren zu teilen und für die Gerechtigkeit zu kämpfen, wird schnell von der Gewalt der Welt getroffen. So erfährt er auch in sich selbst die Wut der Unterdrückten: Ihr Kampf wird sein eigener Kampf. Dank seiner langen Ordenszugehörigkeit, seiner gewachsenen Spiritualität, und nicht zuletzt seiner langen handwerklichen Tätigkeit, hat Bruder Keller eine wichtige Rolle in der Kommunität Kreuzberg gespielt. Mitten in einer Gruppe von Jesuiten, die von der Armut und der Ungerechtigkeit tief getroffen waren, die sich an der Seite der Ärmeren engagiert hatten, und die immer wieder von der Versuchung der Gewalt und der Wut bedroht waren, ist Franz als ein Element der Stabilität und der Ausgeglichenheit anerkannt


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worden. Trotz seiner Bescheidenheit hat er seinen Teil am missionarischen Einsatz großzügig bekommen. In schwierigen Situationen, während der Krankheit von Michael Walzer, nach dessen Tod oder als ein Mitbruder die Kommunität verließ, um einen anderen Weg zu gehen, in jeder schwierigen Situation konnte man mit ihm rechnen. Diskret, ohne großes Theater war er einfach da, sachlich, mit tiefer Spiritualität, effizient.

In Namen unserer Provinzen möchte ich Franz für alles, was er uns gebracht hat, herzlich danken. Sein Wunsch Missionar zu werden hat sich in unverhoffter Weise verwirklicht, nicht nur zu Gunsten der Mitmenschen, zu denen er geschickt worden ist, sondern auch für alle Jesuiten, die sich durch ihn und seine Mitbrüder, in diesem neuen und harten Missionsland vertreten fühlen.

Pierre Emonet SJ ist Provinzial der Schweizer Provinz


Wo Willkommen im Raum steht – Barbara Höptner

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WG Naunynstraße – viele Geschichten fallen mir dazu ein, auch solche, bei denen man im Stillen denkt … wenn ich´s nicht selbst erlebt hätte … Ein Jahr konnte ich in der Naunyn mitleben, unterbrochen von einem dreimonatigen Pilgerweg. Es war eine Station auf dem Weg vom Ausstieg aus der Suppenküche zum Einstieg auf die Wagenburg.

Einen Bauwagen hatte ich mit Bernhards Hilfe gefunden. (Bernhard kannte ich von Emmaus, er lebte schon jahrelang in seinem LKW und kannte sich aus „in der Szene“.) Nun musste der Wagen noch so ausgebaut werden, dass ich auch im Winter darin (über-)leben konnte. Also bin ich frohen Mutes auf den Baumarkt. Hm. Jetzt wurde es unerwartet kompliziert. In der DDR war das Bauen einfacher. Da es sowieso nichts gab, nahm man halt das, was gerade da war. Die Palette reichte von einem Rest Sperrholzplatten bis zu Omas altem Schlafzimmer. Und nun stand ich im Baumarkt vor schwierigen Fragen, so z.B. ,welche der Fußbodenverlegeplatten denn nun die „Richtige“ sein könnte- die 1,5er? Oder doch lieber die 2,0er? Na, und bei den Preisen … Christian gab mir den Tipp, doch mal Franz zu fragen, denn der verstünde was vom Bauen. Noch etwas skeptisch habe ich das getan und schon saßen wir mit Papier und Bleistift am Wohnzimmertisch und fachsimpelten in Länge und Breite über Abmessungen, Stärken und Dichten und das notwendige Vorgehen beim Ausbau insgesamt. Das „FACH“ lag dabei eindeutig bei Franz. Ich gebe zu, ich übernahm eher den anderen Teil. Als es dann um den Bau meines Hochbettes ging, standen Franz bei meinen Vorstellungen wohl etwas


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die Haare zu Berge und er sah mich mit gebrochenen Knochen und dem Rest vom Bett am Boden liegen. Schließlich gingen wir in den Keller – und da stand er, der ideale und ausreichend dicke Träger für mein Hochbett. Es war eine alte Schwelle vom Bahndamm. Vorgesehen war sie eigentlich für den Kachelofen im Wohnzimmer. Für mein Vorhaben war sie ideal und so hat er sie mir ohne viel Federlesen geschenkt. Es wurde ein ordentliches, sehr bequemes Bett!

Der Wagen stand nun schon auf dem Platz und ich war am Bauen. Aber es gab noch einiges, wozu ich Hilfe brauchte – so beim Abdichten der Tür bzw. beim Einbau eines Türschlosses. Franz war bereit mit zu helfen und wir verabredeten uns, diesmal auf dem Platz. Wir wollten uns am Eingang treffen, das erschien mir sicherer. Und während ich mir noch Gedanken machte, wie ich Franz durch die Hundemeute sicher zu meinem Wagen bringe, stieg er seelenruhig draußen vor meiner Tür vom Rad. Er hatte beim Eingang nach meinem Wagen gefragt und war dann einfach mit dem Fahrrad bis zu mir (ans andere Ende des Platzes) durchgeradelt.

Auch als ich dann nicht mehr in der Naunyn wohnte, blieb dennoch ein Koffer dort. Ich konnte jederzeit „vorbeikommen“ und mich zu Hause fühlen. Ein Kaffee und ein Schwatz waren immer drin, aber auch die Möglichkeit zum Gespräch und zum „Auftanken“. Es ist wunderbar, Orte zu wissen, wo einfach nur „Willkommen“ im Raum steht. Ihr seid so ein Ort. Danke Euch, Christian und Franz und all denen, die „die Naunyn“ mitgestalten.


Jeder Gemeinschaft wünsch ich einen Franz – Renate Trobitzsch

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Sein Wecker klingelt lange vor meinem, denn Franz ist Frühaufsteher. So begegnet er mir morgens gewöhnlich als erster, wenn ich in die Küche gehe, um das Frühstück vorzubereiten. Ein wunderschöner Start in den Tag – diese lächelnden Augen von Franz und sein warmherziges Guten Morgen, Renate. Mit diesem offenen, freundlichen Blick schaut und nimmt er jeden an, egal wer es ist.

Franz wirkt, oft wortlos, einfach durch sein Da-sein. Das weckt die liebevollen, hilfsbereiten Seiten im Menschen, da wandelt sich das Rücksichtslose, der Ärger, das Misstrauen. Von ihm geht etwas Orientierendes und Friedensstiftendes aus. Hier im alltäglichen Zusammenleben so bunter Charakteren, wo Welten aufeinander treffen und immer wieder irgendetwas einfach nicht klappt, trotz Bitten, Erinnern, Kritisieren …, da gibt es etwas ganz Selbst-


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verständliches für alle – nämlich wenn es um Franz geht: Der letzte Becher Quark im Kühlschrank bleibt unangetastet, weil Franz zum Frühstück immer Quark isst. – Es kann noch so spät oder trubelig sein, die Küche wird auch spät nachts aufgeräumt, weil es sonst Franz morgens tun würde.

Ich erinnere mich an eine heftige Auseinandersetzung zwischen Zweien in der Küche, lautstark, aggressiv, eskalierend. In der Wut schleudert plötzlich einer dem anderen die Drohung hin: Ich werf dich gleich aus dem Fenster. Mitten in diese explosive Stimmung hinein kommt Franz in die Küche. Bestimmt und ruhig sagt er nur einen Satz: Das hat es hier noch nie gegeben! Es wirkt wie ein Schnitt, die Luft ist raus, es wird ganz still. Der Konflikt ist damit nicht gelöst. Aber später reden die beiden miteinander.

Von Franz geht ein besonderes Licht aus. Klar, jede/r von uns hier bringt ihr/sein Licht mit ein in die Gemeinschaft. Aber Franzls Licht flackert nicht, ist beständig, verlässlich. „Gott ist die Liebe“, wenn er das sagt, dann ist spürbar, dass es sein Glaubensbekenntnis ist und dass er jede/n von uns mit hineinnimmt in diese Gottesbeziehung. Gott ist die Liebe, daran werden wir erinnert – Franz, einfach durch deine Anwesenheit. Mit dem Älter-werden hören deine Ohren immer weniger. Wie stark du mit dem Herzen hörst, das wird uns daran deutlich. Deine Kräfte lassen sichtbar nach, aber nur die körperlichen. Nach wie vor setzt du mit deiner Klarheit und Liebe deutliche Zeichen und prägst die Gemeinschaft damit.

Ich wünsch jeder Gemeinschaft einen Franz … oder eine Franziska.


Gerecht, fromm, weit – Michael Hainz

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Beim Nachdenken über Franz fällt mir eine Stelle aus dem zweiten Kapitel des Lukasevangeliums ein. Dort wird über den alten Simeon in Jerusalem gesagt, als der im Tempel auf den Messias wartet – was sich dann erfüllt, als er das Kind Jesus in seine Arme nehmen kann: „Er war gerecht und fromm und wartete auf die Rettung Israels, und der Heilige Geist ruhte auf ihm.“ (Lk 2, 25).

Zunächst die Formulierung „gerecht und fromm“, die, vielleicht besser umgedreht und erweitert, auf Franz Keller passt: Er ist fromm und deshalb gerecht und weit. Franz ist zum einen fest verwurzelt in seiner bodenständigen katholischen Herkunft. Sie trägt und prägt ihn auch nach so vielen


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Jahrzehnten. Sie zeigt sich und wird täglich aufgefrischt in der Teilnahme an der Eucharistiefeier, in Zeiten des stillen Betens und im Festhalten an den Grundüberzeugungen seines Glaubens und seiner Moral. Zum anderen waren und sind da viele Begegnungen mit kulturell und religiös ganz anders tickenden „Buntköppen“, mit schrägen und schrillen, oftmals vordergründig „gar nicht gläubigen“ Personen, auf die Franz sich einlässt und denen er handwerklich und jetzt immer mehr mit seiner „bloßen“ Anwesenheit und Person zu helfen sich bemüht. Seine wachen und zugewandten Augen, sein Zuhören und Nachfragen und dann, soweit möglich, sein Zupacken zeugen davon. Eine Atmosphäre des Verständnisses und des Friedens breitet sich aus, wenn Franz mit am Tisch sitzt. Die spitze Attacke, die laute Klage manch seiner Gesprächspartner verlieren an Schärfe, sie werden von Franzens Integrität, Güte und Geduld bereits beim Hinausschreien gemildert. Die Last eines mühsamen, vom Scheitern bedrohten Lebens kann leichter getragen werden, weil da einer zuhört und sein verständiges Herz sprechen lässt.

Ja, Franz Keller überschreitet Milieu- und Generationsgrenzen. So selbstverständlich und leicht dies von außen aussieht, dürfte es doch von innen her viel Mühe kosten. Seine Frömmigkeit übersetzt und vermittelt sich in Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber den so vielfältig andersartigen Kreuzbergern und Gästen, die in die Naunynstraße kommen. Seine Frömmigkeit wird den Menschen gerecht, weil sie Weite hat. Es sind seine kleinen Gesten, seine Interessiertheit und sein Humor, die, wie eine Mitbewohnerin sagte, machen, „dass ich ihn am liebsten hätte umarmen mögen“. Ein weites, achtsames und friedliches Herz zu haben ist für die monastische Tradition, namentlich in der Regel des heiligen Benedikt von Nursia, Ausweis geistlicher Reife: Der Geschmack dessen, was mit christlicher Heiligkeit gemeint ist.

Franz hat freilich keine „weichgespülte“, anpasserische Weite. Er macht nicht viel Aufhebens über seine Frömmigkeitsübungen und entsprechende Erfahrungen, er versteckt sie aber auch nicht vor denen, die zuhören. Mahnend, erwartend, nachdrücklich fragt er nach gerechten Zuständen und pocht auf sie, ja mitunter so hartnäckig und voller Vision gegen alle querliegende Erfahrung, so dass selbst studierte Sozialwissenschaftler sprachlos werden und nicht weiter wissen. Er „wartet auf die Rettung Israels“, nämlich der Menschen, die Mühsal erfahren, leiden müssen und unter die Räder gekommen sind. Und Franz lebt persönlich so karg und spartanisch, dass selbst Obdachlose und ehemalige Gefängnisinsassen noch Jahre später ins Staunen kommen, wenn sie von der außergewöhnlichen Einfachheit seines Lebensstils erzählen.


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Es ist für mich ein Trost, eine Freude und eine große Herausforderung, dich, Franz, als (Mit-)Bruder und Gefährte in der Gesellschaft Jesu zu wissen. Schalom.


Schweigsamkeit adelt ihn – Andreas Reichwein

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Franz ist der älteste und – mit Christian – auch langjährigste Bewohner der Wohngemeinschaft in der Naunynstraße. 30 Jahre sind es bald, die der gebürtige Schweizer nun in Kreuzberg verbringt. Zudem steht dieses Jahr sein 85. Geburtstag an!

Für viele ist Franz der ruhende Pol in der Wohngemeinschaft. Er wirkt auf uns alle so wohltuend ausgeglichen und das ist für manche – in der Mühsal ihres eigenen Lebens – von unschätzbarem Wert. Nicht zuletzt sein fortgeschrittenes Alter signalisiert eine große Nähe zum Himmel. Der Tod als eine Schwelle oder besser als die große Pforte zur Heimkehr in Gottes Liebe: Das ist es, worauf Franz sich lange schon freut. Es ist ihm in der Länge seines Lebens die allein wichtige Perspektive geworden und die lässt ihm unser aller Leben in einem „alles verklärenden Licht“ erscheinen.

Von dieser ungetrübten Gewissheit, dass wir alle mit unserem Leben in Gott geborgen sind, was auch immer darin geschieht, gibt er stets von Neuem Zeugnis, wenn er um ein persönliches Wort gebeten wird und der eine oder die andere auch das unmittelbare Gespräch unter vier Augen mit ihm sucht. Mitteilsam ist er von Natur aus nicht, aber gerade diese Schweigsamkeit adelt ihn. Die stille Gewissheit, die er ausstrahlt und die ihn so sehr prägt, bedarf nicht vieler Worte. So ist es nur konsequent, wenn er um seinen Glauben, der ihn trägt, nicht viele Worte macht. Vielmehr ist es sein gelebtes Beispiel, die Bescheidenheit seiner Art, die andere davon etwas spüren lässt.

Franz hat als Bruder in der „Gesellschaft Jesu“, dem Jesuitenorden, ein langes Ordensleben hinter sich. Die Gelübde, die er einstmals abgelegt hat, lebt er in einer fraglosen Treue, wohin auch immer er gesandt wird. Obwohl es einmal sein Wunsch war, nach Indien in die Mission zu gehen, lebt er – in beispielhafter Armut und im Gehorsam gegenüber der Sendung seines Ordens – seit nunmehr 30 Jahren in Berlin. Das ist für ihn sein „Indien“ geworden! Eine „offene Wohngemeinschaft“ ist bestimmt nicht das, was er sich früher einmal unter Ordensleben vorgestellt hat, aber seine Liebe zur Armut und die darin gelebte Nachfolge, sein Wunsch, ganz nah beim „armen Jesus“ zu sein,


111 hat ihn schließlich diesen Weg gehen und alles zunächst Ungewohnte auf diesem Weg „gehorsam“ annehmen lassen. Ich selbst habe zwei Jahre lang mit Franz und vielen anderen in dieser Gemeinschaft zusammen gelebt (von 2007 bis 2009). Mein eigener Weg im Orden ging in dieser Zeit seinem Ende zu. Ein Wechsel als Priester ins Bistum Limburg stand als Entscheidung am Ende dieses Weges. Zwei Jahre, die von einem schwierigen Entscheidungsprozess geprägt waren! Dass der Weg – für mich – auch wieder aus dem Orden herausführen kann, ist für Franz gewiss schwer nachvollziehbar. Dennoch habe ich mich stets von ihm im Gebet mitgetragen gefühlt und dafür bin ich ihm, als meinem Mitbruder, von Herzen dankbar!


Im Frieden leben – Ludger Hillebrand

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Als erstes fällt mir zu Franz Seelenruhe ein.

Dann, dass er ein Schweizer ist, der gern Ovomaltine trinkt. Dann, dass er konsequent arm und bescheiden lebt. Ich erinnere mich, dass Christian mal ein paar Salz und Pfefferstreuer für ein bis zwei Euro kaufte. „Franz wird sicher fragen, ob das notwendig war!“, sagte er nachdenklich.

Es freut mich, dass er sich über eine Kuh aus der Schweiz gefreut hat, die singt und ihre Hüfte schwingt. Ich bekam sie aus der Schweiz von Freunden auf einem Bauernhof geschenkt und habe sie dann in Kreuzberg zu Franz‘ Geburtstag Asyl finden lassen. Es geht ihr dort, glaub´ ich, gut.

Ein paar Worte bzw. Lebenshaltungen von ihm sind mir im Gedächtnis: „Ich kann nicht meditieren,“ sagte er. „Ich fahre Rad.“ Und ich weiß, dass er Zeit seines Lebens hunderte Kilometer wöchentlich fuhr. Irgendwann in den vergangenen Jahren hat er ein neues Rad mit einer Dreigangschaltung bekommen. „Ein echter Luxus, für einen Vielfahrer wie ihn!“

„Ich habe keine Angst vor dem Tod, „ sagte er ein anderes Mal und ich glaube es ihm ein wenig. Wie kann jemand sagen, dass er keine Angst vor dem Tod hat? Vielleicht aus Gottvertrauen? Vielleicht aus einem tiefen Vertrauen zu seiner auffangenden Hand? Vielleicht aus Weisheit, dass sich im Himmel alles klärt?

Franz begegne ich seit 10 Jahren hin und wieder und nehme wahr, dass seine Kräfte schwinden. Manches macht ihm sicher nun Mühe. Trotzdem vermute ich stark, dass er dabei im Frieden lebt. „Gott sei Dank!“


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Franz, der Missionar – Patrick Zoll

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Man nehme morgens drei Esslöffel Ovomaltine und gebe sie in heißes Wasser. Dem füge man dann etwa die gleiche Menge kalte Milch bei. So ergibt sich die richtige Temperatur – wie ich von Franz erklärt bekomme. Dazu ein halbes Vollkornbrot und Magerquark. Und nachmittags trinke man etwas Kakao gegen die Krämpfe.

Ein Rezept für ewige Jugend? Wohl nicht, denn der Tribut der Jahre zeichnet inzwischen auch Franz immer mehr. Dies wird mir bewusst, nachdem ich ihn in den Monaten des beginnenden neuen Jahrzehnts hier in Kreuzberg nach gut acht Jahren zum ersten Mal wieder erlebe. Ich erwähne dieses allmorgendliche „Ritual“ – und man könnte sicherlich einige mehr anfügen – weil sich an ihm für mich etwas von Franz abzeichnet, etwas von seiner Aufgabe, die er hier in Kreuzberg jahrelang gehabt hat und hoffentlich auch noch länger haben darf. Franz gibt mit seiner Art und mit seinem Dasein einer Kommunität wie der Naunynstraße Struktur und Stabilität. Sicherlich gibt es für ein gelingendes Zusammenleben hier kein „Rezept“ … Aber wie bei jedem Gericht gibt es Zutaten, die nicht fehlen dürfen. Das sogenannte „Salz in der Suppe“. Die unscheinbaren und doch unersetzlichen Dinge, die aus etwas Fadem (oder manchmal sogar Ungenießbarem) etwas Leckeres und Geschmackvolles machen.

Worüber ich auch oft nachdenke, sind die Parallelen von Franz und Ignatius. So wie Ignatius eigentlich sein Leben als Pilger in Jerusalem verbringen wollte und dann in Rom als stabiler Organisator des neu entstehenden Jesuitenordens unabkömmlich wurde, so zog es Franz nach Indien und führte ihn nach Kreuzberg. Über Feldkirch wurde seine Mission, sein „Indien“, Kreuzberg. Und ich glaube sagen zu dürfen, dass an Franz nicht ein guter Missionar verloren gegangen ist, sondern dass er seiner Berufung zum Missionar treu geblieben ist. Franz, der Missionar.

Unter Missionaren stelle ich mir Menschen vor, die eine große Offenheit für andere Menschen haben und die zugleich ganz unprätentiös aus dem Eigenen leben. Menschen, die gut zuhören können und die ein klares Urteil mit einem liebevollen Blick für den je anderen, den sie vor sich haben und der ihnen vielleicht ganz fremd ist, verbinden können.

Und so muss ich gestehen, dass ich mir manchmal etwas von Franz „Jugendlichkeit“, von seiner inneren Flexibilität und Verfügbarkeit wünsche, die sich in seinem Lebenslauf spiegelt und die auch heute immer wieder aufblitzt. Wäre schön, wenn du dich wirklich mal so auf Menschen, Dinge und Situationen einlassen könntest, denke ich mir … Ob mir etwa mit Mitte 60 noch


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etwas Vergleichbares in den Sinn kommt wie Franz, der sich in diesem Alter aufmachte, um besetzte Häuser zu renovieren?

Im Buch „Gastfreundschaft“ habe ich über die Naunynstraße als Ausbildungskommunität geschrieben. Schön, dass ich sie über den alternden Franz und Christian S. nun als „Altenkommunität“ erfahren darf, als Kommunität, in der auch ich gerne alt werden würde.


Advent – Hartmut Kreide

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Adventszeit 2008. Das erste Mal waren Gudrun und ich bei Euch Gast. Christian und Renate waren da und ein älterer Mann – er machte Brennholz klein. Aus Kistenbrettern. Es war nicht nur die Bedächtigkeit eines älteren Menschen – es war etwas Würdevolles im Aufrichten zur Begrüßung und dem Fortsetzen der Arbeit. Eine alte Kiste wurde zerlegt. Das hätte krachen und splittern können – ich hatte den Eindruck, es war Andächtiges dabei. So kann Arbeit den Ausdruck des Gesegneten verliehen bekommen. Bruder Franz! Auch die Herrenhuter Brüdergemeine in Berlin-Neukölln ist ihm bekannt. Wie das? – Ja, mit dem Fahrrad …! Kompliment. Stilles Lächeln, abwinken. Wir sehen uns Faltblätter der Herrenhuter an und von unserer Gemeinschaft. Nach gewisser Zeit verabschiedet er sich, wir fühlten uns vertraut. Viel haben wir gar nicht gesprochen. Er sagt noch: „Ich geh dann mal zur Bibliothek.“ Stille geht er aus dem Raum.

Ganz deutliche Bilder heute – ein Jahr später im Advent 2009. Bei euch in der Naunynstraße kommt Wärme nicht nur vom Ofen. In unserer Gemeinschaft sprechen wir zuweilen ein Gebet vor der Mahlzeit, das für mich ein Bild von euch sein kann:

Die kleinste Hütte, sie wird uns zum Saal,

der ärmste Becher, er wird zum Pokal,

und die geringste Speise zum Abendmahl,

wenn DU, o HERR, sie mit uns teilst,

wenn DU an unserm Tisch verweilst,

wenn DU des Lebens Brot uns brichst,

und DEINER Liebe Segen sprichst.

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Immer neuer Himmel in uns – Katharina Prinz

Dein Reich komme, wie im Himmel, so auf Erden.

Lieber Franz, es ist so viel Himmel in und mit dir – das ist die reine Freude für alle, die um dich sind, nah und fern. Es ist eine große Herausforderung an uns alle, dass es nicht weniger Himmel werden möge auf Erden, wenn du einmal heimgegangen bist, sondern immer neuer Himmel entstehen möge in uns.


Haferflocken – Bettina Kustner

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Im August ist Franz‘ 85. Geburtstag. Das kann doch nur mit den Haferflocken zusammenhängen! Als ich vor ein paar Jahren zum ersten Mal Exerzitien auf der Straße gemacht habe und dazu in der Naunynstraße wohnen durfte, konnte ich einige Gewohnheiten der Bewohner dort kennen lernen. In meiner Erinnerung hat Franz jeden Abend Haferflocken mit Milch und Kakao gegessen. Dafür habe ich ihn bewundert, denn ich konnte Haferflocken nicht ausstehen, obwohl ich wusste – oder vielleicht auch gerade deswegen –, dass sie gesund sind. Seit meiner Schwangerschaft denke ich fast täglich an Franz, wenn ich mir abends Haferflocken mit Milch und Kakao mache.


Ein christliches Vorbild – Gila und Anton

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Die Naunynstraße war drei Jahre unser Lebensmittelpunkt – zunächst für fast ein Jahr in der Kommunität und dann für gut zwei Jahre als Mieter einer kleinen Wohnung. Nach dem gescheiterten Versuch nach Teneriffa überzusiedeln, wählten wir Berlin für einen Neustart in Deutschland. Zum einen wegen der erschwinglichen Mieten, zum anderen wegen der zentralen Bedeutung als Hauptstadt. Als erstes wurden wir jedoch von der dort grassierenden allgemeinen Kriminalität betroffen: Nach drei vollendeten und zwei versuchten Einbrüchen war nicht nur alles, was sich Technik nannte, aus unserem Besitz verschwunden, sondern auch so ziemlich alles, was nur irgendwie noch zu Geld zu machen gewesen wäre. In dieser Situation half uns die Kommunität in der Naunynstraße über die schlimmsten Monate hinweg. Dafür sei hiermit nochmals Dank gesagt.


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Andererseits war diese schwierige Zeit auch eine der weiteren persönlichen Reife. Gila konnte bei Christian Herwartz ihre Glaubensunterweisung beenden und wurde Ostern 2007 in Kreuzberg in St. Marien/Liebfrauen getauft und gefirmt. Dabei stand die Kommunität geschlossen hinter ihr, an der Spitze ihr Taufpate Bruder Franz Keller, der seinen Glauben ohne großes Aufsehen lebt. Er kann ohne viel Worte zu machen, seine Einstellung und seinen Glauben herüberbringen. Auch gefiel Gila die Naturverbundenheit von Franz, welche sie mit ihm teilt. Bescheiden wie er ist, meinte er zunächst, die Patenschaft gar nicht annehmen zu können: „Ich habe so etwas noch nie gemacht.“ Daraufhin entgegnete Gila: „Ich auch nicht.“ Damit war diese Kalamität auch behoben. Zur Taufe und Firmung erschien Franz dann sogar mit schwarzem Anzug, eine Erscheinung, welche wir seitdem nicht wieder an ihm beobachten konnten. Als Patengeschenk erhielt Gila von ihm ein Neues Testament – das Exemplar seiner verstorbenen Schwester.

Anton wechselte 2007 von seiner evangelischen Heimatkirche zur katholischen Konfession und wurde nach entsprechender Glaubensunterweisung noch im selben Jahr gefirmt. Kurz darauf eröffnete man uns allerdings, dass eine katholische Eheschließung infolge des erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführten Begriffs der „Naturehe“ kirchenjuristisch nicht möglich sei. Uns ist nicht bekannt, dass in irgendeiner anderen Konfession Ehepaare benachteiligt werden, weil einem der Partner vormals eine nichtkirchliche Ehe (hier durch die Stasi) zerstört wurde. Das gibt es weder in der orthodoxen Kirche, noch in der orientalischen (z.B. koptischen) – und erst Recht nicht in einer evangelischen oder Freikirche. Wir empfinden diese Kirchenjuristerei als Vorenthaltung eines uns zustehenden Sakraments. Bis die Angelegenheit geklärt ist, enthalten wir uns deswegen jeglicher katholischer Aktivität. Zur Zeit scheint es sogar fraglich, ob da zu unseren Lebzeiten überhaupt noch etwas geklärt wird.

Ein Mensch wie Franz wird uns jedoch immer ein leitendes christliches Vorbild bleiben. Wir sind dankbar darüber, ihn kennen zu dürfen. In seiner Art lebt er den Glauben, über den viele andere nur reden. Zu unserem Problem mit der katholischen Eheschließung meinte er nur lapidar: „Die Kirche ist für eine Änderung noch nicht reif genug.“ Wann das jemals sein wird, kann Franz uns auch nicht sagen. Er hat seinen Frieden mit sich und der Welt in Jesus Christus, unserm Herrn, schon zu seinen Lebzeiten gemacht und gefunden. Wir bleiben mit ihm auf jeden Fall durch unsere Praxis der häuslichen christlichen Stundengebete geistlich verbunden.


Ein Weiser unterwegs – Willibald Jacob

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Er kam mir entgegen

auf dem Fahrrad

Er hielt

Wir wechselten Worte

Sie klangen nach

Wir trafen uns wieder

am Küchentisch

Naunynstraße

Wir wechselten Worte

Nachbarn erzählten ihr Leben

Es kam die Zeit

der Trauer

Ruth gedachte des Vaters

Elfriede war in mir

und doch nicht mehr

Franz Keller schwieg

nach unseren Gedanken

leiderfahren

schmerzerfahren

Dann sprach er:

Gericht und Gnade

widerfährt uns

Fegefeuer

und Hölle

vor dem Tode

Dann

danach und immer wieder

Liebe umfängt uns

Liebe umgibt uns

SEIN Erbarmen.


Einsichten – Ruth Koschel

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Ein Bewohner der Naunyn-WG setzt sich in die Küche mit mir zum Frühstück und kommentiert: „Einen Toaster gibt es hier nicht. Franz findet das unnötig. Der mache das Brot nur alt und trocken.“


So wie ihr seid, seid ihr o.k. – Irene Bied

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Diese Tage telefonierte ich mit Christian, sagen wir mal, weil es mal wieder „dran war“ und auch weil ein Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte sich wieder neu zu verändern beginnt:

Naja, wie schon im ersten Buch zu Eurer Geschichte der Gastfreundschaft zu lesen war, begann meine und Manuels Geschichte mit Euch vermittelt durch meinen Gatten Hans-Peter Breitbach-Bied geb. 26.11.1953 (1963 war ein Druckfehler) in Mainz und gestorben 3.4.1996 in Tübingen.

Franz, du ermöglichtest damals Christians Besuch im Krankenhaus bei seinem Freund Hans-Peter, ich nenne ihn Hannes, auf der Intensivstation in Tübingen. Für die beiden langjährigen Freunde Christian und Hannes machtest Du diese letzte Begegnung einfach dadurch möglich, dass du für Christian „Hintergrundarbeit“ geleistet hast, d.h. du wusstest, wo Christian sich wann befand und deine ethischen Werte waren auch Christians Werte und umgekehrt. Franz du warst stabile Größe in der WG, verlässlich gabst du wichtige Informationen weiter.

Ich selbst begegnete dir im Juni 1981 zum ersten Mal – damals in der Gruppe mit Michael Walser in der „Männer-Wohngemeinschaft“ in der Oppelner Str. in Berlin. Mir fiel damals deine ruhige, zurückhaltende, stets zugewandte Art auf; mir zeigtest du dich als Mensch, der nicht gerne auf der Bühne steht, der feine Mensch. Ein Ingenieur, der bis ins Tiefste blicken kann.

An ein Gespräch mit dir während einer meiner zahlreichen Berlinbesuche kann ich mich besonders gut erinnern: Wir sprachen über Gentechnik und den inzwischen technischen Möglichkeiten, menschliche Embryonen zu klonen. Mich erschreckte der Gedanke der Reproduzierbarkeit des Menschen, der Machgedanke, menschliche Macht, wo sie nicht hingehört und du überraschtest mich mit einem ganz neuen Gedanken, nämlich: Stimmt das überhaupt, geht das überhaupt oder entwickelt ein geklonter Embryo nicht selbst eigene Kräfte, die sich jeder Einwirkung von außen völlig entziehen? Du fragtest damals schon, ob es überhaupt möglich sei, einen Menschen komplett „wiederherzustellen“ oder ob dieser Klon nicht eigene Lebensstrategien


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entwickeln würde. Genau dieser Gedankengang wurde Jahrzehnte später von Charlotte Kerner in eine künstlerische Form gebracht. Sie schrieb das Jugendbuch Blueprint – 2000 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Die Geschichte eines menschlichen Klons, der dem Ehrgeiz seiner Erzeuger trotzt und seine eigene Identität sucht und findet. (Wer gerne liest hat bestimmt Freude daran.)

Als ich den Einladungsbrief zum 85. Geburtstag von Franz las, wurde ich aufmerksam bei der Frage, was gibt es aus eurem Leben zu berichten, was aufs Papier gebracht und nicht vergessen werden soll, was gibt es für euch Befreiendes? Ich dachte lange nach und ging schwanger mit diesen Fragen, fühlte mich unter Erfolgsdruck und plötzlich letzte Woche fiel mir etwas ein: Seit einem Jahr gebe ich als Bobath-Kindertherapeutin Kurse in der Frankfurter Familienbildungsstätte in Sachsenhausen für Mütter mit ihren Säuglingen von 5-9 Monaten. Und wie es nun mal meine Art ist, hospitierte zunächst ich bei einer Kursleiterin. Sie liebt es zu singen und kann mit Kinderliedern die Säuglinge zu einer vollen Stunde Aufmerksamkeit und Konzentration bringen ganz bezogen auf ihre Stimme und Person. Ich neige sehr dazu mich anzupassen, Anregungen von anderen zu integrieren. Manchmal setze ich mich selbst damit unter Druck, Dinge zu kopieren, die mir nicht entsprechen, nur weil es bei anderen gut ankommt. Ich mache mir Druck der unnötig ist und niemandem hilft. Viel wichtiger für mich ist doch die Frage: Wie bin ich authentisch, wie gestalte ich meinen eigenen Kurs, was ist an mir glaubhaft und macht den Kursteilnehmern Freude? Diese Fragestellung ließ mich überlegen: Mein Gebiet, meine Berufung ist nun mal die Bewegungsanalyse, sind Bewegungsangebote aus der Physiotherapie, die den ganzen Menschen und seine Psyche einbeziehen. In meinen Kursen vermittle ich erstmal das Gefühl: So wie ihr seid, seid ihr o.k., egal welches Bewegungsverhalten ihr zeigt. Jeder ist anders, zeigt andere Stärken und Möglichkeiten. Die wichtigste Aufgabe im ersten Lebensjahr ist es hier auf der Erde anzukommen und aus diesem Angekommensein heraus geht es dann in die Welt mit der Unterstützung und dem Schutz der Eltern. Entsprechend wird von mir das Verhalten der Mütter mit ihren Fragen unterstützt; denen, die konkrete Hilfen wünschen, bekommen sie. Genauso wird schon die Interaktion zwischen den Säuglingen unterstützt. Denn sie können meiner Meinung nach, entgegen noch gültiger Lehrmeinungen, durchaus schon kommunizieren und voneinander lernen – nur jeder auf seine Weise. Gelassenheit und Ruhe, Aufbau von Beziehungen, Selbständigkeit, Autonomie, Integration sind Schlüsselworte für meine Kurse. Und daher gestaltet sich auch jeder Kurs anders.


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Für mich ist die Erfahrung und die Rückmeldung, dass Mütter mit ihren Sprösslingen sich bei mir verstanden und aufgehoben fühlen – auch ohne dass ich singe, alle Aufmerksamkeit auf mich lenke, sehr befreiend. Es zeigt mir, dass es nicht nötig ist zu kopieren und der Ansatz, es ist gut, so wie es ist, löst Entwicklungsmöglichkeiten bei anderen aus ohne aufzuzwingen. Befreiend für mich ist es zudem, dass ich diese Tätigkeit mit den Säuglingen wieder ausüben kann – nachdem ich sie 1996 in Tübingen mit Hannes Tod eingestellt hatte. Der Schmerz war damals zu groß. Ich hatte damals in einer Krankengymnastik-Praxis mit Säuglingen gearbeitet, doch mit Hannes Sterben war ich unfähig, mit Säuglingen zu arbeiten, da sich Bilder von Manuels Geburt und Säuglingszeit immer wieder bei mir einstellten … und ich einfach nur heulen musste. Befreiend ist es für mich zurückzublicken und sagen zu können: Nach 19 Jahren Zeit mit Manuel, 13 Jahre nach Hannes Tod ist es mir wieder möglich diese Tätigkeit auszuüben.

Und was hat das mit Euch zu tun Franz, Christian und ihr anderen in Berlin-Kreuzberg? Na ja, bei euch fühle ich mich auch angenommen in meinem Dasein als Mensch mit all meinen Macken und Kanten – halt, dass ich eben ein Mensch bin und damit nicht perfekt.


Zeichnung von Christian Schmidt


Gemeinschaft am Weg – Christian Herwartz

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Die Aussagen der 32. Generalkongregation SJ – zum gemeinsamen Engagement für Glaube und Gerechtigkeit – machten den Weg frei zur Gründung unserer Gemeinschaft. Nach meinem Studium in Deutschland wurde ich im Herbst 1975 in eine Kommunität von Arbeiterpriestern SJ nach Frankreich geschickt. Ich war in verschiedenen Firmen als Fahrer, als Pressenführer und nach einer Ausbildung als Dreher beschäftigt. Später folgte mir ein Mitbruder aus Deutschland: Michael Walzer. Er arbeitete in einem Felllager. Mit ihm gründete ich drei Jahre später in West-Berlin unsere kleine Gemeinschaft und wir fanden beide Arbeit in der Elektroindustrie.

Eine doppelte Eingliederung

Als Arbeiter wollten wir den Weg der Inkulturation in unserem betrieblichen Umfeld gehen, hatten aber auch den Wunsch, für Menschen in größerer materieller Not offen zu sein. Deshalb zogen wir innerhalb von Westberlin nach Kreuzberg. Es ist ein Stadtteil mit vielen Menschen aus der Türkei und mit vielen Arbeitslosen. Andere sind aufgrund ihres hohen Alters oder durch Schicksalsschläge an den gesellschaftlichen Rand gedrängt. Dazu gesellen sich Künstler und politisch Interessierte mit einem basisdemokratisch linken Interesse.

Die Kommunität wuchs. Im ersten Jahr kam Peter Musto dazu, ein ungarischer Jesuit, der dann weiter zog nach Kolumbien, um unter Straßenkindern zu leben. Er blieb lange Zeit Teil unserer Kommunität. Dann stießen Menschen aus dem Stadtteil zur Gemeinschaft. Im dritten Jahr wurde Franz Keller, ein Bruder aus der Schweiz, zu uns geschickt, der noch mit 55 Jahren eine Arbeit in der Elektroindustrie fand. Er ist heute 83 Jahre und wir beide waren lange die einzigen Jesuiten in der Gemeinschaft. Michael Walzer starb 1987 an einem Gehirntumor. Um diese Zeit waren wir fünf Jesuiten und die Türen der Gemeinschaft hatten sich geöffnet. In den folgenden 30 Jahren wohnten hier auf engstem Raum etwa 400 Menschen aus 61 Nationen. Sie haben in ganz unterschiedlichen Lebenslagen an unsere Tür geklopft und wir haben jeweils eine Matratze mehr ausgelegt, damit alle Platz fanden. Ihre Obdachlosigkeit war entstanden auf Grund von Krankheit, Fluchtsituationen, Abenteuerlust, Arbeitslosigkeit, Entlassungen aus Gefängnissen oder Krankenhäusern, Lebensumbrüchen, und auch aus religiösen Gründen. So wurde die Kommunität nach und nach zu einer Pilgerherberge, in der einige über 10 Jahre blieben, bis ein weiterer Lebensschritt deutlich wurde. Andere zogen schneller weiter. Unsere Mietwohnung wurde ein Ort, Gastfreundschaft im


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internationalen Rahmen zu üben. Wir wohnten nahe der Mauer, die die Stadt in Ost und West teilte. Die Kontakte zu Menschen jenseits dieser Grenze waren uns sehr wichtig.

Der Reichtum jedes Einzelnen

1987 wurde ich zu einem internationalen Treffen SJ in Frankreich zu dem Thema „Zusammenleben mit Muslimen“ eingeladen. Dabei wurde mir deutlicher: Ich lebe nicht nur mit Menschen zusammen, die einen Mangel wie Heimatlosigkeit, Sprachlosigkeit, Krankheit, Arbeits- oder Beziehungslosigkeit haben, sondern, viel wichtiger: ich lebe mit Menschen zusammen, die einen Reichtum mitbringen. Ich darf mit Menschen unterschiedlicher Religionen, Sprachen, Lebensperspektiven zusammenleben. Ähnlich wie auf der Arbeit war jetzt auch in der Kommunität der helfende Aspekt in den Hintergrund getreten und die Entdeckung der Würde jedes Einzelnen stand im Vordergrund. Insgesamt habe ich mein Leben auf der Arbeit und im Stadtteil als einen Weg der Menschwerdung erlebt. In der Freude darüber waren viele Veränderungen möglich.

Die weltweite Gemeinschaft

Die internationalen Kontakte sind ein wichtiger Aspekt der Gemeinschaft, und darin auch die Kontakte zu anderen Jesuiten weltweit. So verwundert es nicht, dass die Texte der letzten Generalkongregationen unser Suchen häufig bestätigten und weitere Entwicklungen unterstützten. Dazu gehört z.B. die Ausrichtung auf den Weg der Inkulturation und des interreligiösen Dialogs, aber auch das Dekret zur Situation von Frauen und die besondere Aufmerksamkeit gegenüber Menschen aus Afrika, die unter uns wohnen. Sie sind mitten im Rassismus unseres Landes ein großes Geschenk.

Politische Gebete

Zusammen mit anderen, den Ordensleuten gegen Ausgrenzung, begannen wir vor 14 Jahren ein regelmäßiges Gebet vor dem Gefängnis, in dem Menschen ohne kriminelle Auffälligkeit einsitzen, weil sie in andere Länder abgeschoben werden sollen. Als Berliner haben wir schmerzhafte Teilungs- und Mauererfahrungen. Wir sind empört über diese Freiheitsberaubung. Nun stehen wir regelmäßig vor der Gefängnismauer, die für uns ein Teil der Mauer um Europa oder um Länder wie die USA ist. Im Gebet übersteigen wir die Grenzen und unser Leben darf sich ausweiten.

Vor sechs Jahren begannen wir mit Muslimen, Hindus, Buddhisten, Religionslosen und sporadisch mit Menschen anderer Religionen ein interreligiöses


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Friedensgebet, zu dem wir uns jeden Monat auf einem großen Platz mitten in der Stadt versammeln.

Exerzitien auf der Straße

Das innere Gebet am Arbeitsplatz und das gemeinsame vor dem Gefängnis haben uns den Weg gewiesen, die Ignatianischen Exerzitien neu wahrzunehmen. Für uns sehr überraschend wurden wir im Jahr 2000 dazu aufgefordert, „Exerzitien auf der Straße“ anzubieten. Diese Anfrage hat unser Leben verändert. Auf diesem Exerzitienweg, gibt es einen zentralen Impuls: Wir erzählen die Geschichte von Mose, der die ihm anvertrauten Tiere eines Tages über die Steppe hinaus treibt und dort einen brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch entdeckt. Neugierig geht er darauf zu und hört, dass er auf Heiligem Boden steht und die Schuhe der Distanz ausziehen soll. Das Feuer der Liebe, das brennt und nicht verbrennt, eröffnet ihm zuerst Bekanntes, aber vielleicht beiseite Geschobenes, nämlich die Not seines Volkes. Die Stimme aus dem brennenden Dornbusch nennt ihren Namen und ruft Mose in seinen Dienst zur Befreiung des Volkes aus der Sklaverei (Ex 3).

In den Exerzitien lassen sich die Teilnehmer/innen ihren „Dornbusch“, und damit den eigenen heiligen Ort zeigen, an dem sie die Schuhe des Besserwissens, der schnellen Flucht oder der eigenen Abwertung möglichst real ausziehen. Unscheinbare zufällige Orte; Menschen am Weg; historische und soziale Brennpunkte; Leidvolles in der eigenen Lebensgeschichte; an vielen dieser Plätze lässt sich Gottes Stimme hören. Teilnehmer/innen und Begleiter/innen werden überrascht von den entdeckten Meditationsorten und den sich dort anbahnenden inneren und äußeren Gesprächen. Es geht um die direkte Erfahrung mit dem Auferstandenen in unserer Umgebung und die Beziehung zum Hl. Geist in uns selbst. In diesem äußeren und inneren Erleben werden Prozesse der Heilung angestoßen und Entscheidungen ermöglicht.

Der gemeinsame Lebensrhythmus

Heute schlafen in unserer Wohnung durchschnittlich etwa 16 Menschen, darunter zur Zeit vier Jesuiten. Wie viele hier ihren Lebensmittelpunkt haben, also nach eigenen Angaben mit uns wohnen, ist mir unbekannt. Ich bin immer neu verwundert, mit wem ich zusammen wohnen darf und wer sich auf die eine oder andere Weise der Gemeinschaft zugehörig fühlt.

Jeweils dienstags gibt es für die hier Wohnenden ein Abendessen und eine Runde über die Ereignisse der letzten Woche. Jede und jeder erzählt, welche Anstöße wichtig geworden sind. Nach diesem etwa zweistündigen Zuhören feiern wir die Messe am selben Tisch. Die biblischen Texte des Tages lassen


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uns neu auf die Ereignisse der Woche sehen, indem wir uns darüber austauschen. Neben diesem etwa vierstündigen „Gottesdienst“ – Essen, Austausch, Eucharistie – gibt es jeweils am Samstag ein ebenso langes großes Frühstück, zu dem oft 40 Menschen nach und nach kommen. Jede/r bringt Themen mit, über die wir ins Gespräch kommen. Im Rhythmus dieser beiden Mahlzeiten lebt die Gemeinschaft auf dem Weg mit allen hier Wohnhaften und ihrer Mitwelt, die sie als Gäste beherbergen darf.

Ein planloses Leben

Es gibt keinen Reinigungs- oder Abwaschplan, keinen Begrüßungs- oder Beratungsplan, aber ein großes Vertrauen auf die Führung Gottes und die Hoffnung, seine Anstöße auch mitten in schmerzhaften Situationen wahrzunehmen. Wir machen anarchistische Erfahrungen, die auf der Wertschätzung jedes Einzelnen aufbauen. Nach der Wüstenwanderung Israels wehrten sich die Propheten dagegen, Könige einzusetzen (Richter 9). Auch Jesus wandte sich gegen Herrschaftsstrukturen, die tagtäglich viele Menschen ausgrenzen. „Die Könige herrschen über ihre Völker und die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein!“ (Lk 22,25ff). Wir entdecken neu die verwandtschaftliche Hoffnung aller Menschen. In diese Freiheit werden wir zurückgestoßen, besonders von Menschen, die in unserer Gesellschaft ohne behördliche Papiere leben. In Berlin sollen es etwa 100.000 Menschen sein, in Deutschland werden sie auf eine Million geschätzt. Sie leben in unserer Mitte eine Ungesichertheit, die uns herausfordert. Das Vertrauen dieser Menschen ist ein jeweils neu zu entdeckendes Licht. Manchmal suchen uns diese Boten Gottes aus fast allen Ländern der Welt auf. Dann ist ein Festtag mitten in der globalen Völkerwanderung, die unsere Welt herausfordert. Diesen Festtag nicht zu übersehen und ihn auf die eine oder andere Weise zu begehen, ist ein Schritt auf dem Weg des Lebens mit all den Menschen weltweit, von denen sie uns in ihrer Not Zeugnis ablegen. Die Verwurzelung in diesen Menschen und damit in dem Mensch gewordenen Gott ist die einigende Kraft unserer Gemeinschaft, die für uns unplanbar ist und der wir die Tür offen halten wollen.

Keine professionelle Hilfe

Die Gemeinschaft lebt in einem politischen, interreligiösen und kirchlich ökumenisch herausforderndem Zusammenhang. Sie hat sich nicht auf ein Thema spezialisiert über das sie eine besondere soziale Kompetenz beanspruchen könnte. Professionelle Hilfe muss anderswo gesucht werden. Menschen ganz unterschiedlicher Prägung sind anwesend, mit denen wir Gemeinschaft und


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Freundschaft entdecken. Dabei finden wir viele Abhängigkeiten und entdecken unterschiedliches Suchtverhalten. In den freundschaftlichen Beziehungen nicht selbst zu Co-Süchtigen zu werden, ist eine große Herausforderung. Wir wollen uns durch die Suchtbrille den Blick für die Wirklichkeit nicht verstellen lassen und jeweils zum eigenen Nein und Ja oder zum Widersagen und Glauben finden, wie es in der Liturgie der Taufe heißt. Wir sind selbst in Süchte verstrickt: Wir stecken mit vielen in der kapitalistischen Sucht der Geldvermehrung. Auch durch die klerikale Sucht in religiösen Gemeinschaften – gleich welcher Weltanschauung – wird der Blick auf die Wirklichkeit durch Gesetzlichkeit verstellt. Im Bereich der Sexualmoral werden Grundsätze wichtiger als der barmherzige Blick auf betroffene Menschen. Sie geraten darüber in Notlagen. Wir sind eingeladen, einen Schritt auf dem Weg der Einheit mit Gott und der von ihm geschenkten Freiheit zu tun. Die dankbare Freude darüber, wenn Ungeister weichen und Versöhnung eintritt, ist unermesslich.

Für mich ist die Kommunität eine überbordende und doch stille Pilgerherberge geworden, in der Gastfreundschaft geübt wird mitten in einer Gesellschaft, die ständig neue Kontroll- und Überwachungstechniken einsetzen und in der die traditionellen kirchlichen Gemeinschaften an Bedeutung verlieren. Unsere Kommunität verwurzelt sich in der Begegnung mit Menschen im nahen Umfeld, im weltweiten Zusammenhang und darüber in der Wirklichkeit Gottes, der uns in allem überraschen will.

veröffentlicht in: Promotio Justitiae, Rom 2008 (in Engl., Franz., Ital., Span.)


Die Kirche offen halten – Claudia Keysers

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Als ich hier in der Dreifaltigkeitsgemeinschaft in Salvador (Brasilien) im wöchentlichen Gottesdienst gebeten wurde, eine für mich besondere Erfahrung mit einer protestantischen Kirche zu erzählen, kam mir sofort St. Thomas in den Sinn: Die vielen Berührungspunkte der WG Naunynstr. selber und die mit St. Michael, die Straßenexerzitien, die Exerzitien im Alltag, die Berliner Tafel …

Aber am stärksten war in mir die Erfahrung mit Detlef und das Wenige, was ich von ihm oder über ihn weiß. Seine tägliche Präsenz in der Kirche St. Thomas, wodurch sie zu einer offenen Kirche geworden ist. Sein Engagement und seine Ausdauer, das Gebäude wieder herzurichten (von Asbest zu befreien), zu renovieren, um Leben nach dem Fall der naheliegenden Mauer mit der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland zu ermöglichen und zu gestalten.


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Die Liebe zu den Menschen von der Straße, die in St. Thomas einen Ort haben, an dem sie sich bei einem gemeinsamen Frühstück für den Tag stärken. Einen Ort, wo Spenden und Leben geteilt werden. Detlef ist selber ein Mensch, der auf der Straße gelebt hat und nun in der Kirche St. Thomas mit ganzem Herzen zu Hause ist. Immer steht ein Kaffee bereit, wenn man in die Kirche kommt, eine Kleinigkeit zu essen und das Da-sein von Detlev ist eine Einladung zu bleiben und zu verweilen.

Als ich meine Eindrücke erzählte, spannte sich ein Bogen zu der Dreifaltigkeitskirche hier in Salvador. Sie wurde von einem „Pilger“, der selbst lange Zeit auf den Straßen Brasiliens unterwegs war, mit einer kleinen Gruppe nach 10 Jahre langem Leerstand, gereinigt und hergerichtet, damit Menschen von der Straße dort leben und arbeiten können. Marivalda und ich leben nun schon seit 10 Monaten in der Gemeinschaft der Dreifaltigkeit und sie ist wie St. Thomas durch Menschen wie Detlef zu einem besonderen Ort geworden. Es leben etwa 40 Menschen in und auf dem Gelände der Kirche. Schon beim ersten Besuch der Gemeinschaft waren Gemeinsamkeiten mit der Naunynstr. für uns spürbar:

Die Einfachheit der Lebensform: Wir schlafen verteilt auf Pappkartons in der Kirche, kochen mit einem Holzofen, damit die Hürde von der Straße nicht so hoch ist und deutlich wird, dass es keine Instituition ist.

Die Offenheit für diejenigen, die kommen: Es ist keine in sich geschlossene und um sich kreisende Gemeinschaft.

Die Aufnahme so wie ich bin: Ohne zunächst viel zu wissen oder zu fragen. Das Teilen von Leben: Jede(r) bringt sich so weit er/sie kann mit seinen/ihren Schwächen und Stärken ein.

Der offene wöchentliche Gottesdienst: An dem Erfahrungen und Brot und Wein miteinander geteilt und gefeiert werden bei einer im Anschluss von den vom Markt gesammelten Gemüseresten bereiteten Suppe.

Es ist für uns ein Ort, der uns vielfältige Erfahrungen und Themen nahe bringt: Schritte aus der Sucht und den Abhängigkeiten, der Gewalt, Neuanfänge wagen, Getragen-werden, Gebrochenheit und Heilung und vieles mehr.


Sie sprechen dieselbe Sprache wie Er – Karin

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Es war letzten Sommer: Schon Wochen vor den großen Sommerferien gab die Billigmaschine den ´Geist` auf. Aus Angst vor den sich türmenden Wäschebergen verlängerte ich den Aufenthalt in Joachimsthal um eine weitere Woche. Eddi stellte uns großzügig seine Bude zur Verfügung. Um ehrlich zu


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sein, am liebsten wäre ich gar nicht mehr nach Hause gefahren. Irgendwann sind wir doch wieder zurückgefahren. Mein Mann hatte A. – unseren ´Sankt Nikolaus` aus Izmir – angepumpt. A. ist der Pate unserer kleinen Tochter Theresa und stammt aus der Türkei. Aufgrund seines Pazifismus hatte A. als ´staatenloser Obdachloser` unglaublich lange – über ein Jahrzehnt – auf der Straße leben müssen. Komischerweise ist A. aber der einzige all unserer ganzen Verwandten und restlichen Paten, der sich regelmäßig um uns und sein Patenkind kümmert. A. hat überhaupt nichts mit Religion am Hut und trotzdem ist er immer wieder der größte Segen für unsere Familie.

Jedenfalls konnte ich dank A`s Hilfe am nächsten Tag zu Saturn, Media-Markt fahren. Tagelange Suche nach der billigsten, günstigsten, besten Waschmaschine. Bis ich endlich die Suche aufgab und mich doch wieder für genau dasselbe Billigfabrikat wie letztes Mal entschied. Die hatte nämlich trotz ihrer Billigkeit fast genau sieben Jahre durchgehalten – enorm! Mehr kann man vom Billigen nicht verlangen. Der Verkäufer tat so, als ob ich mit dem Kauf gerade im Lotto oder sonstwo gewonnen hätte: “Nur damit sie ihre neue Waschmaschine morgen früh bekommen, mach ich schon seit 20 Minuten Überstunden“, sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht und einem Haifischlächeln. Stolz zückte er seine elegante, blinkend-blitzende Goldarmbanduhr. Ganz schnell tippte er ganz wichtige Nummern und Zahlen in die komplizierte Handytastatur. Morgen früh, versprach er, soll die Maschine geliefert und angeschlossen werden. Doch plötzlich: War da eine Störung in seiner Logistik? Seine Backen, seine Wangenknochen verspannten sich, verärgert verdrehte er die Augen und sagte ungeduldig: „Na gut, dann sollen Ali und Gürbiz diesen Auftrag eben auch noch erledigen.“ „Frau Bretzinger“, wandte er sich mir wieder zu, “wie sie vielleicht mitbekommen haben, sind wir zur Zeit etwas in Schwierigkeiten mit unseren Lieferanten. Aber wir liefern. Ganz früh oder ganz spät – was ist ihnen lieber?“ „Ganz früh“, brauchte ich da nicht lange zu überlegen.

Mit dem Gefühl – eigentlich jeder Katastrophe inzwischen gewachsen zu sein – öffnete ich am nächsten Morgen die Tür: „Hallo, guten Morgen! Sie sind ja überpünktlich“, platzte ich den schwer beladenen Männern gleich als allererstes entgegen. Die beiden Männer schwitzten und sahen alles andere als glücklich und gut gelaunt aus. Sofort bot ich ihnen ein Glas Wasser an, das wie von der Pistole geschossen von beiden Männern sofort einstimmig mit dem einen Wort „Ramadam“ abgelehnt wurde. Seit meine arabische Nachbarin – hochschwanger – fastete, wundere ich mich hier in Kreuzberg über nichts mehr. Trotzdem, bei dieser Schwüle und Bullenhitze nicht mal Wasser zu trinken und dabei körperliche Schwerstarbeit zu leisten, fand ich


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auch schon wieder beachtlich. Vor allem Ali, der größere der beiden Männer, machte einen sehr seriösen, technisch versierten, professionellen Eindruck. Ab jetzt wollte ich mich in nichts mehr einmischen. Bis zur ersten Panne ein paar Minuten später: Das monatelang abgestandene, stinkende Wasser war versehentlich aus dem Schlauch gelaufen. Einem der beiden Männer wurde aufgrund seines nüchternen Magens schlecht. Der andere fragte nach einem Bodenlappen. Ich riss zuerst das Badfenster weit auf, holte dem Mann einen Stuhl und musste ihm fast befehlen, sich zu setzen. Unter der alten Waschmaschine war ein Riesendreck, den wollte ich unbedingt selbst wegmachen. Ich schämte mich. „Bitte machen sie doch eine kurze Pause .- ich bin gleich fertig mit dem Wischen.“ „Deshalb haben wir uns in dieselbe Schicht eintragen lassen, um uns gegenseitig zu stützen, wenn einer schwach wird“, sagte der Sitzende und kam langsam wieder zu Kräften.

Über unserer Waschmaschine hängt eine alte, kleine Karte mit einer wunderschönen Berglandschaft und einer aufgehenden Sonne. Darunter steht fast aufdringlich: „Was Du suchst ist nicht hinter den Gipfeln der Berge sondern in Deinem Herzen!“ Während ich so schnell wie möglich den peinlichen Schmutz auf dem Boden zu beseitigen versuchte, starrte der vom Fasten und von der schweren Arbeit restlos ausgemergelte, geschwächte Ali wie gebannt auf diese Worte. Später im Wohnzimmer traute er sich, mich zu fragen: „Ihr seid Christen?“ „Ja“, antwortete ich, „und wir haben auch Ramadam – sieben Wochen vor Ostern.“ „Ich weiß, sagte Ali. Er war insgesamt der aufgewecktere und aufgeschlossenere von beiden. “Ich kenne Christen. In der Türkei – aramäische Christen. „Sie sprechen sogar in derselben Sprache wie Er – Aramäisch“. „Wie Er“ – Ali, der andere und ich, wir alle drei blickten jetzt auf die von Bruder Franz gemalte Ikone und wurden plötzlich still. Ich war zutieftst gerührt, weil Ali in so liebevollem, vertrautem Ton von Jesus sprach. Als ob er ihn schon ewig kennen würde – in einer sehr, sehr großen Achtung und Ehrfurcht. Ali konnte wohl Gedanken lesen und sagt zu mir: „Jesus ist bei uns 100% anerkannt, er ist ein großer, heiliger Prophet bei uns. In der Türkei sind wir gut mit den Christen ausgekommen, sie sind sehr geschätzt dort , ich bin mit ihnen aufgewachsen. Nur hier in Deutschland – und ich bin seit Jahrzehnten hier – hab ich noch keinen einzigen Christen erlebt. Ich hab hier noch keinen einzigen Christen beten gesehen. Deutsche Christen? Beten die? Wo sind sie?“

Ich blickte betreten zu Boden. Irgendwie hatte er ja auch Recht: Wenn ich nicht zufällig auf die Naunynstraße und auf den Bruder Franz von Emmaus (Kuttenfranz) gestoßen wäre, hätte ich dann jemals jemand beten gesehen, jemand betend erlebt – geschweige denn wäre ich dann selbst jemals zum


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Beten gekommen? Ausgerechnet mich Kleingläubigen, „Anfänger-Christen“ musste Gott wieder mal in so eine schwierige Situation schicken – und ich schimpfte heimlich mit ihm. Wenn ich jetzt diesen einfachen, frommen Leuten auch noch von mir und meinem komplizierten Glaubensweg als Halb-Katholik, Halb-Protestant erzähle, dann müssen sie erst Recht von den Christen denken: „Diese armen Christen, die sind ja wirklich nicht mehr zu retten“. Auch wollte ich doch Alis große Freude – nach 20 Jahren endlich mal wieder einem Christen begegnet zu sein – nicht gleich wieder kaputtmachen. Und so bat ich Ali lieber zum Schluss noch ein paar Worte auf Aramäisch zu sprechen. Daraufhin war ich so begeistert von ihm, dass ich wirklich mehrere Tage in Kreuzberg hinter jedem halbwegs türkisch-aramäisch aussehenden Mann herschaute um in ihm vielleicht ein kleines Stück von Jesus zu entdecken!


Ich sitze … und weiß, dass Du da bist – Philippe Tibbal

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Montag, der 30. November 2009

Es ist 19.30 Uhr.

Ich sitze …

in der Wohngemeinschaft der Naunynstraße

mit Renate und Christian.

„Es wäre interessant, wenn du etwas für das neue Buch schreiben würdest!“, schlägt mir Renate vor. Oh, lieber Gott ! Was habe ich zu sagen und wenn sie wüsste, wie schwer es mir fällt überhaupt etwas zu schreiben. Aber ! Wäre es nicht eine gute Gelegenheit anzufangen?

Montag, der 30. November

Zwei Stunden später.

Ich sitze …

in der Tanzschule der Obentrautstraße

und warte auf Martin.


„Wenn ich nicht sofort anfange, dann wird es morgen zu spät sein.“

Zwischen einem Adventskranz und einem hölzernen Weihnachtsmann liegt ein Kugelschreiber, der mir, leckend, die Finger verschmiert, als wäre ich ein Schüler, der das Schreiben gerade lernt. Aus meiner Jackentasche nehme ich die Blätter heraus, die Renate mir gegeben hatte, und beginne auf der Rückseite einen ersten Entwurf zu schreiben:


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Weil Kreuz birgt und verbindet.

In Kreuzberg 36 gibt es einen Ort,

einen Ort, den man an einem regnerischen und kalten Herbsttag entdeckt, an dem man ganz

alleine ist mit weniger als 500 Francs in der Tasche und wo man trotzdem fühlt: „Hier, bin ich richtig!”,

einen Ort, an dem meine Gebete zur Heavy Metal Musik der Kneipe „Trinkteufel – das Tor zur Hölle“ gewiegt wurden,

einen Ort, an dem Junkies Marianne Rosenberg lauschen, um ihre Wunden zu heilen,

einen Ort, an dem ein Pfarrer sich freut, wenn du ihm schamhaft sagst, dass du schwul bist,

einen Ort, an dem ein 80 jähriger Junge wohnt, der 200 Kilometer in der Woche Rad fährt,

einen Ort, an dem eine Studierte sich für das Bäckerhandwerk entscheidet,

einen Ort, an dem die zersplitterten Teile meiner Seele erst in Schwung gebracht wurden, um später wieder ein Ganzes zu bilden,

einen Ort, an dem sich plötzlich so viele Türen öffnen, dass ein Luftzug wie ein Orkan entsteht.


Solch ein Sturm kann nur Chaos hinterlassen.

Chaos, das uns schnell die Zeit bedauern lässt, in der wir uns belogen, und das Unbekannte zu suchen mieden.

Chaos, das uns für den Moment bedauern lässt, Neues gesucht zu haben, oder vielleicht auch, Vorhandenes nicht geschätzt zu haben,

Chaos, das uns sogar die mutige Frage in unseren Gebeten bedauern lässt:

„Gott, was willst du von mir?”


So bedauern wir dann zunächst den ausgelösten Sturm,

solange bis wir verstehen, dass dieser eine Chance birgt.

Diese Chance, „Die Chance des Chaos“ erlaubt uns,

von Neuem all das wahrzunehmen, was wir schon haben.

Ihr verdanken wir, dass alles wieder sichtbar wird.

Jetzt muss man sich die Zeit nehmen das Durcheinander zu ordnen, wenn man nicht den Rest seines Lebens darüber stolpern will.

Ordnen,

Ja,

aber nicht mehr wie früher, als andere sich an unserer Stelle darum gekümmert haben.

Jetzt geht es nicht darum, seine Werkzeuge genau an ihren Platz zu räumen,


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jetzt geht es nicht darum, Instrumente und Utensilien von neuem

in alte Schubladen zu räumen,

Stoffe wohl gefaltet in ihr Fach zu legen,

Rahmen zurecht zu rücken;

Nein,

das Chaos ist da um uns zu sagen:

„Mach was mit mir!

Du hast so viele Materialien und Werkzeuge,

deren verantwortlicher Meister du wieder werden sollst,

du hast Dir auch Werkzeuge zu greifen,

anstatt sie zu betrachten, wie sie verstauben bis zum Tag der Unbrauchbarkeit.

Hab keine Angst den Staub aufzuwirbeln.

Lass sie glänzen, so schön wie sie nur glänzen können

und sie werden immer glänzen, wenn du es willst -.

Gib dir wieder die Gelegenheit zu experimentieren, zu basteln, zu kreieren,

um schließlich zu graben, zu fundamentieren und zu bauen.

Du hast heute von neuem ein großes Bedürfnis,

deine, nicht irgendwelche, neuen Horizonte zu entdecken.“


Vor zehn Jahre habe ich in der Wohngemeinschaft der Naunynstraße

ein Kreuz entdeckt.

Nicht das der Furcht, Schande und Schuldgefühle, aber

ein Kreuz, das hilft Angst zu überwinden,

ein Kreuz, das Teile eines Ganzen verbindet, die nicht zusammenzupassen scheinen,

obwohl man genau weiß, wie sehr sie zusammen gehören,

ein Kreuz, das mich und uns eint.

Vor zehn Jahren habe ich in der Wohngemeinschaft der Naunynstraße

ein Kreuz entdeckt,

ein Kreuz der Befreiung eines Herzens.


Montag, der 07. Dezember

Es ist 19.30 Uhr

Ich sitze …

in einer Kneipe des Flughafens in Moskau.

„Ist auch Stanislawski hier vorbei gelaufen?“

Ich sitze also

… und weiß, dass du da bist.


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Ich sitze …

und stehe schon wider auf.

Es gibt so viel zu tun …

(Für Mélanie)


Beziehung – Christian Schmidt

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persönliche beziehung bringt genuss gewürzt mit mehr oder minder verdruss psychologisch ist es eine harte nuss die du immer selber knacken musst willst du die frucht jetzt schon haben wirst du die nuss nicht vergraben


Obdachlose Junkies sind Menschen mit Würde – Patriz Bahadorifar

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Ich gehörte zu jener Generation junger Menschen, für die Fußball tatsächlich die schönste Nebensache der Welt war. Ich selbst spielte immer sehr gerne Fußball und schaute mir im Fernsehen fast alle Spiele an. Mein ewiger Traum war eine internationale Karriere als Fußballprofi. Leider fehlten mir dazu der eiserne Wille, die Zielstrebigkeit und Disziplin. Jene Eigenschaften, die man vor allem den deutschen Fußballern nachsagt. Vor etwa 25 Jahren musste ich politisch bedingt mein Heimatland Iran verlassen und nach Deutschland flüchten. Flucht in ein Land, über dessen Finalsieg seiner Nationalmannschaft 1974 ich mich als Zwölfjähriger so gefreut hatte. Auch hier in Deutschland schaute ich mir als Fußballfanatiker alle Spiele an und war sehr begeistert von der Bundesliga. Schon früh fiel mir aber in Sachen Fußball eine merkwürdige Einstellung hiesiger Experten und Kommentatoren auf. Mich überraschte vor allem, wie schnell und voreilig sie ihr Urteil über die Spieler fällten. Hatten die Fußballstars einen guten furiosen Start, feierten die Experten sie entzückt und überschwänglich wie die Heiligen. Sie würden wie von einem anderen Stern spielen, sie wären wahre Superstars, wahre Fußballgötter. So war meist deren Kommentar. Spielten die Spieler nur einige Tage später unauffällig oder einfach schlecht, verflüchtigte sich die anfängliche Euphorie auf einen Schlag. Ein Gefühl der Entrüstung und Enttäuschung


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überschattete dann die Fußballrepublik Deutschland. Urplötzlich interessierten sich jene Experten nicht mehr für ihre Lobeshymnen von gestern, drehten den Spieß um und kritisierten jetzt die Helden von gestern und deren Vereine. Ich dachte mir, wer so schnell richtet, wer sich nach nur einem Spiel so begeistern lässt, der wird ziemlich bald sein blaues Wunder erleben. Mit der Zeit nahm ich wahr, dass diese Einstellung der Ausdruck einer bestimmten Mentalität ist, die sich nicht nur auf die Fußballwelt beschränkt.

Selbstverständlich ist jeder frei, Personen oder Sachverhalte positiv oder negativ zu beurteilen. Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das Problematische oder das Tadelnswerte daran ist nur, wenn man schnell und voreilig sein Votum abgibt und selbstzufrieden aburteilt. Eine besonnene und geduldige Haltung gegenüber den Menschen ist eine bessere, positive, humane Alternative. Sicherlich fällt es keinem von uns leicht, sich immer an diesen Grundsatz zu halten. Trotzdem ist diese allgemein bekannte Erkenntnis von unschätzbarem Wert für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch ich hatte am letzten Donnerstag meine Mühe und Not, mich an diesem Grundsatz zu halten. An diesem Tag musste ich so gegen 17 Uhr einen alkohol- und drogensüchtigen Mann ins Krankenhaus begleiten. Ich lernte ihn vor etwa acht Monaten auf der Straße kennen, als er mich höflich bat, eine Obdachlosenzeitung zu kaufen. Wir kamen ins Gespräch und sprachen miteinander über alle möglichen Themen. Es entwickelte sich allmählich eine Art Freundschaft zwischen uns. In unseren Straßengesprächen erzählte er mir oft über sein leidvolles Leben und ich las ihm aus dem Koran und aus der Bibel vor, um ihm Kraft und Halt zu geben. Ich erfuhr, dass er im Alter von zwei Jahren von seinem alkoholisierten Vater so übel geschlagen wurde, dass er wochenlang im Krankenhaus behandelt werden musste. Kurze Zeit später wurde er von einem Lehrerpaar adoptiert. Seine Adoptiveltern taten gewissenhaft ihr Bestes und sorgten recht gut für ihn. Eine warme authentische Elternliebe konnten sie ihm aber nicht schenken. Sie hätten eher aus Pflichtbewusstsein gehandelt und nicht aus Liebe, so sein Fazit. Mit zwölf erfuhr er von seiner Adoption. Eine ganze Welt brach in ihm zusammen. Ein großer Schock für ein Kind, das in diesem zarten Alter in absoluter Abhängigkeit von seinen Eltern lebt. Es war für ihn eine plötzliche, brutale Entwurzelung, eine bis dahin nicht gekannte Entfremdung seinen Eltern gegenüber und eine tiefe Enttäuschung mit schlimmen Konsequenzen für sein Leben. Ein plötzlich sinnentleertes Leben überwältigt seine zarte Seele. Von da an interpretierte und verstand er familiäre Ereignisse ganz anders als früher. Kleine Ungerechtigkeiten, Distanz oder Kritik, die es ja auch in jeder Familie gibt, führte er nun darauf zurück, dass er halt ein Adoptivkind sei. Das eigene Blut ist eben dicker, war


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sein einziger Gedanke, wenn es hin und wieder in der Familie krachte. Seine Schlussfolgerung: Er würde in Wahrheit nicht so richtig geliebt werden. Jedes Mal, wenn er sich damit beschäftigte, begannen in ihm Vulkane der Aggressionen zu brodeln und Ströme widersprüchlicher Gefühle zerrissen sein junges Herz. Der Zusammenbruch seiner kindlichen Welt und das schreckliche Gefühl, nicht wie ein normales Kind geliebt worden zu sein, erwiesen sich als bald prägend für seinen weiteren Werdegang. Er wird zunehmend verhaltensauffälliger und entwickelte sich zu einem Problemkind. Mit 18 bekam er eine vierjährige Freiheitsstrafe, eigentlich eine entscheidende negative Wende in seinem Leben. Frustriert und enttäuscht vom Leben ließ er sich in den darauf folgenden Jahren von seinen negativen Neigungen treiben. Alkohol- und Drogenexzesse, weitere Gefängnisaufenthalte und bittere Erfahrungen in seinem Liebesleben machen aus ihm einen psychisch labilen, gebrochenen Mann. Ein traumatisierter Mann, der gelernter Elektriker ist und über einen sehr feinen Sinn für schöne Künste verfügt. Ein passionierter Museengänger und ein hervorragender Tagebuchschreiber. Eine sanfte Seele, die immer wieder mit bösen Überraschungen konfrontiert wurde. Erst vor kurzem hatte er erfahren, dass er noch drei leibliche Geschwister hat. Und alle drei sind auf die Hilfe der sozialpsychiatrischen Kliniken angewiesen. Etwas, was ihn im Erleben der Hilflosigkeit seiner Geschwister noch wütender macht.

Als am Donnerstag vergangener Woche endlich der Krankenwagen eintraf, trank er sofort noch eine Flasche Korn, um seinen schlimmen Zustand noch schlimmer aussehen zu lassen. So wollte er gewährleisten, dass man ihn auch dort behält und nicht schnell wieder nach Hause schickt. Ich dachte mir in dem Augenblick, schlimmer als sein Zustand geht es doch wohl kaum: Gelbbraune Lippen, überall Nasenrotz auf seinen stinkenden Klamotten, geschwollene Augen und er zitterte am ganzen Körper. Zehn Tage zuvor war er aus seinem Methadon-Programm rausgeflogen, weil er drei Arzttermine verpasst hatte. Er war deshalb wieder gezwungen, Heroin zu konsumieren und das im Kostenumfang bis zu 70 Euro am Tag. In den letzten zwei Tagen wollte er aber nichts mehr konsumieren. Daher hatte er an diesem Donnerstag so schreckliche Entzugserscheinungen. Mittwochmorgen rief er selbst die Suchtklinik in Bergisch-Gladbach an und flehte das Personal an, ihn aufzunehmen. Ihm wurde gesagt, es gäbe dort keine freien Plätze mehr. Er möge sich bitte in ein paar Tagen melden. Als ich ihn so leidend sah, fasste ich ihn an der Schulter und sagte: Mein Freund! Was ist mit dir los? Du siehst gar nicht gut aus! Er antwortete nur: Bring mich bitte ins Krankenhaus. Mir geht es gar nicht gut. Sofort rief ich die Suchtklinik an. Auch mir sagte man, dass die Klinik überfüllt sei. Die Ärztin, mit der ich sprach, legte mir nahe, ihn ins Krankenhaus


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zu bringen. Sie würde dann schauen, dass er morgen aufgenommen wird. Die Hilfeleistung im Krankenwagen kam mir langsam, teilnahmslos und behäbig vor. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht Herrn R. sondern nur einen obdachlosen Junkie behandeln. Ich fühlte deren latente Verachtung und Abneigung Herrn R. gegenüber. Ich konnte auch spüren, dass sie so handeln, als ob sie es mit einem hoffnungslosen Fall zu tun hätten. Im Krankenhaus angekommen, brachte man ihn an ziemlich verächtlichen Blicken des Personals vorbei in einen kalten, seelenlosen und schmutzigen Raum, der vermutlich nur für drogensüchtige Arme gedacht ist. Kalte, seelenlose Räume extra für die Parias! Mir kam der Raum vor wie die Ausnüchterungszellen der Polizei. Ich konnte ihn genauso gut zur Polizei begleiten, es würde wahrscheinlich keinen Unterschied machen. Ab und zu machte Herr R. seine Augen auf, blickte kurz ins Leere und sagte nur Schnörrr, Schnörrr. Dann schlief er ein und versank in seinem Leid. Es verging fast eine Stunde bis die Notfallärztin kam. Herr R. litt an Leib und Seele, fror und zitterte. Wenn er die Augen auf hatte, wusste er nicht so recht, wo er war. Er sah mich dort stehen. Doch er war sich nicht sicher, ob ich wirklich bei ihm war. Er schien so, als ob er keinen realen Bezug zur Realität mehr hätte. Dann kam die Ärztin. Schnell erzählte ich über sein Leid und seine schrecklichen Entzugserscheinungen. Ich ließ sie wissen, dass er in den letzten zehn Tagen keinen Stuhlgang hatte. Vermutlich Darmverschluss, behauptete ich. Sie berührte kurz seinen Bauch und sagte, nein, das glaube ich nicht. Das war alles, was sie gemacht hat. Sie könne eben nicht viel für ihn tun, sagte sie und wandte sich von mir ab. Ich rief ihr hinterher: Frau Doktor! Schauen sie sich ihn bitte an. Sie haben einen Halbtoten vor sich. Außerdem ist Herr R. seit Wochen taub in den Füßen. Seine Nerven sind durch den Alkoholmissbrauch stark angegriffen und er ist momentan suizidal drauf, fügte ich hinzu. Sollte er nicht lieber einer gründlichen Untersuchung unterzogen werden?, fragte ich sie. Tun sie doch etwas für ihn. Behalten sie ihn wenigstens bis morgen hier, dann geht er in die Suchtklinik. Plötzlich sagte sie allen Ernstes zu mir, dass Herr R. überhaupt nicht behandelt werden wollte. Ich dachte mir, das darf doch nicht wahr sein. Bin ich denn etwa bei „versteckter Kamera“ gelandet? Als sie mein Unverständnis bemerkte, machte sie eine Blutprobe von ihm und sagte, ok, er bleibt ein paar Stunden hier, dann schauen wir weiter. Ich dankte und ging ziemlich spät zur Arbeit. Gegen 23 Uhr ging ich noch mal ins Krankenhaus, um nach dem Rechten zu schauen. Ich sah vor der Ausgangstür zwei jüngere Pfleger, die im Begriffe waren, Herrn R. vor die Tür zu setzen. Er weigerte sich zu gehen und hielt sich an seinem Stuhl fest. Mit geschlossenen Augen schrie er fast wie ein Kind: Nein! Ich möchte nicht weg. Mir geht es gar nicht gut. Die beiden Pfle-


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ger schienen taube Ohren zu haben. Nein, sie müssen den Raum verlassen, sagten sie abwechselnd zu ihm. Hart und schroff wollten sie ihn in die Kälte entlassen. Ich sah mir Herrn R. an. Sein Zustand war genauso schlimm wie vorher. Ich ging dazwischen und fragte, was los sei? Ich fragte weiter, ob er wenigstens untersucht wurde? Der eine Pfleger schüttelte den Kopf und sagte gleichgültig, nein, das war nicht nötig. Ich spürte in mir Wut und Aggressionen. Nein, sagte ich daraufhin, er wird hier bleiben. Schon morgen werde ich das ganze Notfallteam wegen unterlassener Hilfeleistung verklagen. Ängstlich riefen sie den Arzt. Minuten später kam ein junger, netter Arzt. Auch ihn habe ich über das Leiden von Herrn R. und seiner Verfassung in Kenntnis gesetzt. Ich bat ihn, Herrn R. bis morgen unter Aufsicht zu stellen. Er sah sich Herrn R. an und gab seine Zustimmung, weil er auch ihn so leidend sah. Minuten später erzählte mir Herr R., dass er Blut ausspuckte und trotzdem ließ sich niemand blicken. Sein Zustand war schlimm und erbärmlich. Er war beeinträchtigt und gezeichnet von seinem Leid, in einer absolut hilflosen Verfassung. Es war fahrlässig und verantwortungslos, Herrn R. in dem Zustand vor die Tür setzen zu wollen. Er konnte nicht allein einen Schritt nach vorne tun. Trotzdem war er dem Notfallteam eine Untersuchung nicht wert. Sie wollten ihn nur schnellstens los werden. Ich weiß überhaupt nicht, warum? In dem schmutzigen Raum war sonst niemand da. Ich flehte alle an, etwas für ihn zu tun. Ich stieß nur auf taube Ohren. Ich kam mir wie ein Bettler vor. Ich dachte, Gott, wie können Deutsche so grausam sein? Es war zum Verzweifeln. Keine richtige Untersuchung, keine medikamentöse Behandlung, keine Röntgenaufnahme, keine Zuwendung, nicht einmal eine nette Begrüßung, nichts dergleichen. Gibt es denn das Recht auf gleiche Behandlung aller nicht mehr? Wie auch immer. Diese Nacht durfte Herr R. dort verbringen. Ich legte eine Matratze auf ihn, weil er so fror. Er hatte nur ein dünnes Bettlaken. Minuten später kamen erneut die zwei jungen Pfleger und forderten mich auf, die Matratze wegzunehmen. So was sei gegen die Vorschriften! Wie bitte?, sagte ich, er friert doch. Sie wiederholten sich nur: Vorschriften sind Vorschriften. Herr R. war ihnen völlig egal. Dann kam der Arzt wieder und forderte mich höflich auf, nach Hause zu gehen.

Am nächsten Morgen sagte ich meine Arbeit ab und brachte Herrn R. in die Suchtklinik nach Bergisch-Gladbach. Dort verlegte man ihn sofort nach kurzen Formalien in die Station Akut 1. Endlich dachte ich, er ist in guten Händen. Eine Woche danach befindet sich Herr R. immer noch in dieser Station, was auf seine dringende Hilfsbedürftigkeit hinweist. Ich ließ schon am Donnerstag das Notfallteam im Krankenhaus wissen, dass Herr R. Selbstmord gefährdet ist. Stunden zuvor hatte er mit mir darüber gesprochen. Trotzdem


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wollten sie ihn, auf sich allein gestellt, an jenem Abend in die kalte dunkle Nacht auf die Straße entlassen. Gott sei Dank, Herr R. hat sich mittlerweile für eine Langzeittherapie entschieden und ist gewillt, einen neuen positiven Lebensneubeginn zu versuchen. Ich frage mich, wie würde sich unser Notfallteam im Falle einer Begegnung mit einer kranken Katze oder einem kranken Hund wohl verhalten? Was würde man da hören oder sehen: Ach, du arme Mimi, schaut mal, so süß ist sie. Schnell, beeilt euch. Die Mimi leidet. Also zuwendend, herzlich, schön und rührend. Sind eigentlich Herr R. oder Menschen in seiner Situation weniger Wert als Katzen und Hunde? Oder stellen wir uns vor, Herr R. wäre ein bekannter, reicher Drogen- oder Alkoholsüchtiger, jemand wie Harald Juhnke. Wie würde sich dann unser Notfallteam verhalten? Die Moral der ganzen Geschichte ist da leider nichts Neues. Und sie lautet: Arme, Obdachlose, Drogensüchtige, Schwache, kurz die Parias dieser Erde werden überall benachteiligt und ausgegrenzt, auch wenn sie scheinbar gleichberechtigt wie die anderen sind. Als ob die „Verdammten dieser Erde“ nicht selbst genug Probleme hätten. In allen Gesellschaften gibt es eine große Zahl von Menschen, die für die Belange der Schwachen und Besitzlosen kaum Verständnis aufbringt. Verachtung und Diskriminierung, denen sich die Randgruppen ausgesetzt fühlen, zeugen von der Hartherzigkeit vieler vorurteilsbeladener Menschen. Ich konnte übrigens an jenem Abend das Gefühl nicht los werden, dass das gesamte Notfallteam in Herrn R. jemanden sieht, der nichts zum Bruttosozialprodukt beiträgt und nur den braven Steuerzahlern zur Last fällt. Auch hier verdrängt das Primat der Ökonomie deas Primat der Barmherzigkeit. Ist es denn tatsächlich zu viel verlangt, zu erwarten, dass man Arme und Schwache gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten unter die Arme greift? Zu behaupten, diese wären selbst schuld an ihrer Misere, beinhaltet für diese Situation, wie bei jedem anderen Märchen auch, nur eine Teilwahrheit. Dieser Gedanke ist vielmehr eine vereinfachte reduktionistische Sicht mit leider negativen Folgen für die Schwachen. Die determinierenden Zwänge und machtvolle gesellschaftliche Strukturen werden da wenig berücksichtigt. Würden wir andererseits nur das Recht des Stärkeren anerkennen und respektieren oder in Kosten-Nutzen-Kategorien denken, dann würden wir bald eine brutale, entsolidarisierte Gesellschaft herbeiführen, die in niemandes Interesse läge. Ökonomisierung der Gefühlswelten ist eine Art Entfremdung, eine Gefahr für den inneren Zusammenhalt jeder Gesellschaft. Ein eisiger Wind bläst uns allen ins Gesicht. Auch in Deutschland werden Arme immer ärmer und Reiche immer reicher. Immer mehr Menschen geraten ins gesellschaftliche Abseits und verlieren den Anschluss. An den Rändern der Republik kriselt es gewaltig. So jeden


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falls mein Eindruck. Die Institution Familie bricht langsam auseinander. Sie ist immer weniger eine wärme- und haltgebende Institution. Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen schreiten folglich voran. Vor etwa 20 Jahren beispielsweise war die Drogenszene in Köln-Neumarkt klein und überschaubar. Mittlerweile ist sie gewaltig und in fast allen Stadtteilen präsent. In allen großen Städten Deutschlands sieht man eine immer größer werdende Armee von Armen, Alkoholikern, Obdachlosen und Drogensüchtigen. Nicht die Stadtteile in Deutschland verkommen, sondern die Seelen. Die psychiatrischen Kliniken Deutschlands sind überfüllt und Seelenärzte haben alle ihre Hände voll zu tun. Niemals habe ich im Iran, trotz wirtschaftlicher Not so viele leidende Seelen erlebt oder gesehen wie hier. Auch ich möchte nicht über eine ganze Gesellschaft urteilen. Wer weiß es? Vielleicht hatte das Notfallteam an jenem Abend einfach nur einen schlechten Tag wie bei den Fußballstars auch, die manchmal einen schlechten Tag haben. Trotzdem sollten wir uns eine wichtige Erkenntnis öfter in Erinnerung rufen und diese lautet, dass keine Gesellschaft auf Dauer auf Werte wie Güte, Barmherzigkeit und Solidarität verzichten kann. Als Menschen sind wir alle auf Mitgefühl und wahrhaftiges Mitleiden angewiesen.


Der Bettler und die obdachlosen Junkies – Michael Bretzinger

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Patriz aus Köln rief mich an. Er hatte einen Obdachlosen von der Straße aufgelesen. Er musste sofort an mich denken, als er den hilflosen Alkoholiker umarmte und ihn von der Straße holte. Auch das noch, dachte ich und war immer noch nicht erfreut, als er mir erzählte, dass der Obdachlose bekennender Katholik sei. Deswegen hätte er sofort an mich gedacht. Habe ich eine Obdachlosen-Ausstrahlung? Klamottenmäßig sehe ich wahrscheinlich nicht so doll aus. Ich musste an Jens denken, dessen Vater ihn im Alter von vier Jahren verlassen hatte, der immer meine Nähe suchte, weil ich ihn an seinen obdachlosen Vater erinnerte, wie er mir mal sagte. Das fand ich irgendwie schön, doch gleichzeitig mindestens irritierend. Aber er hatte auch noch katholisch gesagt. Das fand ich nicht so schön. So schlimm wie sich das anhört, ist das auch wieder nicht. Unlängst traf ich mal zufällig eine fromme Protestantin von der City-Gemeinde mit dem tollen Prediger. Katholiken haben den Fehler, belehrte sie mich, dass sie nämlich Heilige verehren würden. Wir wären doch selber alle Heilige oder sollten es werden. Na ja, sagte ich zu ihr, da bin ich dann doch lieber Katholik. Da muss nicht jeder ein Heiliger werden. Ja, aber der Missionsauftrag? Und das Zölibat? In der


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Bibel stehe doch, seid fruchtbar und mehret euch, ereiferte sie sich, so als hätte sie mit „Zölibat“ die Jokerkarte gezogen. Dieser Vermehrungsauftrag klingt allerdings auch sehr katholisch. Ja, dann noch das Zölibat? Das haben unsere katholischen Priester wohl, damit sie nicht ihre Illusionen über die Liebe verlieren?

Bei meinen Reisen nach Russland, nach Indien, ja selbst hier in Kreuzberg werde und wurde ich immer gefragt: Bist du verheiratet? Hast du Kinder? Da ist schon ein diskriminierender Unterton zu vernehmen. So gesehen könnten unverheiratete Priester ein Zeichen der Solidarität sein für alle, die schräg angeschaut werden, weil sie nicht in traditionellen Standards leben. In den Kreisen, in denen ich bisher verkehrte, wurden Katholiken nicht diskriminiert, sondern meistens belächelt. Selbst von Christen. Viele fromme Protestanten regen sich über die katholische Heiligen-Verehrung auf. Mir ist das egal. Wie Bileam geht es mir, ich wollte mich gerade noch aufregen, doch nun will ich sie segnen. Offen gesagt, ist der Prediger der City–Kirche tatsächlich nicht übel. Ich war auch schon mal mit der Klavierspielerin der City-Kirche im Gespräch, die so eine kleine Gesangsgruppe früher mal hatte. Die hatte mich doch tief beeindruckt. Ihren Mann habe ich ebenfalls kennen gelernt in einem Hauskreis bei einer tamilischen Familie. Mann, da ging`s zu. Beim sogenannten Lobpreis fuchtelten vor allem zwei deutsche Frauen fürchterlich mit den Armen und murmelten seltsame Dinge wie Abbischai oder Abbwaschai. Abwasch frei, übersetzte ich und war noch voller Abwehr. Doch als dann der Tamile von seinem Leben, von seiner Arbeit am Fließband und von seiner Arbeitslosigkeit erzählte, war ich doch berührt von der Wahrhaftigkeit seiner Erzählung. Bei meiner Hochzeit half Mario, einer von dieser Kirche, den ganzen Tag. Als die Leute fragten, wer dies sei, sagte ich nur „Abischai“ Mir gefallen manche Heilige. Etwa Philip Neri. Der war vor ca. 500 Jahren mit Ignatius, dem Gründer der Jesuiten, befreundet und sagte einmal folgendes: „Wenn ich ein Problem habe und absolut nicht mehr weiter weiß, dann gehe ich zu meinem Freund Ignatius und frage ihn um Rat. Dann mache ich genau das Gegenteil von dem, was er mir vorschlägt.“ So ist das bei Freunden. Da ist Freiheit. Autoritätsgehabe und Autoritätsgläubigkeit sind traditionell katholisch, aber auch der 23. Johannes und Roswitha sind oder waren katholisch. Ich selbst spielte mal in so einem Sankt Martin- Stück mit. An sich hielt ich den für eine katholische Kitsch-Figur, Schutzpatron von Gänsen, die dann doch verspeist werden. Als ich im Kindergarten mal gefragt wurde, ob ich nicht den Bettler in diesem Stück spielen wolle, lehnte ich erst mal ab. Da sie aber sonst keinen hatten, gab ich nach und nahm an den Proben teil. Außerdem dachte ich an meine kleine dreijährige Tochter, die ziemlich schüchtern


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ist, was sie wohl von mir hat. Ich wollte ihr mal zeigen, dass man vor Leuten keine Angst zu haben braucht. Naja, oder zumindest Ängste überwinden könne, was angeblich Spaß machen soll. Am Ende reichte es nur noch dazu, zu zeigen, dass man Angst haben kann und trotzdem alles gut ist: Das Proben machte mir auch noch Spaß. Doch als es ernst wurde und sich bei der Aufführung immer mehr Menschen in der Kirche einfanden, wurde ich sehr nervös. Wir „Schauspieler“ warteten in der Sakristei immer angespannter auf unseren Auftritt, als plötzlich Bruder Franz von der Emmausgemeinschaft in die Sakristei kam. Der Franz, der immer mit einer braunen Kutte rumläuft, dem ich mal den Spitznamen Kuttenfranz angehängt hatte, weil ich ihn früher als religiösen Spinner ansah. Wie geht`s?, fragte er freundlich. ‚S geht so. Bin etwas nervös, untertrieb ich stark. Soll ich für dich beten?, fragte er fürsorglich. Ja, mach mal. Kann nix schaden, sagte ich und dachte, nützen tut`s doch nicht. Bruder Franz legte mir die Hände auf, sprach ein Gebet und dann torkelte ich etwas verwirrt Richtung Bühne. Dort wartete ich auf meinen ersten Satz: „Helft mir. Ich sterbe, wenn ihr mir nicht helft.“ Mein Mikrofon funktionierte nicht, oder ich machte irgendetwas falsch, als ich diesen Satz von mir gab. Ca. 500 Köpfe sah ich da unten und meine Stimme kam nicht. Verrückte Ideen summten mir im Kopf herum: Bruder, lass das Beten sein, komm hier hoch und reih dich ein; verpiss dich, keiner vermisst dich. Sankt Martin, hilf mir. Du bist genau richtig drauf, beruhigte ich mich. Dann war das Stück zu Ende. Eine Erzieherin, die mir immer schon sympathisch war, sagte: Das haben sie prima gemacht. So ohne Kitsch, hätte sie noch sagen sollen.

Einige Tage später rief mich der wahre Sankt Martin an: Ich muss dich unbedingt sprechen. Ich habe in der Fußgängerzone einen obdachlosen Alkoholiker kennen gelernt, der erinnert mich extrem an dich. (Ja, danke.) Weil er so katholisch ist. Der saß da und weinte ununterbrochen. Als ich ihn ansprach, beschimpfte er mich heftig. Da bin ich auf ihn zu und habe ihn umarmt. Dann habe ich dafür gesorgt, dass er ins Krankenhaus, in die Psychiatrie gekommen ist. Dann habe ich ihm eine Wohnung besorgt. Jetzt besuch ich ihn regelmäßig und wir reden viel über Gott, über Jesus, (der von Gott vor dem Tod am Kreuz bewahrt wurde) und über das Laster Alkohol. Patriz ist also Moslem. Am Telefon liest er mir immer die schönsten Stellen aus dem Koran vor. Das hör ich mir gerne an, in kleinen Portionen wohlgemerkt, doch jetzt hat er auch noch entdeckt, dass Jesus Vegetarier war. Wenn´s stimmen würde, wäre ich eher erfreut. Erfreut wäre ich auch darüber, wenn Gott Jesus vor dem Tod bewahrt hätte, wie das etwa die Moslems glauben. Wenn er als Vater etwas menschlicher gegenüber seinem Sohn gewesen wäre. Aber Grauenhaftes für andere auf sich zu nehmen aus Liebe, ist wohl heilig. Wenn


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Jesus, der Sohn Gottes, einen Tod wie ein Verbrecher stirbt – göttlicher geht`s doch nicht. Patriz, benannt nach Patrese Lumumba, einer seiner Brüder heißt Ghandi, ein anderer Nehru, kommt, wie es schon die Namen verraten, aus einem emanzipatorischen Elternhaus. Wenn er anderen hilft, so ist das nicht von oben herab, sondern im Geist der Liebe, den er von seinen freiheitsliebenden Eltern vermittelt bekommen hat. Er ist der Freund des Bettlers und des obdachlosen Junkies, ein Freund von Jesus, dem Vegetarier also und gleichzeitig ein Moslem.


Ein Gefühl – Ramesh Kompella

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erst war mir, als wäre mir alles genommen ich wusste wirklich nicht, wie mir geschah niemals zuvor focht ich Kämpfe wie diese da plötzlich warst wie ein Engel du da du spendetest Trost mir ganz wundervoll als ich mich quälte am tiefsten Abgrund jetzt fühle ich mich in vollkommener Hut gleich, was auch immer weiter geschieht mein Engel wirst du allezeit bleiben selbst wenn mir alles völlig misslingt ich weiß nicht, wie soll ich dir dafür danken ich bin gefangen in seligem Glück sei bitte zur Stelle, du, als mein Engel denn ohne dich find‘ ich den Ausweg nicht


Gastfreundschaft lernen – Christian Herwartz

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Gast sein, um Gastfreundschaft bitten Fremdlinge und Gäste sind wir vor Gott, die kein Land auf Dauer kaufen oder verkaufen können (Lev 25,23). Gäste können ihren Gestaltungsauftrag


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nicht mit Rechtstiteln begründen. Sie leben in einer direkten, auf die Offenheit des anderen angewiesenen Beziehung. Sie können Situationen erkennen, sich an die eigenen Erfahrungen erinnern und frei von Machtansprüchen darüber reden. Das ist ein wichtiger gesellschaftlicher Dienst.

Gott wird von Jeremia als fremder Gast, als Wanderer gesehen, der nur über Nacht bleibt (Jer 14,8). Gott teilt unser Angewiesen-sein besonders in Jesus, der immer neu anklopft und uns auch dazu anhält: „Klopft (beständig) an, dann wird euch aufgetan“ (Lk 11,9). Er sagt uns, dass er unter Hungrigen, Kranken, Gefangenen, allen ausgegrenzten Menschen auf besondere Weise zu finden ist (Mt 25). Sein gelebtes Glaubensbekenntnis, von einem heimatlosen Aramäer abzustammen (Dt 26,5), wird für uns greifbar, wenn er um etwas zu trinken (Joh 4,7) und noch als Auferstandener um etwas zu essen bittet (Lk 24,41). Er zeigt uns das unaufdringliche Leben als Gast, der sich z.B. zum Gebet zurückzieht (Mk 1,35), sich beim Essen an den letzten Platz setzt (Lk 14,8), sich von verachteten Menschen einladen lässt, z.B. von Zachäus dem Zöllner (Lk 19,6), und Zeit hat für Kinder (Mt 19,14), für die zur Steinigung aus der Stadt getriebene Frau (Joh 8,6) oder für jene, die ihm die Füße mit ihren Tränen wäscht. Jesus konnte entdecken, wer Gastfreundschaft lebt. (Lk 7,36-47)

Bei Exerzitien erlebe ich, wie Menschen Obdachlose, Drogenabhängige, Bettler darum bitten, sich eine Weile zu ihnen auf die Straße setzen zu dürfen; überraschend wurde einem dann ein Karton als Unterlage angeboten und ihm wurde eine neue Nähe zu Jesus geschenkt. Schon das Warten auf Gastfreundschaft kann zu einer heilsamen Zeit werden, in der die eigene Angst, mit dem oder jenem gesehen zu werden, aber auch die Liebe Gottes, neu zu entdecken ist. Jesus wurde ja wegen der Tischgemeinschaft mit gesellschaftlich und religiös Ausgegrenzten – wegen dieser für die Mächtigen gefährlichen Grenzüberschreitung – umgebracht.

Wohin könnten wir einzeln und gemeinsam als Freunde in Christus gehen, um unser Unterwegs-sein als Gast, als Fremde weiter zu leben? Wo sind wir nicht mit einer Funktion eingeladen und sicher, nicht auf Grund unseres gesellschaftlichen Ansehens auf einen der vorderen Plätze gebeten zu werden? Wo können wir unsere Bedürfnisse als Gäste neu erfahren? Wo sind wir mit anderen – z.B. vor einer Suppenküche wartend – Eingeladene?

Auf diesem Weg des Pilgerns die Freundschaft in Christus zu entdecken, könnte einmal heißen, sich mit einem Mitbruder zum Besuch eines Gefangenen zu verabreden, d.h. die/den Gefangene/n um eine Einladung zu bitten, in der Vorbereitung die eigenen Interessen zu entdecken, beim Besuch die Nähe Gottes – die Freundschaft in Christus – zu spüren. Der erste Schritt dabei ist,


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die Gastfreundschaft der Gefangenen anzunehmen. In der Nachbetrachtung können die Beziehungen untereinander und zu dem Besuchten ausgesprochen und dann in der Kommunität – mit Besuchserfahrungen an sonst gemiedenen Orten, wie z.B. in der Warteschlange auf dem Flur des Arbeitsamtes oder betend in einer Moschee – zur Sprache kommen.

Gastgeber sein: Das Fest der Gastfreundschaft gestalten Abrahams Gastfreundschaft wird besonders deutlich, als er die drei Gesandten Gottes in Mamre dringend darum bittet, bei ihm zu rasten, aber auch als er mit ihnen um das Leben der Menschen in Sodom ringt (Gen 18).

Jesus, der selbst meist Gast war, bringt uns in Gleichnissen die Gastfreundschaft des Vaters nahe. Von großen Festen wird erzählt: Mt 22,1-14, 25,1-13; Lk 15,11-31, 14,16-24. Gastfreundschaft ist Ausdruck des Reiches Gottes, das unter uns begonnen hat. Sie gilt besonders denen, die keine Gegeneinladung aussprechen können (Mt 5,46). Zum Gastgeber wird Jesus nach einer Heilung: Er nimmt von einem Jungen Brot und Fisch, spricht das Dankgebet und lässt es austeilen. Der bescheidene Beitrag des Gastes wird durch Jesus als Gastgeber zur Quelle der Freude für alle (Mt 15,35; Joh 6,9). Als Gastgeber wäscht Jesus seinen Jüngern die Füße (Jo 13,4) und öffnet ihnen in Emmaus beim Brotbrechen die Augen (Lk 24,32). Dann können sie befreit nach Jerusalem in die Gemeinschaft der Apostel zurückkehren.

Wenn wir uns an die Erfahrungen als Pilger, als Fremde, als Gäste erinnern, können wir als Gastgeber Menschen ankommen lassen. Wir werden neugierig auf die Erfahrungen der Fremden und Nachbarn, geben ihnen Raum und dürfen von ihnen lernen. Dabei überwinden wir Fremdheit und Ausgrenzungen, hören ihre Geschichten oder Ratschläge, nehmen ihre Gestaltungsbeiträge an und bieten ihnen so angemessen Raum und Zeit, die wir manchmal anderen abtrotzen müssen. Aus dem Herzen heraus tun wir das, was dran ist. „Wenn ihr Fremde, Sklaven, … seht, erinnert Euch daran, wie es ihnen zumute ist“ (Ex 23,9; Lv 19,33f). Auch verschüttete und verachtete menschliche Würde kann dabei wieder entdeckt werden, wenn wir uns erinnern, was uns wichtig war, als wir in der Fremde müde oder krank waren, die Sprache nicht verstanden und zu Wort kommen wollten.

Wie können wir in unserer Arbeitszeit Menschen einladen, ohne dabei hauptsächlich mit unseren Aufgaben und Funktionen sichtbar zu sein? Wie sehen wir dabei jene, die uns nicht wieder einladen oder andere Vorteile bringen können? Es ist ein ganz kostbares Geschenk, wenn es dabei mutig zu einer partiellen Überwindung der oft notwendigen Rollen kommt, mit denen wir gesehen werden. Mitten in den dabei auftretenden Konflikten helfen oft frem-


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de Menschen – auch Klienten -, besonders wenn sie zu Gästen oder später gar zu Mitgliedern werden.

Nachbarn, ausländische Gäste, … können wir in unser Haus oder an andere Orte einladen, die uns geeignet erscheinen; auch zu einem Ausflug an Plätze, die uns wichtig sind, an denen etwas von uns sichtbar wird und wir uns gegenseitig in unserer Würde entdecken können. Solch ein Fest wurde z.B. die Feier der Erinnerung an die Blutzeugen von Plötzensee, unter ihnen P. Alfred Delp, am 60. Jahrestag der Ermordung. Es wurde deutlich, was uns in der Freundschaft zu Christus heute wichtig ist und wir teilten diese Geschichte mit anderen.

Neben den gut vorbereiteten Festen gibt es die ungeplanten, spontanen Einladungen, die unser Leben zum Fest werden lassen. Welche Absprachen unter uns ermöglichen, welche stillschweigenden Übereinkünfte verhindern sie? Unter welchen Bedingungen findet eine Mitarbeiterin oder ein hungernder oder obdachloser Mensch Aufnahme, wenn ihn ein Mitbruder mitbringt oder wenn er unangemeldet anklopft?

Wie die Gastfreundschaft und den Frieden schützen? Je nach ihren Vermögen ist den Einzelnen in einer gastlichen Gemeinschaft auch der Schutz der Gäste anvertraut. Wie kann uns bewusster werden, welches alltägliche Verhalten die Gastfreundschaft einer Gemeinschaft zerstört?

In dem Gleichnis vom Hochzeitsfest fragt der Gastgeber einen der vielen guten und bösen von den Straßen herbeigeholten Menschen, warum er kein hochzeitliches Gewand an hat (Mt 22,12). Jener hatte keine Entschuldigung und wurde hinausgeworfen. Welcher Mangel macht einen solchen Ausschluss nötig? Es geht nicht um eine Frage der Sympathie, einer angesehenen Stellung in der Gesellschaft, Geld, Bildung oder einen guten Lebenswandel. Alle sind eingeladen worden. Doch es gab Umstände, in denen die Gastfreundschaft missbraucht wurde.

Ist der Gast ohne hochzeitliches Gewand mit seinem Herzen in der Vergangenheit geblieben, hat nicht zulassen wollen, dass wir jetzt nicht mehr Fremde oder Gäste, sondern Hausgenossen des Gastgebers im Himmel sind (Eph 2,19); ist er ein Mensch geblieben, für den jemand, der Drogen genommen oder einen anderen umgebracht hat, immer ein misstrauisch zu beobachtender Drogenabhängiger oder Mörder bleibt, ist er also ein Mensch, der keinen Neuanfang zulässt? Viele Interpretationen dieser Stelle gibt es unter uns. Wenn wir sie in der Kommunität einmal aussprechen, können wir wichtige Elemente einer gastfreundlichen Lebensweise entdecken.


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Die gesellschaftliche Missachtung von Menschengruppen muss von einer gastlichen Runde abgewehrt werden. In unserer Mitte gibt es Menschen, die einen besonderen Schutz brauchen, wie Kinder, Verfolgte, Misshandelte, Alte, usw., deren Verspottung wir abwehren und denen wir diskreten Schutz gewährleisten müssen. Eine besondere Aufmerksamkeit verlangt es auch, anstehende Themen zuzulassen und sie nicht vorschnell in private oder sakrale Räume abzudrängen: Wie offen gehen wir mit einem Suchtproblem in unserer Mitte – auch zusammen mit Gästen – um oder mit der Frage nach Gott in einer uns ungewohnten Ausdrucksweise?

Wenn wir in unseren Gemeinschaften um einen würdevollen Umgang ringen, können sie Orte der Überwindung großer Verletzungen sein, nicht nur bei Frauen, Homosexuellen, Missbrauchten …, sondern auch in unseren eigenen emotional manchmal zumindest partiell unterkühlten und eingefrorenen Beziehungen. Wenn wir Gewaltlosigkeit in einer gastlichen Gemeinschaft sichern und in Bescheidenheit leben wollen, sind alle mit ihrer Phantasie gefordert, wie sie daran mitwirken können. Was tut dem Gast Gewalt an? Wo wird Ängstlichkeit in den interkulturellen und -religiösen Auseinandersetzungen mit Gewaltlosigkeit verwechselt, obwohl sie ja oft Motor von Gewalttätigkeiten ist? Ebenso können sowohl persönliche Eitelkeiten wie das Nennen von Titeln oder das ständige Erzählen von Erfolgsgeschichten oder andere kommunitäre Gepflogenheiten, Gäste aus anderen Lebensbereichen – besonders verletzte, ärmere Menschen – sehr bedrängen. Erklärungen sind manchmal Verständigungsbrücken, Rechtfertigungen reißen oft Gräben auf. Ohne Scheuklappen aus Erfahrungen zu lernen bedeutet, dass ein „schwieriger“ Gast nicht nur eine Störung, sondern auch ein Engel Gottes werden kann.

veröffentlicht in: Jesuiten intern

Um mich inspirieren zu lassen – Gerlinde Hamp

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Seit ein paar Jahren lebe ich erst in Berlin. Ich bin in „Brot des Lebens“, einer christlichen Gemeinschaft, und somit lernte ich auch die Wohngemeinschaft in der Naunynstraße kennen. Ein Ort, wo sich viele Nationen treffen. Ein Ort der Begegnung, die jeder selbst mitgestalten kann.

Mancherlei Gedanken gehen mir dabei durch den Kopf: Wie gestalte ich den Austausch? Was ist mir wichtig? Habe ich den anderen wirklich verstanden? Wo muss ich schneller reagieren? Wo sind meine Grenzen? Was fällt mir schwer? So wie es in dem Lied heißt: Mit meinem Gott überspringe ich


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Mauern! Ein Lied, das ich schon lange kenne. Wie nehme ich diese Herausforderung wahr? Immer wieder bin ich auf‘s Neue damit konfrontiert.


Ich komme immer wieder gerne, um mich inspirieren zu lassen.

Ich möchte mich erinnern, immer wieder – Jens Klein-Bösing

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Ich sitze in meinem Zimmer und überlege, wie ich anfangen möchte und was ich schreiben könnte, spüre nur, dass es ein guter Zeitpunkt ist etwas zu schreiben.

Zum einen bin ich nun beginnend mit meinem Jev-Jahr 10 Jahre in Berlin, eine runde, mittlerweile auch erschreckend große Zahl. Das sind zehn Jahre, in denen mich die Naunynstraße begleitet hat.

Ob ich nun dort war oder auch mal längere Zeit nicht, präsent war sie eigentlich immer. Aber nicht nur diese „10 Jahre“ verleiten mich zur Rückschau, sondern auch die Erlebnisse der vergangenen drei Monate, in denen die Naunynstraße auch „physisch“ sehr präsent war:

Ich habe dort gewohnt, nachdem ich mich von meiner Freundin getrennt hatte. In der letzten Woche gab ich mein Abschiedsessen und wurde gefragt: „Was bleibt?“ Ich frage mich: „Woran erinnere ich mich?“ und „Woran möchte ich mich auch in Zukunft erinnern?“ Und so fallen mir verschiedene Begegnungen, Gefühle und Begebenheiten der letzten Zeit ein, aber auch Dinge, die schon länger zurückliegen. Und ich versuche Verbindungen zu sehen, einen roten Faden, der vielleicht auch in Zukunft weiter gesponnen wird, einen Weg, der mir hilft, die letzte Zeit einzuordnen und etwas mehr Sinn zu entdecken.

Ich erinnere mich an einen Kommunitätsabend vor zehn Jahren in meiner Jev-WG, an dem ich fragte, was es eigentlich ist, das alle Menschen gleichmacht, irgendetwas müsse es da doch geben, was uns verbindet. Ich spüre immer noch meine eigene tiefe Sehnsucht ganz und heil zu sein, meinen Kampf um Würde, meine Verletzungen. Mir kommt ein Kommunitätsabend vor kurzem in der Naunynstraße in den Sinn: Jemand erzählt von einem Brautpaar, wo der eine zum anderen sagt: „Ich will dich mit meinem Körper ehren.“ Ein kleiner Satz nur, der mich auf einmal ganz betrifft, weil aus ihm eine besondere Achtung und Hingabe spricht, nach der auch ich mich sehne. Ein anderer spricht davon, die eigene Würde auch im Scheitern zu suchen. Und plötzlich geht eine Tür auf und ich spüre eine Verbundenheit mit Menschen, von denen


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ich einige nicht einmal unbedingt kenne und ich ahne zumindest, was es sein könnte, das „uns alle gleich macht“.

Ich denke an einen Bettnachbarn mit seiner Angst davor, für ihn wichtige, konkrete Schritte in die Unabhängigkeit zu gehen. Ich denke an meine eigenen Abhängigkeiten und wie schwierig es für mich ist, wichtige, konkrete Schritte zu gehen und ich denke an eine Begegnung mit einem Verkäufer in Indien, bei dem ich nichts kaufen wollte, weil ich die Dinge zwar schön fand, aber nicht besitzen wollte. Ich wollte mich irgendwie aus diesem unangenehmen Verkaufsgespräch herauswinden. Er sagte mir nur: „You have to act“. Du musst handeln.

Ich erinnere mich an einen anderen Kommunitätsabend in der Naunynstraße. Spannend ist der Friedensgruß während der Messe: Gebe ich die Hand oder umarme ich. Nähe zulassen. In die Augen sehen. Schließlich ist der Gottesdienst vorbei, die Runde sitzt noch zusammen, viele unterhalten sich und ich finde nicht so recht Anschluss, bin weit weg. Plötzlich steht ein Gast aus Russland vor mir und lädt mich ein, mit ihr vierhändig Gitarre zu spielen. Vierhändig? Auf einer Gitarre? Sie zeigt mir einen Zettel mit Akkorden, die ich dann spiele, während sie auf den höheren Seiten eine Melodie spielt. Es gibt Berührungen, wir lachen gemeinsam und es ist gut. Ja, ich fühle mich fremd manchmal und doch habe ich meinen Platz.

Mir fällt ein Tag während meiner letzten Exerzitien ein, an dem ich herumirrte und etwas suchte und nicht fand, um abends im Spiegel zu sehen, dass im Grunde alles schon da ist: Trauer, Wut, Schmerz, aber auch ganz viel Dankbarkeit, Freude, Liebe.

Oft vergesse ich, weil ich es so verbissen suche. Daran möchte ich mich gerne erinnern.


Viel gelernt – Roland

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Ich war gerade ein halbes Jahr „clean“ nach einer langjährigen Kokainabhängigkeit. Kam direkt von Amsterdam nach Synanon (therapeutische Selbsthilfe), in Berlin. Allerdings habe ich von Berlin dort noch nicht allzuviel mitbekommen, war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt erstmal. Das sollte aber noch eine ganze Zeit lang so bleiben. Nach drei Monaten Synanon ging es für mich weiter zur Fazenda de Esperanza, eine ‚christliche‘ Drogentherapie in Nauen, ein Bauernhof weit ab von allem. Auch dort blieb ich drei Monate. So hatte ich zu den Drogen bereits ein halbes Jahr zeitlichen Abstand. Auf der Fazenda erzählte mir ein Besucher von „einer internationalen Wohn-


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gruppe“ bei den Jesuiten im Berliner Kreuzberg und gab mir die Adresse von Christian.

Gesagt, getan – ich schrieb eine Postkarte und bat darum, kommen zu dürfen. Vier Tage später stand ich dann vor dem Trinkteufel und klingelte bei „Herwartz/Keller“ im Haus nebenan. Dort war ich dann, kannte keinen, hatte ein paar Euros in der Tasche und machte mich auf, wieder Anschluss an ein normales Leben zu finden. Das Schöne an der Naunynstraße war, dass mir keiner sagte, was ich als nächstes zu tun habe, kein fester Tagesablauf, keine Pflichten und Verantwortung. Einfach ausbaumeln, in den Tag hinein leben und ohne jeden Druck abwarten auf das, was weiter passieren sollte. Berlin kennen gelernt habe ich in dieser Zeit auch endlich. Gleich am Anfang war erster Mai und das war für mich als Neukreuzberger richtig spannend.

Habe in der Naunynstraße das Leben aus einem ganz anderen Blickwinkel kennen gelernt. Viel gelernt von den Menschen dort und gute Gespräche geführt. Ganz besonders wichtig für mich waren neben Christian auf jeden Fall Rainer, Renate, Franz, Ismail, Miriam und Stefan. Ich danke euch ganz herzlich nochmal für all das Gute, was ihr bewusst oder unbewusst bei mir bewirkt und möglich gemacht habt.

Während der ersten Monate habe ich die meiste Zeit lesend auf der Couch gesessen. Da ich es gewohnt war, mir Bücher immer kaufen zu können, war die Bibliothek am Kotti eine ganz neue Erfahrung für mich und ich war dort, genauso wie im Prinzenbad, ein ständiger Besucher. ‚Summertime, and the living was easy‘ – das hat für mich voll hingehauen. Aber auch Schmerzhaftes passierte. Um die Ecke auf der Mariannenstraße habe ich einen Therapeuten gefunden, der erfahren genug war, um bei mir die richtigen Saiten zum Schwingen zu bringen. Dort habe ich so manche schwere Sitzung gehabt und viel viel nachgedacht und meine Suchtjahre quasi nochmal neu erlebt. Und Stück für Stück aufgearbeitet. Besondere Bedeutung hatten hier auch die Straßenexerzitien. Hier hatte ich so eine Art Tief für mich selbst durchgemacht. Man stelle sich vor, nach 15 Jahren hochbezahltem Stressbörsenjob und einer schweren Kokainabhängigkeit war ich nun in Kreuzberg, schlief mit neun Leuten in einem Zimmer und hatte so gut wie keine Aussicht auf einen neuen Job oder sonstigen beruflichen&xnbsp;Erfolg. 349 Euro Hartz-IV gabs im Monat und das ist für mich irre wenig gewesen, auch wenn Mama mir ab und an nochmal 50 Euro in einen Brief getan hat.

Bei den Exerzitien habe ich das am Schluss alles losgelassen und akzeptiert. Und siehe da, alles fügte und erfüllte sich danach wie von selbst. Scheinbar habe ich immer Glück an den entscheidenden Wendepunkten meines Lebens, denn ich fand wieder einen Job und eine gut aussehende Freundin kam dann


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auch bald dazu. Nach zwei Monaten in dem neuen Job zog ich aus in Richtung Moabit und ein Jahr später mit der Freundin zusammen. Das alles ist schon wieder über vier Jahre her und die Welt hat sich weiter gedreht für mich. Erfolgreich im neuen Job, eine schicke Wohnung, Geld genug für Reisen und Kunst und auch meine Bücher kann ich mir wieder kaufen.

Trotzdem werde ich meine sieben Monate bei Christian niemals vergessen. War genau das Richtige für mich zu der damaligen Zeit. Ich werde immer dankbar sein für die Gastfreundschaft, die ich dort erfahren habe. Und für das Viele, was ich dort gelernt habe. Fühle mich noch immer zu Hause, wenn ich ab und zu dort bin. Und wünsche allen Bewohnern, dass der besondere Zauber dieses Ortes auch für euch die Dinge zum Positiven wenden möge. Alles ist möglich – man darf es nur nicht allzu sehr wollen.

Ein Jahr lang Weihnachten – Uli Webers

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23. Dezember 2005 gegen sechs Uhr abends: Ich betrete die Wohnung in der Naunynstraße. Christian unser WG-Begleiter war so freundlich, mich für die Weihnachtstage bei sich aufzunehmen, da meine Mitbewohner nach Hause gefahren waren. Ich muss erst noch ein wenig von Christian und seiner Kommunität erzählen: Christian ist Jesuit und hat eine offene Kommunität aufgebaut, das heißt er wohnt mit einer selbst ihm unbekannten Anzahl von Personen in seiner Wohnung in der Naunyn in Berlin. Jeder, der an seine Tür klopft wird von ihm freundlich aufgenommen. Er schafft es, jeden Menschen als Bereicherung für sich und andere zu verstehen, und behandelt ihn auch so.

Ich betrat also die Wohnung. Als ich in die Küche kam, um alle zu begrüßen sagte Christian gleich zu mir, dass ich unbedingt mit Sascha, dem Mann, mit dem er sich gerade unterhielt, spazieren gehen sollte. Ich verstaute nur kurz mein Gepäck und war schon wieder auf der Straße. Nur, dass ich diesmal nicht alleine war. Sascha erzählte mir seine Geschichte: Er hatte vier Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen, weil er angeblich 150 Millionen DM veruntreut hatte. Tatsächlich war ihm die Unterschlagung von seiner damaligen Frau in die Schuhe geschoben worden. Durch einen Zufall sei das ganze vor kurzem herausgekommen und er sei von einer Sekunde auf die andere freigelassen worden. Über Umwege sei er schließlich in der Naunyn gelandet. Er erzählte mir sehr detailliert von seinen Erlebnissen in verschiedenen Gefängnissen in ganz Deutschland. Nachdem er ungefähr eine Stunde erzählt hatte fing ich an zu erzählen. Ich weiß nicht genau, was mich dazu veranlasst hat,


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aber ich erzählte ihm von meiner Vergangenheit, die ich in verschiedenen Heimen verbracht hatte. Das war für mich zu diesem Zeitpunkt ein Thema, mit dem ich noch nicht wirklich umgehen konnte. Deshalb war ich immer sehr vorsichtig, wem ich davon erzählte. Nach ca. zwei Stunden, kamen wir wieder in der Wohnung an.

Am nächsten Tag, also dem Hl. Abend sollte ich arbeiten. Ich arbeitete in der Suppenküche der Franziskaner in Pankow. Am 24.12. wird dort immer ein besonderes Weihnachtsfest für 160 Besucher organisiert. Da ich als JEV (freiwilliges soziales Jahr mit Jesuiten) quasi Hauptverantwortlicher war, musste ich auch arbeiten. Es war ein wunderschönes Fest. Zuerst gab es Plätzchen und Stollen, dann wurden einige Geschichten und Gedichte vorgetragen und gegen Abend gab es dann Würstchen und Kartoffelsalat (ein typisches Berliner Weihnachtsessen). Schließlich verabschiedeten sich gegen 20 Uhr die Gäste, aber nicht ohne eine Tüte mit verschiedenen essbaren und nicht essbaren Geschenken zu bekommen. Wie schon gesagt, es war ein wunderschönes Fest. Und für mich war es ein ganz besonderes. Ich hatte bislang jedes Weihnachten zusammen mit meiner Familie verbracht. Jetzt hatte ich aber mit 160 sogenannten „Pennern“ dieses, für mich wichtige, Fest gefeiert. An diesem Abend wurde mir etwas klar, was ich schon die ganzen vier Monate, die ich nun schon in der Suppenküche arbeitete, zuvor gespürt habe: Diese „Penner“ sind auch Menschen. Menschen wie du und ich. Sie hatten alle „nur“ einen Schicksalsschlag hinter sich und haben alles verloren. Aber sie waren Menschen.

Als ich hinterher in die Naunyn fuhr, kam mir ein WG-Abend in den Sinn: Christian hatte uns erzählt, was Weihnachten für ihn bedeutet. Für ihn war ganz besonders wichtig, dass Gott an diesem Tag Mensch wurde. Weihnachten sei für ihn deswegen ein Fest der Menschwerdung. Für mich waren die „Penner“ dieses Jahr zu Menschen geworden. Dabei hatte ich noch ein Halbes Jahr zuvor die Straßenseite gewechselt, wenn ich in Augsburg an der Wärmestube vorbei musste, vor der immer „Penner“ saßen. Diese Menschwerdung hat mein Weltbild ohne Übertreibung von Grund auf verändert.

An einem anderen Tag bin ich ein wenig mehr Mensch geworden: Es war kurz nach meinem Geburtstag im Februar. Unsere WG war mit Christian zusammen beim Essen. Dabei erzählte er uns, dass Sascha ein Trickbetrüger gewesen sei. Er habe auf dem Hintergrund seiner Geschichte einiges an Geld bekommen und sei dann abgehauen. Als ich das hörte, fiel mir erst mal innerlich die Kinnlade herunter. Ich konnte es nicht fassen, dass ich jemandem eines meiner intimsten Geheimnisse anvertraut hatte, der mich von A bis Z belogen hatte. Nach einigen Minuten dachte ich mir dann aber: Hey, da läuft


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ein Trickbetrüger mit deiner Geschichte herum. Dann kannst du es doch jetzt eigentlich auch Leuten erzählen, die du magst! Und in der Tat. Ab sofort konnte ich, wenn es thematisch passte, etwas aus meiner Heimvergangenheit erzählen ohne es umdichten zu müssen.

Ein drittes „Weihnachts-Ereignis“ gib es noch zu berichten: Christian besucht schon seit Jahren ein bis zweimal im Jahr im Gefängnis in Tegel Gefangene, die zu langen bis lebenslangen Strafen verurteilt wurden. Er besucht sie aber nicht „normal“. Er kommt jedes mal mit ungefähr acht Leuten zu einer ebensolchen großen Zahl von Gefangenen in einem der Gemeinschaftsräume zusammen. Das heißt, die Gefangenen können wirklich Gastgeber sein. Sie richten diesen Raum jedes mal schön her und servieren Kaffee und Kuchen. Christian bereitet das Treffen mit den Besuchern vor und bittet sie, ein Gastgeschenk in Form einer besonderen Frage oder Erzählung mitzubringen. Gegen Ende des JEV-Jahres konnten meine Mit-JEVs und ich mit Christian diesen Besuch machen. Dort konnten wir uns ungefähr zweieinhalb Stunden mit einigen Gefangenen unterhalten. Zum Schluss wurden wir auch noch dazu eingeladen, die Zellen unserer Gastgeber anzusehen. Bei diesem Besuch wurden die „Knackis“ für mich zu Menschen, von denen einer, mit dem ich mich ein bisschen näher unterhalten habe, genau wie ich ein Star-Trek-Fan ist.

Das waren drei Erlebnisse, während des JEV-Jahres, in denen ich mehr Mensch wurde. Entweder, weil andere in meinen Augen zu Menschen wurden oder weil ich ganz konkret offener wurde. Für mich ist seit diesem Jahr Mensch-sein gleichbedeutend mit Offen-sein. Denn nur wer offen ist, den anderen so anzunehmen wie er ist, kann erkennen, dass der andere ein Mensch ist. Und jeder will wie einer behandelt werden. Also kann für mich nur Offenheit zu der Menschenfreundlichkeit führen, die für das Miteinander notwendig ist.


Den Graben überspringen – Kathrin

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Ich habe heute ein kleines Experiment unternommen. Dass ich es überhaupt als Experiment empfunden habe, denn es war nicht als ein solches gedacht. Aber, die Schwelle überspringen, das müssen wir doch immer mal wieder. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause hatte ich mir vorgenommen, in der Naunynstraße vorbei zu gehen. Ich mag die Atmosphäre. Ich kann da sein, gemeinsam mit anderen, als Gast und mich selber zu Hause fühlen. So leere Gespräche wie gestern Abend bei einem Freund gibt es dort nicht. Die Menschen erzählen sich dort voneinander. Zum Teil sind es für mich harte und unvorstellbare Geschichten. Das Hören auf die Geschichten und die


151 Konfrontation mit Themen machen mich auch müde, ich staune über so viele Geschichten. Dass es so etwas gibt! Wie schön, dass es das gibt! Viele Geschichten stoßen jedoch etwas in mir an. Ich trage dann etwas von dem, was mir in der Naunynstraße geschenkt wurde weiter, mit in mein Leben, mit zu anderen Menschen und an andere Orte, auch wenn es zum Teil hart ist. Nur: Das ist eine ganz schöne Überwindung für mich, den Schritt zu tun, einfach zu klingeln, obwohl ich weiß, dass ich es an diesem Ort einfach so darf und ich mich dort wohl fühle. Was denken sie wohl, wer da kommt? Haben sie überhaupt Zeit? Die üblichen Fragen. Wie ist es nach den Exerzitien, wenn alles so seinen Alltag geht? War das nicht alles nur ein Traum?

Ich merke, was es braucht loszugehen, auf andere Menschen zuzugehen, die Türklingel zu betätigen, einfach nur kurz „Hallo“ zu sagen. Und dabei ist es so schön. Ich werde jedes Mal beschenkt. Und wenn nicht, und wenn doch was anderes passiert? In so einer Situation ist das „wenn nicht“, das „wenn doch“, oder das „wenn dann“ plötzlich ganz groß. So als ob ich dem anderen die Entscheidung abnehme, mich zu empfangen oder nicht. Diese Situation und die damit verbundenen Gefühle sind vielleicht gar nicht so außergewöhnlich, sondern einfach stinknormal. Und doch, wie ist das, den Graben zu überspringen, und dem Geheimnis auf die Spur zu kommen?

Dazu gibt mir die Stelle aus dem Lukas-Evangelium, wo Jesus seine Jünger losschickt, ein paar Hilfestellungen. So herrlich praktisch sind die! Und so richtig für die Menschen gemacht! Das erste Mal habe ich sie in den Exerzitien entdeckt und auch ihren Schatz. Wie wunderbar! Diese Marschregeln sind ja schon eigenartig: Grüßt niemanden, nehmt kein Geld mit, wenn ihr an eine Tür klopft, sagt zuerst, Friede sei mit diesem Haus. Und wenn ihr nicht empfangen werdet, dann fällt der Friede wieder auf euch zurück … Das sind Ermutigungen! Mein Friedenswunsch ist nicht umsonst, sondern er kehrt zu mir zurück. Er bleibt mir wertvoll und verpufft nicht. Dazu ist der Friede auch zu kostbar. Er geht nicht verloren, sondern stärkt im Fall der Fälle wohl noch mich selber.

Wenn ich das lese, dann finde ich meine eigene Unsicherheit und Angst vor einem spontanen Besuch ziemlich unbegründet. Ich darf wirklich klingeln und einfach reinkommen. Wird mir nicht aufgemacht und kann ich keinem den Frieden wünschen, dann bleibt er bei mir und ich kann ihn womöglich noch an anderer Stelle schenken. Aber zum Glück surrt der Türöffner meist nach kurzer Zeit.


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Führerschein für‘s Leben – Gerhard Fischer

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Vom Oktober bis Dezember 2006 war ich in einer Klinik. Mir ging es vorher nicht gut; und hinterher erstmal noch weniger gut. Auf alle Fälle konnte ich noch nicht für definitiv in die eheliche Wohnung in Hamburg zurückkehren. Was tun? In der Klinik fühlte ich mich sicher und auch wohl. Aber immer, wenn ich an die Zeit nach dem Klinikaufenthalt dachte, wurde mir ganz mulmig in der Magengrube. Dabei wusste ich in meinem Herzen, dass jetzt für mich das „Experiment“ in der Nauny dran war. Aber wie das so meine Art ist, wollte ich davon nichts wissen. Damals, mit Joachim, da war das ganz schön eng in der Wohnung. Und überhaupt, was soll ich denn da unter all den Anderen. (Denn ich hatte sie ja als „anders“ in der Erinnerung.) Und dann mein Zimmer teilen. Und außerdem hatte ich in der Zwischenzeit ein Beatmungsgerät gegen meine Schlafapnoe bekommen. Das macht alles noch komplizierter. Und ich überlegte und dachte nach und durchsuchte das Internet nach einer „besseren“ Lösung. Da war aber nichts; und ich fand auch nichts.

So stand ich denn Ende Dezember mit Koffer und Rucksack und Beatmungsgerät in der Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg und wartete, dass mir irgendwer die Haustür öffnet. Und es hat mir jemand die Haustür geöffnet und die Wohnungstür sowieso. Und dann sagte Christian (oder war es Renate?): „Willkommen. Komm rein.“ Und ich war da! Dann kam Bartolomeo und gab mir eine Einführung in die politische Situation in Cabinda; bis zu dieser Stunde hatte ich überhaupt noch nichts über dieses Land in Westafrika gehört. Dann setzten wir uns an den Küchentisch auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen. Irgendwann zeigte man mir den Ort, an dem ich schlafen würde: Das Sofa im Büro. Tagsüber der nach der Küche am meisten frequentierte Ort in der Wohnung. Und es ging! Ich war so froh, einen Ort zu haben, an dem ich mein Haupt nieder legen konnte. Und schlafen. Und wie ich schlief. Ich schlief gut. Abends war ich todmüde. Und morgens freute ich mich auf den neuen Tag. Morgens das gemeinsame Frühstück war schon ein wichtiger Punkt für mich – wach werden, die Anderen kennen lernen, von Tag zu Tag besser kennen lernen. Bald nahm mich Rainer mit zu „Brot des Lebens“ in Friedrichshain, Lebensmittel holen. Und auch sonst auf so manche Besorgung und so manchen Gang.

Irgendwann fragte Christian mich, ob ich wohl in den Abschiebeknast Grünau in Köpenick gehen könnte. Da war eine Afrikanerin, die gerne Besuch haben möchte. Und der sollte besser Englisch sprechen können. Naja, Eng-


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lisch kann ich ja wohl. So kam ich nach Grünau. Als Besucher. Ich fand die Atmosphäre in diesem ehemaligen DDR-Frauengefängnis so bedrückend, so entwürdigend. Und dabei war ich nur Besucher – für vielleicht 90 Minuten. Aber die Begegnung mit der Frau hat mich dann entschädigt. Eigentlich hatte ich mir ja im Vorfeld vorgestellt, dass ich derjenige bin, der gibt und die Frau diejenige, die nimmt. Aber als ich hinaus ging, merkte ich, dass ich der Beschenkte war. Nach jedem Besuch. Vielen Dank, liebe … . Und mein allerletzter Besuch war mein schönstes Geschenk. Als ich an der Pforte auf die Aufforderung wartete, alles in einem Blechspind abzulegen und von den Polizisten gefilzt zu werden, da sagte mir einer der Beamten: „Frau … ist nicht mehr bei uns. Sie wurde vor ein paar Tagen entlassen.“ Was bekam ich da für einen Schreck! Ich fragte: „Entlassen. Wohin? Nach Afrika zurück oder in die Freiheit?“ – „Sie ist jetzt wieder in Berlin.“ Wie habe ich mich gefreut!

Ja, und sonst bin ich viel mit dem Bus gefahren: In Berlin gibt es ja viele Linien, wo Doppeldecker-Busse fahren. Und da hatte ich bald meinen Stammplatz gefunden: Oben, ganz vorn. Da konnte ich dann nachdenken, beten, weinen. Und kein Mensch bekam das mit. Ich sage heute noch, dass das meine Form der Exerzitien auf der Straße war.

Einige Wochen bin ich dann mit Franz in die neue Wohnung der Schwestern Mabell und Margit gegangen, um hier noch die letzten Arbeiten vor ihrem Einzug durchzuführen. Lampen montieren, Schränke an die morsche Wand dübeln, Regale aufbauen, usw. Franz, ich danke dir, dass du mir die Gelegenheit gegeben hast, Fähigkeiten an mir zu entdecken, die ich bis dahin nicht sehen konnte.

Ja, es war eine schöne Zeit in der Gemeinschaft. Ich habe mich gut auf das „Leben draußen“ vorbereiten können. Denn es war ein „Leben draußen“, nur nicht allein, sondern mit vielen Schwestern und Brüdern, von denen ich mich getragen wusste. Und jetzt kann ich alleine draußen leben. Und ich habe keine Angst. Und es geht mir gut. Muss es ja auch, schließlich durfte ich in der Naunyn meinen „Führerschein fürs Leben“ machen. Mit vielen Ausbildern, mit geduldigen und ungeduldigen, mit alten und jungen.


Ich bin froh, Geschwister gefunden zu haben – Stephan Struve

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Was verbindet mich mit der Kommunität in der Naunynstraße?

Schon seit langem bin ich auf der Suche danach, wie ich meinen christlichen Glauben konsequenter leben kann. Zum Ordensleben bin ich nicht be-


154 rufen, das ist mir klar. Aber wichtig ist mir das solidarische Zusammenleben der Menschen untereinander. Tolle Worte, … aber wie kann ich die mit Leben füllen?

Nachdem ich vor vielen Jahren nach Santiago gepilgert bin, wurden mir zwei Begriffe christlicher Spiritualität besonders wichtig: Gastfreundschaft und Solidarität. Damals lebte ich in Hamburg in einer Dreizimmerwohnung, bis dahin immer zu zweit mit diversen WG PartnerInnen. Als Viola, meine letzte WG-Partnerin, dann auszog, entschied ich den Aspekt der Gastfreundschaft nun wirklich umzusetzen. Anstatt eine/n neue/n WG-PartnerIn zu suchen, richtete ich das dritte Zimmer als gemütliches Gästezimmer ein. Viele Menschen haben dann über sieben Jahre lang für zwei Tage bis zu einigen Monaten in meinem Gästezimmer gewohnt und das hat mir meistens viel Freude gemacht.

Aber irgendwie hat mir das alles noch nicht gereicht. Ich hatte stets den Wunsch, das alles noch konsequenter zu leben. Und da hörte ich eines Tages von der Kommunität in der Naunynstraße und all das, was man eben so erzählt bekommt, wenn man von der Naunynstraße erzählt bekommt: Da leben ein paar Jesuiten in einer Wohnung mit einer offenen Tür. Jede/r ist dort willkommen, egal ob auf einen Kaffee oder zum Mitwohnen für die nächsten Tage, Wochen, Monate, Jahre … Diese Erzählungen machten mich neugierig und ich kam um die Kommunität kennen zu lernen. Nach einem ersten Telefonat beschloss ich, so wie es mir (ich glaube, ich hatte damals Smail am Telefon) vorgeschlagen wurde, einfach mal vorbeizukommen. Gesagt, getan. Ich klingelte, lange Zeit tat sich nichts und dann wurde geöffnet. Oben in der Wohnung war es dann gähnend leer und ich musste erstmal etwas suchen, um denjenigen zu finden, der mir geöffnet hatte. Im Wohnzimmer stand Franz am Tisch und studierte die Landkarte, denn er plante in Kürze zu einer Radtour aufzubrechen. Christian und alle anderen MitbewohnerInnen waren gerade unterwegs. Nach einem kurzen Gespräch mit Franz verwies dieser mich auf Christian, der in einer Stunde wieder kommen sollte. Christian könne mir sicherlich mehr Informationen geben und meine Fragen besser beantworten. Ich könne in der Küche warten, aber wahrscheinlich sei es besser, wenn ich einfach später noch mal wieder käme. So war mein allererster Eindruck von der Naunynstraße erstmal ein sehr bescheidener, zurückhaltender Eindruck (so, wie Franz eben ist) in einer quasi leeren Wohnung (was ja eher eine Erfahrung ist, die man in dieser Wohnung selten macht). In den kommenden Stunden habe ich dann doch in der deutlich gefüllteren Wohnung noch einige MitbewohnerInnen und NachbarInnen kennen gelernt und ein wenig mit Christian darüber gesprochen, wie er das Leben hier sieht und für sich


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versteht. Wer Christian kennt, wird ahnen, dass ich da mit meinen Fragen nach Konzepten, Strukturen, Planungen, Zahlen und Fakten nicht sehr weit gekommen bin und eher etwas über Leben im Vertrauen auf Gottes Führung gehört habe. Auch den Begriff Gastfreundschaft hat Christian in diesem Moment für mich etwas relativiert und ihn einfach durch den Begriff Freundschaft ersetzt. Ich war neugierig geworden.

In den kommenden drei Jahren habe ich dann die Kommunität ein paarmal besucht, an Straßenexerzitien teilgenommen, sieben Monate in der Naunynstraße mitgelebt und komme inzwischen immer noch häufig zum Samstagsfrühstück oder zu anderen Anlässen in die Kommunität. Ich habe hier viele liebe und spannende Menschen kennen gelernt, Freundschaften geschlossen und ich habe eine unglaubliche Solidarität und Nähe der Menschen aus der Kommunität erlebt, als ich im Herbst 2008 schwer krank wurde und einige Wochen lang im Krankenhaus liegen musste. Diese Nähe und die Teilnahme an meiner Situation damals, haben mich sehr mit Dankbarkeit erfüllt. Die wichtigste Erfahrung, die ich aus meinem Kontakt zur Kommunität in der Naunynstraße mitgenommen habe, ist die Erfahrung, dass ich nichts MACHEN muss, um geliebt zu sein und um Gottes Ruf zu folgen. Worauf es ankommt ist: Offen zu sein, aufmerksam zu bleiben und so immer wieder mitzubekommen, wo ich gerufen bin, aktiv zu werden oder etwas an meinem Leben zu verändern.

Von der Naunynstraße aus bin ich in eine andere große WG gezogen. Hier ist es nicht ganz so einfach den Aspekt der Gastfreundschaft zu leben, weil man sich natürlich in einer solchen WG viel mehr mit den anderen abstimmen muss, bevor man einfach mal jemandem sagt: „Kein Problem, komm her, egal wofür und wie lange“. Dennoch lebe ich hier den Aspekt von Freundschaft und Solidarität. Ich habe ein wenig mehr Frieden damit gefunden, dass ich nicht all meine Ideale immer und überall in vollster Radikalität ausleben kann (auch die Kommunität in der Naunynstraße ist während der sieben Monate, die ich dort lebte, mehrfach an Grenzen gestoßen, wo die offene Tür mal verschlossen bleiben musste), dass es aber gut ist, immer aufmerksam zu sein und voller Vertrauen durchs Leben zu gehen, dass ich schon erfahren werde, wie und wo ich am Reich Gottes bauen darf. Und ich bin froh, Geschwister gefunden zu haben, die die Dinge ähnlich sehen, die Ähnliches suchen und mit denen ich mich austauschen und Freundschaften schließen kann.


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Die Tür neben dem „Tor zur Hölle“ – Elisabeth Wackers

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Nach dem Spätdienst fuhr mich mein Sohn Michael mit dem Auto zum Hauptbahnhof in Köln und ich fuhr mit dem Nachtzug weiter nach Berlin. Gegen fünf Uhr war das Ziel Ostbahnhof erreicht. Viel zu früh, zu dieser Zeit kann ich noch nicht anklopfen, dachte ich. Suchte mir also eine Ecke und setzte mich zu einem Herrn auf eine Bank. In berlinerischer Mundart wollte er wissen, ob ich komme oder wie er von Berlin zu den Feiertagen fortfahre. Ich bin zu Weihnachten hier bei Freunden eingeladen, sagte ich. Er interessierte sich weiter. Nein, meinte er, als Frau könne ich nicht zu Fuß nach Kreuzberg gehen, dass sei sehr gefährlich. Uff! Manche gutgemeinten Ratschläge wurden wach … Er wünschte nach einigem hin und her ein frohes Fest und verschwand. Da saß ich nun, war müde und schlief erst einmal ein. Um 8:30 Uhr machte ich mich auf den Weg: Naunynstraße – neben dem „Tor zur Hölle“. O je, hier?! Graffitischmiere überall, lautes Treiben aus der Kneipe, o Schreck. Sollte ich mich vertan haben? Viele Namen auf den dunklen Klingel-Schildern; ich schaute nach oben die Stockwerke hinauf, alles war dunkel. Einige Kneipengäste verließen torkelnd das Lokal und mir blieb der Atem stecken. Altbekannte Ängste und Erinnerungen kamen hoch. Hatte der Mann im Bahnhof doch Recht?

Da fuhr ein Fahrrad genau auf mich zu. „Grüß Gott“, erschrak ich zurückgeholt aus bangen Fragen. Wo möchten Sie denn hin?. – Zu Pater Christian Herwartz, sagte ich mit halber Stimme. – So, dann bist du die Elisabeth, die heute zu uns kommt. Ich bin Franz und wir sagen hier du zueinander. Komm mit, ich habe den Schlüssel. Ich folgte ihm in die Wohnung hinauf in die zweite Etage. Franz zeigte mir das Wohnzimmer und die Küche, wo ich Tee kochen könnte und verabschiedete sich zur Frühmesse. Da saß ich nun im Halbdunkel des frühen Morgens, sah auf Bilder, Gemälde und Skulpturen an den Wänden. Eine Figur schien mir gleich in die Arme fallen zu wollen: Zachäus – und an der Seitenwand ein Riesen-Wal im großen Wasser, Fotos von jungen und älteren Menschen. Alles Zeichen und Zeugen eines lebenden Miteinanders fand ich. Ein Kachelofen in der Ecke erinnerte mich an Kindheitstage. In diese Gedanken hinein öffnete sich die Seitentüre und Renate begrüßte mich herzlichst wie alte Freunde: Da bist du ja!

Ich wusste, dass Christian noch auf Straßenexerzitien unterwegs war. Ich beteiligte mich beim Frühstückdecken und plötzlich ging die Wohnungstüre auf und ein Mann mit Rucksack stand vor mir. Mir war sofort klar: Guten Morgen, du kannst nur Christian sein – und du Elisabeth, kam spontan zu


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rück. Die Begrüßung war herzlich und ersehnt nach langer Erwartung: Für mich war Weihnachten.

Nach dem ersten Kennenlernen und einem Frühstück mit vielen mir noch unbekannten Gästen und Bewohnern, Vorstellen und Erzählen, Austauschen und Zuhören, zogen wir am Nachmittag zu dritt mit einem Leiterwagen, hochvoll mit Essbarem gefüllt, durch die Straßen Kreuzbergs. Die Menschen liefen herbei. Frohe Weihnachten, fehlt noch was? Andere sprachen wir an und manche kamen schüchtern zu uns und wählten das, was noch zum Fest fehlte. Ein Taxifahrer stieg schnell aus und freute sich über Obst und Brot. Das war eine wirkliche „Bescherung“ an diesem Heiligen Abend.

In der Christmette in St. Thomas war ich nach all dem Sehnen, Hoffen und meiner Neugier endlich angekommen, angenommen und überwältigt. Meine Tränen hörten gar nicht auf. Christian fragte nach, wo all das Wasser herkommt? Es war wohl bis dahin eingefroren. Ich kam aus einer völlig konträren Welt. Ja, ich arbeitete gerne und merkte es viel später, dass ich unter Leistungsdruck, Macht, Geld, Abhängigkeiten, Korrektness und Angepasstsein stand; überall einsatzfreudig, bereit, höflich und arbeitsam war. Je mehr ich arbeitete, umso mehr wurden Aufgaben und Anfragen. Hier wurde mir ein Spiegel vorgehalten: Stopp! Was ist denn wirklich wichtig im meinem Leben? Dieses Weihnachten war für mich der Beginn meines neuen Menschwerdens, eines Weges, auf den ich mich einlassen wollte.

Ein Viertel Jahr später zog ich über Schottland nach Neukölln. Durch meine Jesuitengemeinschaft in Kreuzberg lernte ich zwei Comboni-Schwestern kennen, die in Berlin die Organisation Solwodi (Solidarität mit Frauen in Not) gründeten. Da fühlte ich mich durch angesprochen. Die Ausgrenzung durch Gewalt, Not und Flucht so vieler Menschen weiteten bald meinen Blickwinkel und meine bisherige Arbeitswelt. Es war ein spannendes Suchen und Wachsam-werden. Wir bildeten eine Gruppe aus mehreren Berufen und trafen uns regelmäßig zum Austausch und zu Projektarbeiten. Mit der Zeit wurde Solwodi immer mehr bekannt, die Aufgaben vielfältiger und wir brauchten zusätzliche MitarbeiterInnen. Inzwischen ist die „Solidarität für Frauen in Gewalt“ hier in Berlin unverzichtbar geworden. Ich bin nach vier Jahren dankbar und froh, meine Heimat mit Berlin getauscht zu haben. Ich bin hier angekommen zur rechten Zeit am rechten Ort. Ich teile meinen Weg mit Menschen verschiedener Herkunft, Glaubenswege und Sozialisierungen in Freude, Freiheit und gemeinsamem Suchen.

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Da ist was in Berlin – Helmut Böddeling

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Ich kenne die „Naunynstraße“ eigentlich gar nicht. Nie drin gewesen, aber herumgeschlichen, das Haus betrachtet, den Flur, die vielen Klingelschilder … immer wieder. Da ist es also! 10 Tage habe ich „Exerzitien auf der Straße“ mit Christian gemacht im letzten Jahr, da war es. Seitdem bekomme ich große Ohren, wenn der Name Naunynstraße fällt. Ich habe etwas gehört von Leuten, die da wohnten oder wohnen, wie das da ist, oder selbst was gehört hatten …„die Naunynstraße … jaja!“. Oder Christian hat was erzählt.

Seitdem hört mein Interesse nicht mehr auf, mein Hinschauen und Hinspüren, grummelt in mir, bohrt, ruft laut, macht mich unruhig, wenn ich dahin denke. Irgendwas ist da dran, irgendwas von dem, was da lebt, was die da machen. Ich hab dann viel gelesen, das dicke Buch verschlungen und immer wieder reingekuckt, Internet, bisschen mit Christian gemailt, die allgemeinen Infos bekommen.

Ja, eindeutig, da strahlt was, da strahlt was aus über Kreuzberg, über Berlin hinaus. Hoffnung ist es, glaube ich, dass da „was“ gelingen könnte. Was viele wollen, wenige aber so anpacken.

DER MENSCH – egal wer – DAS POLITISCHE – mir fällt kein besseres Wort ein – DER GLAUBE – christlich und total offen – das ARBEITEN AN SICH SELBST – weiterkommen, zu immer mehr „davon“. Insgesamt: Liebe einfach, glaube ich, aber gelebt, ganz.

Ja, irgendwie so muss es sein. Und das zieht! Und das weckt Hoffnung, strahlt weit aus.

Ja, da ist etwas in Berlin!

Da muss ich wohl hin!

Und: Danke!


Gastfreundschaft – Petra Maria Tollkötter

Für die, die schon immer da sind.

Für die, die schon lange da sind.

Für die, die schon eine kleine Zeit da sind.

Für die, die gerade da sind.

Immer wieder darf ich bei euch in der Naunynstraße Gästin sein.

Immer wieder habt ihr mir das Bett gemacht, die Handtücher bereitgelegt.


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Immer wieder finde ich bei euch Aufnahme mit meinem Hier und Jetzt.

Immer wieder hört ihr mich, seht ihr mich, berührt ihr mich, drückt ihr mich.


Ihr vermittelt mir: „Du bist kostbar und wertvoll!“


Du bist kostbar und wertvoll

ohne Vorleistung

ohne intellektuelle Schminke

ohne emotionale Kontur.

Du bist kostbar und wertvoll

mit Kanten

mit Ungehobeltheiten

mit verbalem Zubeißen.

Du bist kostbar und wertvoll

in Kraft UND in Kraftlosigkeit

in klarem Blick UND in Vernebeltheiten

in positiver Ausstrahlung UND in Stinkbombenstimmung.


Ihr lasst mich diesen Satz aus Jesaja, „Du bist mir kostbar und wertvoll!“, kosten.

Ihr lasst ihn mich spüren an Leib und Seele.

Ihr holt ihn aus dem Geschriebenen ins Erleben.

Ihr lasst den Gottessatz Menschensatz werden.

So von euch angesehen, traut sich ans Licht

mein Chaos und meine Unsicherheit

meine Isolation und meine Ängste

meine Heimatlosigkeit und meine Schuld.

So von euch angesehen, traue ich mich an meine Grenzen heran,

manchmal bis zur Unerträglichkeit.


So kann ich wachsen lassen Korn und Unkraut.

Das wälzt über die Jahre viele Steine weg vom Grab.

Das befreit zu mir selbst.

Das befreit zu Gott.

Das befreit zu den Menschen.

Und die Sehnsucht wächst und wächst und wächst, so auch für Andere

dasein zu können.


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Gast-Freund-schaft – Sabine Hagendorfer

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suchst du

einen platz

wo du

du sein kannst

wo du

du werden kannst

wo du anderen

begegnen kannst

wo menschen

sich einander mitteilen

wo gott

mitten drinnen ist

in der viel-gestaltigkeit

in der viel-falt

in der ein-fach-heit

dann

dann kannst du ihn finden

hier

in der einfachheit

in der offenheit

in der menschlichkeit

in der herzlichkeit

er ist heiliger boden

komm

… danke für diesen Ort in der Naunynstraße – inmitten der Stadt Berlin, er ist für mich zu einem unvergesslichen und heiligen geworden


Naunyngesicht – Miriam Bondy

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Das zweite Gedicht

mit Naunyngesicht:-))

Ort des Wachsens,

offene Tür

offene Herzen

offenes „wir“

1000 Ma(h)le mitgesessen,

Tee getrunken

und gegessen:

Frühstücksrunden

langer Tisch

manchmal Dienstagabend

Fisch.

Menschen kommen,

Menschen gehen,

werde ich sie wiedersehen?

In der Küche blondes Haar,

hurrah, sie ist wieder da:

eine Ladung Ostseebrise,

Früchte von der eignen Wiese,

Marmelade gläserweise

mitgebracht auf ihrer Reise.

Mancher Gast hat hier die Zeit

angefüllt mit Heiterkeit!

Und die Weisheiten vom Franz,

seins ist Radfahren,

meins der Tanz:-))


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Christian hier

und Christian dort,

manchmal fährt Renate fort.

Rainer am Abend,

Radiowellen,

die so durch die Türen

schellen.

Manch Gemüt sich schon erhitzt,

einer friert,

der and‘re schwitzt.

Große Töpfe

voller Suppen,

Seelen, die sich noch

entpuppen.

Danken möcht ich F aus A

und dass immer jemand da!


Einladung von Miriam Bondy


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Wahrhaftige Leistungsträger – Alfred Vogt

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Ich hab noch einen Koffer in Berlin …“. Hin und wieder höre ich diesen Evergreen und denke bei mir: Ja, auch ich habe noch einen Koffer in Berlin …, voll gepackt mit Erinnerungen an einen Lebensabschnitt, der mich für mein weiteres Leben prägen sollte. Und so beginne ich nun nach und nach meine Erinnerungen aus dieser Zeit „aus dem Koffer auszupacken“.

Seit 1998 hatte ich Kontakt zu Schwester Ingrid, von den Kleinen Schwestern in Berlin-Kreuzberg gehabt. Sw. Ingrid ist eine bewundernswerte Frau. Sie und ihre Mitschwestern setzen sich seit vielen Jahren für die ärmsten der Armen ein. Mitten im sozialen Brennpunkt von Kreuzberg haben sie eine gemeinsame Wohnung in der Kirchengemeinde Sankt Michael, in der sie leben und wirken. Für viele Not leidende Menschen ein Anlaufpunkt. Dort erhalten sie nicht nur Kleidung und Nahrung, sondern auch menschliche Wärme und Anteilnahme.

Sr. Ingrid hatte ich es zu verdanken gehabt, dass ich mit Christian Herwartz und Franz Keller in Kontakt gekommen war. Beide sind Jesuiten, die vor über 30 Jahren im Kiez von Berlin-Kreuzberg eine Kommunität gegründet hatten mit dem Ziel, sich für Not leidende Menschen einzusetzen. Wobei Not leidend nicht nur in materieller Hinsicht zu verstehen ist. Probleme von Menschen können vielseitig sein. 1999 lud mich Christian schließlich nach Berlin ein, um mit ihnen in der Kommunität zu leben. Dankbar hatte ich dieses Angebot wahrgenommen, zumal ich in Bayern enorme Probleme mit der Münchner Obrigkeit hatte. Damals hatte man mir nahe gelegt, Bayern zu verlassen. Ich kam Ende August in Berlin an. Es war meine erste Reise in diese Stadt und sie sollte mir für einige Jahre Heimat werden. Ich konnte damals noch nicht ahnen, wie sehr diese Jahre mein künftiges Leben prägen sollten.

Auf einem Zettel stand die Adresse. Naunynstraße. In Berlin-Kreuzberg soll sie sein, Nähe Kottbusser Tor. „Kotti“, wie die Einheimischen dazu sagen. Namen, die mir damals noch nicht viel sagten. Heute weiß ich, dass auf diesem Platz die Drogenszene etabliert ist. Für einen Bajuwaren unvorstellbar, hier zu sehen, wie Junkies ganz ungeniert ihren Schuss aufkochen, so als wäre dies die normalste Sache der Welt; während um sie herum das ganz normale städtische Leben pulsiert.

In der Naunynstraße schließlich fand ich die Hausnummer. Ein altes Bürgerhaus, eingebunden in ein typisches Altstadtviertel aus dem vorigen Jahrhundert. Mein erster Blick fiel auf die Kneipe im Erdgeschoss. Über der Eingangstüre befand sich ein großes Schild, auf dem der Name des Lokals geschrieben stand: „ Trinkteufel“. Da war ich allerdings schon sehr überrascht. In diesem


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Haus soll es eine Jesuitenkommunität geben, dachte ich. Aber es war so.

In der Wohnung war alles schlicht, einfach und zweckmäßig. Kein Hinweis auf eine Konfession, so wie man es eigentlich bei Jesuiten hätte erwarten können. Kein Kreuz, keine Heiligenbilder, nichts dergleichen. Mir war sehr schnell klar geworden, dass an diesem Ort der Glaube in seiner Ursprünglichkeit praktiziert wird. Hier zählen nicht die Reliquien einer speziellen Religion, sondern vielmehr die essenziellen Eigenschaften, die in jeder Religion zu finden sind. Mitmenschlichkeit, Mitgefühl und ein offenes Herz für die Schwachen unter uns. In der Gemeinschaft von Christian und Franz soll niemand das Gefühl haben, er sei nur willkommen, wenn er Katholik ist. Nein, hier sind alle willkommen, unabhängig von der Konfession. Deshalb verzichtet man in dieser Gemeinschaft auf sichtbare Hinweise. Genau genommen sind die Jesuiten in der Naunynstraße Vorreiter im Hinblick auf die immer wieder gescheiterten Versuche der verschiedenen Religionsgemeinschaften, Wege der religiösen Annäherung zu finden. Jedem, der diese Gemeinschaft näher kennen lernt, wird ohnehin schnell bewusst, dass nur ein tiefer Glaube zu Gott diese Kraft geben kann, den täglichen Herausforderungen gerecht zu werden, die eine Lebensform wie diese. mit sich bringt.

Nicht unumstritten sind Christian und Franz deshalb im eigenen Orden; sicherlich weil sie neue Wege beschritten haben, die aber doch letztendlich gar nicht so neu sind, zumal diese Wege zurückführen zu den Ursprüngen der Christenbewegung. Waren es nicht Schlagworte wie: Demut – Armut – Mitmenschlichkeit – Liebe zum Nächsten, unabhängig von seiner Herkunft und Religion. Alle diese Begriffe wurden für mich neu definiert, nachdem ich die ersten Wochen in der WG verbracht hatte.

Wer mich persönlich näher kennt, weiß, dass ich nicht leicht zu beeindrucken bin. Um so erstaunlicher war es für mich, an mir die Bereitschaft festzustellen, vieles in meinem gewohnten Leben in Frage zu stellen. Schon nach wenigen Wochen in dieser Gemeinschaft konnte ich erkennen, dass sich in mir etwas verändern wird.

Christian und Franz sind die Eckpfeiler dieser Gemeinschaft, doch sie stehen nicht allein. In der Wohnung leben sie mit Menschen mit großen und kleineren Problemen aus allen Kulturen und Religionen unter einem Dach. Mal sind es mehr und mal sind es weniger. Unterstützung erfahren sie aus einem enorm großen Freundeskreis, der sich mit der WG verbunden fühlt. Viele der ehemaligen Mitbewohner ziehen irgendwann weiter und tragen ihre Liebe und Verbundenheit mit den Menschen in der WG mit sich hinaus in die Welt. Im Laufe der Jahre haben sich so ganze Netzwerke bestehend aus gleichgesinnten Menschen entwickelt. Früher hatte ich immer wieder


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mal ein Gefühl der Verlassenheit. Seit ich mit den Menschen in der Naunyn verbunden bin, weiß ich, dass ich nie mehr allein sein werde. Meine frühere Fehlbarkeit im Denken um das Wesentliche im Leben eines Menschen wurde korrigiert. Maßgeblich beteiligt an dieser Korrektur waren und sind immer noch Menschen wie Christian und Franz und viele andere, die ich über die Gemeinschaft kennen gelernt habe und mit denen ich mich bis heute verbunden fühle.

Was den oben genannten Begriff der Fehlbarkeit betrifft, würde ich mir wünschen, ein Umdenken würde auch in dieser bestehenden Gesellschaft stattfinden. Gerade in diesen Zeiten müssen geflügelte Begriffe wie Leistungsträger und Fehlbarkeit richtig definiert werden. Menschlich, allzu menschlich ist unsere Fehlbarkeit; bei manchen mehr, bei anderen weniger. Man ist es nicht anders gewöhnt … In allen Bereichen des Lebens begegnen wir dieser Fehlbarkeit, die uns immer mehr frustriert, misstrauisch macht gegenüber den Mitmenschen. Doch wie definiert sich dieser Begriff? Bei den Reichen, Mächtigen und Privilegierten sicherlich anders als bei den Armen, Verfolgten und Schwachen dieser Gesellschaft! Aus der Sicht von denen da oben sind gewiss alle da unten die Fehlbaren, wären sie es nicht, würden sie ja nicht da unten sein, wären dem zu Folge ja auch „Leistungsträger“ innerhalb dieser Gesellschaft; so aber sitzen die da unten jenen da oben nur auf der Tasche. Im Umkehrschluss sagen jedoch jene da unten: „Wäre da nicht diese Habgier, Raffgier und Machtgier bei denen da oben, gäbe es erst gar keine Armen, Verfolgten und Schwachen.“ Aber es gibt sie nun mal, diese von sich selbst und ihrem Handeln so überzeugte Oberschicht. In ihrer grenzenlosen Gier nach Macht und Reichtum und ihrem manipulativen Einfluss auf die übrige Masse Mensch sind sie davon überzeugt, unfehlbar zu sein. So definiert sich für diesen elitären Kreis das Wort „Leistungsträger“. Nicht die Pflegekräfte, Krankenschwestern, die ihre Alten und Kranken pflegen sind Leistungsträger. Nicht die Müllmänner, die ihnen den Dreck beseitigen, sind Leistungsträger. Nicht die vielen anderen, die innerhalb dieser Gesellschaft unabdingbar notwendige Tätigkeiten zum Wohle der Gesellschaft ausüben und dafür schlecht bezahlt werden, sind Leistungsträger.

Nein, Leistungsträger aus der Sicht von denen da oben sind Manager und Banker, die – man weiß es inzwischen ja, in krimineller Art und Weise, aus reiner Habgier – ganze Volkswirtschaften zugrunde richten; und dies ohne moralische Bedenken. Aus deren Sicht folgerichtig sind natürlich auch Politiker „Leistungsträger“, die ihre politische Macht geltend machen, erstens die Judikative dahingehend zu beeinflussen, die oben genannten kriminellen Handlungen nicht nur nicht zu bestrafen und zweitens dafür zu sorgen, dass


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auch weiterhin noch Volksvermögen in diese Spielbanken der Habgier fließt, damit weiter gezockt werden kann, damit die Taschen der ohnehin schon Reichen noch praller gefüllt werden können.

Was hat dieser Text mit der Gastfreundschaft in der WG. zu tun? Sehr viel! Seit drei Jahrzehnten praktizieren Christian und Franz und der ihnen nahe stehende Kreis gleichgesinnter Menschen ihren Dienst am Nächsten. Selbstlos und ohne Hintergedanken gehen sie auf die Schwachen in unserer vom Materialismus geprägten Gesellschaft zu. In diesem Sinne kann ich nur jedem, der sehen und hören kann, aufzeigen und zurufen: „Seht her, hier sind wahrhaftige Leistungsträger, die Barmherzigkeit, Nächstenliebe und Güte in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen!“ In einer menschlich immer kälter werdenden Gesellschaft, in einer Zeit, in der die Kluft zwischen Armen und Reichen immer weiter auseinander klafft, werden Menschen wie Christian und Franz und die vielen anderen in und aus diesem Kreise als Leistungs- und Hoffnungsträger immer wichtiger. Die Leistung dieser Menschen begründet und definiert sich an der wichtigsten, elementarsten Eigenschaft, die jeder Mensch haben sollte, weil von Gott gewollt: Sozialität! Nur wer sozial handelt an seinem Nächsten, darf für sich in Anspruch nehmen, ein Leistungsträger zu sein!

Ganz im Gegensatz hierzu stehen diese selbsternannten „Leistungsträger“, die sich in aller Öffentlichkeit damit brüsten, sie seien die Hoffnungsträger einer Gesellschaft, während sie im selben Atemzug sozial schwache Hartz IV-Empfänger als „Sündenböcke“ deklarieren, um auf diese schuftige Weise von ihren eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken. Dies war zu allen Zeiten ein Trick der Reichen und Mächtigen, in – von ihnen selbst verschuldeten – Krisenzeiten von sich selbst abzulenken.

Wer nur ein Leben rettet, rettet die ganze Menschheit! Meiner Meinung nach bezieht sich dieser Satz nicht allein auf eine physische Errettung eines Menschen, sondern auch auf die seelische Errettung. Dem zur Folge wurden in der WG viele Leben gerettet. Ich danke Gott aus tiefstem Grunde meines Herzens, dass er 1999 meinen Weg in die WG geleitet hat. Ich danke Christian Herwartz und Franz Keller dafür, dass sie auch meine Seele gestärkt haben; mir neue Erkenntnisse aufgezeigt haben, für ein positives, soziales Denken in meinem weiteren Leben. Schöne, positive Erfahrungen, die ich nun auch an meinen geliebten, kleinen Sohn Samuel weitergeben kann, der am 25. April 2008 in Kaufbeuren/Allgäu das Licht der Welt erblickt hat. Seine Mutter Nicole und ich sind sehr glücklich darüber, dass es Christian sein wird, der unseren Sohn taufen wird.


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An dieser Stelle danke ich all jenen Menschen, die ich in der WG kennen lernen durfte und die mir ihre Anteilnahme und Freundschaft zuteil werden ließen und deren Freundschaft bis heute fortbesteht!

Schön, dass es dich gibt Alain, Hanns, Helma, Andre, Phillip, Angelika, Michael, Albert, Renate, Ruth, Maria und Kamillo, Lena, Miriam, Jo, Miriam. Viele gemeinsame Erlebnisse, freudige aber auch schmerzliche, verbinden mich mit euch. Jeder hat jedem geholfen. Und es gibt noch viele andere Menschen, die ich in der WG kennen lernen durfte. Auch wenn zu ihnen kein regelmäßiger Kontakt besteht, möchte ich sie dennoch an dieser Stelle grüßen, auch wenn ich ihre Namen hier nicht benenne.

Im August 2010 ist Franz Kellers 85. Geburtstag. Fast 60 lange Jahre davon hat er in den Dienst seiner Mitmenschen gestellt. Demütig und bescheiden hat er geholfen, wie und wo er nur konnte. Auch mir hat er mit seiner Güte und Anteilnahme immer wieder Kraft gegeben. Ich hoffe von Herzen, dass du lieber Franz noch sehr lange bei uns bleiben wirst! Menschen wie dich brauchen wir in dieser Welt!

In Gedenken an Lars möchte ich hier noch einen Nachruf anbringen: Lars war mir ein guter Freund und sein früher Tod machte mich sehr betroffen. Lieber Lars, du bist nicht vergessen!


Als Heilsbedürftige zusammen kommen – Christian Becker

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Durch meinen Wegzug nach Nauen sind meine Kontakte zu Bruder Franz und Christian Herwartz, Godehard Pünder und Hanns in den letzten fünf Jahren seltener geworden. Meine Sympathie für sie hat jedoch nie nachgelassen. Wenn ich an Bruder Franz denke, erinnere ich mich insbesondere an Veranstaltungen in St. Michael, meist von ausländischen Priestern, die von ihrem Einsatz für die Ärmsten der Armen berichteten, bei denen wir uns mal kurz die Hand schütteln konnten. Denn leider hat es Franz noch nicht geschafft, es wahr zu machen, uns mal auf einer Fahrradtour durch Brandenburg in Nauen einen Besuch abzustatten. Außerdem denke ich an seinen letzten Geburtstag: Erfreut stellte ich eines Abends fest, dass Bruder Franz mit im Kreis derer war, die eine Donnerstagsmesse in St. Michael besuchten und die sich währenddessen zur Eucharistieausteilung um den Altar versammelten. War es bei den Fürbitten, als der inzwischen ehrenamtliche Gemeindereferent Reinhard erwähnte, dass wir für Bruder Franz beten möchten, da er an diesem Donnerstag Geburtstag feiere? Dies bewegte mich so sehr, dass es mich nicht länger in der Kirchenbank hielt, als Franz zum Ende der eucha-


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ristischen Anbetung die Kirche verlassen wollte. Ich musste ihm hinterher eilen. Mit seinem immer noch vorhandenen, mir wegen meiner österreichischen Familiengeschichte besonders angenehmen vorarlberger Dialekt begrüßte er mich leise, in seiner bescheidenen und doch auch so warmherzigen Art. Sein reiner strahlender Blick berührte mich tief, als wir uns die Hände reichten. Ich fühlte mich gut wahrgenommen und ein spürbarer Kontakt zwischen uns strömte sofort. Eigentlich wollte ich ihm bloß etwas Herzliches, Dankbares ausdrücken zum Geburtstag und doch beschenkte er mich durch seine sanfte Nähe. Franz ist wie ein milder Kerzenschein in der Nacht, beschrieb einst Roswitha sein Wesen, wie ich empfand, sehr zutreffend.

Godehard und Christel traf ich zu Georg Schlütters 40jährigem Priesterjubiläum in St. Michael. Von Godehard interessierte mich am stärksten, wie er die katholische Kirche in seiner neuen Wahlheimat erlebt. Er sprach von aktiven Christen und Gruppen, bestätigte mir aber, dass er nirgendwo in Dresden auch nur annähernd ein so ungezwungenes, vorbehaltlos ehrliches, lebendiges Miteinander wieder gefunden habe, wie das, zu dem er in St. Michael einst mit den Grundstein legte.

Zu Christian Herwartz fallen mir auf Anhieb drei unvergessliche Begegnungen ein: Zur Feier des 25jährigen Bestehens der Jesuiten-Wohngemeinschaft lud er zu heißen Diskussionsthemen in die Kreuzberger Kirchengemeinden, mit denen er am meisten zu tun hatte. Ich besuchte St. Thomas und St. Marien-Liebfrauen. Nachdem wir mit Andreas über unsere gemeinsame Vergangenheit nachgesonnen hatten, outeten sich homosexuelle Jesuiten. Einerseits fühlte ich mich dadurch an meinen Lehrtherapeuten erinnert, dem es durch sehr einfühlsame und aufschlussreiche Gespräche gelungen war, zwei schwule Kommilitonen von ihrer furchtbar enttäuschenden Vaterbeziehung unserer Weiterbildungsgruppe berichten zu lassen. Dabei wurde deutlich, dass besonders der eine von beiden, den ganzen Mann sehr idealisierte und ersehnte. Ihn ließ es nicht los, als ihm unser Lehrtherapeut voraus sagte, er selber könne nur in dem Maße zu dem von ihm idealisierten ganzen Mann werden, in dem er seine durchaus vorhandenen Beschützerinstinkte gegenüber Frauen weiterentwickle, auch wo er dafür auf männliche Streicheleinheiten zu verzichten hätte. Andererseits braucht es eine enorme Vertrauensatmosphäre und Geborgenheit, damit tiefe frühkindliche Enttäuschungen überhaupt wieder erinnert und spürbar werden können. Verteufelungen als Sünder machen die Kluft zwischen der Homosexuellenbewegung und der katholischen Kirche nur immer unüberbrückbarer und Priester oder Ordensleute, die homoerotische Neigungen wahrnehmen, immer sprachloser, verschlossener und unnahbarer. Bei der Organisation von durchschnittlich


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drei Gemeinden finden Priester zunehmend weniger Verständnis für ihre eigene Seele. Wo also landen die menschlichen Sehnsüchte von Priestern? Vor kurzem gab es einen „Tatort-Krimi“, in dem behauptet wurde, dass etwa 50 % der Pfarrer sexuelle Beziehungen zu einer Frau unterhalten und sich unter dem Rest viele Homosexuelle und Päderasten befinden.

Demgegenüber kenne ich eine brasilianische katholische Gemeinschaft, in der die Menschen so sehr ein Herz und eine Seele sind, in der eine so familiäre Vertrauensseligkeit herrscht, dass sich für diese Gemeinschaft zig Männer und Frauen entscheiden, zölibatär zu leben und dies auch frohen Herzens schaffen. Wo der Kirche jedoch die Liebe, das Vertrauen und die Ehrlichkeit ausgeht, ist dies für ihre Zukunft viel problematischer, als wo sich Geistliche mit ihren sexuellen Neigungen offenherziger auseinander zu setzen wagen. Wo kirchliche Workerholics sich ihren Neigungen nicht mehr stellen, sie nicht tiefer auf ihre gesunden Interessen und Grenzen hin ergründend, sind sie viel stärker getrieben, sich durch immer mehr Stressiges davon abzulenken. Nicht nur in der Kirche steht es an, mal der ganzen Raserei die Stirn zu bieten und einander zu sagen, wo wer was nicht mehr leisten kann und möchte. Doch ähnlich wie Lehrer fliehen auch Kleriker eher in die Isolation und Krankheit, statt in der gesunden Solidarität und redlichen Einheit einem besseren als dem herrschenden Zeitgeist nachzukommen zu suchen.

Eine weitere wichtige Begegnung hatte ich mit Christian Herwartz bei einem gemeinsamen Samstagsfrühstück in der Naunynstraße. Ich war mit Freunden aus Brandenburg gekommen, von denen eine in einem Frauenhaus, eine andere in einem Obdachlosenheim und der dritte als Betreuer arbeitete. Christian berichtete davon, wie er gelernt hätte, mit immer weniger Luxus auszukommen und sagte dazu, sollte eines Nachts sein eigenes Bett von jemanden belegt sein, der keines hätte, so könne er es ihm gönnen und selber auf dem Boden schlafen. Ein solches Leben musste ich mir plötzlich als einem alles abverlangend, permanent gefordert und dadurch extrem stressig vorstellen, noch dazu, da ich es so empfand, als stünde Christian permanent mit all seinen vielen Frühstücksgästen in einer hellwachen, achtsam empathischen Verbundenheit. Mich und dann ihn fragend, woher er die ganze Konzentrationskraft dafür bekäme und ob er sich nie völlig abgegessen, aufgebraucht, total erholungsbedürftig fühle, ja ob er genug Stille und Pause fürs Gebet fände, antwortete er, er würde immer beten.

Bruder Christian Schmidt erklärte mir neulich in einem Hauskreis, dass das unablässige Beten bei Ignatius von Loyola wohl bedeutet, durch alles Gegenwärtige und durch alles Tun hindurch und in jeder Situation die möglichst große Nähe zum Himmlischen zu suchen. Als meine drei brandenburger


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Freunde mit mir von jenem Samstagsfrühstück aufbrachen, waren wir gemeinsam begeistert von der tiefen, weiten Offenheit und Lebendigkeit, die wir im Kreis um Christian Herwartz zu spüren bekommen hatten.

Seit etwa einem Jahr habe ich mit Bruder Christian Schmidt die meisten Gespräche, weil ich zu einem christlichen Hauskreis fand, in dem auch er ist. Wir beten nicht nicht bloß mit Begeisterung bei Gesang zu Gitarren- und Geigenspiel, sondern wir tauschen uns auch über die Heilige Schrift und danach über das eigene Leben aus. In diesem Kreis kommen wir als Heilsbedürftige zusammen, denen das einander und dem Gegenwärtigen Anvertrauen unserer persönlichen Nöte wichtiger ist, als das anteilnahmslose Reproduzieren unverstandener und nicht zu verstehen gesuchter Frömmigkeitsfloskeln. Dadurch kann das Bedrückende viel ungezwungener und emotionaler raus kommen und macht unser Zusammensein quicklebendig. Hilfreiche Einfälle kommen rascher zu Wort. Schöpferisches, Musisches, Herzliches wirken dann unbefangener, befreiender, schöner. Einheit breitet sich aus: die allumfassende Künstlerseele lädt in jedem von uns ein, auf eigene Gedanken zu kommen, eigene Töne, Klänge, Ausdrucks- und Lebensformen zu entdecken. Christian Schmidt ist nicht bloß ein theologisch-philosophisch bewanderter Schöngeist, Fotograf, Literat, sondern auch zerbrechlicher Mensch zwischen Bangen und Freuden, Zweifeln und erprobten Antworten. Doch das, was ich am meisten an ihm schätze, ist, dass ihm die Wahrheit so heilig ist, dass er zu ihren Gunsten bereit ist, seine sprachlichen Unzulänglichkeiten oder sind es manchmal auch Irrtümer öffentlich einzugestehen, sich verbessern lassend, sich selber verbessernd, auch wenn ihm so etwas keine Lorbeeren einbringt. Solche Ehrlichkeiten und die gemeinsame Wirklichkeit bilden ganz andere zwischenmenschliche Brücken als Symbiosen und Kollisionen, erlauben zutiefste Unterscheidung, Abgrenzung und geben frei für völlig Überraschendes, Ureigenstes, gerade erst Entwickeltes. Mit Christian ist herzliche Nähe bei gleichzeitiger geistiger Auseinandersetzung und heftiger Diskussion möglich.


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Der Weg – Bild von Christian Schmidt


Voll-, Teilzeit-, Nichtbeschäftigung

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Beiseite schieben – Christian Herwartz

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Kinder verschiedener Hautfarben und aus verschiedenen Kulturen spielen miteinander, auch wenn sie keine gemeinsamen Worte verwenden. Sie finden Wege der Verständigung mit viel Fantasie über alle Unterschiede hinweg. Diese kindliche Fähigkeit in uns sieht Jesus als Bedingung – wenn ihr nicht werdet wie die Kinder (Mt 18,2) – für den Eintritt in das unbegrenzte Leben mit Gott. Schon bald wird den Kindern beigebracht, in Konkurrenz mit


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anderen zu treten und das gemeinsame Leben hinten anzustellen. Es scheint eine Notwenigkeit zu sein im Überlebenskampf mit der Natur, den begrenzten materiellen Möglichkeiten, den fehlenden Bildungseinrichtungen und der begrenzten Gesundheitsversorgung. Der Mitmensch wird zum Konkurrenten. Einige erhalten die angestrebten Güter und Dienstleistungen im Überfluss und andere werden von ihrem Gebrauch ausgegrenzt. Anfangs schieben wir andere BewerberInnen auf einen Ausbildungs-, Arbeits-, Krankenhausplatz blind beiseite und freuen uns bei Erhalt, selbst Glück gehabt zu haben. Doch ich kenne David, einen Jungen, der am Wettkampf nicht teilnahm, weil er nicht der Erste sein, nicht auf einem Podest über den anderen stehen wollte. Das Gemeinsame, das Geschwisterliche behielt für ihn den Vorrang.

Die Konkurrenz fordert zur eigenen Leistung heraus. Das Leistungsschwächere soll nach Möglichkeit in mir nicht gesehen werden. Da beginnt der Prozess der Aufteilung in Menschen, die Glück und die Unglück gehabt haben. Die Ausgrenzung scheint notwendig im eigenen Leben und im Leben anderer. Diesem Prozess der Grenzziehung widersetzt sich Jesus von Anfang an. Die Kinder sollen nicht weggeschickt werden (Mk 10,14) und er stellt ausgegrenzte Menschen, wie den Mann mit einer versteiften Hand, in die Mitte der Versammlung (Lk 6,8), kehrt bei Menschen ein, die zur angesehenen Gesellschaft nicht dazu gehören sollen, wie den Zöllner Zachäus (Lk 19,5).

Auch in den letzten 2000 Jahren gab es Menschen, die die Grenzen zu ihren eigenen Tabuzonen überschritten, Kontakt zu anderen weggeschobenen Menschen fanden und so auch als Kranke, Mittellose oder wenig intellektuell Gebildete sich für eine menschlichere Gesellschaft eingesetzt haben. Wenn wir uns mit in diese heilende Geschichte stellen, dann sehen wir unsere Gesellschaft neu und leiden daran, wie Menschen in unserem Land in materieller Armut leben. Statistiken geben oft nur einen unzureichenden Einblick in die erniedrigenden Lebensumstände, wenn Kinder bei einer Klassenfahrt und vielen anderen Gelegenheiten nicht teilnehmen können, weil dafür kein Geld da ist. Armut heißt oft, dass sich Menschen der Gesetze und Institutionen nicht bedienen können, die zu ihrem Schutz da sind. Diesen strukturellen Vorteil haben Menschen eher mit einer materiellen Absicherung, einer besseren Ausbildung, die sich schriftlich oder redegewandt äußern können, und mit einer guten Gesundheitsbetreuung. Diese Voraussetzungen werden auch in unserem Land schon den Kindern mitgegeben oder verweigert. Im Kindergarten, in der Schule, bei der Berufswahl sind die Chancen in den Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich. Das Auseinanderreißen der Bildungsmöglichkeiten verschärfte sich in den letzten Jahren eher. Die daraus folgende Ausgrenzung aus einem insgesamt geschwisterlich teilenden Lebens-


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sehen viele Menschen und reagieren auch darauf. Diese Engagierten zu sehen ist möglich, wenn sich jemand in diesen Strom der Menschlichkeit selbst einreiht. Nachdenken und Informationen sammeln allein verstärkt eher die Blindheit gegenüber der Not anderer und im eigenen Leben. Die Ausgrenzung setzt sich weiter fort.

In der Begegnung von glücklichen Gewinnern und „Pechvögeln“ kommt es zur Rechtfertigung des Ausgrenzungsprozesses. Dann fallen Worte wie Schicksal, selbst Schuld oder es wird ein Mangel festgestellt, der das schlechte Abschneiden im Wettkampf begründen soll. Paulus weist in seinen Briefen im Neuen Testament auf die unterschiedlichen Gaben der Menschen hin. Sie ergänzen einander wie die vielen unterschiedlichen Glieder in einem Leib (1 Kor 12,12ff). Der eine kann dies und der andere das besonders gut. Das Gemeinsame in Familie, Freundschaft, Gemeinde gehört keinem und keiner persönlich. Es ist Gottes Geschenk. Doch das Privatisieren der Gaben einzelner Menschen schiebt andere Menschen beiseite und sieht sie als bedrohliche Konkurrenten. Wenn das Private sogar zum höchsten Gut wird, dann mauern wir uns ein in die Solidaritätsverweigerung, das Gemeinsame gerät aus dem Blick. Das System der Konkurrenz knebelt die Menschen weiter.

Geld wird als Maßstab der Wertschätzung genutzt. Dieses Hilfsmittel im Tauschgeschäft hat aber keinen Wert für sich. Zum Erhalt des Lebens taugt es allein nichts. Geld ist nicht essbar und macht auch nicht gesund. Franziskus hat es verachtet, weil es Waffen und Kriege notwendig macht, wenn es einen zentralen Wert bekommt. Heute wissen wir noch mehr, wie sehr er Recht hatte. Die Geldvermehrung einiger drängt auch bei uns immer mehr Menschen in Situationen des Mangels in der täglichen Versorgung, in der Teilnahme an Bildung und an gesellschaftliches Leben. Die im Blick auf die Geld- und Gütervermehrung Erfolglosen werden wie die Kranken oft nicht mehr gesehen und ihr Tod wird oft als Erleichterung erfahren.

Doch die aufgezählten Aspekte der Ausgrenzung werden von vielen nicht gesehen, weil sie sich nicht in die mögliche eigene oder fremde Ausgrenzung hinein begeben. Die eigene Wahrnehmung ist nicht nur bei Abhängigen von recht unterschiedlichen Dingen und Verhaltensweisen – nicht nur bei Drogenabhängigen – gefesselt. Ihr Gebrauch und ihre Beschaffung bindet die Kräfte. So gefangene Menschen können die Wirklichkeit ihrer Umgebung und in sich nicht mehr wahrnehmen. Sie leben mitten unter uns und sind doch schwer erreichbar. Aber wenn wir mit diesen tabuisierten Zonen in uns und wieder Kontakt zu unserem Nächsten bekommen, dann ist es Zeit ein Fest des Neuanfangs zu feiern über alle Grenzen hinweg. veröffentlicht in: Franziskaner Mission 2/2010


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Mutter und Sohn – Anne-Marieke Koot

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Seit meinem ersten Tag als Familienhelferin – das ist zwei Jahre her – komme ich zu einer Mutter mit Sohn. Er ist jetzt in einem Crisis-Haus aufgenommen. Ich bin erschrocken über ihn. Er lief wie ein Zombie. Ich dachte, es käme durch die Medizin. Vielleicht bekommt er jetzt auch mehr als vorher. Selber erzählte er mir aber auch, dass er jetzt Haschisch raucht. Durch das Fenster wird ihm das von draußen herein gereicht. Er ist geistig behindert und sein Wortschatz, seine Ausdrucksfähigkeit ist beschränkt. Darum muss ich meistens selbst die Puzzlestücke seiner Geschichte beieinander fügen. Oft bleibt das Bild unvollständig. Ich erschrak über ihn, über seine Art zu Laufen, über die Spannung, die durch seinen Körper lief, während wir saßen und redeten. Zum ersten Mal seit drei Wochen fragte ich mich, ob es mit ihm zu Hause nicht doch besser gewesen war. Zugleich wusste ich auch, dass die Situation zu Hause unhaltbar geworden war. Der Entschluss sich aufnehmen zu lassen, den er mit seiner Mutter zusammen genommen hatte, war vernünftig. In den letzten Wochen war die Spannung für ihn zu groß geworden. Einen Tag vor seiner Aufnahme hatte er die Fenster von außen angestrichen aus Angst vor … Nachbarn, einem ‚Freund’ … ?

Er sorgte mit Hilfe der Familienhelferin für seine Mutter. Mit ihr ging es in der letzten Zeit immer schlechter. Sie war ein paar Mal gefallen und hatte im vergangenen Jahr mehrere Male im Krankenhaus gelegen. Körperlich, aber auch geistig, war es abwärts gegangen. Ich fand sie apathisch. Sie war immer diejenige gewesen, die die Übersicht bewahrt hatte und ihren Sohn lenkte. Jetzt musste der Sohn mehr oder weniger alles alleine tun und auch noch für seine Mutter sorgen. Zu Anfang hatten sie nur Hilfe im Haushalt, aber seit einem halben Jahr kam auch täglich Pflegehilfe und einmal in der Woche eine spezialisierte Haushalts- und Familienhelferin. Es war ein wackeliges Gleichgewicht, aber es ging, dachten wir. Hatten wir die Situation verkehrt eingeschätzt? Ich weiß es nicht und ich frag mich auch, ob man das sagen kann. Mutter und Sohn wollten sehr gerne beieinander bleiben. Das war auch der wichtigste Grund, den wir als Hilfsorganisation hatten, so viel Hilfe einzusetzen, auch wenn wir sahen, dass es viel weiter ging als gebräuchlich ist; wir hatten sehr Vieles übernommen. Ihr ganzes Lebenssystem hing ab von der Hilfe, die wir ihnen boten. Wir dachten, dass sei möglich, aber wir sind doch an unsere Grenzen gekommen. Tragisch finde ich das. Wäre anderes möglich gewesen? Tragisch, weil sich Mutter und Sohn nun in verschiedenen Crisis-Aufnahmeorten befinden und weil beschlossen ist, dass beide nicht


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mehr zurück nach Hause können. Für die Mutter wird ein Platz in einem Pflegeheim gesucht, für den Sohn ein Platz in einem Wohnprojekt.

Dienstag zeigte mir der Sohn, dass er sich wieder selbst verwundet. Er sagte: „Ich merke nicht, dass es kommt, es ist drei Jahre lang gut gegangen.“ Ja, dachte ich, die zwei Jahre, die ich miterlebt habe, ist es gut gegangen. Gerade in Begegnungen mit dir hatte ich einige Male eine sehr starke Gotteserfahrung. Oft hatte ich den Eindruck, dass du dich selbst übertrafst. Immer wieder war ich berührt durch dein Sein, deine Fürsorge, deine eigene Ehrlichkeit. Und zugleich ging es oft auch gar nicht gut, dann kam ich heim mit Kopfweh und Sorgen. Oft war ich echt verzweifelt. Immer war irgendetwas los, nie gab es Ruhe bei ihnen. Dann waren da plötzlich unerwartete Rechnungen, Schulden oder sie wurden Tag und Nacht belästigt durch Telefonanrufe, oder der Sohn wurde auf der Straße bedroht oder ein anderer Sohn war betrunken hereingeschneit und hatte das Eine und Andere demoliert oder da war was mit Nachbarn oder jemand hatte sie finanziell mal wieder betrogen. Immer war irgendetwas. Ich war dann auch froh, dass unsere Organisation so viel Hilfe einsetzte, sodass ich mich nicht mehr so alleine fühlte. Gerade in den vergangenen Wochen habe ich viel über Verantwortlichkeit nachgedacht, geschrieben und mit Kollegen gesprochen. Wie weit geht die eigene, persönliche Verantwortung? Was ist unsere Verantwortung als Organisation, was ist die Verantwortung der Familie, was die unserer Gesellschaft?

Es ging aber nicht immer nur schlecht bei ihnen. Wir haben viel gelacht und Spaß gemacht. Und immer wenn ich mal gerade echt verzweifeln wollte, dann kam Hilfe aus unerwarteten Richtungen. Ein Nachbar half, irgendwoher kam Geld. Eine Tochter erschien auf einmal wieder bei Mutter, nachdem der Kontakt jahrelang unterbrochen gewesen war und strich gemeinsam mit ihrem Mann das Haus an. Mit einem Sohn bekam sie ein paar Monate vor seinem Tod wieder Kontakt; 44 Jahre war er alt und hatte so viel getrunken, dass sein Körper ruiniert war. Aber über das Einwohnermeldeamt hatte er sie aufgespürt und sie haben sich versöhnt. All diese Dinge habe ich als starke Zeichen der Hoffnung gesehen – „Hoffnung da, wo alles hoffnungslos erscheint.“

Zugleich habe ich gerade hier mehr denn je erfahren, wie verletzlich dieses „Es geht gut“ ist, die Zerbrechlichkeit von Hoffnung. Das brachte mich dann auch wieder zum Zweifeln. Es ist das Eine und das Andere. Da ist Hoffnung und Verzweiflung; es geht gut und es geht nicht gut. Hier schimmert etwas von Gott hindurch und auch wieder nicht oder doch? Vielleicht ist es nicht mehr als ein Moment, aber den braucht man ja auch nicht zu leugnen.

Ich hoffe, dass der Sohn schnell einen guten Platz bekommt. Einen ohne Drogen und Alkohol. So lange er hier wohnt, will ich probieren, ihn wöchentlich


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zu besuchen, aber ich weiß, dass ich ihn werde loslassen müssen. Und ebenso hoffe ich, dass die Mutter ein gutes Heim findet.

Nach meinem Besuch sehe ich durch das Fenster, wie er weggeht. Ist das der Mann, mit dem ich lachend einkaufen ging montagnachmittags? Der Mann, der stolz ist auf sein gutes Benehmen Damen gegenüber und der nicht wollte, dass ich die schweren Taschen trug?


Eis-kalt bestraft! – Helene-Jacqueline

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Beim letzten Arbeitergeschwistertreffen wurde ich gebeten, etwas von unserer noch jungen Verdi-Betriebsgruppe zu erzählen und so über die Maulwurfarbeit, die wir im Betrieb leisten, zu berichten.

Seit September letzten Jahres trifft sich eine kleine Gruppe von Mitarbeiter/innen aus dem Drogeriehandel regelmäßig im Verdi-Gebäude in der Stadt. Wegen der drei Schichten, in denen im Betrieb gearbeitet wird, haben wir dafür den Sonntag um 11 Uhr gewählt. Oft sitzen wir noch um 15 Uhr zusammen. Da wird so viel Dampf abgelassen! Angst den Arbeitsplatz zu verlieren, Druck, Mobbing, Ungerechtigkeit … diese und andere sind unsere Themen. Doch alles läuft noch im Untergrund. „Aktiv“ sind wir bislang mit Flugblättern geworden, die wir heimlich im Betrieb verteilt haben. Beim ersten Flugblatt kam die Order vom Lagerleiter an alle Vorarbeiter, die Blätter sofort zu vernichten. Das zweite und auch das dritte haben sie gelassen, doch wir werden verschärft beobachtet. Dabei geht es uns im Grunde doch nur um ein besseres Klima auf unserer Arbeit, um Fairness, Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität am Arbeitsplatz. Beim Betriebsrat haben wir um ein Schwarzes Verdi-Brett gebeten sowie um eine Stellungnahme in Beziehung auf die Personalentwicklung bei der nächsten Betriebsversammlung. … Bis jetzt passiert nichts!

Ich möchte nun von einer konkreten Situation erzählen, die sich im Juni abgespielt hat: Klaus, ein LKW-Fahrer unseres Lagers, hatte den Auftrag bekommen, eine Tour mit einem Fahrer aus dem entfernten Lager zu machen. Er sollte dem Kollegen diese für ihn neue Route zeigen und Läden beliefern. Unterwegs gerieten sie wegen einer Baustelle in einen Stau. Da es an dem Tag fürchterlich warm war und sie nur im Schneckentempo vorwärts kamen, lud Klaus seinen Kollegen an einer Raststätte zu einem Eis ein. So leisteten sie sich eine unvorhergesehene Pause. Dann ging die Fahrt weiter. Am anderen Tag erzählte der Kollege in von dem anderen Lager, ohne sich etwas dabei zu


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denken, von diesem Eisessen und sagte noch so nebenbei: „Die Kollegen dort machen sich ein schönes Leben während der Arbeit.“ Diese Anekdote landete bei irgendeinem Chef, der dann der Sache nachging. Am Montag der folgenden Woche wurde Klaus ins Büro gerufen; er sollte von der Arbeit suspendiert werden – es sei denn, er nenne die Namen der Kollegen, die für Unruhe in der Belegschaft sorgen. Leider geschah dieses Gespräch ohne Zeugen. Klaus war sofort klar, dass er in so etwas nicht einsteigen und keine Kollegen/innen verpfeifen würde. So ging er nach Hause.

Am Dienstag früh um fünf Uhr meldete er sich an seinem Arbeitsplatz, um dem Betrieb, da noch nichts Schriftliches vorlag, seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Doch er wurde erneut nach Hause geschickt. Das war der Moment, in dem Albert (auch LKW-Fahrer und in unserer Verdi-Betriebsgruppe) die Geschichte mitbekam. Gleich informierte er Dieter (unser Gruppensprecher).

An diesem Dienstag war ich gerade von der Frühschicht zu Hause angekommen, als auch schon das Telefon bimmelte. Es war Dieter. Nachdem er mir die Situation erklärt hatte, sagte er: „Das müssen wir aufgreifen. Eine Abmahnung hätte man noch verstehen können, aber eine Suspendierung – nein!“ Ich erfuhr auch, dass Klaus Verdi-Mitglied ist und seine Frau auch im Betrieb arbeitet. Beide kannte ich nicht.

Ich: Was meinen die mit „Kollegen, die für Unruhe sorgen?“ Sind wir das? Oder läuft da noch was anderes ab? Dieter: Das sind wir.

Ich: Hört sich nicht schlecht an. Die werden langsam nervös da oben. Aber auf jeden Fall muss Klaus erst mal wissen, dass er mit unserer Unterstützung rechen kann. Kann Albert die Verbindung mit ihm halten? Er ist ihm am nächsten und kennt ihn am besten! Dieter: Ja, das tut er schon. Ich sehe ihn morgen. Ich wollte jetzt nur wissen, was du denkst.

Ich: Was meinst du, sollen wir ein neues Flugblatt vorbereiten? Mit der Verteilung haben wir ja schon ein gewisses Training. Das ist ja kein Problem mehr. Allerdings muss Klaus dabei sein, damit alles, was geschrieben wird, auch stimmt. Da dürfen keine Halbwahrheiten oder Vermutungen vorkommen.

Dieter: An ein Flugblatt habe ich auch gedacht. Aber zuerst müssen wir auf die schriftliche Kündigung warten. Die müsste eigentlich noch diese Woche per Post bei ihm ankommen. Denn wir haben noch nichts Handgreifliches. Es ist ja bis jetzt alles nur mündlich gelaufen. Da müssen wir vorsichtig sein.


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Ich: Gut, dann warten wir. Freitag ruf ich dich wieder an. Vielleicht hat sich bis dann etwas getan.

Am Freitag erfuhr ich, dass Klaus keine Kündigung bekommen hatte und dass er als Fahrer rehabilitiert worden war. Allerdings arbeitet er nicht mehr an alter Stelle. Jetzt darf er nur noch auf dem Hof fahren, bringt die Rollis vom Warenausgang zum Wareneingang … Das heißt weniger Geld, denn die Zuschläge fallen aus, und es ist langweiliger, denn er darf das Gelände nicht mehr mit dem LKW verlassen. Nun besteht keine Gefahr mehr, ein Eis während der Arbeitszeit zu lutschen, weil es da keins gibt! Klaus erlebt es als eine „Degradierung“, doch er hat uns gebeten, nichts zu unternehmen, da seine Frau sonst wahrscheinlich der Gefahr eines Mobbings ausgesetzt wird. Eine ähnliche Realität hatten wir im letzten Jahr mit Josef und Annette erlebt.

Solche Geschichten machen mich nachdenklich und nehmen viel Raum in mir ein. Ich lerne Menschen kennen, die zu echter Zivilcourage fähig sind und anderen eine Rückenstütze werden – aber ich sehe auch sehr viel Machtlosigkeit, Feigheit und Resignation. Und all das finde ich in mir wieder, all das prägt mein Gebetsleben. Wessen Komplize will ich sein? Stehe ich auf der Seite derer, die agieren bzw. reagieren oder auf der Seite jener, die schweigen? Wie weit kann ich gehen? Und wie weit geht meine Gemeinschaft mit? – Diese Fragen bleiben dann jedes Mal neu zu beantworten.


Wo sind wir hier eigentlich? – Georg Wolter

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Das Ereignis liegt zwar schon einige Wochen zurück, beschäftigt mich aber immer wieder. Seit 13 Jahren ist Klaus im Ersatzteillager beschäftigt. Er ist über seinen Schwiegervater, der dieses Jahr mit 65 Jahren in Rente geht, zu uns gekommen. Beide Familien wohnen im Nachbarstadtteil, wo ich wohne. Aus diesem Grund fahre ich, wenn wir die gleiche Schicht haben, schon mal im Auto mit Klaus nach Hause. Aus ihren Erzählungen weiß ich, dass sie einen großen Familienzusammenhalt haben, fast wie eine Großfamilie. Sie machen zusammen Urlaub, sind gemeinsam am Wochenende auf dem Campingplatz, feiern gemeinsam jedes Familienfest und Karneval treten sie als Clowngruppe in Erscheinung. Klaus hatte mir Anfang April bei einer Heimfahrt erzählt, dass seine Schwägerin Zwillinge erwartet, die Schwangerschaft aber mit vielen Komplikationen verläuft und sie zur Zeit im Krankenhaus liegt. Er fuhr am Abend noch ins Krankenhaus.


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Am 26. April 2009 ist die Geburt der Zwillinge. Eines der beiden Kinder stirbt unmittelbar bei der Geburt, das zweite wird sofort in die Kinderklinik gebracht. Klaus sollte Taufpate sein. Am Donnerstag, den 30.4. findet die Beerdigung statt. In dieser Woche arbeitet Klaus in der Frühschicht. Für die Beerdigung reicht er einen Tag Urlaub ein. Anspruch auf Frei hat er nach den Regelungen des Manteltarifvertrages nicht.

Am 29.4. habe ich nachmittags mit zwei Managern Verhandlungen zum Thema Kosteneinsparungen „share the pain“. Kurz nach der Mittagspause sehe ich, dass der Personalchef Klaus sucht. Ich ahne, dass es um den Urlaubstag gehen wird und komme dazu. Der Urlaub wird abgelehnt. Er könnte aber an diesem Tag Spätschicht machen. Klaus, der den Sarg mittragen soll, kann sich nicht vorstellen, nach der Beerdigung noch zur Arbeit zu kommen.

Ich diskutiere heftig mit dem Personalchef: „Es kann nicht sein, dass keine einzige Stelle mehr nach besetzt wird und dann jemand in so einer Situation kein Frei bekommt.“ Er verteidigt die Entscheidung nicht, die unser oberster Manager getroffen hat. Ich merke, dass er sie auch innerlich nicht mit trägt, aber auch nicht verändern will und wird. In dem Gespräch werde ich wütend und ungehalten. Der Personalchef sagt zu mir, dass ich mit dem „Chef“ (Manager) reden soll. Ich bin so erregt, dass ich mich für ein vernünftiges Gespräch nicht in der Lage sehe. Da meint er, dass dies vielleicht gut wäre, wenn er dies merkt.

Zusammen mit ihm gehe ich Richtung Büro. Dabei erkenne ich, dass es besser ist, wenn ich mich erst ein wenig beruhige. Ich gehe ins Betriebsratsbüro, kehre aber gleich wieder um und suche ihn. Leider ist er in einem Gespräch mit einem der niederländischen Manager, aber nach kurzer Zeit treffe ich ihn dann alleine an. Er weiß, um was es geht. Bevor ich nur anfrage, legt er los. Sein Vater ist gestorben, da war er zwei Jahre alt, seine Mutter starb, als er bei der Bundeswehr war. Seine Frau hatte zwei Fehlgeburten, da habe er geheult. Er weiß, von was er spricht und was Trauer ist. „Herr W. (Klaus) ist doch keine Bezugsperson für die Frau. Dies ist der Ehemann oder auch die Eltern, aber was will der da? Der trauert doch nicht, dem traue ich zu, dass er heute Abend zum 1. Mai-Tanz geht.“

Nach langer Debatte ist er dann bereit, dass Klaus zur Beerdigung gehen kann und die Zeit bekommt, die er dort braucht. Danach soll er zur Spätschicht kommen. Die Zeit, die fehlt, kann er in der nächsten Woche nacharbeiten. Es erscheint mir aussichtslos, dies noch zu verändern. Der Personalchef teilt dann Klaus die Entscheidung mit. Er nimmt es zur Kenntnis und ruft seine Frau an.


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Um 14.30 Uhr beginnt die Verhandlungsrunde mit dem Management zur Kosteneinsparung. Auf dem Weg dorthin hatte mir Klaus schon signalisiert, dass er Frei bekommt. Seine Frau hat den „Chef“ angerufen und ihn gefragt, ob er überhaupt kein Herz habe. Daraufhin hat er Klaus den Tag Urlaub gegeben. Beim Reingehen in den Verhandlungsraum sagt der „Chef“ zu mir: „Wo sind wir hier eigentlich, jetzt rufen schon die Frauen der Mitarbeiter an.“

Sechs Wochen später starb das zweite Kind. Klaus hat wieder, nachdem er zwei Tage krank war, am Tag vor der Beerdigung gefragt, ob er Frei bekommt. Es wurde vom „Chef“ abgelehnt. Klaus bezeichnete ihn daraufhin als „Wichser“ und drohte ihm. Unmittelbar danach wurde er freigestellt und die fristlose Kündigung angedroht. Dazu kam es dann nicht, da Klaus einen Aufhebungsvertrag unterzeichnete. Er wollte nicht mehr. Seit Anfang September arbeitet er in der Probezeit als Puppenspieler.


Demokratie für LeiharbeiterInnen? – Maria Jans-Wenstrup

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Von einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt machen wir in einem Team von sieben Leuten täglich in einem anderen Plus-/Netto-Markt der Umgebung Inventur. Wolfgang ist der Teamleiter und damit auch der Verbindungsmensch zur Firma. Nachdem es in den ersten Wochen einigen Wechsel gab, ist die Zusammensetzung unseres Teams nun relativ stabil und wir haben uns in aller Unterschiedlichkeit aufeinander eingestellt. Es kommt aber immer wieder zu schwierigen Situationen dadurch, dass zwischen Wolfgang und Dirk, einem Teamkollegen, „die Chemie nicht stimmt“. Dirk macht tatsächlich relativ viele Fehler, aber Wolfgang reagiert darauf unangemessen heftig und macht ihn manchmal regelrecht fertig.

Anfang März lädt unsere Chefin alle Teams zu einer Art Evaluationsgespräch ein. Zu siebt sitzen wir um ihren Schreibtisch, sollen unser Team und uns selbst mit unseren Stärken und Schwächen einschätzen, hören eine ebensolche Einschätzung von außen durch den Teamleiter und sollen dann überlegen, wie sich unsere Teamleistung verbessern lässt. Das Ganze ist schon ziemlich aufregend. Dirk ist als letzter mit der Selbsteinschätzung dran und stellt seine Arbeitsleistung ziemlich positiv dar. Wolfgang als Teamleiter braucht sich in dieser Runde nicht selbst einzuschätzen – das sei einem Einzelgespräch vorbehalten – und sich auch von uns keine Rückmeldung anzuhören. Als er mit seiner Außenbeurteilung bei Dirk anlangt, lässt er überhaupt kein gutes Haar an dessen Engagement und Leistung. Alle halten den Atem an, weil


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da so krass Meinung gegen Meinung steht. Auf Nachfrage der Chefin verschärfen beide ihre Darstellung eher noch. Mit der Begründung, es gehe um die Leistung des Gesamtteams, fordert sie darauf uns KollegInnen und dann auch mich direkt auf, etwas zu Dirks Arbeitsleistung zu sagen. Ich möchte im Boden versinken, bin dann aber doch ganz zufrieden, dass es mir gelingt, eine andere Perspektive einzubringen, nämlich den Druck und die Antipathie des Teamleiters als Faktor auch für eine höhere Fehlerquote. Dennoch bleibt das Thema am Ende offen. Schließlich werden wir außer Wolfgang und Dirk entlassen. Abends erfahre ich am Telefon, dass Dirk unser Team verlässt, aber nicht gekündigt wird, sondern eine Chance in einem anderen Team bekommt. Am nächsten Tag ist schon Ersatz für ihn da.

Ein paar Tage später höre ich, in dem anderen Team sei gar kein Platz für ihn. Und wieder ein paar Tage später bekomme ich eine SMS von Dirk: „Komme gerade nach Hause und finde im Briefkasten die Kündigung.“

Jeden Morgen um sieben treffen wir uns am Essener Hauptbahnhof und fahren dann mit dem Bulli zu dem Markt, der dran ist – mal nach Oberhausen, mal nach Duisburg, mal nach Bottrop usw. Unsere bezahlte Arbeitszeit beginnt, wenn wir im Markt mit der Inventur beginnen, und endet ebenso mit Inventurende. Egal, wie lang die Fahrt vorher und hinterher ist. Hin und wieder kommt es zu einem genervten Gespräch über diese Ungerechtigkeit im Team – gerade bei weiteren Anfahrten -, das in der Regel mit der Feststellung endet, dass das eine Unverschämtheit ist, gegen die wir aber leider nichts machen können. Wir sind ja alle froh, überhaupt Arbeit zu haben.

Letzte Woche Mittwoch erfuhren wir, dass wir kurzfristig am folgenden Tag eine Inventur in Hagen hätten (eigentlich sollte der Tag frei sein). Dieses Mal entwickelte sich aus dem Ärger darüber, so weit fahren zu sollen, eine neue Dynamik: Plötzlich waren sich alle einig, dass wir uns das nicht mehr gefallen lassen und uns weigern wollten, nach Hagen zu fahren, wenn wir die längere Fahrtzeit nicht bezahlt bekommen. Auf der Rückfahrt rief der Teamleiter die Chefin an und – die sagte ohne weitere Diskussion, wir bekämen zwei Stunden extra. Das war eine erstaunliche Überraschung für uns. Und ich habe bei mir gedacht, ob sie sich wohl schon die ganze Zeit ins Fäustchen gelacht hat, dass wir das einfach so anstandslos machen?


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Kurzarbeit – Gerhard Mayr-Reineke

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Ein Blatt Papier hat in den letzten Wochen eine große Bedeutung für mich bekommen. Es ist die Liste mit den Telefonnummern der zehn Kollegen, mit denen ich in unserer Abteilung zusammenarbeite. Unser Betrieb, eine Maschinenbaufirma mit 500 Mitarbeitern, ist voll von der Wirtschaftskrise, speziell der Krise der Automobilindustrie betroffen. Wir bauen Maschinen für die Autozulieferer. Weil diese Firmen nicht ausgelastet sind, bestellen sie keine neuen Maschinen. Zuerst mussten bei uns die Leiharbeiter gehen, dann die Kollegen mit Zeitverträgen. Den älteren Kollegen wurden Angebote gemacht, damit sie ein paar Jahre überbrücken konnten, wenn sie nahe an der Rente waren. Weil das immer noch nicht ausreichte, um die Flaute zu überstehen, hörten wir, dass die Geschäftsleitung 180 Kollegen betriebsbedingt kündigen wollte. Betriebsrat und Gewerkschaft haben mit der Geschäftsleitung verhandelt und das Ergebnis ist, dass für zwei Jahre niemand betriebsbedingt gekündigt wird, dass aber massiv Kurzarbeit gemacht wird, in der Hoffnung, dass es nach den zwei Jahren wieder aufwärts geht. Für die Zeit nach der Kurzarbeit wurden aber schon jetzt Interessensausgleich und Sozialplan ausgehandelt. Der sagt im Wesentlichen aus, dass die Kosten der Kurzarbeit, die dem Betrieb bleiben, aus dem Fond für den Sozialplan genommen werden, so dass jeder, der nach den zwei Jahren entlassen wird, nur noch zehn Prozent der errechneten Abfindung bekommen wird.

Massive Kurzarbeit heißt in meinem Fall, dass ich seit Mai an sechs Tagen im Monat arbeite. Vier Kollegen aus meiner Abteilung sind bis Weihnachten und vermutlich auch im neuen Jahr komplett zu Hause. Zwei arbeiten immer in der Woche, in der ich nicht arbeite. Die anderen vier sehe ich an einzelnen Tagen, wenn ich im Betrieb bin. In den anderen Abteilungen ist es ähnlich. Im Betrieb herrscht eine eigenartige Stimmung. Der Parkplatz ist halb leer. Die Abteilungen sind spärlich besetzt. Wenn ich nach den freien Tagen wieder arbeiten komme, muss ich erst das Informationsdefizit aufholen: Was gibt es Neues? Was macht der und der Kollege? Im Arbeitsablauf hakt es oft, weil die Ansprechpartner fehlen. In meiner Abteilung, wo ich meistens mit 4-5 Kollegen in einem Raum gearbeitet habe, sind wir jetzt mal zu zweit, manchmal bin ich allein. Auch der gewohnte Rhythmus von Arbeitswoche und freiem Wochenende ist durcheinander. Jetzt sind es die Arbeitstage, die uns aus dem Tritt bringen.

Die Stimmung im Betrieb und die Sorge um die Zukunft meiner Arbeit bringe ich auch immer mit nach Hause. Die Familie ist sowieso von der Kurzarbeit komplett mit betroffen. Ich verdiene Netto etwa 350 Euro weniger als normal.


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Das können wir als Familie mit zwei Kindern nicht so locker wegstecken. Wir haben das Glück, dass meine Frau sehr bald etwas mehr arbeiten konnte. Darum kommen wir über die Runden. Ich übernehme, wenn ich zu Hause bin, entsprechend mehr im Haushalt. Bei einem der Kollegen, die auf Kurzarbeit Null gesetzt sind, macht die Nettodifferenz schon 500 Euro aus und seine Frau kann ihre Arbeit nicht ausweiten. Das führt bei ihm zu großen Spannungen in der Familie und macht ihn im wörtlichen Sinn krank.

Für meine Frau war es eine große Belastung, dass ich nach den Tagen im Betrieb immer mit dieser eigenartigen Stimmung nach Hause kam. Ich wurde immer schweigsamer und in mich gekehrter. Besser wurde es erst, als ich begann, mich mit Alternativen zu beschäftigen, und erste Schritte bis hin zu einer völligen beruflichen Neuorientierung in Angriff nahm. Seitdem kann mich die Lage und die ungewisse Zukunft der Firma nicht mehr so stark runterziehen und ich kann auch die positiven Seiten der Kurzarbeit genießen, dass ich mehr Zeit habe, Dinge zu tun, die ich sonst nicht machen kann. Wichtig ist mir aber auch, dass der Kontakt zu meinen Kollegen nicht abreißt. Sie sind mir durch die gemeinsamen Jahre ans Herz gewachsen. Ich kenne ihren persönlichen Hintergrund und sie wissen viel von mir. Wir werden uns bald zur Weihnachtsfeier wieder treffen. Bis dahin aber hole ich von Zeit zu Zeit die Telefonliste raus und rufe den einen oder anderen an.


Wenn Christen Menschen werden – Karin

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Wir sind immer bescheidener geworden. Die, die am Anfang am neugierigsten, aufdringlichsten waren nach der Geburt Theresas – von denen hat sich kaum jemand mehr sehen lassen. Um überhaupt noch mal mit jemandem reden zu können, in ein menschliches Angesicht zu sehen, … klingelten zweimal die Woche – regelmäßig – die Zeugen Jehovas bei uns. Michael, inzwischen mein Ehemann, konnte stundenlang mit den beiden älteren Damen philosophieren, theologisieren, diskutieren – und dies über nur einen einzigen Satz oder nur ein einziges Wort in der Bibel! Tatsächlich, jedesmal wenn Frau K. mit ihrer jeweiligen Begleitdame kam, freute sich unser kleines Krabbelkind Theresa über beide Babyohren und hörte menschliche Stimmen klingen in unserer Hartz IV abisolierten Familie. Ich selbst stellte mich taub und sehr lange auf Durchzug. Hatte ich nicht eben erst vor kurzem die Religionskriege in meiner eigenen Herkunftsfamilie grade noch so überlebt – drunten im Schwabenland? Dasselbe nun schon wieder nur in Kreuzberg? Ich nutzte die Zeit im anderen Zimmer zum Bügeln oder musste


184 schnell verschwinden. Theresa und Micha waren ja „glücklich“.

Einmal – sie klingelten ja auch, wenn Micha gar nicht da war – wollten sie mich ‚bearbeiten`. Bestimmt hatte sie auch jemand auf mich angesetzt – ihr Stammapostel oder wer auch sonst immer. Jedenfalls brüllte ich sie da ziemlich unbeherrscht an, weil sie unbedingt mir mal wieder meine Zeit stehlen wollten. Ich fuhr sie an: „Haben sie denn eigentlich keine Augen im Kopf – wir sind doch schon längst Christen.“ (Bei uns hängen bestimmt an wirklich jeder Wand mindestens ein oder zwei christliche, religiöse Symbole oder Sprüchekärtchen – auch damals schon.) „Kümmern sie sich doch lieber um Leute, die noch gar nichts glauben“, schrie ich die beiden wütend an. „Aber mit dem, was sie glauben, hängen sie einer Irrlehre hinterher – das wird noch sehr schlimme, schwerwiegende Folgen für sie und den Herrn Bretzinger haben!“, warnte mich Frau K. mit großen Augen und die ganze Folgenschwere im Gesicht abgedruckt.

Ist ja richtig süß, dachte ich in mich hinein. Seit wann macht sich hierzulande noch jemand Sorgen um eine erwerbslose,erwerbsunfähige Hartz IV-Seele? Rührend. Seit wann sind Hartz-IV-Seelen irgendjemand, irgendetwas noch wert? Außer den Zeugen Jehovas.

Ja, bei den Nazis waren sie ja auch die konsequentesten Kriegdienstverweigerer gewesen, die bestimmt reihenweise für ihre Überzeugung in den Tod gingen. Das gestand ich ihnen dann mehrmals zu und dass ich genau davor großen Respekt und Achtung habe. Trotzdem: „Ich hab heut keine Zeit, … bin mal wieder in tierischem Stress, … kommen sie donnerstags und dienstags zu Micha wieder. Ich blieb starr und unerreichbar für die Zeugen Jehovas. Dienstags und donnerstagmorgens war also immer Bibelseminar. Frau K. – die führende Zeugin – konnte offensichtlich sehr gut mit Theresa umgehen. Theresa war immer wie verwandelt unter dem Einfluss der Zeugen. Wenigstens einen, den sie noch verwandeln konnten! Lieber die Zeugen Yehovas in der Bude als gar keine Menschen mehr – ich fing an, der Bibelrunde Kaffee zu kochen. Wie Frau K. mit Theresa umgehen konnte, war vorbildlich und gefiel mir sehr. Eines Tages ließ ich mich „herab“ und fragte direkt: „Frau K., warum können sie eigentlich so gut mit Kindern umgehen?“ Sie lachte: „Weil ich selbst schon vier Jungs hier um die Ecke – Alexandrinenstraße- großgezogen habe; war aber ein paar Jährchen jünger als sie. Ich bin seit ca. 25 Jahren mit einem Palästinenser verheiratet. Ich hatte es auch nicht so einfach, das können sie mir glauben. Ähnlich wie sie, ganz alleine ohne Oma, ohne Familie – das ist schwer in einer Großstadt wie Berlin.“ Sogar die Glaubensbrüder und -schwestern – nicht mal die hätten geholfen. Letztes Jahr wäre ihr eine Niere entfernt worden.


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Plötzlich fiel die Maske. Erst als sie und ich unsere Religionen ablegten, erst dann war es möglich sich gegenseitig als Menschen zu begegnen und sich auszutauschen. Ab diesem Tag sah ich nicht nur die nervige Zeugin Jehovas in ihr. Sondern ebenso den bedürftigen, schwachen, kranken Menschen – wie ich selbst ja auch einer war. Erst ab diesem Tag waren sie und ich zu Menschen geworden.

Ich habe immer noch große Schwierigkeiten mit ihren 100%igen , sehr engen Bibelauslegungen. Noch immer schicke ich sie wieder weg – wenn ich keine Zeit habe. Aber sie sind mir lieber als jeder Versicherungs- oder Stromfritze, die alle an die Tür klingeln. Weil die Zeugen mich an Gott – an den über allen Religionen stehenden Gott – erinnern.

Was hat das alles mit der WG in der Naunynstraße zu tun? Ist es denn nicht ähnlich in der Naunynstraße? Funktioniert es denn nicht auch so in der Naunynstraße: Nirgends hängt irgendein christliches Symbol, jedenfalls kaum eines – wenn, dann nur sehr unauffällig (im Gegensatz zu unserer Wohnung!). Es zählt die Not und nicht die Religion. Aber gerade deshalb können hier Begegnungen stattfinden: Der einzelne Mensch mit seinem Schicksal ist wichtiger als seine Religionszugehörigkeit. So kann man sich begegnen.


Momente eines tastenden Lebens – Maria Jans-Wenstrup

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Januar 2010 – ich sitze auf der Couch in meiner kleinen Wohnung. Nach drei Monaten fühlt sie sich schon wie ein Zuhause an. Draußen ist es dunkel. Wie ich diesen Blick liebe! Auf die erleuchteten Fenster meiner Hochhaussiedlung. Sie lassen mich Leben ahnen – und manchmal auch sehen – in ganz verschiedener Gestalt und Ausprägung. Aus den Nachbarwohnungen höre ich Stimmen, manchmal Musik, von draußen immer wieder die vielfältigen Geräusche spielender Kinder. Im Treppenhaus wechsle ich hin und wieder ein paar Worte mit der türkischen Jugendlichen, die sich zum Rauchen dorthin flüchtet, oder grüße den Jugoslawen, der in die Wohnung unter mir eingezogen ist und dort fleißig werkelt. Wie ein Fest war es in mir, als vor ein paar Tagen das erste Mal die Nachbarin aus Ghana bei mir klingelte, wir in ein längeres Gespräch kamen und ich dann auch in ihrer Wohnung war und ihre beiden kleinen Kinder kennen lernen durfte. Tastende Schritte auf die Menschen zu, die mit mir in dieser Siedlung leben und mit denen mich – bei aller Anonymität – ein unsichtbares Band verbindet, das mich trägt.

In der Bahn. Mal wieder. Täglich werde ich mit so Vielen zum Arbeitsort und zurück gefahren. Diese „Fahr-Gemeinschaft“ fasziniert mich immer wieder.


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Körperlich oft ganz nah sein zu Menschen, die mir völlig fremd sind. Und manchmal geschieht etwas Ungewöhnliches und für einen Moment ist die Fremdheit aufgehoben und Beziehung entsteht … Aber mehr noch als solche Momente bedeutet mir die Vertrautheit inmitten der Fremdheit, die immer gleichen Menschen zur selben Zeit am frühen Morgen, die mir fehlen, wenn sie einmal nicht da sind. Ich kenne sie nicht und doch machen sie ein Stück meines Tages aus. Ich mag nicht auf die Routine schimpfen. Der immer gleich Rhythmus des einfachen Arbeiterlebens mit den immer gleichen Menschen wird mir je länger je lieber, diese ganz eigene Bindung an Zeit und Raum und eine überschaubare Zahl von Menschen.

Ich komme von der Arbeit. Die Beine sind müde, der Kopf auch. Aber das praktische Arbeiten tut mir gut. Im Jetzt zu leben ist nicht mehr angestrebtes Ideal, sondern selbstverständliche Wirklichkeit. Meine Arbeit bringt das einfach mit sich. So war es in der Hotelzimmerreinigung, so war es in der Lampenproduktion, so ist es jetzt bei der Inventur. – Wir sind zu siebt im Team, so verschiedene Charakteren zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammengewürfelt. Die Arbeit hat sich in den ersten drei Monaten gut eingespielt und ich entdecke nach und nach mehr von diesen Menschen, mit denen ich so viel Zeit verbringe. Der Druck, unter dem wir stehen, schweißt uns zusammen. Leiharbeit, geringer Lohn und vor allem unzuverlässig. Wird es reichen diesen Monat? Krank werden ist gefährlich – zu viele KollegInnen haben wir in dieser Zeit schon verschwinden sehen, von heute auf morgen durch andere ersetzt. Diese scheinbare Austauschbarkeit von Menschen erschreckt mich. Tastend suche ich meinen Weg zwischen der eigenen Angst und Ohnmacht, der Lust an der Arbeit, der Freude an der Solidarität.

Gerade ist sie gegangen. Im Nachklang ist mir ganz warm ums Herz. – Entdecken, wie eine Liebesbeziehung zu leben geht. „Voraussetzung jeder gelingenden Beziehung ist, das Anderssein des Anderen anzuerkennen.“ Immer wieder kommt mir dieses Wort in den Sinn. In so Vielem sind wir so verschieden. Wie wenig selbstverständlich ist die Liebe zwischen uns. Was ist das, Liebe? Ich erlebe, wie sie Geschenk ist und doch errungen werden will. Manchmal frage ich mich, wie ich mich gerade in diesen Menschen verlieben konnte, sehe ich mehr Trennendes als Verbindendes zwischen uns. Dann entdecke ich wieder neu, wie sie mich hinauslockt über meinen kleinen Horizont – und ich sie über ihren. Die Herausforderung zeigt sich als Chance mehr das zu werden, was jede von uns an ungeahnten Möglichkeiten in sich trägt. Werde ich mich locken lassen oder lasse ich mich einengen in dem Bedürfnis, das Geschehen in der Hand zu behalten?


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In meiner Gebetsecke. Allein im nüchternen und vertrauten Sein vor Gott. Und doch verbunden mit so Vielen. Zum ersten Mal in meinem Leben wohne ich allein – mit 45 Jahren – und taste mich zu meiner Überraschung in ganz neue Dimensionen von Gemeinschaft hinein. Nein, eigentlich sind sie mir nicht neu, aber ich nehme sie im Weniger intensiver wahr. Erst jetzt realisiere ich, wie viele allein lebende Frauen es in meinem Bekanntenkreis gibt, die wie ich tastend ihren Weg mit Gott und den Menschen gehen. Gerade mit ihnen verbindet mich eine neue Art von Gemeinschaft, die wie ein unsichtbares Band ist, dessen Tragkraft ich mehr und mehr entdecke. Da ist die Zugehörigkeit zu den Menschen in der Siedlung. Da ist die Schicksalsgemeinschaft auf der Arbeit. Da ist das fruchtbare, lebendig machende Gespräch mit einzelnen wichtigen Menschen. Und da ist noch mehr, eine Ahnung nur, eine Offenheit und Sehnsucht und Erwartung von etwas, das ich noch nicht sehe und auch nicht suchen kann und will. Ich werde hineinwachsen und bin voller Vertrauen.


Was sind Arbeitergeschwister? – Christian Herwartz

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Die Geschichte der Arbeitergeschwister im deutschsprachigen Raum beginnt für mich vor allem mit den französischen Priestern und Theologiestudenten während des zweiten Weltkrieges, die unerkannt von den deutschen Behörden zu Fremdarbeitern in Deutschland wurden. Sie wollten ihren Landsleuten aus seelsorglichen Gründen nahe sein. Sie teilten das Leben mit ihren Kollegen und Kolleginnen in verschiedenen Städten. Zu ihren Landsleuten suchten sie Kontakt und bildeten oft mit ihnen Gruppen des Überlebens und des Widerstandes. Einige wurden von den Nazis entdeckt und ins Konzentrationslager in Dachau verbracht.

Die Erfahrungen aus dieser Zeit blieben lebendig in der Arbeiterpriesterbewegung in Frankreich, Spanien, Italien und Belgien. Die Formen der Solidarität und des Widerstandes mussten in der Geschichte immer neu entdeckt werden, mitten in der kapitalistischen Welt der Missachtung menschlicher Bedürfnisse durch die Reduzierung aller Werte auf ihren Geldwert. Arbeiter, die dieser Ideologie widersprechen und in den Betrieben solidarische Gruppen und Gewerkschaften gründen, verlieren schnell ihre Anstellung. Deshalb mussten die Arbeiterpriester von ihren Kollegen und Kolleginnen anfangs ein solidarisch verdecktes Handeln den Fabrikbesitzern gegenüber erlernen. Dabei mussten sie ein hierarchisches Denken in sich überwinden, wie es in der Gesellschaft und auch in der Kirche stark ausgeprägt ist. Der


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menschliche Rückhalt in Freundschaften wurde von ihnen in dieser Situation neu entdeckt.

Ohne voneinander zu wissen, begannen vor vierzig Jahren auch in Deutschland einige Priester mit einer manuellen Arbeit, meistens in größeren Fabriken. Sie bildeten später mit Gleichgesinnten den Kreis der Arbeitergeschwister. Nach zwanzig Jahren Erfahrungen entstand eine Textsammlung unter diesem Namen, in der es zu Anfang heißt: „Arbeitergeschwister“ – Wer ist das? Menschen, Männer und Frauen, die meist in der Art gläubiger Christen aufgewachsen sind, die sich eine Denkart im Sinn und Geist der Bibel aneigneten, die vielfach Theologie studiert haben, oft dann sogar hauptamtlich in kirchlichen Dienst traten, dann aber irgendwann sich entschieden, in der Art einfacher ArbeiterInnen zu leben.

Seit 20 Jahren treffen sie sich im deutschsprachigen Raum zweimal jährlich, um über dieses ihr Leben und wichtige Fragen dieser gesellschaftlichen Schicht zu sprechen. Zunächst waren es nur katholische Priester, aus Diözesen und Orden, und nur Männer. Bis dahin hatten sie meist nichts voneinander gewusst. In Anlehnung an das schon länger bestehende französische Beispiel verstanden und bezeichneten sie sich als „Arbeiterpriester“. Bald kamen auch „Kleine Brüder“ dazu, dann auch „Kleine Schwestern“, dann auch andere Frauen und Männer (z.B. PfarrreferentInnen) und schließlich auch evangelische TheologInnen. Allen gemeinsam war der Versuch, die Lebensweise der einfachen ArbeiterInnen als eigene Existenzweise auf Dauer zu übernehmen und das Bedürfnis, darüber in einer bei ihnen allen ähnlichen Art nachzudenken und miteinander zu reden. Im Laufe der Zeit ist‘s ein sehr gemischter Kreis geworden mit einer großen Breite an Ansichten über Kirche, Gesellschaft usw. und daraus abgeleiteten Zielen. Gemeinsam aber blieb ihre Art zu leben, über ihr Leben nachzudenken und darüber miteinander zu reden.

Die deutschsprachigen Arbeitergeschwister treffen sich auch heute noch zweimal im Jahr im Frankfurter Raum in dem kleinen Ort Ilbenstadt. Sie kommen aus der Schweiz, Österreich, Deutschland und den Niederlanden dort zusammen, weil sie den Austausch unter Gleichgesinnten dringend brauchen. Zu Pfingsten findet abwechselnd in England, Belgien, Frankreich, Deutschland, Spanien und Italien ein europäisches Treffen statt, für die die nun folgenden Vorbereitungstexte geschrieben wurden. Zu diesen Treffen kommen auch VertreterInnen aus der Anglikanischen Kirche, die Kontakt zu den Zeltmachern in anderen Kontinenten haben, wie sich dort die Gruppen in Anlehnung an den Apostel Paulus nennen (Apg 18,3; 1 Kor 4,12).


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Europäisches Treffen 2007 – Arbeitergeschwister

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Vorbereitende Gedanken aus Deutschland

Auf die im letzten Jahr formulierten Fragen – wie unser Leben (vivre avec) im Zusammenleben MIT verschiedenen Kulturen und Religionen in einer Zeit, in der sich Rassismus, Gruppenindividualismus und Nationalismen ausbreiten, fallen die (persönlich gelebten) Antworten recht unterschiedlich aus. Überraschenderweise ergänzen sie sich gegenseitig zu einem gemeinsamen Verstehen und Handeln, ohne dass dies von uns planbar wäre. Die Gegensätze unter uns scheinen immer größer zu werden, hinsichtlich der Lebensabschnitte, die wir durchlaufen: Arbeit und Arbeitslosigkeit oder Rente, Engagement in Umwelt-, Wirtschafts-, 3.-Welt- oder Flüchtlingsfragen, regionale Themen in Deutschland, der Schweiz oder den Niederlanden im Betrieb oder in der Nachbarschaft. Und doch spüren wir eine Einheit zwischen uns.

Wir treffen uns weiter zweimal im Jahr gemeinsam und setzen uns gegenseitig den Erfahrungen aus. Bei unserem letzten Treffen haben wir uns darüber ausgetauscht, was das Engagement von Dietrich Bonhoeffer bei uns heute auslöst. Für viele aus der DDR und aus der ev. Kirche kommende ist dieser Theologe und Märtyrer eine wichtige Brücke der Verständigung mit anderen Christen und engagierten Menschen. Für das Treffen vor Pfingsten haben wir uns vorgenommen, Skizzen der Veränderung in unserer persönlichen Erfahrung zu zeichnen, angestoßen durch den Atlas der Globalisierung wie ihn „monde diplomatique“ herausgegeben hat. Unter verschiedenen Aspekten wollen wir die Globalisierungsauswirkungen nachzeichnen in unseren Stadtteilen und Regionen. Dies ist eine Frucht des letzten Treffens, wo wir neu auf das Gefälle zwischen Ost- und Westdeutschland gestoßen sind. Wir wollen auf die Kapitalströme, die Notwendigkeit zur Wanderung, um Ausbildung und Arbeit zu finden, Verstädterung, religiöse Gruppierungen, Zentren/Peripherien achten.

Doch zuerst eine Einzelstimme aus unserem Kreis, die schon viele Fragen der Neuorientierung anspricht: Ich frage mich, wie ich das „Leben mit“ eigentlich praktiziere. Als gut abgesicherter Rentner lebe ich mit einer gut abgesicherten Rentnerin zwar in einem typischen Arbeiterviertel in Mannheim, mit hohem Immigrantenanteil unter der Bevölkerung. Jedoch insgesamt kleinbürgerlich, wenn auch einfach und ein bisschen sparsam. Die Gewerkschaftsschulung in Hattingen hat mir noch mal gezeigt, dass die armen Schichten unseres Landes weit weg von mir sind, lebensmäßig betrachtet. Es stimmt: Ich treffe mich mit Opfern in dieser Gesellschaft – mit immer ohnmächtiger werdenden


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Betriebsräten und Gewerkschaftern. Bei Besuchen in Italien und Nicaragua vorübergehend mit armen, und sehr armen Bevölkerungsschichten.

Und es stimmt: Ich nehme wahr und bin betroffen, beunruhigt – Elend, Hunger, Verarmung einerseits und Bereicherung andererseits nehmen dramatisch zu. – Rassismus wächst immer mehr, nicht nur bei Anschlägen großen Stils, sondern auch in gewerkschaftlichen Kreisen. – Individualismus als Folge neoliberalen Denkens und Wirtschaftens hat sich tief eingegraben in das Denken und Verhalten der Menschen. „Solidarität statt Konkurrenz“ hatten wir über unsere Tagung in Berlin im letzten Jahr geschrieben. Die Schale neigt sich mehr zugunsten von Konkurrenz, von Einzelnen, aber auch von Gruppen jeglicher Art.

Die vereinbarten Fragen:

Was verändert sich bei uns? Welche Gesellschaft entsteht mitten in diesen Herausforderungen? Im Globalisierungssog, in dem wir oft mit viel Freude leben, werden viele Grenzen überschritten und wir dürfen Menschen in Lateinamerika, Afrika oder Asien nahe sehen. Wir fühlen uns weiter in der eingeschlagenen Richtung unterwegs, wie wir aufgebrochen sind, als wir manuelle Arbeiten und unsere Wohnorte unter Kollegen und Kolleginnen mit ihren Familien gesucht haben. Diese Weite überfordert uns und wir suchen vor Ort anwesend zu bleiben und die direkten nahen und fernen Beziehungen zu leben. In diesem Sog zerbrechen viele Beziehungen z.B. zu Gewerkschaften und kirchlichen Kreisen, wenn sie mit der neuen Situation nicht mit wachsen. Es sind weiter die alten Hoffnungen auf Solidarität lebendig, doch sie finden nicht den eingeübten Widerhall. In der notwendigen Vereinzelung wird die Frage drängender: Was trägt uns gemeinsamen? Verbündete tauchen auf und verlieren sich wieder. Arbeitsstrukturen zerfallen und werden zu schlechteren Bedingungen und in anderen Zusammenhängen neu angeboten. Wir spüren in uns ein „Weiter“ und die Notwenigkeit vieles neu zu sehen, um nicht in den entmenschlichenden Sog der Globalisierung zu geraten. Widerstand muss jeweils neu entdeckt werden. Wir sind froh über jede kleine Zelle Widerständiger, an der wir uns beteiligen können, mitten in einer heranwachsenden „Wolfsgesellschaft“. Ein anderer Gedanke: Wir leben mitten in einer begonnenen neuen Völkerwanderung als Rückseite der Globalisierung des Kapitals.

Welche prophetischen Zeichen fallen uns auf?

Über die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen des Fundamentalismus in den unterschiedlichen religiösen und säkularen Umfeldern wird


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ähnlich wie beim Rassismus deutlich, wie schwierig es ist, das eigene Verhalten von solchen menschenverachtenden Tendenzen zu reinigen. Darüber wird deutlich, wie sehr der Kapitalismus in den letzten 60 Jahren seit dem letzten Weltkrieg zu einer Ersatzreligion geworden ist. Es wird Anbetung erwartet und weitgehend durchgesetzt. Die Ausgrenzungen und „Verfluchungen Engagierter“ werden immer deutlicher. Gleichzeitig wächst die Kritik des Kapitalismus oder wird mitten in der scheinbar unhinterfragten Konsumgesellschaft deutlicher, ohne das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen. – Im November 2006 fand ein großer Kongress in Berlin zum Thema „Solidarische Ökonomie“ statt. Ein hoffnungsvolles Zeichen. – Die politischen Entwicklungen in Lateinamerika wecken Hoffnungen auf eine Neugeburt dieses Kontinents. – Über den Kontakt mit Menschen ohne Papiere wird die Frage des weltweiten Zusammenlebens deutlicher. Die Vorteile der Globalisierung genießen und sie gleichzeitig anderen zu verweigern, ist ein Widerspruch, der die menschlichen Beziehungen aushöhlt. Die Gruppen, die sich zu den betroffenen Menschen in der Stadt, in den Lagern und Gefängnissen stellen, leisten einen prophetischen Dienst und weisen auf die Handlungsnotwenigkeit hin. Wie erleben wir Gott in dieser Welt?

Mitten in der Globalisierung wird das Suchen nach einer interreligiösen Beziehung zu Gott notweniger, in der wir die eigenen Wurzeln neu entdecken und die der anderen auch spüren können. Wir leben schon auf vielfältige Weise in dieser Beziehung. Auch hier den kolonialistischen Geist abzulegen. Und die Chance zu nutzen, sich über die Beziehung zu Jesus und jedem Nächsten auf den allgemeinen Gott verweisen zu lassen. Neues Leben jenseits von Rassismus, Kapitalismus, Fundamentalismus ist immer mit Gott in Verbindung zu bringen und reinigt unseren Glauben weiter.


Europäisches Treffen 2008 – Arbeitergeschwister

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Vorbereitende Gedanken aus Deutschland

Die Welt im Umbruch: In der Beurteilung der großen Veränderungsprozesse tauchen einerseits Elemente auf, die mehr den Untergang betonen, und andererseits solche, die einen Neuanfang sehen oder erhoffen lassen.

Eine Stimme aus unserem Kreis:

Dass der Kapitalismus mit seinem zerstörerischen Prinzip Wachstum, die Natur und die Menschen in ihrem Zusammenleben ruiniert, kann ich wahrnehmen. Und fast ist es eine Hoffnung: Der Moloch auf den tönernen Füßen


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bricht in sich zusammen, verbreitet dabei Angst, Schrecken, Kriege. Die Natur schlägt zurück. Die Endlichkeit verweigert sich dem Maßlosen. „Der Kapitalismus, davon bin ich überzeugt, kann nicht durch einen ‚endogenen‘ Verfall zugrunde gehen; nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit im Verbund mit einer glaubwürdigen Alternative könnte seinen Zusammenbruch bewirken“ (Fernand Braudel, französischer Historiker). Die äußeren Stöße sind zu spüren: Die Natur packt es nicht mehr. Energiearmut bei gleichzeitiger Huldigung des Wachstums. Umverteilung von Lebensmitteln zu Lasten der Armen und zu Gunsten der Reichen.

Eine andere Stimme:

Im Kern geht es für mich darum, in einer unumkehrbaren Situation der Erschütterung und des Verlustes weiter auf das Leben zu hoffen. Die weltweite und besonders unsere europäische und die nordamerikanische Situation scheinen mir mit der individuellen Situation Jesu vergleichbar, als er bemerkt, dass er dem Tod am Kreuz nicht mehr ausweichen kann. Er, der Einsame, setzt sich zusammen und teilt mit den Freunden und dem Verräter des Lebens. Und er ist auf sich geworfen im Gebet, um dann in seiner Situation dem Schauprozess und Tod nicht mehr auszuweichen, weil die Zeit dafür reif ist. Lange hat er diesen Zeitpunkt hinauszögern können, denn schon bei der ersten Predigt in Nazareth wollten viele ihn töten, weil seine Sicht des Lebens mit allen heute Hungernden, Kranken, Gefangenen und allen, mit denen das Teilen verweigert wird (Ausrufung des Gnadenjahrs), zu gefährlich erschien. Sie waren schon damals in ihrem Innersten erschüttert und warfen ihm deshalb Gotteslästerung vor.

Und er vergleicht die Vorgänge mit der Widerstandsbewegung im 3. Reich. Den Tod und die Kapitulation vor Augen, hat der Kreisauer Kreis nach den Konsequenzen nach der Kapitulation gefragt. Sie haben den Humus, den menschlichen Boden geschaffen, in dem das Leben neu gedeihen kann. Und der zitiert Luther: „Am Tag vor dem Weltuntergang werde ich ein Bäumchen pflanzen“.

Eine weitere Stimme:

„Resignation als Voraussetzung von Widerstand“, dies ist ein alter Gedanke, den ich vertrete und der letztlich auf die Ethik von Albert Schweitzer „Ehrfurcht vor dem Leben“ zurückgeht.

Untergang oder/und Neuanfang? Wir wollen uns nicht damit zufrieden geben, nur christliche Wahrheiten, Ide-


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en, Wünsche zu benennen. Denn die neue Welt ist bereits im Entstehen. Es zeigen sich neue Menschengestalten, nämlich überall dort, wo solidarisches Menschwerden geschieht. Beipiele: In Kooperativen, die nach solidarischen Gesichtspunkten produzieren und verteilen. Bei Millionen von Selbsthilfegruppen und Initiativen, wo sich Betroffene zusammentun und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Die zunehmende Zahl von „Sozialunternehmern“, wie sie in dem Buch von David Bornstein „Die Welt verändern“ – Social Entre preneurs und die Kraft neuer Ideen“ beschrieben werden. Der „Bürgersektor“ nimmt an Bedeutung rapide zu. In der Gastfreundschaft, wie sie in der Naunynstraße in Berlin gelebt wird.

Dazu eine Stimme:

Es geht darum, die Vereinzelung zu überwinden. Eine gute Erfahrung während der Protesttage gegen die Sicherheitskonferenz in München: Wir hatten Schlafplätze in unserer Wohnung für Leute von auswärts angeboten. Welche Figuren von Menschen da erschienen!. Die vier jungen Leute aus dem Erzgebirge haben uns sehr beeindruckt. Wie sie von ihrer Stadt erzählt haben, von ihrem Willen, dort zu bleiben, Ausbildung zu machen, Musik, eine Gruppe der Linken aufzubauen. Bei denen klang das gar nicht nach Abarbeiten in Großorganisationen, eher nach Pioniergeist. Das hat mit meiner kirchlichen Sozialisation zu tun, sagte einer, mit der Bergpredigt und der Solidarität mit den Gestrauchelten, Entrechteten. Die Vier fanden sich schnell hier ein, beim Essen, Aufräumen, Lachen, Erzählen, Fragen, Hören – Humus der Menschlichkeit, wie es einer nannte. Gottes Reich ist in den Schwachen mächtig. Ich gehe davon aus, dass der Aufbau einer anderen, möglichen (statt der unmöglichen?) Welt, um die es in Lyon gehen wird, mit der Kraft in den schwachen Menschen zu tun hat. Welche Figuren von Menschen da erscheinen, ist also die zentrale Frage. Und wo sie sich wahrnehmen und miteinander verbinden werden.


Europäisches Treffen 2009 – Arbeitergeschwister

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Vorbereitende Gedanken aus Frankreich

Zwei Streikwellen wurden gestartet am 15. April und 20. Mai 2008, mit Betriebsbesetzungen. Mehr als 2.000 Arbeiter haben sich in diesem Kampf engagiert, mehr als 100 Betriebe waren betroffen. Im Februar 2009 wurden 1.400 Regularisierungen erreicht.


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Der Mut der papierlosen Arbeiter und ihrer Familien in der Streiksituation ist beeindruckend. Sie sind das Risiko eingegangen sich mit dem Unternehmer anzulegen, dort, wo es sehr oft keine gewerkschaftliche Organisation gab. Sie haben das Risiko auf sich genommen, von der Polizei festgenommen und aus Frankreich ausgewiesen zu werden. Während der Monate der Besetzungen und des Streiks hatten sie keine Löhne mehr, sie konnten kein Geld zu ihren Familien schicken oder in die Dörfer ihres Landes.

Drei Monate lang habe ich, Tag und Nacht, die Besetzung einer Kantine eines Bauunternehmens mit zwölf papierlosen Arbeitern aus Mali mitgelebt. Der Unternehmer hat uns gedroht Feuer zu legen, indem er Petroleum auf die Matratzen goss, die wir zum Schlafen brauchten. Dann hat er uns rausgeschmissen, beim ersten Mal mit einem Schergen, der mit einem Gewehr drohte. Die Polizei ist mehrmals gekommen. Aber sie musste sich zurückziehen, als wir ihr erklärt haben, dass es sich um einen Arbeitskonflikt handelt, bei denen sie nicht zu intervenieren hätten. Nach drei Monaten hat der Unternehmer die Arbeitsverträge geschrieben, die die Regularisierung der Arbeiter ermöglichte.

Die papierlosen Arbeiter haben erfahren, was ein Kampf im Betrieb ist. Sie treten aus ihrer Klandestinität heraus und die Solidarität ist stärker als der Hass. Einer hat das so ausgedrückt: „Unsere Augen waren getrübt durch die Tränen. Ihr habt uns geholfen sie zu trocknen und durchzublicken.“ Einen Monat lang haben die nationale und regionale Presse, das Radio und das Fernsehen das Ereignis mit Sympathie begleitet. „19 Unternehmen besetzt. Die papierlosen Arbeiter treten aus ihrem Schatten heraus“. Das war der Groß-Titel der Humanité vom 16. April 2008. Nach Meinungsumfragen wünschen 70% der Franzosen, dass die Arbeiter, die einen Lohnzettel haben, ihre Sozialbeiträge und Steuern bezahlen, eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Der Regierung ist es nicht gelungen, sie zu Kriminellen, zu Sündenböcken zu machen. Eine außergewöhnliche Solidarität hat sich um die papierlosen Arbeiter gebildet. In dem Betrieb, den ich mitbesetzt habe, waren etwa 50 Personen, die uns unterstützt haben.

Aus Italien

Der Einwanderer ist zum Sündenbock für alle Probleme geworden: Die Zeitungen und die Fernsehanstalten sprechen nur noch von Morden, Einbrüchen, sexuellen Delikten, die von den Einwanderern begangen werden, vor allem von denen, die zuletzt gekommen sind. Zuerst waren das die Albaner, dann die Polen und jetzt die Rumänen. Wenn die Italiener Verbrechen begehen, dann gibt’s nur wenige Zeilen in den


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Zeitungen. Alles läuft unbemerkt ab. Das nährt die Angst und die Verdächtigung. Die Regierung bestärkt diese Ängste und schlägt vor: Nächtliche Kontrollgänge, Militarisierung des Geländes, unterschiedliche Klassen für Ausländerkinder in den Schulen, digitale Fingerabdrücke für Romakinder und so können die Ärzte jemanden anzeigen, der sich im Krankenhaus präsentiert und dessen Aufenthaltsgenehmigung nicht in Ordnung ist. Die Ärztekammer wehrt sich glücklicherweise dagegen und hat erklärt, dass sie das nicht machen wird.

Die Verpflichtung, Italienisch zu können, ist für die Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung gefordert. Heiraten ist nur für den möglich, der alle Papiere in Ordnung hat. Um die Geburt eines Kindes eintragen zu lassen, braucht man die Aufenthaltserlaubnis, ebenfalls für die Anerkennung eines natürlichen Kindes. Die Kinder von Eltern ohne Erlaubnis dürfen nicht registriert werden, so bleiben sie ohne Identität. Eine Situation, die die „illegalen“ Mütter dazu treiben könnte, ihr Kind nicht im Krankenhaus zur Welt zu bringen, was gefährliche Konsequenzen für die Gesundheit ihres Kindes mit sich bringt. Auf dem ganzen nationalen Gebiet entstehen Initiativen gegen die Einwanderer. In einigen Städten werden „Anzeigebüros“ geöffnet, die Hinweise, auch anonyme, entgegennehmen bezüglich der Anwesenheit von irregulären Einwanderern, um die „Sicherheit“ in der Stadt zu erhöhen (Como). Und der Bürgermeister lässt alle Bänke aus den Parks entfernen (Trevise).

Es gibt auch positive Zeichen: Die Region Toskana schlägt für nächstes Jahr die Möglichkeit vor, dass die Einwanderer an den Regionalwahlen teilnehmen können, weil die italienische Wirtschaft ohne die Einwanderer nicht weiter existieren kann. Vor allem im Bereich der kleinen Betriebe der Landwirtschaft, in den Berufen mit niedrigem Profil, die die Italiener nicht ausüben wollen. Unternehmen zur Pflege der Tiere und für die Ernte von landwirtschaftlichen Erzeugnissen wie Äpfel, Erdbeeren, Trauben, Tomaten, kämen in Schwierigkeiten. Die Haushaltshilfe liegt in den Händen von ausländischen Frauen, und ohne sie gäbe es ganz massive Probleme.

Im Augenblick warten 500.000 auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Normalerweise braucht man ein bis eineinhalb Jahre, mit dem Risiko in sein Herkunftsland zurückgeschickt zu werden, wegen des Delikts der Klandestinität. Die italienische Bevölkerung nimmt ständig ab und die Anwesenheit von Ausländern dient dazu, das alternde Land zu verjüngen. Die Plätze und die Straßen, die leer geworden sind, weil sich jeder in gepanzerten Häusern einschließt, bevölkern sich wieder und werden zu neuen Orten der Begegnung. Die aufgegebenen Felder und die alten historischen Zentren sind wieder voller Menschen.


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Aus Deutschland

Die Migration ist ein Phänomen, das nahe an uns herankommt: In unseren Wohnvierteln, in der Arbeit, in den Vereinigungen, durch das Fernsehen, die Zeitungen. Wie berühren uns die Immigranten/Immigrantinnen in unserem Leben, in unseren Engagements, in unserem spirituellen Leben?

Am Arbeitsplatz

In dem Unternehmen, in dem ich schon seit 18 Jahren beschäftigt bin, arbeiten Menschen aus über 70 Nationen. Unter ihnen sind klassische Arbeitsmigranten aus der Türkei, Flüchtlinge aus Afrika und Asien, zunehmend Osteuropäer. Für ein gutes Zusammenarbeiten und -leben ist ihre Beteiligung an unserer Gewerkschaftsgruppe und die Mitgliedschaft in unseren Betriebsräten außerordentlich wichtig. Besonders bewährt hat sich die Freistellung einer türkischen Kollegin. Als gewählte Betriebsrätin genießt sie Ansehen in der Belegschaft und auch beim Arbeitgeber. Für mich ist das ein Beispiel, dass die Migranten rechtliche Absicherung in unserem Land brauchen. Von unseren Kollegen in der Arbeit sind viele „Migranten“. Sie sagen aber nicht, „ich bin MigrantIn“. Sie reden über die Gründe, warum sie gekommen sind. Und die sind sehr zahlreich. Je geringfügiger die Arbeit bezahlt ist, desto mehr Nationalitäten, Sprachen, Kulturen, Mentalitäten, Religionen sind da auf engstem Raum zusammen. In der Zeit der Krise erhöhen sich die Schwierigkeiten für die Migranten. Sie müssen die Arbeiten annehmen, die am prekärsten sind und am schlechtesten bezahlt werden: Unbezahlte Überstunden, kurzfristige Einteilungen, Urlaubsverzicht, Schikanen, Kontrollen. Es wächst ein ökonomisch geprägter Rassismus. In der Krise müssen wir noch mehr arbeiten, auf Rechte verzichten, bloß nicht krank werden. Neues zusätzliches Rassemerkmal ist Leistungsbereitschaft.

Im Wohnviertel

In unserem Viertel sind praktisch alle Kinder und Jugendlichen, die zu unserer (katholischen) Gemeinde gehören, Töchter und Söhne aus Migrantenfamilien. Es gäbe gar keine Vorbereitung für die Erstkommunion oder die Firmung mehr, würden diese Kinder mit Migrationshintergrund nicht mit uns leben. Wir haben keinen Messdiener mehr, dessen beide Eltern Deutsche sind. Unser Kindergarten und die Kindertagesstätte müssten schließen. Diese Kinder werden die Zukunft unserer „deutschen“ Gemeinde bilden. Aber ohne Migrantinnen würde sich uns die Frage der Zukunft gar nicht stellen. Wir hätten keine.


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In unserer Nachbarschaft war eine staatliche Gemeinschaftsunterkunft, in der die Familien systematisch unter elenden Bedingungen untergebracht waren (Rattenplage, kaputte Sanitäranlagen, Schimmel, Überbelegung). Obwohl die Zahl der Flüchtlinge durch die juristischen und militärischen Abschottungsmaßnahmen der Festung Europa in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist, werden die „anreizmindernden Maßnahmen“ (Residenzpflicht, Versorgung in Form von Sachleistungen, Arbeitsverbot, Mietwucher, nächtliche Kontrollen, Lagerunterbringung …) weiterhin durchgezogen. Im Januar wurde die Unterkunft geschlossen. Warum? Weil die Lebensbedingungen der Menschen dort öffentlich gemacht worden sind von Sozialarbeiterinnen der Caritas im Verbund mit dem Flüchtlingsrat, Unterstützerkreisen von Kirchengemeinden, Presse und den Bewohnern selber. Dadurch ist ein öffentlicher, politischer Druck entstanden. Was aus den Familien geworden ist? Sie wurden in andere Stadtteile untergebracht in Wohnungen oder immerhin Festhäusern, die Kinder mussten die Schulen wechseln usw.

Im letzten Jahr wurde bei uns im Viertel ein junger Marokkaner umgebracht. Danach gab es viel Protest. Die Trauer wurde auf die Straße getragen. Nach diesen Aktionen haben die Stadt und die Jugendorganisationen begonnen, Begegnungen der verschiedenen Gruppen zu organisieren. Türken, Marokkaner und Deutsche besuchten sich gegenseitig in ihren Zentren. Das hat ein Reihe von Vorurteilen beseitigt und Respekt voreinander geschaffen. Öffnung und positive Begegnung sind sehr wichtig.


In der Wohngemeinschaft

In unserer WG in München sind wir zu acht Personen. Unter ihnen auch „Migranten“. Viele von ihnen haben keine Bleibe gefunden, die sie noch bezahlen können. Unter ihnen auch Deutsche, die ein Winterquartier gesucht haben. Das Haus ist voll. Manchmal müssen wir jemanden abweisen. Die Leute sind da, um zu schlafen, um eine Unterstützung für bürokratische Angelegenheiten zu finden, Formulare auszufüllen. Wir lernen voneinander im alltäglichen Leben.

In unserer WG in Berlin sind wir gewöhnlich zu 16. In den 30 Jahren unserer Existenz haben 400 Menschen aus 61 verschiedenen Ländern bei uns für eine Zeit gelebt. Sie kommen aus sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen. Sie klopften an unsere Tür und wir haben immer noch eine weitere Matratze hinzugelegt, damit alle Platz fanden. Die Wohnung, die wir gemietet hatten, hat sich zu einem Ort der Gastfreundschaft in internationalem Kontext umgeformt.


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Überlegungen

Der große Lebenswille von Migranten wird deutlich im Ertragen der Strapazen, die sie auf ihrem oft lebensgefährlichen Weg auf sich nehmen. Mitten in allen Illusionen haben sie ein Gespür für ihre Sehnsucht, mit der sie aufbrechen und große Gefahren überwinden. Im Nachgehen ihrer Lebenswege, stoßen wir auf eine große Beharrlichkeit, auf eine deutliche Spiritualität, die sie auf ihre Lebenshoffnung verweist, auf die Gemeinschaft mit Gott und all seinen Geschöpfen. Die Migranten fordern die Menschen in den Ankunftsländern heraus, ihre Blockaden zu überwinden. Im Einzelfall spüren wir auf der nördlichen Halbkugel über alle sprachlichen, kulturellen und politischen Grenzen hinweg, wie gelebte Gastfreundschaft und die sich darin entwickelnden näheren Beziehungen viel Freude auslösen können.

Doch es kommt auch der Moment der individuellen Überforderung, aber auch bei Familien und kleineren Gruppen. Dann spürt wohl jede/r in sich die Gefahr aufkommender Fremdenfeindlichkeit oder gar Rassismus.. Jede/r wird einmal müde, sich Neuem zu öffnen. Es ist eine Überforderung, diese Offenheit durchgehend zu leben. Wo üben wir dann neue Schritte des aufeinander Zugehens?


Europäisches Treffen 2010 – Arbeitergeschwister

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Vorbereitende Gedanken aus Belgien

Seit mehr als 30 Jahren sprechen wir auf unseren Treffen von Arbeiterpriestern über die Krise. Einmal mehr werden wir die Ursachen untersuchen und die Auswirkungen aufzeigen. Was uns Arbeiterpriester betrifft, betrachten wir die Krise durch unsere Brillen oder spüren wir sie in unserer Haut? Warum sollten wir bei diesem Pfingsttreffen nicht mal ein mehr personalisiertes Rundgespräch machen?

Die Krise ist besonders heimtückisch in Belgien. In bestimmten Vierteln von Brüssel übersteigt die Arbeitslosenquote der Jugendlichen die 50% Marke. Das Stahlunternehmen Les Forges de Clabecq erhöht die Produktivität, erneuert seine Büros (!) und verkürzt die Arbeitszeit.

Die Bank Dexia erhöht ihr Kapital, bringt aber die Gemeindeverwaltungen in Gefahr, für deren Finanzierung sie verantwortlich ist.

Die Brauerei AB–Inbev, die sich in wenigen Jahren zu einem multinationalen Unternehmen entwickelt hat, beschließt die Entlassung von 250 Arbeitern, derweil sich der Verantwortliche des Unternehmens einen außergewöhn-


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lichen Bonus gönnt. Das Ereignis hat eine große Bewegung von Solidarität hervorgerufen: Sofortige gewerkschaftliche Reaktion, Besetzung der Fabrik, Androhung von Generalstreik, Sensibilisierung der Öffentlichkeit, Unterstützung von Kardinal Daneels und von Jean-Luc Dehaene, dem ehemaligen Ministerpräsidenten. Ergebnis: Keine Entlassungen!

Nordbahnhof in Brüssel (Hauptstadt Europas): Obdachlose, Papierlose, verbringen hier die Nacht – mit der Genehmigung der Direktion! Warum diese Gunst? Um den Mittellosen zu helfen? Oder um das Bild der Banken in der öffentlichen Meinung zu retten?

Zeichen von Hoffnung

24 Stunden Streik bei den Geschäften von Carrefour, nachdem die Schließung einiger von ihnen angekündigt wurde; Aufruf zur europäischen Solidarität von Seiten der verschuldeten Länder (Griechenland, aber auch andere Länder); Aufruf, um die internationalen Institutionen zu stärken.

Aber auch die Fastenaktion des Teilens; die Möglichkeit alles anzuzeigen, wie es das Theater, die Akademie, die Laien-Aktion machen; die Verlängerung der Schulbildung und trotz allem die Sensibilisierung der Leute für das Menschliche.

Kraft durch das Evangelium

Das Evangelium unterweist uns. Und wenn wir das Wort Liebe durch das Wort Solidarität ersetzen? „Wenn jemand solidarisch mit mir sein will, dann bewahrt er mein Wort. Mein Vater wird ihn anerkennen. Wer nicht solidarisch ist, bewahrt nicht meine Worte“ (Jo 14, 23–24). „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 40).

La Meuse vom 29. August 2009 schreibt über die Arbeiterpriester:

André Antoine ist einer der seltenen Zeugen dieser religiösen Bewegung, die nach dem Krieg entstanden ist und 1954 bis 1959 von Rom verboten wurde. In den 70er Jahren zählte man in Belgien etwa 60 Arbeiterpriester. Seitdem hat die Zahl abgenommen: Jetzt sind es noch etwa 20 im Lande. Diese Vorkämpfer der Theologie der Modernität suchen Gott vor allem in den Frauen und Männern von heute, die ihn nicht als eine Sicherheit behaupten. „Diese offene und dynamische Vision bringt uns an den Rand der Kirche. Wir urteilen nicht, wir verurteilen nicht, wir respektieren“, so betont er. Wie Christus teilt der Arbeiterpriester das Los der Leute. Ihr Einsatz zieht sie nach links.


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Aus Spanien

Nach dem 6. Bericht FOESSA (Förderung der angewandten Sozialwissenschaften und Soziologie) sind 19,5% der Bevölkerung an der Schwelle zur Armut und 5,3% sind ernsthaft betroffen von der Ausgrenzung.

Offiziell gibt es 4 Millionen Arbeitslose (18,5%); 31% der Arbeitsverträge sind zeitlich begrenzt und so genannte „Mist“- oder „Dreck“-Verträge. Die Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen beträgt fast 50%.

Zunahme des Ansturms neuer Familien und Einzelpersonen, die verschiedene Arten von Hilfe von der Caritas erbitten: Nahrungsmittel, Geld, um die Stromrechnung zu bezahlen, die Verzögerung der Rückzahlung ihrer Anleihen/ Hypotheken auszugleichen. Die Zahl der Einzelpersonen und Familien, die um Hilfe bitten, hat sich um 60 – 90% erhöht im Vergleich zu den vergangenen Jahren.

Die Fremdenfeindlichkeit ist aufgrund der Konkurrenzsituation im Kampf um einen Arbeitsplatz gestiegen. Die Immigranten sind das letzte Glied in der Kette der Armut und der Ausgrenzung. Sie sind einer Verschlechterung ihrer Situation unterworfen: – Der Hunger. – Unerschwinglich hohe Mietpreise für die Zimmer. – Sie werden illegaler Weise schlecht behandelt durch bürokratische Verfahren, die im Prinzip gratis sind. – Und anderes mehr. Die Internationale Zusammenarbeit hat um 30% abgenommen und die sozialen Leistungen sind auf einem toten Punkt gelandet. Es gibt eine sehr große Zunahme von Obdachlosen. Es wurde mehr als eine halbe Million kleiner Betriebe geschlossen und die Großbetriebe reduzieren ihre Arbeitskraft.

Das Licht der Solidarität

Die Krise berührt nicht alle auf die gleiche Weise; für die mehr entwickelten Länder ist sie so etwas wie ein Schlagloch, mehr oder weniger tief. Für die weniger entwickelten Länder ist sie eine chronische Situation. Wenn wir, hier im Norden, in Schwierigkeiten sind, erleiden die Leute im Süden die Last der Krise wie eine generalisierte Epidemie. Unsere Gesellschaft hat die Ungleichheiten und die Armut in den letzten 15 Jahren nicht verringern können, obwohl es eine Zeit starker wirtschaftlicher Entwicklung war. Also zeigt diese Krise in evidenter Weise das Scheitern der Wohlstandsgesellschaft und unseres Entwicklungsmodells.

Die Streitfrage ist das Entwicklungsmodell und das Wirtschaftssystem: Die Erde ist das Vermögen der Menschheit, die Rechte auf Privateigentum und auf den Markt sind nicht unbegrenzt, sie müssen unter der Kontrolle der politischen Gesellschaft stehen.


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Die Krise ist eine Gelegenheit, um zu strukturellen Veränderungen aufzurufen. Dabei muss die Solidarität und die Teilnahme aller unterstrichen werden, um eine neue Welt zu errichten, denn „eine menschliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Zukunft“. Die politischen Parteien, Gewerkschaften, Finanzinstitutionen und alle Bürger müssen den Kreislauf ihrer eigenen Interessen verlassen und sich dafür engagieren, eine größere Gleichheit in der Verteilung der Güter und einen größeren Respekt der Würde und der Rechte der Armen und der Ausgeschlossenen zu erreichen.


Aus Italien

Die Violette Bewegung, nicht an Parteien gebunden, hat zwei große Demonstrationen innerhalb eines Monats gemacht. In wenigen Tagen haben sich Tausende von Menschen versammelt, per email-Trommelwirbel, und sie haben die Kraft gehabt, rauszugehen, um zu protestieren gegen diese Art und Weise, wie Politik gemacht wird.

Die Kampagne „005“ hat begonnen, um die Finanztransaktionen zu besteuern. Diese Steuern einzuziehen als eine Form der Entschädigung und des Beitrags zur Gerechtigkeit. Wenn man jeden Ankauf und Verkauf von Titeln und von Finanzmitteln mit 0,05% besteuert, dann könnte man, so wird geschätzt, allein in der EU jährlich eine Einnahme von 163-400 Milliarden Dollar registrieren. Auf Weltebene läge die Einnahme bei 400-946 Milliarden Dollar.

Die Bewegung ist dabei, GAZ, Groupes d’Achat Solidaire (Gruppen solidarischen Einkaufs), zu vergrößern. Dabei wird die Produktion der Bauern unterstützt, um direkt vom Produzenten zum Verbraucher zu gelangen und dabei für denselben Kauf null Kilometer zu brauchen.

Es gibt Zeichen von Widerstand seitens der Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz verteidigen, indem sie Fabriken besetzen. Aber zugleich harte Reaktionen von der Polizei, die eine harte Gangart einlegt mit Repressionen. Zahlreich sind jene, die davon nun auf alternativen Kanälen sprechen. Selbst die Immigranten beginnen Mut zu fassen, um gemeinsam mit den anderen zu protestieren. Sie sind die ersten, die ihren Arbeitsplatz verlieren.

Ein größeres Bewusstsein der Krise ist festzustellen bei einigen Diozesen: Sie unterstützen die Arbeitslosen durch die Schaffung von speziellen Kassen. Im Gegensatz zu der Bischofskonferenz, die hauptsächlich darum besorgt ist, die Regierungszuschüsse für die eigenen Einrichtungen, die Schulen einzusacken, wobei sie auf nicht zu diskutierenden Prinzipien besteht und zwar nur auf diesen.


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Evangelium

„Wenn ihr dies alles kommen seht, dann erhebt euer Haupt und eure Befreiung ist nahe“. Die Krise kann eine Zerstörung sein, aber sie kann auch eine Gelegenheit sein, um die Arbeit, die Art des Lebens und die Beziehungen neu zu bedenken. Diese Krise ist ein Endpunkt. Man kann nicht einfach weitergehen, um das zu machen, was man vorher gemacht hat. Denn die Ressourcen der Erde verbrauchen sich, die Erdbevölkerung ist innerhalb eines Jahrhunderts von 1,5 auf 6 Milliarden angestiegen.

Ein anders biblisches Bild ist das vom Exodus: Ein Gang durch die Wüste mit leichtem Gepäck. Es ist eine Zeit des Wesentlichen und der notwendigen Dinge, wobei die schweren Lasten aufzugeben sind, die die zukünftigen Generationen aufgrund unserer Irrtümer tragen müssen. Die Erde ist nicht ein Erbe, das wir von unseren Eltern erhalten haben, sondern ein Darlehen der Kinder und Enkelkinder.

Aus Frankreich

Wer hat die Fäden in der Hand?

Die Finanzmächte funktionieren auf Weltebene, sie kennen keine Grenzen; die politische Macht bleibt auf nationaler Ebene. Die Finanzgruppen verwalten Budgets, die größer sind als viele Nationalbudgets. Dieses Kapital gehört Menschen, die nur ein Ziel haben, ihr Geld so schnell wie möglich und aufs Maximum zu vermehren. Die Finanzen bestimmen die Politik, das ist eine auf den Kopf gestellte Welt.

Die globalen Regulierungsorganismen (WHO, IWF, Weltbank …) sind der Ausfluss dieses neoliberalen Systems. Sie legen den Staaten und den Unternehmen weltweit ihre Gesetze auf. Der durch die Arbeit geschaffene Mehrwert geht zunehmend zum Kapital und immer weniger zur Arbeit. In Konsequenz bereichern sich die Reichen und verarmen die Armen.

Wo sehen wir Zeichen der Hoffnung?

Menschen, die der Hoffnungslosigkeit preisgegeben sind, reagieren und lehnen die Auslagerungen und das Verschwinden ihres Arbeitswerkzeugs ab. Die Bauern nehmen es nicht mehr hin, mit Verlust zu arbeiten und zu produzieren, um die großen Verteilergruppen zu bereichern.

Die Internationale Gewerkschaftsbewegung kommt auf. Grenzüberschreitende Solidaritätsdemonstrationen entwickeln sich. Europäische und selbst Weltdemonstrationen nehmen Form an.


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Die große Bewegung für eine andere Globalisierung verliert nicht an Luft.

Die Ökologiebewegung zur Rettung des Planeten entwickelt sich.

Bewegungen zur Rettung des öffentlichen Dienstes finden ein breites Echo.

Teilhaber- und Solidarkredite nehmen zu.

Eine wirtschaftliche und politische Solidarität manifestiert sich in Südamerika. All diese kleinen Aktionen zeigen, dass die Menschen nicht verzweifeln. Die Geschichte zeigt uns, dass es kollektive Bewusstseinsbildung gibt, die fähig ist, die Welt zu verändern. Unsere Hoffnung lebt in der Solidarität mit den kleinen Leuten, mit den Arbeitern in vielfachen Aktionen, die von den Gewerkschaften und den Vereinigungen vorgeschlagen werden.


Aus Deutschland

Die Krise hat Deutschland ebenso wie ganz Europa erfasst. Auch wir in unseren eigenen Erfahrungsbereichen sind von Massenentlassungen betroffen: Automobilindustrie (Toyota), Handelsgesellschaften (Neckermann), die Reste der Textilindustrie sterben ab (Krefeld und anderenorts).

Für die entlassenen Kolleginnen und Kollegen bleibt die Arbeitslosigkeit und der Abstieg in Hartz IV oder eben neue „prekäre Arbeit“ mit oftmals weniger als die Hälfte der vorherigen Bezahlung. Das passt zu einer Statistik der IG Metall vom vergangenen Jahr (Extranet, Mai 2009), wonach nur noch wenig mehr als 20% aller Beschäftigten im industriellen Sektor arbeiten. Alle anderen sind in verschiedenen Formen von Dienstleistungen beschäftigt mit einem wachsenden Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse.

Auch in unserer Gruppe teilen wir diese Erfahrungen verschiedenster Formen „prekärer Arbeit“. Folge solcher Arbeit ist nicht nur kein ausreichendes Monatseinkommen mehr zu erzielen. Im Unternehmen etwa, wo einer von uns arbeitet, suchen die meisten Kollegen einen Zweitjob; wenn Familie dabei ist, arbeitet auch die Ehefrau mit.

Und es gibt noch eine weitere Verschärfung: Trotz der extrem geringen Bezahlung wird eine totale Flexibilität erwartet. Ständig sich ändernde Arbeitszeiten auch mitten in der Woche, Wochenendarbeit ist normal usw. Das macht es sehr schwer, überhaupt noch einen anderen Zusatzjob anzunehmen.

Und: Gesellschaftliche und soziale Teilhabe ist fast ausgeschlossen.

In Deutschland scheint die Krise (Statistik des Economist vom Februar 2010) zu einer weiteren, europaweit einmaligen Spreizung der Einkommen zu führen. Dennoch ist das Interesse, für eine andere Gesellschaft (jenseits des Kapitalismus) einzutreten, so gering wie in keinem anderen westeuropäischen Land.


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Der Kapitalismus in seiner Totalität hält selbstverständlich die Fäden in der Hand. Aber zusätzlich gibt die Angst ihm noch mehr Macht. Ein Beispiel: Die Verhaftung von mehreren Verantwortlichen innerhalb der ca. 65.000 Tamilen in Deutschland hat zu einem Klima des Misstrauens und der Angst geführt. Es gibt daher kaum noch aktive Gruppen in Deutschland, die für das Selbstbestimmungsrecht der Tamilen in Sri Lanka eintreten.


Evangelium

Die zwei Bilder in der Bergpredigt (Mt 5): Sind wir Salz der Erde oder Stadt auf dem Berg? Innerhalb der Strukturen des Kapitalismus kämpfen oder alternative Netzwerke knüpfen? Im alltäglichen Leben, im Gefühl mit seinem Glauben eher alleine zu stehen, wächst da nicht die Sehnsucht nach Menschen, denen das Evangelium wichtig ist?

So wird die Rede über das Evangelium zu einer Rede über die Kirche. Die Kirche wandelt sich. Wir könnten die Gegnerschaft zur Struktur der verfassten Kirchen verlieren, allein weil es sie nicht mehr gibt als volkskirchliche Strukturen. Die Kirchen verschwinden aus den Stadtvierteln, den verschiedenen Bündnissen, politischem Engagement.

Und in Deutschland, wie anderenorts, ist zusätzlich die Diskussion um die sexuelle Gewalt entstanden, nachdem nach Jahrzehnten des Totschweigens zunehmend Opfer sich an die Öffentlichkeit wagen und menschenverachtende, kirchliche Strukturen offenbaren. Der Bischof der Diözese Aachen schrieb dazu kürzlich in einem Rundbrief: „Die aktuelle Krise ist eine der größten Herausforderungen an die Kirche in Deutschland. Es ist eine fundamentale Anfrage an Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Die Kirche wird danach anders sein als vorher …“!

Aus England

Welche Einsicht und welche Kraft bringt uns das Evangelium?

Das Licht des Evangeliums bleibt manchmal sehr klein – aber man kann es sehen an den unwahrscheinlichsten Orten.

Einer aus unserer Gruppe hat erzählt, dass man die beiden bezahlten Arbeiter in seiner kleinen kommunalen Vereinigung entlassen werde. Aber diejenigen, die mit ihnen gearbeitet haben, haben ihnen geholfen und haben weiterhin Geld gesammelt, auch kleine Geldmünzen. Es ist ihnen gelungen, alles Geld zu bezahlen, das die beiden ohne Arbeit brauchen. Aber es gab große Veränderungen mit einem neuen Geist. Sie haben entschieden weiter zu machen ohne die bezahlten Arbeiter. Es gab halt mehr Arbeit für die anderen


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in der Gruppe. Es gab einen großen Wandel – das Klima von Ärger und Lärm verschwand und ein neuer Geist von Ruhe und Engagement ist eingezogen. Das ist wie die Arbeit des Heiligen Geistes unter denen, die ihn nicht sehen.

Wir müssen begreifen, dass das Evangelium größer ist als wir. Aber die Hoffnung des Evangeliums kann alles entfachen, was wir machen. Die Strukturen der Kirche müssen sich ändern, um die Intuition der Arbeiterpriester anzunehmen, nämlich mit den Männern und Frauen dort zu sein, wo sie wohnen, arbeiten und ihr Leben aufbauen. Das ist eine große Veränderung für die Kirche – sich an den schwierigen Orten der Gesellschaft und der Arbeitswelt aufzuhalten, auch um denen zu helfen, die schwierige Entscheidungen in den Unternehmen und in den Strukturen des Marktes zu treffen haben.


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Die starke Frau – Bild von Christian Schmidt


Beziehungen zwischen Generationen, Machtmissbrauch

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Ein kleiner Lehrer zu Gast – Anke Klöpsch

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Ich verstehe nicht, warum man sagt: „Ich habe ein Kind“ – als würde man es besitzen. Im besten Falle hat mein Kind mich. Als Halt und Hilfe, wenn es mich braucht.

Ein Kind ist ein sehr anspruchsvoller Gast, den auch liebende Eltern hin


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und wieder zum Teufel wünschen. Ein Kind ist durchsetzungsfähig, seiner eigenen Wünsche sehr bewusst, und es lässt sich nicht mit halben Sachen abspeisen, mit halber Aufmerksamkeit zum Beispiel … Außerdem, und das ist vielleicht das Schwierigste, ist das Kind ein Dauergast, der nicht nur – im erhofften Falle – für viele Jahre bleibt, sondern auch, vor allem zu Anfang, praktisch jede Minute mit den Gastgebern verbringen möchte. Auf meinem Schoß sitzend, essend, trinkend oder Bücher anschauend, auf meinem Arm schlafend, neben mir auf dem Sofa sitzend und ebenfalls dieses Blatt mit Stiften bekritzelnd.

Unser Kind ist bald zwei Jahre bei uns zu Gast und hört – manchmal – auf den Namen Wendelin.

Wendelin ist der hartnäckigste Lehrer, den ich je hatte – er wird niemals locker lassen, aus mir einen guten Menschen zu machen. Aber zugleich ist er auch der nachsichtigste, der mich nicht verstößt, auch wenn ich immer wieder an den einfachsten Aufgaben, die er mir stellt, scheitere. Was er mich lehrt? Zuvorderst Aufrichtigkeit und Klarheit.

Seine Ehrlichkeit und Direktheit verstellt mir jede Fluchtmöglichkeit in den Selbstbetrug. Wenn ich sage: „Wendelin, du kannst jetzt nicht mit Wasser spielen, das geht nicht“, spürt er sofort, dass ich lüge. Er schreit und weint und quengelt und lässt sich kaum wieder beruhigen. Viel besser schon, wenn ich sage: „Wendelin, ich will nicht, dass du jetzt mit Wasser spielst. Ich habe keine Lust, dich nachher schon wieder trocken anzuziehen.“ Er reagiert ganz anders. Er hört an meiner Stimme, wie angestrengt ich tatsächlich bin und ob ich mich erweichen lassen werde. Wenn ja, dann quengelt er, bis ich mir sage: „Gute Güte, es ist kein Drama, ihm nachher nochmal einen anderen Pulli und eine trockene Hose anzuziehen, das dauert keine fünf Minuten, also lass ihn schon!“ Aber er merkt auch, wenn ich gerade wirklich nicht will und das mein letztes Wort ist. Dann gibt er schnell auf. Aber das bedeutet nicht, dass er nicht traurig ist! Und oft auch wütend. Diese klaren und starken Gefühle wieder zu kennen, danach pflanzt er mir neue Sehnsucht ein. So starke Wünsche: „Ich will so gern mit Wasser spielen! Es gibt nichts anderes, das jetzt so schön wäre. Was für eine Zumutung, dass ich es nicht darf, was für eine Gemeinheit, was für ein harter Schlag.“

Es wird viel darüber gesprochen, dass Kinder strategisch weinen. Wendelin kann ordentlich und beharrlich quengeln. Ich glaube zu wissen, dass er das Jammern als seine Waffe erkannt hat, mit der er sich gegen meine Willkür wehren kann. Was für eine kleine, unbedeutende Waffe gegen die gewaltige Übermacht der Erwachsenen mit ihren zahlreichen Möglichkeiten und Sanktionen.


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Manchmal habe ich schon versucht, Möglichkeiten für Wendelin zu schaffen, in denen einmal er mir etwas verbieten kann, als eine Art Ventil. Wie genießt er es zum Beispiel, wenn er eine Schale mit leckeren Blaubeeren in der Hand hat und die Mama fragt, ob sie eine haben kann. Endlich kann er zu mir „Nein“ sagen, dieses Wort, das die meisten Kinder als erstes lernen. Oder wenn die Mama langsam nach einer Beere greift und er die Schale schnell wegzieht. Wenn die Mama den Mund aufmacht und er erst antäuscht, ihr eine Beere abzugeben, und sie dann doch schnell in den eigenen Mund steckt. Wie entspannt er wird, wenn wir dieses Spiel ein Weilchen gespielt haben. Wenn ihm etwas verboten wird, wie kann er sich schon wehren? Das Quengeln ist immerhin noch eine halbwegs wirksame Maßnahme. Und wie oft haben wir mit unseren vielen Verboten Unrecht! Er weiß es wahrscheinlich manchmal wirklich besser als wir. Aber wie soll er sich Gehör verschaffen?

Wenn Wendelin aber schreit und weint, wenn seine Tränen kullern, dann ist echte Verzweiflung spürbar. Immer. Dann ist seine Welt für einen kurzen Moment untergegangen. Denn er lebt im Jetzt, ein „Nachher“ kann ihn noch nicht trösten. Natürlich ist es für einen Erwachsenen schwer zu verstehen, dass ein Kind so verzweifelt sein kann, bloß weil es jetzt nicht mit Wasser spielen, jetzt nicht aus dem Kinderwagen raus klettern, oder die schönen grünen Glasscherben auf der Straße nicht anfassen darf … Wir haben gut reden. Wir kennen fast alles in unserem Leben schon in- und auswendig und können, inmitten unseres Alltags voller Langeweile, von der Neugier eine Kindes nur träumen. Welcher Argwohn aber steckt dahinter, wenn man unterstellt, das Kind weine ganz absichtlich und nur, um unser Herz zu erweichen und unsere Erziehungsmethoden zu untergraben? Welche Gedankenwelten lassen sich hinter solchem Misstrauen vermuten, welcher Umgang mit Gefühlen, welche Verschlagenheit! Wie gesund und arglos kommt mir dagegen dieses Weinen vor, das sich nicht hinter einem „Nimm dich zusammen“ oder einem „Was die anderen von mir denken werden“ versteckt.

Das Weinen, wo es nicht vermeidbar ist, ohne die Grenzen meiner eigenen Kräfte zu überschreiten, auszuhalten, ist die schwierigste Aufgabe des Gastgebers. Das Kind beim Weinen ansehen zu können, ohne ihm immerfort einzureden: „Das ist doch nicht so schlimm, wein doch nicht“, sondern zuzugeben: „Ja, das ist schlimm, du hast Recht, das ist wirklich schlimm. Jetzt musst du weinen“, ist nicht einfach.

Wir Erwachsenen können zu solcher Ehrlichkeit nicht mehr zurück, zu solch einem unverstellten Zugang zu den eigenen Gefühlen. Aber wir können versuchen, uns von den Kindern wieder ein Stück Ehrlichkeit beibringen zu lassen, uns selbst und anderen gegenüber. Wieder starke Wünsche zu haben


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und sie uns selbst zuzugestehen. Lernen, dass Lachen und Weinen zum Leben gehören und dass keins von beiden verboten ist. Und dass ein Trost eben immer nur ein Trost bleibt.


Pia und der liebe Dott – Birgit Depenbrock

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Pia nimmt schon seit ihrer Zeit in meinem Bauch sehr regen Anteil an unserem Glauben. Ab dem siebten Schwangerschaftsmonat meldete sich Pia immer beim Klang der Glöckchen zur Wandlung durch ein deutlich spürbares Treten oder Boxen gegen die Bauchdecke. Ich glaubte, sie würde mir so zeigen, wie sehr sie sich darüber freute. Als sie dann ein paar Monate später auf der Welt war, stellte sich das Gegenteil heraus: Jedes mal wenn die Glöckchen ertönten, zuckte sie zusammen, als würde ihr der helle Klang in den Ohren weh tun. Schade, ich fand die erste Version irgendwie besser. Mit neun Monaten wurde Pia getauft. Kurz vor Beginn der Messe schlief sie (zu meiner Beruhigung) ein. Jedoch hörte sie auch nicht auf zu schlafen, als es zum Taufbecken ging. Meine Arme wurden schon ganz lahm vom Halten ihres kleinen, aber doch kräftigen Körpers. Sie machte sich auch keine Mühe ein Auge auf zu tun, als der Pfarrer ihr das Weihwasser über die Stirn goss. Sie schlief seelenruhig weiter zur Belustigung der gesamten Gemeinde. Woraufhin der Pfarrer leise zu den Taufpaten sagte: „Den besten Schlaf bekommt man in der Kirche.“ Pia wachte erst auf, als Ihre Patentante mit dem Licht der Taufkerze zu ihr kam. Und auch da weinte sie nicht, sondern strahlte mit großen Augen dem Licht der Kerze entgegen.

Als Pia gerade ein Jahr alt war, feierten wir Ostern bei ihrer Omi im Wendland. Wir gingen gemeinsam in eine alte Dorfkirche in den Gottesdienst am Ostersonntag. Die Kirche war übersichtlich klein und somit war es auch kein Wunder, dass jeder mitbekam, was sie von der Predigt des Pfarrers hielt. Viel sprechen konnte sie noch nicht, aber das „Blablablabla“, hatten alle deutlich verstanden und manche bestätigten sogar ihre ähnliche Meinung.

Kurz vor ihrem zweiten Geburtstag sprach Pia schon viele 1 bis 2-Wort-Sätze. An einem Sonntag hielt unser Pfarrer eine eindringliche Predigt. Danach sollten einige Momente der andächtigen Stille folgen. Pia war so verwirrt über die plötzliche Stille, dass sie laut in die Gemeinde rief: “Mehr?!“ Ein paar Monate später kam sie in den Kindergarten, wo sie vieles lernte, von dem wir Eltern manchmal erst Tage bis Wochen später oder auch gar nicht erfuhren. Wenn wir längere Strecken mit dem Auto unterwegs sind, ist Pia jedoch in ihrem Kindersitz auf der Rückbank immer recht gesprächig. Aus heiterem


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Himmel sagte sie da: „ Lieber Dott, wir danken dir (kleine Pause) – Kindergarten! Amen (was sehr eindringlich klang).

Ihr erstes selbst ausgedachtes Gebet sprach sie nur wenige Tage später (ca. zweieinhalb Jahre alt). Pia saß auf der Waschmaschine auf ihrem Wickelplatz, faltete die Hände und sprach: „Lieber Dott, eines Tages wollte niemand einen Kuchen nehmen. Amen!“ Dazu muss man wissen, dass Pia Kuchen über alles liebt und dass so eine Situation praktisch undenkbar für sie ist.

Neulich haben wir ein bisschen in unserer Wohnung umgeräumt. Da hat Pia mein Hochzeitskleid entdeckt und gefragt: „Ist das ein Hochzeitskleid?“ Dann haben wir zusammen mal wieder das Fotoalbum von unserer Hochzeit angesehen, dort hat sie das Kleid natürlich sofort wieder erkannt. Wir haben ihr ein bisschen von unserer Hochzeit erzählt und alle Bilder angesehen. Auf einem Foto ist zu sehen, wie Christian segnend seine Hände über unsere hält. Auf dieses Foto zeigte Pia und fragte gespannt: „Ist das Jesus?“ Ich hab mich total gefreut und ihr verlegen geantwortet: „Naja, im Grunde ja!“


Eigenbedarf – Maria-Anna

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Beim Besuch meiner Familie im Schwarzwald entstand folgende Geschichte: Johanna, meine Nichte, fragte ihre Mutter: Was ist das, Eigenbedarf? Mutter Regina erzählte etwas von unserer Schwester Katharina, die wegen Eigenbedarfs aus ihrer Wohnung musste. Doch sie erzählte auf Erwachsenenebene und ich zweifelte daran, inwieweit das Kind etwas davon verstand. …

Diese Situation ging mir noch nach. Ob ich das besser erklären könnte? Zum Beispiel so: Johanna, deine Mama hat zwei Löffel. Eines Tages kommt Elena, deine Schwester, und sagt: Mama, ich brauche einen Löffel. Kann ich einen von dir bekommen? Mama Regina braucht im Moment nur einen Löffel und gibt den zweiten ihrer Tochter. Geborgt. Also der Löffel gehört immer noch der Mama, doch sie leiht ihn aus. Als Pfand wünscht sich Regina jeden Tag ein Lied von ihrer Tochter. Das will Elena gern tun.

Eines Tages möchte Mama Regina Klöße mache. Dazu braucht sie zwei Löffel. Sie sagt zu ihrer Tochter: Elena, jetzt brauch ich den zweiten Löffel wieder, da ich Klöße machen will. Nun muss Elena den Löffel wieder an ihre Mama zurückgeben wegen Eigenbedarfs.

Regina kann nun Klöße machen, doch es gibt keine Lieder mehr. Das ist schade. – So ist das: Schenkst du etwas her, von dem du zwei hast, erklingt ein Lied in deinen Ohren oder im Herzen.


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Die Sakristei – Urban Heck

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Wie kann ein Mensch das jahrelang aushalten? Ich höre ihm zu, mehrmals war ich schon hier in seinem Zimmer. Ich höre zu und frage mich, wie hat das der kleine Manfred all die Jahre ausgehalten? Seine Eltern „mussten“ heiraten. Er war daran Schuld und er musste es jahrelang büßen. So sehr hat ihn seine Mutter als Kleinkind geschlagen, dass seine Großmutter ihn die ersten Jahre zu sich genommen hat.

Der Vater war als SS-Mann im Krieg, im Krieg gegen Partisanen und Bevölkerung. Mir kommt es so vor, als verfolgt er den kleinen Manfred. Er droht ihm, ein anderes Kind aus dem Kinderheim zu holen. Er schleppt das Kind mehrmals zu einem kinderlosen Ehepaar, um es zur Adoption anzubieten. Der Vater ist kein Vorbild, sondern ein stadtbekannter Betrüger. Der Junge wird zum Lügen an die Tür geschickt, wenn Gerichtsvollzieher oder Polizisten nachfragen.

Während ich zuhöre, ist sein Vater so gegenwärtig, dass er den Raum füllt. Mir ist, als wäre er hier im Raum. Das sage ich auch so. „Ja, so ist es wirklich, als wäre er hier im Raum“. Dabei ist der Vater seit zehn Jahren tot. Aber die Wunden, die er dem kleinen Manfred geschlagen hat, sind beim großen Manfred nicht verheilt, kaum vernarbt.

Der kleine Manfred ist aufgewachsen mit der Angst, mit der Angst, weggeschickt zu werden, mit der Angst vor Gewalt. Die Mutter fügt noch eine Angst dazu: Sie sagt wieder und wieder, dass sie ins Wasser gehen will. Der kleine Manfred weiß von der Tante, die so gestorben ist. Die Mutter macht ihm Angst und beschwichtigt gleichzeitig „Das bildest du dir alles nur ein“.

Der kleine Manfred lernt für sein Leben, dass er und seine Gedanken, Gefühle und Wünsche nichts zählen. Fast zwangsläufig sucht er die Schuld für alles Mögliche bei sich. Er lernt nach außen hin gleichgültig und ruhig zu sein, während im Innern eine Welt zerbricht. Den Eltern irgendein Problem anzuvertrauen, macht alles nur noch schlimmer. Niemand ist da für dieses Kind. Wie kann ein Kind das jahrelang aushalten?

Nach etlichen Gesprächen taucht plötzlich in der Wüste der Kindheit eine Oase auf, ein Ort für den kleinen Manfred. Der Mann, der mir so viel von seinem Leben erzählt hat, erwähnt die Sakristei als Fluchtpunkt seiner Kindheit. Seit er Ministrant war, ist er dorthin gegangen, wann immer es ging, das war sein Zufluchtsort. Ich frage verwundert nach, was dort war und was er dort gemacht hat. Dort war der Mesner, der ließ ihn auf einem alten Lederstuhl sitzen. Dort auf diesem Stuhl neben den vielen Schaltern und Leuchtanzeigen saß der kleine Manfred und saß einfach nur da. Der Mesner machte nichts


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Ungewöhnliches, er ließ den Buben mitgehen, wenn er in den Beichtstühlen nach ungebetenen Übernachtungswilligen schaute. Ich frage noch einmal nach dem Mesner, frage nach dem, was diesen Menschen und diesen Ort zum Zufluchtsort gemacht hat. Der Mesner hat gar nichts Besonderes gemacht. Er sagte nichts, außer „Guten Tag“, er fragte nicht, was der kleine Manfred denn hier wolle. Nie fragte der Mesner nach, nie schickte er ihn weg, nie forderte er etwas. Er war einfach da und ließ den kleinen Manfred da sein. Da hat ein Mensch Gottes Name gelebt: „Ich-bin-da“. Das ist der Ort, von wo aus ein kleiner Mensch die Wüste Unmenschlichkeit durchqueren und überleben konnte, weil er schlicht und einfach da sein durfte.


Gebor(g)en – Plastik von Manfred, fotografiert von Urban Heck


Dank für meinen Namen – Christian Herwartz

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Liebe Anneliese,

jetzt zu Weihnachten will ich dich mit deinem Namen anschreiben, denn ihr hat mir ja auch meinen Namen in Anlehnung an Christus geschenkt und als Fest dazu seine Geburt festgelegt. Daran denke ich heute und ich merke, wie du ja auch den Namen der Mutter von Maria in deinem Namen mitführst: Anne. Das ist eine schöne Entdeckung heute.

Ich bin euch sehr dankbar für den Namen, den ihr mir geschenkt habt und für das Anliegen, das ihr darin verpackt habt: Es sollte mich immer an den Glauben erinnern, in dem ihr mich empfangen und erzogen habt. Und darüber freue ich mich immer wieder. Ich schreibe immer ihr, obwohl ich ja dir einen Brief schreibe. ihr beide, Oskar und du, seid in eurer Liebe ja so zusammengewachsen, dass ich euch bei dieser Namensgebung nicht trennen will. Diese Liebe habt ihr mir vorgelebt. Da liegt der Kern meiner Dankbarkeit. In dieser Liebe spiegelt sich die Liebe Gottes zu den Menschen, die wir leben dürfen. In Jesus Christus ist sie ganz ohne Missbildungen greifbar geworden. Nicht immer so, wie wir sie uns ausmalen. Es ist oft eine provozierende Liebe, die uns verändert. Auch ihr seid in eurer Liebe immer weiter geführt worden. Und jetzt bist du nochmals weiter gegangen und lebst wie ich mit Menschen zusammen, die du dir nicht ausgesucht hast. Auch deine Kinder konntest du dir nicht aussuchen, doch da gab es einen Zusammenhang und eine sehr lange Zeit sich gegenseitig zu entdecken und Wege zusammen zu gehen. In den Gemeinschaften in Meckenheim und hier in Berlin ist das anders. Die Menschen, mit denen wir zusammenleben, kommen uns nahe und bleiben auch lange fremd. Dann ist es ein großes Geschenk, wenn wir ihnen mit Freundlichkeit begegnen können.

Doch oft fällt es uns wohl noch schwerer, uns selbst älter werdend mit Freundlichkeit und Liebe zu begegnen. Dann lasse ich mich mit dem Namen ansprechen, den ihr mir geschenkt habt: Christian Maria Oskar. Dann spüre ich neu eure Liebe und die Liebe, auf die ihr hinweist – die Liebe Gottes zu uns. Doch ich heiße nicht nur Christian, sondern auch nach Vati Oskar. Auch das ist wunderbar. Er ist für dich und mich eine Brücke, auf der ich um die Beziehung mit Gott ringen und sie immer neu entdecken kann. Es ist wunderschön, an ihn in meinem Namen erinnert zu werden. Er steht bescheiden auf dem letzten Platz und das stimmt: Er erdrückt mit seinem Wissen und Können nicht.

Doch dazwischen – also nach dem ersten Namen – stehst du, Anne, mit dem Namen deines Kindes Maria. Das ist für mich eine schöne Entdeckung. Das ist


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nicht selbstverständlich, einem Jungen auch einen Mädchennamen zu geben. Ja, es gibt auch andere, die ihrem Sohn den Namen Maria mitgegeben haben. Für euch war es im Krieg wichtig, dass ich diese Begleitung bekomme. Zum Glück habe ich euch behalten und du hast noch sieben Kinder ausgetragen. Doch eurer Anliegen war es, dass ich auch in Notzeiten durch meinen Namen begleitet werde. Dafür will ich mich an meinem Namenstag heute noch einmal besonders bei dir und bei euch bedanken. Ich schreibe gern euch, weil mir Vati auch nach seinem Tod ganz nahe geblieben ist und ich ihn in deiner Liebe auch ganz gegenwärtig spüre. Und so freue ich mich, dass du da bist und die Liebe in dir zu ihm weiter gegenwärtig ist unter uns. Diese Liebe ist nicht nur da, wenn du von ihm erzählst. Sie ist fast noch greifbarer, wenn du sie still lebst und wir mit dir eins sein können. Sie ist ja keine Leistung, sondern ein Geschenk für uns alle, doch zuerst für dich selbst. Diese Liebe zwischen euch über den Tod hinaus spüre ich in meinem Namen ausgedrückt.

Diese Liebe verändert sich und jeder bekommt einen Zipfel zu sehen. Du wirst dich wundern, was von dieser Liebe Gottes unter euch eure Kinder, Schwiegertöchter, Enkelkinder sehen konnten und immer neu entdecken. Wenn wir davon erzählen oder ganz selbstverständlich ausgehen, siehst du uns immer etwas ungläubig an, denn du kennst zuerst ja nur deine Liebe zu Oskar und weißt um den langen Weg mit ihm. Doch jeder von uns durfte einen eigenen Weg gehen. All diese Geschenke zusammen spiegeln die Liebe in vielfältigen Farben. Und so können wir immer wieder staunen.

Mein Namenstag ist ja für alle das Fest des Staunens, das Fest der Geburt eines neuen Menschen, eines ganzen Menschen ohne Wenn und Aber. Die vorbehaltlose Freude an diesem Tag ist ein wirklicher Grund zur Freude.

Auch meine Geburt hat euch offensichtlich mitten in allen Sorgen Freude gemacht. Sorgen hattet ihr genug: Du warst gesundheitlich bedroht, das ganze Land war durch den Krieg bedroht und darin Vati mit dem U-Boot irgendwo auf der Welt ebenso. Durch deine Freundin Irmi habe ich nochmals gehört, wie ihr beide mit mir eine Oase zeitweilig auf dem Land gefunden habt. Ihr habt mitten unter Millionen Menschen, die getötet wurden, überlebt und mein Leben schützen können. Für dieses Geschenk danke ich immer wieder Gott und euch, besonders wenn ich Kriegsflüchtlingen heute begegne und sehe unter welchen Traumata sie leiden.

Am Weihnachtsfest wird dieses Thema angesprochen mit dem Gedenken an Stephanus am zweiten Tag und etwas später im Gedenken an die Kinder, die in Bethlehem getötet wurden und in der Erzählung von der Flucht der kleinen Familie nach Ägypten.

Mit ganz viel Freude für den Namen, den ihr mir geschenkt habt.


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Von einer die auszog, das Fürchten zu lassen – Evelyn

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Meine Kinderzeit – ich lebte in einem Feenschloss und zauberte mir die Welt zurecht. Sie war bunt, verrückt und voller Märchen. Unser Garten war riesengroß – mein Kinderparadies. Ich war oft dort und erfand Märchen und Geschichten, die ich gern weiter erzählte. Diese Zeit war wunderschön.

Dann begann die Schule. Nach und nach zerbröckelte meine heile Welt. Auf einmal war es nicht mehr schön, ein Kind zu sein. Die Lehrer erlebte ich als streng und meist auch ungerecht. Meine Mitschüler waren eher das, was man heute cool nennt. In dieser neuen Welt war alles so schwierig. Im Sportunterricht wollte mich keiner in seine Mannschaft wählen. Was konnte ich auch schon mit einem Ball anfangen. Ja, im Bodenturnen war ich ein Ass. Aber wen interessierte das schon. Im Dorf war es üblich, bei großen Feierlichkeiten selbst gebackene Kuchen zu verteilen. Diese Aufgabe übernahm ich gern. Alte und einsame Menschen waren besonders dankbar. Ich war gern bei ihnen zu Gast – so konnte ich ihren Erzählungen vergangener Zeiten lauschen. In der Schule musste ich erleben, was es heißt, ein Außenseiter zu sein. Während die anderen fröhlich und voller Interesse am Leben waren, stand ich beiseite. Angst begann immer mehr mein Leben zu füllen. Inzwischen hatte ich vier Geschwister. Zu Hause gab es immer mehr Gängeleien und Streitereien. Auf dem Bauernhof meiner Großeltern war für meine Eltern Arbeit ohne Ende. Die Stimmung war oft sehr gereizt. Bisher hatte ich mein Leben eher kümmerlich bewältigt. Meine schöne Märchenwelt lag schon längst in Scherben und hatte der Realität Platz gemacht.

Ich schaffte es dann doch, in eine andere Stadt zu ziehen. Der Traum, Tänzerin zu werden, war schon längst vorbei. Ich konnte mir auch keinen Beruf für mich vorstellen. Schließlich gelang mir das Abitur und eine Berufsausbildung. Facharbeiterin für chemische Produktion. Ein Job, der in keiner Weise zu mir passte. Der Gott meiner Kinderzeit war auch erwachsen geworden. Mein „Glaube“ entwickelte sich und wurde intensiver. Es fiel mir deshalb schwer, einfach „aufzugeben“.

Als ich heiratete, dachte ich, dass der Glaube an Gott eine Garantie für die Ehe ist. Es brauchte Scheidung und viele Jahre des Stolperns, bis ich begriff – Gott lässt mich nicht fallen. Es bleibt unsere Entscheidung: Wenn wir „fallen“, wieder „aufzustehen“.

Mobbing – auch das stand auf der Liste meiner Erfahrungen. Für mich war es schon immer besonders schwer, Konflikte zu händeln. Ich musste es regelrecht lernen. Dafür hatte ich eine wunderbare Lehrerin gefunden. Immer


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wieder bekam ich Menschen an meinen Weg, die mir ein Stück weiter halfen. So heißt es lernen, mehr oder weniger jeden Tag.

Meine Tochter ist jetzt 28 Jahre, ich bin 48 Jahre. Als sie ihre Kinderzeit beendete, begann auch unsere Entfremdung. Ich war eine so schlechte Mutter. Wieder war es ein Weg über das Leid, der uns näher brachte. Ein Seelsorger war meine „Rettung“. Er durchbrach den Ring der Selbstverachtung. Kann ein Mensch zuhören, ich meine richtig zuhören, dann ist das ein so heilendes Erleben. Das kannte ich bisher nicht. Ich bin „in Ordnung“, auch wenn so vieles kaputt ist. Er empfahl mir eine Therapie. Für sieben Wochen hatte ich die wundervollste und schwerste Schulzeit. Ich habe diese Zeit als segensreich erlebt; dafür bin ich sehr dankbar. Ich möchte euch Mut machen, an Problemen nicht zu verzweifeln. Entdeckt wie wertvoll ihr seid, jeder auf seine Art. Entdeckt die Freude am Lernen und an der Veränderung.


Aus dem Kopf holen – Gudrun

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Ich war vorletztes Jahr mal wieder über Monate krank mit inneren Entzündungen und Permanentfieber, so dass alle Ärzte und Homöopathen, die mir bis dahin in ähnlichen Situationen gut hatten helfen können, endgültig mit ihrem Latein am Ende waren. Geholfen hatte mir dann nach langer Suche eine Shiatsu–Therapeutin mit dieser genialen japanischen Heilmethode, die Inneres und Äußeres miteinander in Verbindung bringt. Und dabei so manches Innere, das man bis dahin einfach immer weggedrängt hat, bevor man es überhaupt wahrnehmen konnte, wieder hervorzaubert und ihm dadurch die Notwendigkeit nimmt, den Körper in Krankheit zu stürzen, um auf sich aufmerksam zu machen. Ich war und bin immer noch ziemlich oft auf die Hilfe dieser Frau angewiesen und bin dabei einfach völlig fasziniert davon, was es ausmachen kann und was für Einblicke man in sich selber bekommt, wenn jemand einfach nur mit der richtigen inneren Einstellungen bestimmte Meridianpunkte berührt, an denen z.B. Energie „gestaut“ ist, wie die TCM–Leute das nennen. Was sich da lösen kann und was man überhaupt in sich wahrnehmen kann.

Nun waren letzten September meine Eltern hier zu Besuch. Sie brachten mir Quitten aus dem Garten mit, begutachteten meine eigenen Gärtnereien und wir hatten erstaunlicherweise einen richtig schönen Tag miteinander, voll geteilter Begeisterung für Natur, Wachstum und Ernte. Es war zwar schon auffällig, dass meine Mutter gesundheitlich ganz schön abbaut, aber trotzdem


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war es schön zu sehen, wie viel Energie sie bekam durch das geteilte gemeinsame Interesse. Als wir dann beim Mittagessen zusammen saßen, bekam mein Vater auf einmal so üble Migräneschmerzen, dass er sich nicht mehr aufrecht halten konnte und sich flach legen musste. Als Schulmediziner wirft er natürlich bei so was erstmal ordentlich Tabletten ein, aber das wirkte alles nicht mehr. Irgendwann konnte ich es nicht mehr mit ansehen, wie er litt und fragte ihn, ob ich vielleicht ein paar Shiatsu–Griffe bei ihm ausprobieren könne, um ihm irgendwie Erleichterung zu verschaffen. Und es muss ihm wirklich ziemlich dreckig gegangen sein, weil er das direkt annahm.

Ich hab ja nun eigentlich sehr, sehr wenig Ahnung vom Shiatsugeben, aber irgendwie hatte ich halt ein paar Punkte an den Füßen gegriffen, von denen ich aus eigener Erfahrung wusste, dass sie einen aus dem Kopf holen. Und es schien ihm zu helfen, dass ich sie hielt. Man spürte immer wieder Wellen von Verkrampfungen durch seinen Körper hindurchlaufen und den Weg über die Füße nach unten suchen. Plötzlich schien es mir, als könne ich durch diesen Körperkontakt meiner Hände in ihn hineinsehen. Konnte ganz anders spüren, WIE überfordert er sich von der Situation mit meiner Mutter fühlte, die immer mehr ein Pflegefall wird, das aber überhaupt nicht zugeben kann und eigentlich die ganze Last von Pflege zusätzlich zum Erhalt unseres großen Gartens und des für zwei Leute auch viel zu großen Hauses, meinem Vater aufbürdet. Und ich dachte in diese „Energiepunkte“ hinein: „Du musst doch nicht alles alleine schaffen. Du kannst doch Bescheid sagen, wo du Hilfe brauchst!“ Und in diesem Moment entspannte er sich so sehr, dass er einschlief. Als ich ihn später fragte, ob es ihm denn geholfen habe, meinte er, wenn die Schmerzen nicht plötzlich weggewesen seien, hätte er nie im Leben schlafen können. Und er bedankte sich total bei mir.

Meine Mutter hatte sich inzwischen auch hingelegt und beobachtete, was ich da machte. Ich hatte den Eindruck, sie sei irgendwie eifersüchtig auf meinen Vater oder fühle sich von mir nicht genügend gesehen. Und so fragte ich sie, ob ich so was bei ihr auch machen solle, denn Essen ist für sie schon eine ziemlich große Belastung; man weiß nie, ob das gut geht. (Neulich hatte sie mal wieder für 22 Stunden ‚nen Darmverschluss mit unvorstellbaren Schmerzen. Und weil sie ja keine Bauchdecke mehr hat, muss man dann immer Angst haben, dass die Hautdecke am Bauch die Spannung nicht mehr aushält und sie platzt!) Sie bejahte das und ich nahm mit gemischten Gefühlen ihre Füße auf. Ich muss zugeben, dass ich voreingenommen war, weil ich meine Mutter ja schon ein bisschen länger kenne und mir ein Bild von ihrer Energie gemacht hatte, die völlig zackig, eckig und in sich verkantet irgend-


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wo im Körper feststecken musste, um an allen möglichen Ecken und Enden ihres Körpers schlimme Krankheiten zu verursachen.

Aber dann war es ganz anders: Nie hätte ich erwartet, was mir da entgegen kam! Es war eine einzige Leere und Schwäche zu spüren, ein Nichts an Selbstbewusstsein und ein Nichts an innerer und äußerer Kraft. Und das von einer Frau, die jahrelang mit einer unbeschreiblichen und bis heute unbrechbaren Kraft eigentlich alle Menschen in ihrer nächsten Nähe terrorisiert und von sich abhängig macht. Ich hatte das Bild, einem dieser jugendlichen Amokläufer mit Maschinenpistole im Anschlag gegenüber zu stehen, der von sich selbst so wenig hält, dass er alle Menschen um sich herum umbringen muss, um sich nicht über ihren Spiegel dem eigenen Bild stellen zu müssen. Und es war angesichts dieser offen liegenden Qual eigentlich keine andere Haltung möglich als zu sagen: „Drück ab!“.

Aber dann stieg – wie einem beim Meditieren innere Gebete aufsteigen können, die zwar das Allerinnerste von einem ausdrücken, die man aber nie selber hätte formulieren können – der Satz in mir hoch und quasi durch meine Hände in ihre Füße und die dazugehörigen Meridiane hinein: „Es ist doch gut so, wie du bist!“

Ich saß quasi neben mir und staunte, dass so was aus mir heraus zu meiner Mutter herüber kommen konnte. Und mir fielen Szenen aus der Kindheit ein, wo ich meine Mutter mal mit meiner äußersten Kraft in den Schwitzkasten genommen hatte, damit sie meine kleine Schwester nicht in einem ihrer Tobsuchtsanfälle total zusammen schlägt. Was für eine unglaubliche Kraft es damals gekostet hat, zu versuchen ihrer Gewalt einen Rahmen zu setzen. Und wie grauenhaft das gewesen war, dieser Gewalt bis heute ausgeliefert zu sein! Und wie schmerzhaft das in der letzten Familienaufstellung gewesen war, von der Person, die für meine Mutter aufgestellt war, zu hören, sie wisse nicht, was das sei: Jemandem Schmerz zufügen. Und wie danach für mich so unendlich vieles endlich erklärbar geworden war, aber auch so unglaublich schmerzlich, weil dieses Gefühl bei ihr ja bis heute nicht existiert, weil in ihr so schrecklich viel kaputt gemacht worden ist … Und wie sie einen bis heute übelst verletzen und fertig machen kann ohne das selber merken zu können. Vor allem meinen Vater, der sie ja tagtäglich pflegt und der selber krank ohne Ende ist.

Und jetzt so ein Satz von mir zu ihr, das konnte ich mir selber eigentlich gar nicht glauben. War aber ja da.

Und dann ging mir auf, WIE anstrengend das für sie gewesen sein muss, allein ihre ersten vier Kinder in viereinhalb Jahren zu bekommen. Was für ein


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körperlicher Stress! Und wie komplett überfordert sie gewesen sein muss mit diesen starken Persönlichkeiten meiner ältesten Geschwister! Und dass ihre Härte diese Schwäche, die ich da eben unter den Händen gespürt hatte, wohl immer schützen musste, wurde mir verständlich.

Meine Mutter hat zu uns oft stundenlang über ihre Schmerzen und Krankheiten gesprochen, vermutlich wollte sie damit wenigstens ein wenig auf ihre Schwäche aufmerksam machen. Aber sie hat es immer in einem Tonfall der Anklage und des Vorwurfs gemacht, so dass sie alles Mitgefühl, das sie ja eigentlich so dringend von uns gebraucht hätte, im Keim erstickt hat. Und auch wenn sie heute Worte dafür benutzen würde, würden die nie, nie im Leben bei uns so ankommen können wie das, was ich da durch den Körperzugang an diesen bestimmten Energiepunkten gespürt hab. Weil mit den Worten schon soviel Zerstörung angerichtet worden ist, die zwar nicht unbedingt für immer mit diesem Worten verbunden bleiben muss, die aber das Verständnis schwer behindert. Da hatte der Körper etwas zur Sprache gebracht, was nie in Sprache vermittelbar gewesen wäre. Man kann dafür nur dankbar sein.

Tja, mal davon abgesehen, dass meine Mutter sich in dieser „Behandlung“ total entspannt hat, hat das ohne Worte unser Verhältnis grundlegend verändert, wenn auch immer noch sehr viel Schweres und viel, viel Traurigkeit mit ihm verbunden bleiben.


Wahrnehmung: Prosa und Lyrik – Enrico Neumann

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Wie eingeschränkt mag unsere Wahrnehmung sein, wie eingeschränkt das, was sich unserer Wahrnehmung entgegenstellt? In meiner Zurückgezogenheit, der ich nun seit beinahe vier Jahren fröne, lasse ich mich bereitwillig von philosophischen, religiösen und meditativen Gedanken verfolgen, um letztendlich aus der Gefangenschaft der (puren) Worte zu entfliehen, um nicht ein philosophisches oder religiöses Leben zu führen, sondern einfach ein bewusstes. Ein Leben, in dem ich mir sicher sein kann, die philosophischen und religiösen Grenzen, die unbestritten von Menschen erdacht sind, zu sprengen. Ein Leben, in dem schon erwähnter, bedrohlicher Zeigefinger keine Existenzberechtigung hat, denn seien wir ehrlich, besagter Zeigefinger tritt immer erst dann in Erscheinung, wenn die Angst zu seiner Benutzung rät. Mag es die Angst sein eigene Grenzen in Gefahr zu sehen, oder die Angst davor, dass der Entfliehende an selbiger Grenze zerbricht, aber die einzige Grenze, die hier existiert, besteht aus Angst. Und diese Angst wird genährt von Definitionen, die uns glauben lassen wollen, unsere Welt kann nicht schö-


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ner sein oder gar vollkommener, wie uns der Status quo oder die bestehende Ordnung weiß machen will.

Ich habe in meiner Eremitage keine Angst davor Gedanken zu denken, die mir klar machen, dieser Fehler war notwendig um zu erkennen, hier bist du vor Jahren falsch abgebogen. Und mit sanfter Gewalt schlage ich mir lächelnd an die Stirn, weil es so einfach ist, seine Triebe und anerzogenen Bedürfnisse zur Seite zu schieben um zusehen, was sich dahinter befindet, was in einer wortlosen Grenzenlosigkeit dahin schwebt und darauf wartet entdeckt zu werden. Ich atme Luft, als würde ich Wasser trinken und die herbstliche Luft genährt von vergilbenden Blättern zaubert die buntesten Farben vor meine geschlossenen Augen, die in einer Sonne leuchten, als wären alle Blätter mit einer dünnen Wasserschicht bedeckt. Und ich lasse mich fallen in diese dunkle Unendlichkeit, in der nichts anderes existiert wie meine Vorstellung von Schönheit, die von nichts umgrenzt wird, denn die Dunkelheit ist nichts weiter als unzählbar viele Farben, die übereinander gelegt auf mein Eintauchen warten. Und ich tauche durch sie hindurch, sehe Formeln aus der Mathematik, Formen aus der Geometrie, wie sie sich zu Gesetzmäßigkeiten aufbauen wollen, doch durch den sanften frischen Herbstwind, der durch die Balkontür strömt, neben der ich liege, wieder eins mit dem Rest zu werden. Weiter geht meine Reise an Orte, an denen ich noch nie war, die sich aus der farbigen Dunkelheit heraus schälen, die ohne jeden Zweifel existieren, in den Momenten, in denen ich an ihnen vorbei fliege. Ja, ich spüre die Einfachheit des Seins, wenn alles formlos ist, jeder Definition ledig und zu allem formbar. Lächelnd öffne ich die Augen, liegend auf den Matratzen, die plötzlich wieder eine Form angenommen haben und langsam, ganz vorsichtig drehe ich meinen Körper um die Spatzen und Meisen zu beobachten, wie sie abwechselnd die Brotkrumen aus dem Vogelhäuschen holen, was ich für sie, vielleicht zwei Meter von hier, angebracht habe.

Auf die Art verliere ich mich in einer Welt, die auch noch vorhanden ist, ein Schritt weiter existiert hinter allen Bedenken und Ängsten versteckt, hinter meinen geschlossenen Augen. Und die Welt davor, ich betrachte sie, „besinne“ sie, beobachte den Baum, der vor meinen Augen wächst, auch wenn mir sein augenblickliches Wachstum verborgen bleibt. Vor meinen Augen lasse ich eine weitere feste Definition ins Wanken geraten, die mir möglicher Weise gestern Wut und Zorn bescherte und ich schlage mir erneut lächelnd mit sanfter Gewalt, wegen meiner gestrigen Unwissenheit, gegen den Kopf. So suche ich meinen Glauben, nicht den, den ich gerne glauben will, sondern den,


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den ich glauben kann und sicher baue ich mir meinen eigenen, den, den ich auch verstehe, der gewiss seine Grundsätze hat, wo einer der ist, dass alles einen Sinn hat, den zu verstehen eine der schönsten Aufgaben ist.

Und „draußen vor der Tür“ sind es die (puren) Worte, die mich hindern mich auszudrücken und die Menschen, die meinen es besser wissen zu müssen. Die Menschen, die an ihrer Grenze gefangen hinter mir herschreien, dass es unmöglich ist den Weg zu betreten, den ich schon lange gehe und noch nicht erkannt haben, dass sie selber Grenzen hinter sich gelassen haben, von denen früher kein Mensch erwartet hätte, dass sie jemals fallen würden und täglich neue Grenzen niederreißen, doch sie anders wahrnehmen und in andere Worte fassen als ich. Dem ungeachtet nehme ich mir die Zeit, unterhalte mich mit ihnen, folge ihnen auf ausgetretenen Wegen, biege mit ihnen ab in die Welt ihres Individualismus, erfreue mich darüber, wenn wir mit den selben Worten in ein gemeinsames Universum eindringen. Doch mag dieser Austausch auch Stunden gedauert haben, es kommt der Moment, wo wenige Worte das gemeinsame Universum in zwei teilen, ein drohender Zeigefinger mir plötzlich etwas rät, was dem bisherigen Gespräch diametral entgegenwirkt und ich lächele anstelle einer Berichtigung durch Worte und sehe zum wiederholten Male ein, dass einzig ich es bin, der meine Welt verstehen kann, die sicherlich wahr ist, denn im Augenblick ist es ein Spatz, der die aus dem Vogelhäuschen gefallenen Brotkrumen von dem Balkonboden pickt.

Ich bin überzeugt, dass jeder zum vorliegenden Text sagen würde, „ja genau, so ist auch mein Innenleben“, hätte ich die Worte gefunden, die allgemein gültig das Gefühl beschreiben, was ich dabei empfinde.

Uns grüßen die Menschen aus einer anderen Welt,

einer unsichtbaren Welt, deren Zugang meist verstellt,

erlogen oder halb wahr versuchen sie zu erklären,

wie ihre Welt aussieht und wer sie gerne wären,

doch was sie sagen, kann man nicht sehen,

Welten übermalen, Gesetze verdrehen,

selbst was sie fühlen, ist ausgedacht,

von fremden Welten ward es mitgebracht,

die Liebe und das Glück unerreichbar oben stehen,

als wären sie was Fremdes, was zu erstreben ist,

wenn beides existiert, dann nur in der Erinnerung,

für ihr Jetzt und Später, gibt es nur die Hoffnung,


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ja, ja, der Mensch ganz allgemein,

ist mit sich immer ganz allein,

kein anderer da, der ihn was lehrt,

kein anderer da, der was bewirkt.


Auf dem Weg möchte ich mich bedanken für die Gastfreundschaft, die ich bei euch gefunden habe, an einem Ort, wo Menschen wohnen, die zuhören können ohne die Worte zu zerstören, weil sie nicht in ihr Bild passen, sondern das zu suchen verstehen, was in ihnen versteckt ist. Die Lyrik entstammt dem Doppelalbum „Dual“, der ersten CD „Diametral“, 2009


Möchtest du nach Golgatha gehen? – Karin + Michael Bretzinger

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Michael: „Jauli“ ruft an. Er sagt, er könne nicht am „Lobi“ teilnehmen. Am Lobpreis Gottes heißt das. Prima, antworte ich betont positiv und kriege gerade noch die Kurve zur Höflichkeit: Prima, dass du Bescheid sagst. Jauli singt gut, aber ich hör mir lieber was von Bob Dylan oder Johnny Cash an. Kurze Zeit später ruft Big John an. Er möchte vorbeikommen und mit meiner Frau Lieder singen, Lobpreislieder – aha! John ist in einem Kinderheim aufgewachsen, in einem katholischen. Dort lernte er früh, seine Hoffnung auf Gott zu setzen, weil sonst kaum einer für ihn da war. Vom Kinderheim ist er dann öfter abgehauen, geriet auf die schiefe Bahn. Doch jetzt singt er wieder – natürlich diese tollen Lobpreislieder, denn gerade in seinen dunkelsten Stunden hat er in Gott wieder seine Heimat gefunden. Von der Amtskirche ist er nicht begeistert. Er ist manchmal sehr traurig, aber manchmal auch sehr fröhlich. Das gefällt mir an ihm. Und dass er ein Erlöster ist, kann ich ihm nicht übel nehmen, seinen Gesang allerdings schon eher. John kommt gut mit unserer Tochter Theresa zurecht. Auch wenn diese manchmal etwas frech zu ihm ist, lässt er sich nicht abschrecken. Das ist mir wichtig, da höre ich mir denn auch Johns Lobpreis und den meiner Frau an. Aus dem Nachbarzimmer allerdings. Früher kam er zusammen mit dem Gitarren–Heinrich. Stundenlang haben die dann mit meiner Frau gesungen, und manchmal mit Fedja noch dazu, die noch ihre zwei Kinder mitbrachte. Da lag Musik knüppeldick in der Luft. Ein Lied aus dieser Zeit ging meiner Tochter und mir allerdings nicht mehr aus den Ohren: „Möchtest du gern nach Golgatha gehn? Es ist Kraft in dem Blut, Kraft in dem Blut … Es ist Kraft, Kraft, wunderbare Kraft in dem Blut – zack, zack, zack, in dem Blut, zack, zack, zack.“ Gitarren-Heinrich


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war immer auf der Suche nach den echten, starken Liedern. Vor allem war er sehr kinderfreundlich und hatte eine große Offenheit in religiösen Dingen. Da spürte ich so was wie Freiheit, aber die echten, starken Lieder waren nix für mich. Unsere Tochter sang sie dafür um so lieber: „Wenn Gottes Geist auch uns erfasst, wie David tanzen wir, wie Dahivid …“

Einer aus meinem säkularen Bekanntenkreis meinte einmal, ich solle nicht so komische Leute in die Wohnung lassen. Solche Spinner könnten meine Familie ruinieren. – Ich kann nicht warten, bis die tollen Hechte kommen, sagte ich ihm. Im Gegenteil: Als wir nach der Geburt unserer Tochter isoliert von der Außenwelt waren, ließ ich sogar die Zeugen Jehovas in die Wohnung. Unser Kind sollte menschliche Sprache hören. Begeistert haben die mich nicht, aber ich las gerne mit ihnen in der Bibel. Als die eine Zeugin von ihren Kindern, von ihrem palästinensischen Mann und gar noch von ihrer Krankheit erzählte, wurde sie mir sogar sympathisch. Bei ihren Bibelauslegungen bekam ich ab und zu Aggressionen. Aber auch sie hatten einige Perlen zu verschenken: „Die Sanftmütigen werden die Erde regieren.“ Die glauben an so was, das gefällt mir, ich wünsche ihnen, dass sie das schaffen mit der Sanftmut. Ich habe es im Umgang mit ihnen nicht immer geschafft, sanftmütig zu bleiben, aber als die erwähnte Zeugin erzählte, sie käme nicht in den Himmel, war ich für einen kurzen Moment sogar zur Feindesliebe fähig. Das werden sie doch wohl packen, tröstete ich sie. Obwohl ich selbst mit Himmel nichts anfangen kann, glaubte ich das jetzt einfach, was ich ihr sagte.

Seit einigen Jahren findet bei uns in der Wohnung ein christlicher Hauskreis statt. An sich hatte ich zu Anfang mal die Einstellung, Religion sei eher was für Kinder und alte Leute, Erwachsene dagegen sollten sich mehr mit Philosophie, Politik, Fußball usw. auseinandersetzen. Die schönen Hauskreis-Gesänge kamen mir vor wie Kinderlieder. Gerade deshalb war ich sofort für eine solche Veranstaltung. Kindgerechte Kultur für unsere Tochter halt, die sich anfangs auch immer über diese Veranstaltung freute. Jetzt interessiert sich unsere Tochter nicht mehr für diesen Hauskreis sondern für ihre türkischen Freundinnen, aber mir gefällt es ganz gut da. Das liegt vor allem an dem Leiter, dem Emmaus-Bruder Franz, der unaufdringlich über biblische Themen spricht. Als es mir da auch mal zu extrem christlich wurde, als zu viele Leute so taten, als kannten sie Jesus persönlich, wünschte ich mir, dass mal ein paar anständige Atheisten vorbeikommen würden. Es kam dann ein Jesuit, Christian, ein Bruder, der den engen Rahmen der herkömmlichen Bibelinterpretation mal hinter sich lassen kann und später dann kam ein aus der Kirche ausgetretener Religionskritiker, der den Papst Johannes den 23. sehr schätzt. Religionskritik ist wichtig, kann aber auch langweilig sein, weil man


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immer leicht im Recht ist, wenn bestimmte Päpste kritisiert werden. Durch diese Kritik vor allem habe ich das Singen im Hauskreis schätzen gelernt, als Erholung oder als Ruhepause vom gesprochenen Wort.

Mit unserer Tochter Theresa und ihren drei türkischen Freundinnen gehe ich hin und wieder wegen der Musik und dem Prediger in die City-Kirche. Die Kinder tanzen dort gerne. Weil sie aber zu schüchtern sind, muss ich da mit tanzen. Da tanzen wir dann in liebevoller Umgebung wie „David, wie David, wie David tanzen wir.“ Vielleicht besser wie „Abraham, wie Abraham …, da drei von uns Moslems sind und ich alt aussehe. Vor einem Monat waren Roza, Theresa und ich in der „jesus miraculous church“, eine nigerianische Frei-Kirche, in der das Hochzeitsjubiläum von Reverend Bismarck und seiner Frau Maureen gefeiert wurde. Die Kirche dröhnte von lauten und übersteuerten Musikinstrumenten. Doch dann sang der Chor, und ich fühlte mich like knocking at heaven`s door. Leider bekamen die Kinder Hunger und holten mich wieder auf den Boden.


2) So, jetzt meine Frau Karin – die Anti-These:

Im Frühjahr vor oder nach Pfingsten waren wir für ein paar Tage in der Klosterherberge Ützdorf. Leider war Sonntagmorgen weit und breit kein Gottesdienst und so nahmen mich zwei Diakonissinnen mit dem Auto mit ins entferntere Lobetal. Die Leiterin der Klosterherberge, Schwester Petra, brachte mich auf die Idee, doch einfach mit den beiden älteren Damen mitzufahren. Da niemand den genauen Weg wusste, auch niemand so richtig aus den Autokarten schlau wurde, verfuhren wir uns mehrmals. Überhaupt war die Autofahrt mit den beiden älteren Damen irgendwann dann doch zu anstrengend für mich geworden, und das, obwohl ich mich eigentlich immer sehr gerne mit neuen Menschen treffe und unterhalte. Ich weiß nicht mehr, an was es so genau lag. Auf jeden Fall war ich während und kurz nach der Hinfahrt irgendwann emotionell sehr überanstrengt und sehr kaputt von allem. Ich wusste nicht genau, ob sich die beiden älteren Frauen am Abend zuvor oder am Morgen vielleicht von der kleinen Theresa gestört gefühlt haben könnten. Es war unklar. Sie schienen kein großes Interesse an uns zu haben. Aber genau das tat weh, war das Anstrengende – trotzdem auf sie nun angewiesen zu sein. Der einen Diakonissin, die rechts hinter dem Lenkrad saß, hörte ich gerne zu. Sie konnte sich sehr schön ausdrücken und war wohl sehr gebildet. Ihre weiche norddeutsche Aussprache klang auch schon wie Musik in meinen Ohren. Endlich erreichten wir Lobetal.

Schon auf dem Weg zur Kirche hin begrüßten uns ganz freundlich die Behinderten. Ein paar kamen sogar ganz direkt auf mich zu – ließen die Diako-


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nissinnen unbeachtet stehen und schüttelten mir die Hände –, als ob ich ein Ehrengast wäre oder jemand ganz Besonderes, auf den sie schon lange gewartet haben. Sie haben eine seltsame Anziehungskraft auf diese Menschen, bemerkte die eine Diakonissin. Mit meinen überlangen Zöpfen und meiner vielleicht manchmal allzu flippigen Kleidung könnte ich ja wirklich wie eine Figur aus dem Märchen (Frau Holle oder so) auf sie gewirkt haben. Oder weil die Behinderten ganz einfach meine Sympathie für sie spürten. Nach der anstrengenden Autofahrt und der für mich etwas zu distinguierten Sprache, der ganzen Situation mit den beiden Diakonisssinnen, war ich dann doch sehr erleichtert endlich mal wieder auf ein paar „normale Menschen“ zu treffen. Natürlich waren wir trotz Zeitverlustes überpünktlich und viel zu früh.

Mitten auf dem Gang ließ sich ein Behinderter einfach grundlos auf den Boden fallen. Auf dem Kirchboden kugelte er hin und her. Ein anderer half ihm wieder auf. Ich war zuletzt hinter den Diakonissinnen in die Bankreihe eingetreten, stand also ganz außen links dem Gang zu, als mich plötzlich ein Behinderter rechts in meine Flanke stieß, sich einfach neben mich stellte und mir das Gesangbuch aus der Hand riss. Dann tat er so, als ob nichts gewesen wäre. Huuuch, das fing ja schon gut an! Kaum hatte ich mich davon erholt, kam noch ein anderer Behinderter, der Streit mit dem neben mir Stehenden bekam und zwar darüber, wer neben mir stehen darf! Ein strenger Geruch lag in der Luft. Trotz alledem: Ich fühlte mich in dieser lebendigen Kirche sofort wohler als in den meisten anderen Kirchen. Endlich begann dann der Gottesdienst: Es spielte die Orgel mit einem Blasinstrument ein anspruchsvolleres klassisches Stück aus der Barockzeit. Ästhetisch einwandfrei – ohne dem Rufen, Zischen, Schreien, dem ganze Durcheinander der Behinderten bestimmt „CD-reif“.

Nach der Ansprache wurde das Gemeindelied gesungen: „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist“. Schon bei diesem ersten Lied stiegen mir einfach so die Tränen in die Augen. Ich war so gerührt über das intensive Singen der Behinderten – so falsch, so dissonant und doch so schön. Ihre Inbrunst, ihre Überzeugtheit, ihre Hingabe mit der sie sangen. Nur mit aller Mühe konnte ich da schon meine Tränen gerade noch so unterdrücken. Nach der Predigt war es, glaube ich, bei dem Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ (die Fassung von Dietrich Bonhöffer), als es mich beim Singen und beim Anblick dieser Behinderten einfach nur noch so schüttelte vor Tränen. Die Tränen hörten nicht mehr auf. Auch die Kälte der beiden Diakonissinnen (deren eventuelle Beurteilung/Verurteilung meiner Tränen) machte mir jetzt nichts mehr aus. Seit diesem Tag bin ich bescheidener geworden mit meinen viel zu hohen musikalischen Ansprüchen. Mein ganzes Leben war ich doch


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hinter dem richtigen Song, hinter der richtigen Stimme, hinter dem richtigen Instrument, der absoluten musikalischen Schönheit her gewesen. Seit diesem Tag habe ich ich den festen Glauben, dass Gott nicht meinen perfekten schönen Gesang, mein perfektes Gebet, mein perfektes theologisches Bibelwissen von mir möchte. Er möchte nur eines, mein Herz. Die Kirche ist seit diesem Tag für mich keine Bühne mehr, kein Theater, Veranstaltungsort mehr, sondern sie ist zum Ort und Raum geworden, in dem ich mein Innerstes zu Gott bringen kann. Meinen Gott lieben und ihm das mitteilen, ihm alles von mir zu erzählen – in welcher Form auch immer. Das erlaube ich mir seit diesem Tag. Nicht schön, sondern wahr soll mein Loblied sein. Halleluja!


Ulla – Peter Vollmer

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Eines Abends läutete das Telefon. Sonja war am Apparat. Sonja, von der ich seit mehr als 10 Jahren nichts mehr gehört hatte. Länger als ein Jahr sind wir samstags zusammen schwimmen gegangen. Sonja, meine beiden eigenen Töchter und meistens auch meine Frau Verena.

Mit Sonjas Mutter Ulla verbanden mich politische Ideale. Ulla und ich, wir trafen im Berliner Wedding in der Großmaschinenfabrik von AEG in der Brunnenstraße zusammen. Beide hatten wir uns nach 1968 dafür entschieden, in einem Großbetrieb zu arbeiten. Zusammen mit den Menschen, mit denen wir uns für eine gerechtere Gesellschaft einsetzen wollten. Eines Tages hörte Ulla bei AEG auf. Ich weiß heute nicht mehr warum. Wir verloren uns aus den Augen. Das gemeinsame Schwimmen fand nicht mehr statt. Dann der Anruf.

Sonja rückte sogleich mit der Sprache heraus: Peter, Ulla wird nur noch eine Woche leben, sie möchte dich noch einmal sehen. Sie hat aber schon soweit mit dem Leben abgeschlossen, dass sie nicht mehr spricht. Willst du dir das zumuten? Ich erklärte mich einverstanden. Sonja erzählte dann, dass sie gemeinsam mit Ulla ein Sterbebegleitseminar mitgemacht hätte. Bei und mit einem Mann aus Peru, Indigener, Mitglied eines Indianerstammes; ich weiß nicht mehr genau welcher. Ulla sei ganz ruhig geworden, alle Angst wäre von ihr gewichen, sie beide planten nun Ullas Beerdigung. Und sie würde eben mich gerne noch einmal sehen. Ich dürfe keinen Schrecken kriegen. Ulla wäre völlig abgemagert, hätte keine Haare mehr, sie wolle mir aber vorher noch ein Foto schicken. Das Foto traf am nächsten Tag ein, Mutter und Tochter. Ich habe Ulla kaum wieder erkannt. Sonjas Kommentar auf dem Foto: Ist


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sie nicht schön? Für mich ganz schön gewöhnungsbedürftig. Der Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte ihr mächtig zugesetzt, sie schon nahezu aufgefressen. Sonja verabredete uns am darauf folgenden Tag zu einem Spaziergang.

Sonja machte mir die Wohnungstür auf und holte ihre Mutter. Ich war ja vorbereitet, schloss Ulla fest in meine Arme. Es fiel mir schwer, nichts zu sagen. Wir gingen eingehakt die Treppe runter, stiegen ins Auto, fuhren in die Straße des 17. Juni, parkten am Straßenrand, stiegen aus und gingen in den Tiergarten. Die Sonne schien. Es war ein herrlicher Tag. Wir liefen bald eine Stunde durch den Park, Seite an Seite, mein rechter Arm hielt sie fest, ich drückte sie an mich. Dann wurde Ulla das Laufen zu viel und wir legten uns auf meinen Mantel ins Gras. Die Sonne spendete Wärme, sie strahlte uns durch die Glieder. So lagen wir lange bei einander. Ich hatte das Gefühl, noch nie so laut geschwiegen zu haben. Die Gedanken rasten in meinen Kopf in einer solchen Intensität, dass Ulla sie vielleicht hat empfangen können, wer weiß. Wer weiß, was sie gedacht hat. Sie war ganz ruhig. Dann standen wir wieder auf, gingen zum Auto, fuhren zurück, gingen die Treppe hoch, klingelten, Sonja machte auf. Ulla und ich, wir umarmten uns, ein letzter Blick, dann verschwand sie auf Nimmerwiedersehen. Zwei Tage später war sie tot.

Das erzählte mir Sonja bei ihrem zweiten Anruf. Und sie erläuterte mir, wie Ulla die Beerdigungsfeier gerne hätte. Dazu muss man wissen: Ulla hatte in ihrem Leben ganz verschiedene Phasen durchlaufen. Ausgebildet als Kindergärtnerin – heute Erzieherin – hat sie einige Jahre in Kindertagesstätten gearbeitet. 1968 entschied sie sich, als Arbeiterin in einen Großbetrieb zu gehen, bei AEG habe ich sie so kennen gelernt. Später zog sie von Berlin fort nach Hamburg und arbeitete dort als Arzthelferin. Jedes Mal hatte sie sich mit neuen Menschen angefreundet. So kam es, dass sich die Freunde aus den verschiedenen Lebenswelten gegenseitig nicht kannten, jeder kannte eben nur einen Ausschnitt aus Ullas Leben. Und das wollte Ulla nach ihrem Tod noch ändern, ihre liebsten Menschen zusammenführen, ihnen ein gemeinsames Bild von sich vermitteln.

So hat Ulla selbst gemeinsam mit ihrer Tochter die Teilnehmerliste zusammengestellt. Eine Woche vor ihrem Tod hatten die beiden aus ihrem Notizbuch die Namen und Adressen herausgesucht. Und Ulla legte fest: Jeder soll auf der Feier zwei oder drei Minuten etwas über seine Beziehung zu ihr erzählen. Auf diese Weise wollte sich Ulla allen Freunden in Gänze – und nicht nur fragmentarisch – ins Gedächtnis eingraben. Und lustig sollte es zugehen, kein Trübsal geblasen werden.


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Die Feier fand wie geplant statt. Ungefähr fünfzig Menschen hockten auf dem Boden in Sonjas Wohngemeinschaft. Jeder erzählte, es entstand für alle ein ganzheitliches Bild von Ulla, so kannte sie keiner. Ulla erschien für alle in einem neuen Licht. Aufregend. Sonjas WG war von Lebendigkeit geprägt, alle Mitglieder spielten Theater oder machten Musik. Sonja lernte gerade Saxophon. Und so wurde nach der gemeinsamen Vorstellung, das vervollständigte Bild von Ulla vor Augen, schließlich musiziert und fröhlich getanzt. Ganz nach Ullas Geschmack. Das war eine Feier der besonderen Art. So etwas hatte ich noch nicht mitgemacht. Ich war mächtig aufgewühlt und schwer beeindruckt. Ulla ist mir in freudiger Erinnerung.


Rede für einen fremden Freund – Dietrich Schirmer

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Tschuldigung, dass ick ihnen wieder stören tu. Aber ick brauch mal ihre Hilfe. Ich war nämlich im Knast, 14 Taje. Und wissen‘s warum? Det jloben se nich. Bloß weil ick bei der BeVag meine Rechnung nicht bezahlt hab. Und dafür jleich 14 Taje!? Wie finden‘s das? Erst haben‘s mir den Strom abjestellt. Da war alles duster. Aber det Jeld hat ick torzdem nich. Und nu hab ich och kehns. Können‘s mir da mal helfen?“

Solche Geschichten höre ich seit vielen Jahren von ihm. Wo immer ich hinzog, er fand mich und hatte immer eine neue Geschichte, um zu begründen, warum er Geld braucht – aber auch mal eine neue Brille, einen Wintermantel, ein Paar Schuhe. Was er mir erzählt, klingt manchmal ausgedacht. Aber ich bin nicht das Sozialamt, nicht das Amtsgericht, nicht die Wohnungsbau-Gesellschaft, die von Amts wegen prüfen müssen, ob der verschuldete Bürger auf Befragen die Wahrheit sagt. Und „de Behörde“ behandelt ihn immer abweisend ohne Verständnis für seine Lage. Ich verstehe nur, dass man mit 349 € im Monat nicht auskommt, zumal wenn man die paar Kröten nicht gut einteilen kann. Da reißt jede Extra-Ausgabe tiefe Löcher. Ich wäre auch spätestens in der dritten Woche pleite und wüsste nicht, wie man mit solchem Betrag über die Runden kommen soll.

Mein fremder Freund hat nie in seinem Leben für längere Zeit Arbeit gehabt. Ungelernt, vielleicht von früh an mit großen Schwierigkeiten in der Schule, gab es nur kurze Tätigkeiten für ihn und die Erfahrung, eigentlich nirgendwo gebraucht zu werden. Da blieb schon bald nur die Straße und die Bitte um Hilfe an den Türen. Wie das gekommen ist, das hat er nie erzählt. Überhaupt


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lässt er nicht in sich hineinkucken. Inzwischen ist er mehrfach krank und sehr vereinsamt – in einem riesigen Wohnsilo am Stadtrand. Immerhin in einer Ein-Raum Wohnung und mit Betreuung, die er aber kaum an sich heran lässt. Sein Misstrauen ist mir verständlich, angesichts der Erfahrungen, die er gemacht hat, vor allem „mit de Behörde.“ Vielleicht ist auch manches Krumme gewesen in seinem Leben. Wer redet darüber schon von sich aus?

Eines Tages sagte er: „Wenn ick mal sterben tu, da will ick nicht so verbuddelt werden, irgendwo.“ „Haben Sie eine Idee?“ – fragte ich ihn. „Ja, ick möcht bei meinen Eltern liegen.“ Das scheint ihm wichtig zu sein, sein letzter Ruheplatz. Aber wie kommt man da hin, wenn es einmal so weit ist? Der Friedhof war bald gefunden. „Ja, hier können wir auch Sozialbestattungen machen. Mit anonymen Grabstellen, aber auch mit einem kleinen Blechschild auf dem Rasen. Da steht dann der Name des Verstorbenen drauf. Das kostet aber zusätzlich.“ So die Auskunft der Friedhofsverwaltung. Beim Sozialamt heißt es: „Wir können nur Sammelbeerdigungen bezahlen und natürlich auf einem Friedhof, den unser Amt als den zur Zeit billigsten herausfindet. Für Extrawünsche sind uns die Hände gebunden. Na, und für den da, für den sie fragen, schon gar nicht. Wenn sie wüssten, wie der uns nervt.“

Warum macht sich mein fremder Freund jetzt schon Gedanken über seine Grabstelle? Und warum will er bei den Eltern liegen? Es sind vielleicht die Einzigen, zu denen er Nähe verspürt hat – so oder so. Was hält er von einem Schild mit seinem Namen? „Na, ick hab doch gar kehn Jeld für sowas. Und für de Behörde bin ick doch gor nischt. Wer will denn schon nach mir kieken? Tot ist tot.“

Ist das Leben eine solche Nichtigkeit? Ich glaube, für ihn nicht. Er will – wie jeder Mensch – etwas sein. Warum erzählt er mir seit 35 Jahren seine Notlagen? Er will doch nicht nur einfach Geld. Er will angehört werden. Er will seine Lage begründen. Er sucht die Schuldigen. Er empört sich über die Zustände. Und er sieht, dass sie nicht nur ihn betreffen. Es ist ein großes Unrecht in der Welt. Dagegen will er klagen. Und er sucht Menschen, die ihn darin bestätigen. Das hat in meinen Augen eine wichtige Funktion: Klage führen gegen unmenschliche Verhältnisse, Bundesgenossen suchen, das Leben nicht wegwerfen, der Gerechtigkeit auf der Spur.

Mir ist er zum Freund geworden, ein Fremder aber auch. Ich habe es so viel besser gehabt als er. Es liegen Welten zwischen uns. Aber er lehrt mich, das


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Leben aus seiner Perspektive zu sehen. Seine Lage ist die Lage von Millionen von Menschen. Er bittet nicht nur um Geld. Er zeigt mir konkret, was los ist in unserer Gesellschaft. Er hält meinen Protest wach. Er setzt mich in Bewegung. Er rührt mein Gewissen an. In ihm begegnet mir …

(siehe Matthäus 25).


Verletzt – Lioba Zodrow

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An meinem Weg durch unser Viertel sitzt oft eine Frau, die kaum älter ist als ich. Ihre ganze Habe trägt sie in einer Plastiktüte, ihre Kleider trägt sie in vielen Schichten übereinander. Sie bettelt nicht, sie sitzt einfach in Hauseingängen und schaut auf ihre brennende Zigarette.

Unsere Kinder wissen inzwischen, dass sie immer eine Gabe aus unserem Budget bekommt. „Ob wir sie nicht mit nach Hause nehmen könnten?“, fragen sie natürlich. Unsere Adresse kennt sie. Sie weiß, dass sie, wenn sie mehr Unterstützung sucht als unseren Obulus, jederzeit fragen könnte. Ich versuche immer wieder, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Je nachdem, wie es ihr gerade geht, gelingt es mehr oder weniger gut. Meist sagt sie nur, es „geht gut“, mehr will sie nicht. Sie kommt aus Norddeutschland. Dort musste sie weg. Über ihre Familie will sie nicht sprechen. Nur, dass es ihr dort überhaupt nicht gut gegangen ist – und dass ihr Leben hier nun besser ist. Manchmal sind ihre Augen klar und dann schaut sie uns offen an. Und manchmal ist da wirklich ein Lächeln und eine Ahnung, wie schön sie ist und dass so viel mehr in ihr steckt als tatenlos auf der Straße zu sitzen. Ich kann nur ahnen, dass ihre Geschichte furchtbar sein muss.

Inzwischen kennen wir viele solcher Geschichten von Menschen, die in ihrem Leben tief verletzt worden sind. Der deutsche „Runde Tisch Heimerziehung“ und internationale, interdisziplinäre Forschungsarbeiten zum Umgang europäischer Gesellschaften mit ihren schwächsten Mitgliedern, den Kindern aus prekären Lebensverhältnissen, fördern seit einiger Zeit erschreckende Fakten und Daten aus unserer Kindheit zutage.

Die behütete Kindheit, die mein Mann und ich in den 1960er und 1970er Jahren hatten, war ein Geschenk. Meinen Geschwistern und mir, meinem Mann und seinen Geschwistern hat keiner gedroht: „Wenn du böse bist, kommst du ins Heim!“ Uns hat kein Lehrer geschlagen. Uns hat kein Priester oder Ordensmitglied misshandelt und auch unsere Eltern sind von solchen Erfahrungen verschont geblieben. Aber in unserem Freundes- und Bekanntenkreis häufen sich, seit wir offen fragen, die Berichte aus der eigenen Generation


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oder aus der der Eltern von kleineren oder größeren Übergriffen in der Familie, im Internat der 1970er Jahre, im Kinderheim nach dem Krieg, durch Religionslehrer … Die Wirtschaftswunderjahre, die Wirtschaftswunderkinder – viele von uns sind tief verletzt von den Spätfolgen eines mörderischen Regimes, eines mörderischen Krieges. Es genügte, unehelich geboren zu sein. Es genügte, Scheidungskind zu sein. Es genügte, aufmüpfig zu wirken. „Das Heim“ hing drohend über der Kindheit.

Die Klassenlehrerin unseres jüngeren Sohnes besprach mit den Zweitklässlern das Thema „Schule heute und früher“. Sie erzählte von ihren Erlebnissen in einer Grundschule im Ruhrgebiet Ende der 1960er Jahre. Die Kinder waren tief schockiert: „Wenn mich eine Lehrerin so geschlagen hätte, hätte ich zurückgeschlagen, ich hätte die verprügelt und die Polizei geholt!“ Dass in unserem Land über Generationen die Obrigkeit absoluten Gehorsam von den Untergebenen verlangte und sie zu diesem Zweck das Fürchten lehrte, und genauso dann Eltern mit ihren Kindern umgingen, das ist zwar eine Erklärung, aber letztlich bleibt bei den Kindern völliges Unverständnis. Was ich ihnen (noch) nicht sage: „Wenn du zurückgeschlagen hättest, damals, wärst du in ein Heim gekommen!“


Hallo Christian,

Alex Spencer hat mir geschieben das Sie vielleicht mein music video auf ihre website Exerzitien auf der Strasse einkleben/einbetten [ist das richtig?] wollen. Ich bin darüber froh. Hier ist das Embed link: http://www.youtube.com/v/Ws8Z1IO5VjA?fs=1&hl=en_US oder einfacher das link zur youtube seite: http://www.youtube.com/watch?v=Ws8Z1IO5VjA danke

tschuss

Joel


Wo bist du, Gerechtigkeit? – Alex Quirox

Die Gerechtigkeit, von der so viele sprechen.

Die wahre Gerechtigkeit? Die, die auf der Seite der Völker steht,

die Gerechtigkeit, die es nicht interessiert, ob meine Hände schmutzig sind,

meine Kleidung mit bunten Flicken ausgebessert ist,

die Gerechtigkeit, die für alle ist, von den Benachteiligsten

bis zu den Einflussreichsten,

die Gerechtigkeit, die mit dem Gesetz der Farben, den Gesetzen von Kultur

und Nationalität bricht,

die Gerechtigkeit, die die Herzen der Bauern erfüllt,

die Gerechtigkeit der Arbeiterschaft,

derer, die ohne Stimme sind und die ihr Leben zugrunde richten

mit harter Arbeit unter der brennenden Sonne,

und deren einziger Lohn Misshandlung und Erniedrigung ist,

einzig deshalb, weil sie mitten in Elendstrümmern geboren wurden,

konfrontiert mit einer Realität, die sie schon immer begleitet hat,

bereits von Geburt an.

Ist das die wahre Gerechtigkeit?



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Wenn ich das Essen in die Mülltonnen werfe,

weil ich müde und übersättigt bin,

wenn andere die Krümel sammeln, die vom Tisch gefallen sind,

oder den Abfall, den ich weggeworfen habe.

Ist das die wahre Gerechtigkeit?

Ich weiß es nicht, es ist möglich, dass ich mich irre.


Wenn ich umherlaufe, sehe ich viele Kinder, die verlassen sind

und ohne die schützende Wärme einer Familie.

Gibt es dich dort Gerechtigkeit?


An den roten Ampeln nähern sie sich

und reinigen die Scheiben meines Autos,

nur um eine Münze zu bekommen oder einfach ein Lächeln

und ich sage ihnen: „Verschwindet, ihr schmutzigen Jungen,

ihr Lebensmüden, ich brauche eure Hilfe nicht.“

Ist das die Gerechtigkeit?


Wenn es doch Tausende von Müttern gibt, die allein sind, verlassen,

mit ihren Kindern,

wenn es in den Krankenhäusern an Medikamenten mangelt

und viele deshalb sterben.

Ist das die wahre Gerechtigkeit?


Wo bist du, Gerechtigkeit?

Deckst du vielleicht die zu, die frieren oder doch eher die,

die schon in Decken gehüllt schlafen?

Ich weiß es nicht. Es ist möglich.

Vielleicht versteckst du dich in den Gedanken der Machthaber, der Großen,

derer, die mein Land führen,


der Millionäre letztlich, jener, die mit dem Schweiß der Ärmsten

zu Millionären werden.


Bist du dort Gerechtigkeit?


Oder bist du in den sozialen Ungleichheiten, an den Grenzen

oder in den Identitätspapieren,

da, wo das Recht gebrochen wird, inmitten der Kriege?

Bist du da Gerechtigkeit?



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Warum versteckst du dich? Wenn so viele nach dir rufen!

Komm, Gerechtigkeit, geh nicht von mir!

Bleibe an der Seite derer, die dich brauchen

und die dich immer brauchen werden!


Alex Quirox, 27 Jahre alt, lebt in dem Randbezirk Nueva Suyapa von Tegucigalpa, Honduras.

Schon als kleiner Junge hat er an den Straßenbibliotheken der Bewegung ATD – Vierte Welt teilgenommen und gehört heute selber zu denen, die die Straßenbibliotheken organisieren, um den Kindern seines Viertels eine Alternative zu Drogen und Jugendbanden zu geben.


Die Kraft, die das Wort der Opfer hat – Klaus Mertes

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Zu den bewegenden Erfahrungen der Tage nach dem Bekanntwerden der Missbräuche am Canisius-Kolleg in den 70er Jahren bis 1981 gehört für mich die Debatte um den Begriff „Überlebende“ statt „Opfer“. Christian Herwartz und Patrick Zoll hatten das Wort „Überlebende“ erstmals im Einladungstext für das Gebet der Jesuiten am Aschermittwoch in Maria Regina Martyrum benutzt. Die Formulierung löste unter uns sofort Proteste aus. Mich selbst schüchterte die Kritik ein wenig ein: Hier würde Öl ins Feuer gegossen und sprachlich unnötig zugespitzt; hier würde ein Begriff aus dem therapeutischen Zusammenhang gerissen und fahrlässig in die öffentliche Debatte übertragen. Doch die Anregung, die in diesem Streit um Worte liegt, ließ mich nicht los. Herausgekommen ist dabei ein Text, den ich Ostern im Tagesspiegel veröffentlichte:

Ich bin noch nicht so weit, aus einer Beobachterposition heraus über die Lawine sprechen zu können, die mein Brief vom 20.1.2010 an die betroffenen Jahrgänge des Canisius-Kollegs der 70er und 80er Jahre ausgelöst hat. Ich bin noch nicht einmal so weit ermessen zu können, wie groß die Lawine ist, die in diesen Tagen über die Kirche hinwegfegt, über Schulen, Vereine und Familien, über Deutschland, Holland, Europa. Doch beeindruckt mich in diesen österlichen Tagen und Wochen die Kraft, die das Wort der Opfer hat. Es hat eine Lawine zum Rollen gebracht und hält sie am Rollen. Alle Versuche der Angesprochenen, sich der Wucht der Lawine zu entziehen, erweisen sich als ohnmächtig. Im Gegenteil: Sie verstärken die Lawine.


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Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt rütteln an den Grundfesten von Kirche und Gesellschaft. Sie gefährden die Fähigkeit zu vertrauen. Ohne Vertrauen kann keine Gesellschaft leben. Kontrolle ist zwar gut, aber Vertrauen ist besser. Das wird besonders deutlich gerade an den Beziehungen, in denen Vertrauen prinzipiell niemals von Kontrolle ersetzt werden kann – in den asymmetrischen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Ärzten und Patienten, Seelen und Seelsorgern. Die Schutzbefohlenen geben in diesen Beziehungen – mehr unbewusst als bewusst – einen einseitigen Vertrauensvorschuss. Gerade deswegen sind sie auch besonders wehrlos und ausgeliefert. Durch das, was sie sind, sind sie unvermeidlich auf Schutz und Fürsorge angewiesen. Es ist gut, wenn in den letzten Jahrzehnten Gewalt in diesen intimen, asymmetrischen Beziehungen öffentlich sichtbar gemacht worden ist und als Straftatbestand gilt. Aber man hat noch nicht alles getan, was nötig ist, wenn man die Kontrollinstanzen verstärkt. Denn auch die Kontrolleure setzen voraus, dass man ihnen vertraut. Vertrauen aber ist gerade das, was zerstört wird, wenn Macht missbraucht wird. Auch Kontrolle funktioniert nicht, wenn Vertrauen zerstört ist. Kein Jugendamt kann die Mutter ersetzen, kein Polizist den Lehrer. Jede Gesellschaft ist verwiesen auf die zentralen Beziehungen des Lebens: Eltern-Kind, Lehrer-Schüler, Seele-Seelsorger. Hier werden die Bedingungen dafür gelegt, ein Leben lang Vertrauen geben und nehmen zu können.

Was aber, wenn dieses Vertrauen durch Missbrauch und Gewalt von Eltern, Lehrern oder Priestern zerstört worden ist? In der christlichen Frömmigkeit gibt es die Übung der „Betrachtung des Gekreuzigten“. Da geht es darum, sich in den Schmerz des Gekreuzigten einzufühlen. Dasselbe geschieht in den Passionsliedern der Reformation: „O, Haupt voll Blut und Wunden“, singt die Gemeinde das Leiden Christi betrachtend. Wer sich dem Thema Missbrauch nähern will, muss sich zunächst einmal dem Leiden der Opfer betrachtend nähern. Was bedeutet es, wenn ich als Kind oder Schutzbefohlener von dem Menschen, dem ich auf die ursprünglichste, spontanste Weise vertraue, missbraucht werde? Was bedeutet dies nicht nur für den Moment des Missbrauchs, sondern für den Rest meines Lebens? Für meine Fähigkeit zu vertrauen? Für mein Verhältnis zu Schule, Kirche, Familie, deren Repräsentant der Missbrauchstäter war?

Missbrauchsbetroffene sind Opfer im Sinne von „victim“. Sie sind wehrlose Objekte von Gewalt. Die Kreuzigung ist ein plastisches Bild dafür. Ein Mensch am Kreuz ist der Gewalt ganz und gar ausgeliefert, nicht nur physisch, sondern auch seelisch. Der Schrei des Gekreuzigten „Mein Gott, warum



235 hast du mich verlassen“ bringt das Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit des Opfers zum Ausdruck. Denn auch dies gehört zu der Erfahrung der Opfer: Einsamkeit. Die Missbrauchserfahrung ist unaussprechlich, sogar vor mir selbst. Gerade weil sie in einem Vertrauensverhältnis geschieht, stürzt sie mich in die Unsicherheit darüber, ob das, was ich erlebt habe, wirklich Gewalt ist, oder ob es sich um etwas „Normales“ handelt, als das der Täter es vorgibt.

In die Einsamkeit führt die Opfererfahrung aber auch deswegen, weil niemand die Geschichte des Opfers hören oder gar glauben will. Hier tritt der zweite Aspekt des Opferseins hervor: Opfer sind „sacrifice“, Geopferte. Da die Geschichte des Opfers die Ehe der Eltern, das Ansehen der Institution, den Frieden der Gemeinde gefährdet, gibt es kein Interesse daran, sich der Erzählung des Opfers zu öffnen. Das Opfer lebt gefährlich, weil es mit seiner Erfahrung das System gefährdet, in dem es lebt. So muss es „geopfert“, zum Schweigen gebracht werden. „Besser ist, dass ein Mensch für das Volk stirbt, als dass das ganze Volk zu Grunde geht“, sagt Kajaphas im Johannesevangelium, um das Todesurteil über Jesus zu begründen. Eben diese banale Logik opfert die Missbrauchsbetroffenen auf dem Altar der Institution, des Familiensystems, des guten Rufs der Schule. In dieser Logik erscheint das Opfer winzig klein und die Institution riesig groß. Doch damit wird das Opfer (victim) zum Geopferten (sacrifice).

Die Opferung ist die Fortsetzung des Missbrauchs. Gewalt gegen Schutzbefohlene, gerade auch in ihrer besonders schlimmen Form der sexualisierten Gewalt, wird in dem Moment zu struktureller Gewalt, wo die zum System Gehörigen die Ohren verschließen vor der Stimme des Opfers. Dass dies vielerorts geschehen ist, wurde in den letzten beiden stürmischen Monaten auf erschreckende Weise deutlich. Der Blick bloß auf die Missbrauchstäter im engeren Sinne ist zu kurz, um den Missbrauch zu begreifen.

Ist es ein Kompliment des lieben Gottes an die Kirche, dass es ausgerechnet kirchliche Institutionen sind, in denen zuerst Missbräuche aufgedeckt wurden? Im christlichen Glauben steht jedenfalls mit dem Blick auf den Gekreuzigten das Opfer im Zentrum. Die Ereignisse und Verfehlungen weisen die Kirche überdeutlich darauf hin. Schon das Verhalten der Jünger gegenüber dem Gekreuzigten war beschämend. Die Abwendung vom Opfer auch innerhalb der Kirche ist nichts Neues. Doch es gibt auch die überraschende Blickwende, von der Ostern berichtet. Die Jünger erkennen, dass auch sie versagt haben. Doch mit eben dieser bitteren Selbsterkenntnis verbindet sich ein grundlegendes Umdenken, die „meta-noia“, zu der Christus am Anfang seiner



236 Predigt aufrief. Zum einen ist da die grundlegende Erkenntnis, dass das Opfer nicht schuld ist. Weder ist es schuld daran, dass es zum Opfer wurde, noch ist es schuld daran, dass es die Institution, das Volk, die Familie gefährdet mit dem, was es zu sagen hat. Schämen muss sich nicht das Opfer, sondern schämen müssen sich die, die es dazu machen.

Daraus ergibt sich schließlich eine weitere Einsicht: Das Opfer ist mächtiger als die Mächtigen in Volk, Familie und System. Das gilt auch heute für die Machtfrage in der Kirche: Die Macht kommt von Christus. Das Christentum braucht nur sein eigenes Glaubensbekenntnis ernst zu nehmen: „Auferstehung des Fleisches“. Es begegnet der Macht Christi in der Macht der Opfer. Dabei geht es keineswegs um eine platte Identifikation von Missbrauchsopfern mit Christus. Die Macht der Opfer ergibt sich aus dem, was sie zu berichten haben, aus ihren Erfahrungen, nicht aus einem eigenen Willen zur Macht. Ebenso wenig muss Christus mächtig sein wollen, um mächtig zu sein. Er ist es durch das, was er ist und erfahren hat. Er muss sich dabei gar nicht mächtig fühlen. Im Gegenteil: Wenn er seine Macht nutzen will, um zu herrschen, um sie zu genießen, um anderen seinen Willen aufzuzwingen, dann ist er selbst ein Missbrauchstäter. Genauso kann auch ein Opfer zum Täter werden. Ein Gott, der nicht missbraucht, ist jedenfalls ein Gott, der nicht vom Willen zur Macht getrieben ist, sondern dessen Macht im Dienst der Freiheit steht.

Äußerste Ohnmacht und äußerste Macht kommen im Opfer zusammen. Dies lässt sich auch von innen her, aus der Opferperspektive nachvollziehen. Opfer von Missbrauch wehren sich gegen die Vorstellung, bloß als Opfer gesehen zu werden. Im Moment des Missbrauchs sind sie tatsächlich entwürdigt zum bloßen Objekt von sadistischer, sexualisierter und anderer Gewalt. Doch mit dem Tag des Missbrauchs beginnt ein Kampf um die eigene Würde, ein Überlebenskampf. Darin wird das Opfer zum Kämpfer, zur Kämpferin, zum Subjekt. Es kann Jahrzehnte dauern, bis ein Opfer schließlich sagt: Ich habe den Missbrauch überlebt. Mit dem Überleben hat das Opfer wieder den Status des Subjekts erreicht, eine Freiheit, die stärker ist als die niemals bedrohte Freiheit der Unverletzten – weil sie eine erkämpfte Freiheit ist. Der Überlebende, man könnte vielleicht auch sagen: Der Auferstandene kann das Unaussprechliche aussprechen. Er hat die Kraft, sich gegen das Totschweigen durchzusetzen, gegen die mächtigen Interessen, die dahinter stehen; gegen die Versuche, ihn oder sie zum Schweigen zu bringen, in die Logik des Vertuschens hineinzuziehen, in die Angst vor Anfeindung und Gewalt.

Biblisch gibt es zwei Begriffe, um das Geschehen von Ostern auszudrücken: „Christus ist von den Toten auferweckt worden“, und: „Christus ist von den



237 Toten auferstanden.“ Die erste Formulierung betont das Wirken Gottes an Christus, die zweite Formulierung hingegen die Eigentätigkeit Christi. Die Formulierungen sollen hier nicht gegeneinander ausgespielt werden. Aber doch scheint in diesen Tagen, in denen durch Deutschland und durch die Kirche der Sturm der Aufklärung und Aufdeckung tobt, die zweite Formulierung besonders hilfreich zu sein, um eine Perspektive über den Sturm hinaus zu gewinnen. Die Kirche begegnet dem Auferstandenen in den Opfern, wenn sie in den Opfern nicht bloß die Opfer erkennt und würdigt, sondern auch die Kämpfer, die Kämpferinnen, die Subjekte. Die Missbrauchsbetroffenen sind nicht mehr „bloß“ die Schutzbefohlenen, als die sie missbraucht und abgewiesen wurden. Sie haben etwas zu sagen, was über ihre bloße Opfergeschichte hinaus geht. Sie haben im Überlebenskampf Erfahrungen mit der Kirche, mit der Hierarchie, mit ignatianischer Pädagogik, mit Reformpädagogik und anderer Pädagogik gemacht, von der etwas zu lernen ist. Die Befreiungstheologie prägte einmal den Ausdruck von der „Schule der Armen“, in der die Kirche lernen könne. Der Dialog mit den „Auferstandenen“ ist eine Gelegenheit zu lernen: Für Kirche, für Schul- und Internatspädagogik, für Recht und Politik.

Wer im Nebel ist, muss auf Sicht fahren. Doch das muss kein Dauerzustand bleiben. Mit Ostern verbindet sich eine Hoffnung, welche das jetzt Aussprechbare übersteigt. Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. In der Lawine muss man den Sinn des Ganzen noch nicht (voll) begreifen, aber er wird sich zeigen, Stück für Stück, vielleicht plötzlich ganz. Zum zitierten Spruch des Kajaphas fügt der Evangelist eine Bemerkung hinzu: “Das sagte er nicht aus sich selbst, sondern weil er der Hohepriester jenes Jahres war, sagte er es aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für das ganze Volk sterben werde.” So wird der Opferpriester des Institutionskultes und Machtkalküls von Gott her, vom Ende her verhöhnt. Gott macht ihn zur Puppe, die nach seiner Melodie tanzt: “Ich nutze Deine Macht, um daran meine Macht zu zeigen.“

Wie das geht, kann man an der Geschichte Jesu ablesen: Jesus wird von Kajaphas geopfert, doch Gott macht dieses Opfer zu seinem Opfer, zu seiner Gabe an die Menschheit. Die Gewalt gegen das Opfer wird zur Zeugin der Wahrheit; je mehr sie schreit “weg, weg mit ihm”, um so mehr stellt sie das Opfer in den Mittelpunkt; auf den Berg; auf den Thron. Die Angst Jesu wird zum Ort des totalen Vertrauens Jesu. Aus den Dornen wird eine Krone. Aus dem Hohn Anbetung. Aus den Elementen der herunterdonnernden Lawine entsteht ein wohnliches Haus: Eine Kirche, die keine Angst um sich selbst hat; Schulen,



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in denen es tatsächlich um die Würde der Schüler geht; Krankenhäuser, in denen es um die Bedürfnisse der Patienten geht; Familien, in denen Vertrauen in Freiheit gelingt.


Überlebende sexueller Gewalt – Marita Herwartz

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Im Rahmen der Beiträge zu den in der letzter Zeit veröffentlichten Vorgänge in Kirche und Gesellschaft wurden von unterschiedlichen Kreisen die Begriffe „Opfer sexuellen Missbrauchs“ und „Überlebende sexueller Gewalt“ verwendet und auch jeweils kritisiert.

Ich bin selber „Opfer“ von Misshandlungen und auch „sexuellem Missbrauchs“ gewesen (im privaten, nicht im kirchlichen oder anderem institutionellen Bereich) und möchte zur Wahl der verwendeten Begriffe anmerken:

Das Wort „Opfer“ intendiert Hilflosigkeit und Ausgeliefert-sein, was sicher für die- oder denjenigen zutrifft, der gerade Gewalt erfährt. Das Verarbeiten der Traumata, das Sprechen darüber und das „Coming-Out“ sind aber gerade aktive Akte, die der Befreiung aus den Traumata dienen und in denen das Wort „Opfer“ nicht mehr angemessen ist. „Überlebende“ mag für viele gedanklich besetzt sein mit Überleben aus Lebensgefahr, beschreibt aber recht passend den „Überlebenskampf“, der es für viele „Opfer“ ist oder war aus den Traumata heraus zu einem, wie auch immer möglichst „normalen“ Leben zu finden, denn genau diese Möglichkeit, ein „normales“ Leben zu führen, ist für viele Betroffene in Gefahr. Auch wenn das Messer nicht im wörtlichen Sinne an die Kehle gehalten wurde, wurde dennoch die „normale“ Entfaltung und Entwicklung, das „normale Leben“ bedroht, unterdrückt und oft genug auch abgetötet. Und jedem, der das er- und „überlebt“ hat, gebührt Respekt – vor seiner/ihrer gesamten Persönlichkeit und Leistung und nicht nur vor seinem/ihrem „Opfer-sein“! Leicht wird „Opfer“ eine Zuschreibung, die alle Lebensbereiche umfasst und den Menschen daran hindert sich anders zu erleben; dieser Begriff reduziert die Person und wird dadurch auch gefährlich in dem Sinne, dass sich die so Bezeichneten leicht „nur“ noch als Opfer wahrnehmen und ihre Persönlichkeitsentwicklung, ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und ihr Wachsen an den Herausforderungen gehindert wird. Doch gerade darin liegt die Chance zur Überwindung der Traumata und zur Wahrnehmung der Stärke und Leistung, die dazu aufgebracht werden mussten, eben zur Wahrnehmung der „Überlebens-leistung“. Die Erfahrung zeigt, dass es vielen „Opfern“ nicht recht gelingt, manche werden selber zu „Tätern“;


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gerade in diesen Fällen scheint die Terminologie von „Opfer“ und „Täter“ die Rollen noch zu verstärken und festzuschreiben und, schlimmer noch, wird die Identifikation als Opfer immer wieder als Erklärung oder gar „Ent-schuldigung“ dafür genutzt, selbst zum Täter/zur Täterin geworden zu sein. Es gibt Gruppierungen, die „Opfer“ als Schimpfwort benutzen und die die damit bezeichnete Person herabwürdigen und reduzieren, das Gefühl der Hilflosigkeit re-produzieren oder stärken und die Angst schüren, (wieder) Opfer zu werden. Dadurch wird dann entweder eine passive, er-leidende Haltung manifestiert oder als Gegenreaktion und Auflehnung dagegen Aggression geschürt und Gewalt – und damit neue „Opfer“ – produziert. Die schwierige, vorurteilsbeladene, oft herabwürdigende Situation der „Opfer“ wiederum bedingt und begünstigt deren Schweigen, was vorbehaltlose Aufklärung und Verhinderung von neuen Übergriffen unmöglich macht. Ein Klima der Achtung und des respektvollen Umgangs – nicht des Voyeurismus – ist notwendig, um Betroffene zu stärken, „Coming-Out“ zu ermöglichen und Grundlagen zur Verarbeitung der Traumata zu schaffen.

Das Wort „Missbrauch“ intendiert, dass es auch einen „richtigen“ Gebrauch von Menschen gibt und wird deshalb schon seit Jahren von den Interessenverbänden der Betroffenen abgelehnt. „Sexuelle Gewalt“ ist als Oberbegriff umfassender; denkbar und in vielen Fällen vielleicht passender wäre „sexuelle Übergriffe“. Der Begriff „Überlebende sexueller Gewalt“ hat sich bei vielen Interessenverbänden von Betroffenen als eine Art Überbegriff etabliert, um alle „Fälle“ einschließen zu können. „Von sexuellen Übergriffen Betroffene“ könnte möglicherweise eine Formulierung sein, die auch von weniger mit der Thematik befassten Menschen akzeptiert und genutzt werden und damit zur Bereitschaft zur Diskussion beitragen kann.


Wer fühlt, was er sieht, tut, was er kann! – Patrick Zoll

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Was da so richtig geschehen ist in diesen Wochen im Januar und Februar, habe ich so richtig noch immer nicht begriffen. Vielleicht entzieht sich manches auch, wenn man versucht es zu be-greifen. Mein Gefühl war und ist auch eher, von etwas er-griffen worden zu sein. Ergriffen wurde ich von der Gewissheit inmitten der Atmosphäre des gerade aufgedeckten Skandals sexueller Übergriffe und Gewalt an uns Jesuiten anvertrauten Kindern und Jugendlichen in den 70er und 80er Jahren etwas tun zu müssen, ein Zeichen setzen zu müssen – für die Opfer und Überlebenden sexueller Gewalt, für den


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Orden, für mich. Und dieses Zeichen erlebte seine Geburtsstunde bei einem Frühstück in der Naunynstraße.

Ein Treffen der Jesuiten in Berlin stand für den nächsten Sonntag an. Jetzt muss gehandelt werden. Es muss überlegt werden, wie wir als Jesuiten in Berlin den Aufklärungskurs des Canisius-Kollegs unterstützen können, welche Zeichen und Taten jetzt in diesem Moment angebracht sind und gesetzt werden müssen. Und durch die Reibung während unseres Frühstücks schlug es Funken: Nicht bis Sonntag mit der Planung warten – ein Gebet machen – es Aschermittwoch machen – in der Kirche Maria Regina Martyrum – öffentlich dazu einladen.

Die Entstehung des Einladungstextes habe ich als einen geistlichen Prozess gemeinsamer Unterscheidung erlebt: Wie und mit welchen Worten trifft man das, was einen zutiefst bewegt? Zudem war uns wichtig, dass wir mit unseren Namen hinter der Einladung stehen. Namen zu nennen macht sichtbar und ansprechbar. Das schien uns nun erforderlich.

Und da standen wir dann am Aschermittwoch 2010 vorne am Altar der Kirche vor etwa 120 Menschen. Vor der Türe Kamerateams, die wir baten, unsere Versammlung zum Beten zu respektieren. Ein seltsames Paar sind wir schon, hab ich mir gedacht. Christian mit gewohntem Rauschebart in Alltagskleidung und ich mit Albe. Eine versöhnte Verschiedenheit über Generationen hinweg, dass wurde schon bei der Vorbereitung des Gebets deutlich. Was wir uns vorgenommen hatten, war, in den zweieinhalb abendlichen Stunden in die Stille vor Gott zu finden und dies in fünf Schritten zu tun, die jeweils einem Gefühl, einer Haltung Ausdruck verleihen sollten, die sich in diesen Tagen und Wochen gezeigt hatten.

„Wer fühlt, was er sieht, tut, was er kann!“, so hatte ich es in einer Predigt von Ludger Hillebrand am Vorsonntag gehört. Und darum ging es jetzt. Uns als Jesuiten versammeln und im und mit dem Volk Gottes beten vor dem Angesicht Gottes.

Trauern vor dem verborgenen Angesicht Gottes. Das schien uns zunächst das Natürlichste. Dem Schmerz, der Scham, der Trauer, der Wut, der Einsamkeit, der Verzweiflung, der Angst über das Geschehene Raum geben. Jedem der Anwesenden die Möglichkeit geben, mit sich selbst und der je eigenen Verfassung vor Gott zu treten. „Du hast mir die Freunde und Gefährten entfremdet, Hausgenosse ist mir nur noch die Finsternis“ (Ps 88,19), diese Zeile aus dem Psalm, den wir dann gemeinsam beteten, ist mir besonders nahe gegangen. Danken, dass war dann der nächste Schritt. Wofür? Für das Sprechen der Überlebenden. Durch ihr Handeln bleibt das Angesicht Gottes angesichts der


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geschehenen Gräuel nicht vollständig verborgen. Christus wird in ihnen als der Gekreuzigte sichtbar. Erst durch ihr Brechen des Schweigens ist Umkehr möglich, wird mir Umkehr von eigenem Wegschauen ermöglicht. Das Sprechen der Opfer ist nicht nur Anklage, es bringt Licht ins Dunkel, ermöglicht Begegnung. Noch immer sehe ich Christian vor mir, wie er fast in Trance symbolisch dafür Kerzen anzündete. Für jeden Menschen, der gesprochen hat, eine Kerze. Manche blieben auch unangezündet, als Einladung zu weiterem Sprechen und Hinhören.

Hören, das erschien uns insofern der nächste Schritt auf unserem geistlichen Weg. Wir luden die anwesenden Jesuiten ein, sich im Kirchenraum zu verteilen als Hörende. Die anderen Teilnehmenden des Gebets waren eingeladen, sich uns mitzuteilen, was es auch sei: Zuspruch, Wut, Sorge, Leid, Klage …

Dies führte uns zum Sehen. Blickkontakt mit dem Gegenwärtigen in der stillen Anbetung des Allerheiligsten aufnehmen. Ihn anschauen und mich von ihm anschauen lassen. Zu Füßen der Monstranz der Kerzenschein, im Hintergrund ein Bild des geschlachteten Lammes. Ein sehr eindrückliches Gesamtbild.

Der letzte Schritt war dem Bitten gewidmet. Wir luden ein, nach vorne zum Altar zu kommen und dort die eigene Bitte laut oder still auszusprechen und ein Weihrauchkorn auf die brennende Kohle aufzulegen. Nach über zwei Stunden der Stille und des Schweigens war dies ein sehr tiefer und bewegender Moment. Bevor wir auseinander gingen, baten wir die Anwesenden, den jeweiligen Nachbarn und Nachbarin zu segnen und sich von ihm oder ihr segnen zu lassen. Einander zum Segen werden in dieser schwierigen und bedrückenden Zeit.

Das Aschermittwochsgebet ist für mich zu einem Zeichen geworden, was passieren kann, wenn sich Menschen – wenn ich – mich von Gott ergreifen lasse. Ergreift auch die Gesamtkirche die Chance, die sich ihr hier bietet? Die Chance sich befreien zu lassen von homophober Angst, Machtversessenheit und unbarmherziger Menschenferne und hinzufinden zu einer hilfreichen Sexualmoral? Ob man die derzeitige Situation als antikirchliche Treibjagd und Medienkampagne begreift oder etwa als mögliche Geburtsstunde einer europäischen Befreiungstheologie, ist für mich im wahrsten Sinne des Wortes „Ansichtssache“. Ich glaube jedenfalls, dass sich Heilsgeschichte in und durch die Kirche nur dann jetzt ereignen kann, wenn sie lernt hinzuhören und Blickkontakt aufnimmt mit denjenigen, die in ihr und durch sie verletzt und verwundet worden sind. Eine historische Wahrheit, die schmerzt und befreit.


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Missbrauch und Institution – Klaus Mertes

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Eine erste Reflexion meiner persönlichen Erfahrungen und Einsichten nach dem 20.1.2010:

Als ich am 20.1.2010 einen Brief an circa 600 Schüler des Canisius-Kollegs aus den 70er- und 8oer Jahren schrieb, ahnte ich nicht, was für eine Lawine dieser Brief auslösen würde. Ich hatte maximal mit der Möglichkeit gerechnet, dass der Brief an die Presse gelangt und einige lokale Bewegungen auslösen würde. Ansonsten beschränkte sich meine Perspektive auf den Verantwortungsbereich des Rektors eines Jesuitenkollegs, in dem – wir mir in dem ausschlaggebenden Gespräch im Januar 2010 klar geworden war – eine hohe Dunkelziffer von Missbrauchsopfern unter den potentiell betroffenen Jahrgängen existieren musste. Hier schien es mir meine Pflicht, Ansprechbarkeit zu signalisieren, um einen Prozess zu ermöglichen mit und für diejenigen Missbrauchsopfer, die dies wollten.

Wie verlief mein persönlicher Weg zu dieser Entscheidung?

Noch bin ich nicht so weit zurückzublicken. Die erste Welle des Medien-Tsunamis nach dem 28.1.2010, dem Tag des Artikels in der Berliner „Morgenpost“, ist zwar vorbei, aber eine zweite könnte sich schnell aufbauen. Zudem befinde ich mich zusammen mit den Verantwortlichen des Ordens und der Schule in einem komplizierten Problem- und Entscheidungsdickicht, das mir die volle Sicht nach vorne und nach hinten noch versperrt. Aber dennoch erschien mir vom ersten Augenblick an, dass meine Entscheidung zu dem Brief vom 20.1.2010 „vorbereitet“ war, nicht bewusst, sondern wie von unsichtbarer Hand arrangiert.

Ich habe selbst eine Missbrauchserfahrung gemacht – nicht die von sexualisierter Gewalt, aber doch von Machtmissbrauch durch sadistische Abstrafung. Ich möchte aus Gründen des Selbstschutzes nicht weiter über die Einzelheiten sprechen. Aber mit dieser Erfahrung im Rücken konnte ich den Bericht der Missbrauchsopfer aus den 70er und 80er Jahren am Canisius-Kolleg besser verstehen, insbesondere den Missbrauch in seinem zweiten Aspekt, dem Wegschauen in der Institution. Es ist von außen schwer nachvollziehen, aber wahr: Die Erfahrung mit der wegschauenden, uninteressierten Institution – der Schule, der Familie, der Kirche, des Vereins, des Jugendamtes – ist vielleicht noch nachhaltiger in ihrem Schmerz als die konkrete Erfahrung der Missbrauchstat. Der Täter ist oft weit weg, als Opfer hat man sich vielleicht entschieden, nie mehr etwas mit den Täter zu tun haben zu wollen. Aber die Institution bleibt, und mit ihr bleibt das Schweigen, das Desinteresse, das


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Wegschauen und Verharmlosen eine tägliche Erfahrung.

Weil das so ist, brauchen die Opfer einen Ansprechpartner seitens der Institution, der sich ihnen zeigt und stellt, auch dann, wenn der Missbrauch Jahrzehnte zurückliegt. Es ist nicht fair gegenüber den Opfern, wenn ein Schulleiter, Pfarrer oder Bischof Opfern, die sich Jahrzehnte später melden, erwidert: „Das war vor dreißig Jahren, damit habe ich nichts zu tun.“ Sich den Opfern zu entziehen ist letztlich eine Fortsetzung des Missbrauchs. Dasselbe geschieht, wenn die Institution bloß mit dem Finger auf die Missbrauchstäter zeigt, sich von ihnen distanziert, sie vielleicht sogar aus ihren Reihen entfernt, um selbst sauber dazustehen. Damit entzieht sie sich den Opfern in ihrem Täter-Aspekt. Und schließlich steht es der Institution auch nicht zu, sich in die Rolle des Therapeuten und Helfers zu versetzen. Sie hat die Chance dazu vor dreißig Jahren verpasst, als sich die Opfer meldeten, aber nicht gehört wurden. Oft sind es dann jahrelange vorhergehende Therapien, die es den Missbrauchs-Überlebenden möglich machen, sich nun bei der Institution zu melden, in der sie die Gewalt erlebten. Wenn sich die Vertreter der angesprochenen Institution dann selbst als Therapeuten definieren, behindern sie den Heilungsprozess. Nein, die aktuellen Vertreter der Institution müssen sich in die Kontinuität der Institutionsgeschichte stellen, zu der das Wegschauen und Vertuschen gehört. Gerade die Kirche kann am allerwenigsten von ihrem Selbstverständnis her ihre institutionelle Kontinuität bloß synchronisch definieren. Die „Gemeinschaft der Heiligen“ hat eine diachrone Dimension.

Eine andere Erfahrung, die mich auf die Entscheidung zum Brief vom 20.1.2010 vorbereitete, stammt aus meiner Lehrererfahrung. Im Zusammenhang mit einer familiären Gewaltgeschichte wurde ich Anfang der 90er Jahre Zeuge der Verstoßung eines Kindes aus seiner Großfamilie. Die Verstoßung dauert bis heute an. Der Grund für die Verstoßung war, dass das Kind begonnen hatte, sich gegen die Gewalt in seiner Familie zu wehren. Ich erlebte, wie es mitten in einer bürgerlich ordentlichen Welt geschehen kann, dass ein Kind in den Abgrund gestürzt wird. Alle schauen zu, alle finden es in Ordnung, oder finden es doch mindestens in Ordnung, dass sie selbst dagegen nichts tun.

Warum erfährt ein Kind, dass sich gegen die Gewalt wehrt, so viel Gewalt? Diese Frage hat mich seither nicht losgelassen. Die Antwort ist banal, und doch ist es immer wieder erschreckend zu sehen, wie diese Banalität der Gewalt funktioniert: Es ist die Angst vor dem Opfer. Das Opfer hat eine Geschichte zu erzählen, die das Selbstverständnis von Gruppen, von Familien, Schulen und Gesellschaften erschüttern kann. Einem Opfer zuzuhören – nicht aus der beobachtenden, begleitenden oder therapeutischen Perspektive, sondern aus der beteiligten, sich selbst zum System zurechnenden Perspektive – bedeutet,


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einen anderen Blick auf sich selbst zuzulassen, Mythen des Selbstverständnisses loszulassen, den eigenen Narzissmus zu überwinden. Das tut weh. Um den Schmerz zu vermeiden, bietet sich die Alternative an, nämlich das Opfer zum Schweigen zu bringen. Genau dies ist die Gewalt gegen das Opfer.

Im Canisius-Kolleg begegnete ich auch einem Mythos. Da ich von außen in das Kolleg kam, hatte ich den Vorteil, nicht aus der Identifikation mit diesem Mythos zu leben: „Eliteschule“, „große Familie“, das gefeierte „Wir-Gefühl“, „letzte freie Schule vor Wladiwostok“. Auch im Orden begegnete ich einem Mythos: „Eliteorden“, „schlaue Jungs“, „S-Klasse unter den Orden.“ Mythen werden nicht erfunden, sondern entstehen aus mehreren Komponenten. Sie werden auch von außen angetragen. Alle finden, dass das Canisius-Kolleg eine Eliteschule ist und dass der Jesuitenorden nur die Besten der Besten in sich versammelt. Am Ende glauben die Jesuiten selbst, was andere über sie denken, und im Canisius-Kolleg beginnt man stolz darauf zu sein, einer Elite zuzugehören. Je mehr man solches ausstrahlt, um so mehr zieht man Menschen an, die genau von diesem Mythos fasziniert sind. Wenn man drinnen steckt, merkt man es nicht. Die Chance, dies zu merken, besteht, wenn das Opfer beginnt zu sprechen – nicht irgendein Opfer, sondern das Opfer, das in der mythisch überhöhten Schule oder Familie missbraucht wurde, von einem Repräsentanten eben dieses Systems.

Einen Mythos zu brechen, in dem man dem Opfer zuhört und seinem Wort Raum gib, hat immer auch einen politischen Aspekt. Ich lernte diesen in zwei Auseinandersetzungen kennen, durch die ich mich heute auch vorbereitet fühle auf das, was mit dem Missbrauchsmeldungen im Januar zu einer Entscheidung wurde. Die eine betrifft die Entdeckung der homosexuellen Mitbrüder im katholischen Klerus. Auch sie sind Opfer, insofern sie nicht ohne gravierende Selbstgefährdung in der Ich-Form über ihre Sexualität sprechen können. Dahinter steckt ein kirchenpolitisches Thema. Die andere Auseinandersetzung stammt aus meiner Arbeit als kirchlicher Vertreter in der Härtefallkommission des Berliner Senates für ausländerrechtliche Härtefälle. Menschen ohne Papiere sind in unserer Gesellschaft Opfer, die in einen täglichen Überlebenskampf gestellt sind. Sie sind angewiesen darauf, dass man ihnen glaubt. Auch dies hat politische Gründe. Die Gerichte gehen lieber das Risiko ein, dass ein Mensch, der kein Verbrechen begangen hat, trotzdem wie ein Schwerverbrecher in der Abschiebehaft eingekerkert wird oder gar in eine lebensgefährliche Situation in seiner Heimat zurückgeschoben wird, als das Risiko einzugehen, belogen zu werden. Die Gesellschaft begegnet Flüchtlingen mit Misstrauen, so wie Institutionen Opfermeldungen mit Misstrauen begegnen.


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In einem Fall berichtete ein Missbrauchsopfer am Canisius-Kolleg während des Medien-Tsunamis der Presse, dass der Schulleiter ihn aus seinem Büro hinauswarf, als er versuchte, seine Geschichte zu erzählen: „Du lügst“, rief er dabei. Ich erinnere mich an diesen Mitbruder, der damals Direktor war und inzwischen verstorben ist. Er war ein beliebter Schulleiter, ein hochanständiger, nachdenklicher und fairer Mann. Vermutlich befanden sich die Übergriffe, von denen das Opfer zu berichten versuchte, jenseits seiner Vorstellungskraft. Vielleicht dachte er: „So etwas tut ein Mitbruder von mir oder ein Lehrer an meiner Schule nicht.“ Er konnte es einfach nicht glauben. Das ist weniger ein moralisches als viel mehr ein religiöses Problem. Der Glaube, von dem das Evangelium spricht, ist auch ein Glaube an etwas Unglaubliches. Nicht alles Unglaubliche ist glaubwürdig, aber es gibt Unglaubliches, das glaubwürdig ist. Im Sinne des Evangeliums gibt es vielleicht nichts wichtigeres, als sich ständig darauf gefasst zu machen, dass etwas Unglaubliches vielleicht doch wahr sein könnte. Jedenfalls kann keiner, der eine Opfermeldung hört, die Glaubensentscheidung vermeiden. Entweder ich glaube, oder ich glaube nicht. Für den Fall, dass ich nicht glaube, muss ich eher dem Opfer glauben, dass es einen Grund für seine Behauptung hat, um mich nach der Suche für diesen Grund aufzumachen, als es zum Aggressoren zu erklären.

Es war für mich keine Frage, dass ich den Missbrauchsopfern, die sich im Januar bei mir meldeten, glaubte. Es halfen mir dabei die Gerüchte, die ich in den Jahren zuvor schon gehört hatte, sowie zwei Opfermeldungen, die mich 2006 und 2008 schon erreicht hatten, und die von den Meldungen im Januar 2010 unabhängig waren. Letztlich stellt sich jedem Menschen, der sich in erziehenden Berufen befindet, diese Frage nach dem Glauben. Schülerorientierung hilft, sich den Stimmen von Opfern zu öffnen, wenn diese sich melden.

Wie habe ich die inzwischen drei Monate nach dem 28.1.2010 erlebt?

„Wer einen Missbrauch aufdeckt, spaltet.“ Dies sagte eine Sachverständige, die wir am Canisius-Kolleg zum Fortbildungstag für das Kollegium einluden, mitten im Sturm, der nach der Veröffentlichung meines Briefes an die Opfer ausgebrochen war und beharrlich anhielt. Ich bestätige diese Erfahrung. „Blame the mother, blame the victim, blame the assistent.” Dass dem Opfer die Spaltung vorgeworfen wird, ergibt sich aus dem eben Gesagten. Aber auch als „assistent“ erlebte ich diese Spaltung, und zwar im Neben- und Gegeneinander von Lob und Vorwurf.

Zunächst zum Lob: Ich erhielt eine Fülle von ermutigenden, unterstützenden und hochachtungsvollen Zuschriften, die mich sehr berührten und manchmal auch beschämten, für die ich vor allem aber dankbar bin. Manchmal


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nahm ich mir in schweren Stunden solche Mails und Briefe wieder vor, um mich an ihnen aufzurichten. Besonders bewegend war, dass sich viele Freunde und Freundinnen aus früheren Zeiten, zu denen jahrzehntelang der Kontakt abgebrochen war, wieder bei mir meldeten. Die Zustimmung kam aus allen Ecken der Gesellschaft, sie verlief nicht entlang der üblichen Linien von konservativ und progressiv, links oder rechts. Offensichtlich erreicht das Missbrauchsthema viele Menschen in einer Tiefe, die das Lagerdenken in Kirche und Gesellschaft überwindet.

Besondere Anerkennung kam auch von Missbrauchsopfern aus Kirche und Gesellschaft, weit über den Kreis der Betroffenen am Canisius-Kolleg hinaus. Es gab Tage, an denen es mir schien, ich hätte mit meiner kleinen Initiative in ganz Deutschland Stumme zum Reden gebracht, ohne dass ich jemals diese strategische Absicht gehabt hätte. Das war eine große und freudige Überraschung. In der Presse las ich von Opfern aus anderen Schulen und Institutionen, die nach dem Motto „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ zu sprechen begonnen hatten. Die Schulleiterin der Odenwaldschule schrieb mir, dass mein Beispiel sie ermutigt hatte, auch ihrerseits nun die Übergriffe an ihrer Schule aufzudecken. Aus Vereinen und Initiativen gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen, an Jungen und Mädchen erhielt ich ebenfalls Zuspruch. Ich fand in diesen Tagen viele neue Freunde.

Immer wieder kam in den positiven Rückmeldung die Bemerkung vor, ich hätte einen „mutigen“ Schritt gemacht und sei ein „mutiger“ Mann. Das befremdete mich, da ich zum Zeitpunkt der Entscheidung wenig Angst vor den Folgen des Schreibens gespürt hatte. Aber die Folgen bekam ich natürlich nun zu spüren, auch die anstrengenden und schmerzlichen. Da war zunächst der unglaubliche Ansturm der Presse. Doch darin bestand auch Ablenkungspotential. Die Schulleiterin – das Canisius-Kolleg wird von einer Doppelspitze aus Rektor und Schulleiterin geleitet, vgl. dazu http://www.canisius.de – befreite mich schnell und rechtzeitig aus der Pressebelagerung. Sie packte mich am Kragen und zog mich von den Journalisten fort mit den Worten: „Du musst jetzt mit dem Kollegium und mit den Schülern reden.“ Aber damit war der Presseansturm nur verzögert. Es folgten mehrere Pressekonferenzen und dann mehrere Wochen intensive Pressearbeit. Hinzu kam blitzartig die Erkenntnis, dass nicht nur ich, sondern die ganze Schule nun im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Für mich selbst hatte ich weniger Angst, aber der Vorgang hatte für die jetzigen Schüler, Eltern und Lehrer ebenfalls gravierende Folgen, die ich nun auch ihnen gegenüber verantworten musste. Als am 29.1.2010 die ersten Presse-Artikel mit Titel wie „Schule des Grauens“ erschienen, begann ich die Furcht in der Schule vor einer Stigmatisierung


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zu verstehen. Die ganze Institution heute war und ist von den damaligen Missbräuchen betroffen. Um so dankbarer bin ich für die Unterstützung aus Schülerschaft, Elternschaft und Kollegium. Keine einzige Stimme habe ich vernommen, die ernsthaft der Meinung war, dass der Ruf der Schule Vorrang hätte haben sollen vor dem Aufdeckungs- und Aufarbeitungsinteresse zurückliegender Missbräuche. Solche Solidarität ist umso mehr wert, als sie ja einen Preis kostet, nämlich den, sich gemeinsam mit dem Rektor als Vertreter des Schulträgers unter den Schatten zu stellen, der nun von der Vergangenheit her auf der bisher strahlenden Institution lag.

Schwerer ist es, von den Vorwürfen zu sprechen, an denen die Spaltung sichtbar wurde und wird, sowohl die Spaltung in der Schule wie auch die Spaltung in Orden und Kirche. Das hängt damit zusammen, dass die Vorwürfe meist nicht laut geäußert werden. Zunächst wird die Spaltung spürbar im Verstummen einiger Leute. Da niemand ernstlich – jedenfalls im Sinne des Evangeliums – behaupten kann, die Institutionsperspektive solle doch besser Vorrang vor der Opferperspektive haben, äußert sich die Missbilligung verdeckt. Gespräche verstummen, bisher heiße Drähte werden merklich kühler. In dieser Situation ist es wichtig, nicht der Paranoia zu verfallen. Gelegentlich kommt die Wut gegen den „assistent“ auch in offener Anfeindung zum Ausdruck. So wurde auch mir vorgeworfen, ich sei ein Nestbeschmutzer, instrumentalisiere das Leiden der Opfer für eine eigene kirchenpolitische Agenda, sei ein Zauberlehrling, inkompetent, eitel und mediengeil. Der Vorwurf unlauterer Motive kam übrigens von beiden Seiten, von „innen“ und von „außen“. Von „innen“ her wurde ich in einem Leitartikel einer bekannten Zeitung als Verräter an der Sache der Kirche zum Abschuss freigegeben, von „außen“ her wurde mir unterstellt, ich würde ganz besonders jesuitisch-geschickt versuchen, das Image der Kirche zu retten, in dem ich die Flucht nach vorne antrete und mich in der Pose des Aufklärers aufwerte, nach dem Motto: Er stellt aus Image-Gründen die Opferperspektive vor die Image-Interessen der Institution.

Ein Priester berichtete mir, dass er mehrere Wochen brauchte, um aus dem Ärger über mich in die Opferperspektive hineinzukommen. Sein Bericht passt in die Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe. Zum einem ist da das Gefühl, dass man „die Sache“ diskreter hätte handhaben könne, um die Institution Schule, Orden oder Kirche weniger zu beschädigen. Zum anderen fühlt man sich selbst als Opfer und verliert so den Blick auf die Opfer. Selbstmitleid stellt sich ein: „Wir sind Opfer einer Pressekampagne, einer Hetzkampagne der Kirchenfeinde.“ So kommt es zu den peinlichen Nazivergleichen und anderen ebenso verräterischen wie verunglückten Wortmeldungen. Man kann


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sich die Opferperspektive auch vom Leibe halten, indem man auf den zeitlichen Abstand hinweist, nach dem Motto: „Das war doch vor dreißig Jahren. Was habe ich heute damit zu tun?“ Jugendlichen und Schülern gestehe ich diese Frage zu. Sie haben heute ein Anrecht auf Schulalltag heute. Aber für die Institutionsrepräsentanten ist dieses Abstandnehmen über den Zeitfaktor unzulässig. Zum einen lässt sich das Leiden der Opfer nicht auf den Zeitpunkt der Missbrauchstat beschränken, zum anderen lässt sich die Kontinuität der Institution nicht auflösen. Auch mit der Ungeduld kommt man nicht weiter, nach dem Motto: „Jetzt ist aber gut. Zwei Wochen reichen.“ Forderungen nach „Versachlichung“ der Debatte klingen plausibel, können aber genauso gut mit Ausweichen zu tun haben. Auch Hinweise auf all das, was gut an Schule, Orden und Kirche ist, nützen nichts. Der Arzt will die Wunde sehen, nicht die gesunden Körperteile. Genauso wenig hilft es, wenn man innerhalb der Institution beginnt, nach außen „Gegenpropaganda“ zu machen mit all den schönen und gelungenen Dingen, welche die Schul-, Ordens- oder Kirchengeschichte natürlich auch zu bieten hat. Im „kairos“ des Aufklärungssturmes sind das alles Ablenkungsmanöver zur Vermeidung der Opferperspektive.

Welche ersten Erkenntnisse zeigen sich mir?

Wenn ich nach vorne blicke, so sehe ich zunächst einmal, dass Macht-Missbrauch und sexualisierte Gewalt wie in einem Prisma viele kirchliche und gesellschaftliche Themen in sich sammeln: Es geht um das Thema Vertrauen in asymmetrischen Beziehungen. Keine Gesellschaft kann auf das Grundvertrauen verzichten oder es gar ersetzen, in das die Schutzbefohlenen hineingegeben sind: Kinder zu ihren Eltern, Schüler zu ihren Lehrern, Patienten zu ihren Ärzten, Seelen zu ihren Seelsorgern. Doch im Erschrecken über den sichtbar gewordenen Missbrauch zieht sich die Gesellschaft gerne auf das Prinzip Kontrolle zurück, meist verbunden mit Staatsgläubigkeit, mit einem Überschuss an Vertrauen auf Staatsanwaltschaft und Polizei, die es richten sollen. Panik führt in die Versuchung zu totalitärem Denken. Offensichtlich ist es nur schwer zu ertragen, dass es Beziehungen gibt, in denen Vertrauen letztlich nie durch staatliche Kontrolle ersetzt werden kann, und dass diese Beziehungen in keiner Gesellschaft durch Verfahren, allgegenwärtige „große Brüder“ oder durch andere Institutionen ersetzt werden können. Es gibt keine Alternative zur Eltern-Kind, Lehrer-Schüler, Arzt-Patient oder Seele-Seelsorger Beziehung.

Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Staatsanwaltschaft, Anzeige und Strafe keine Funktion bei der Aufarbeitung von Missbrauch hätten. Aber Missbrauch ist kein gewöhnliches Verbrechen. Es ist ein Verbrechen in einer


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Abhängigkeitsbeziehung, in einer Vertrauensbeziehung. Missbrauchsopfer brauchen Schutz. Sie reden nicht, wenn sich der Hörende nur als Briefkasten für die Staatsanwaltschaft versteht, oder anders gesagt: Wenn Opfer so weit sind, Anzeige zu erstatten, brauchen sie keinen Diskretionsschutz mehr. Opfer gefährden sich selbst in ihren intimsten Beziehungen, wenn sie sprechen. Sie gefährden Menschen, von denen sie sich emotional noch gar nicht gelöst haben. Deswegen ist es sinnvoll, das unabhängige Ombudsstellen zur Verfügung gestellt werden, Opferschutz-Einrichtung, die in der Grauzone zwischen Jugendamt und Staatsanwaltschaft operieren und den Opfern Glauben schenken können, ohne verfahrensmäßig darauf verpflichtet zu sein, zugleich die Unschuldsvermutung für den bezichtigten Täter berücksichtigen zu müssen. Die Debatte um Anzeigepflichten kann von den Opferschutz-Interessen ablenken. Der Opferschutz ist aber das Kriterium, von dem her diese Debatte geführt werden sollte.

Eine weitere Erkenntnis: Opfer haben ein anderes Zeitgefühl als die Institution, die sich der Aufarbeitung öffnet. Das Opfer hat einen langen Weg hinter sich, bis es sprechen kann. Wenn die Institution sich der Aufarbeitung öffnet, beginnt für sie erst ein Weg, ein langer Weg. Opfer wollen Taten sehen, Institutionen müssen zuerst für sich klären, ob und welche Taten sie zur Aufarbeitung beitragen können. Opfer machen Druck, Institutionen möchten sich dem Druck nicht beugen. Der Druck ist – gemeinsam mit dem Druck der Presse – ein wichtiger, entscheidender Machtfaktor gegen die Macht des Schweigens in der Institution. Die Institution beugt sich nur zögernd dem Druck. Ein Beispiel dafür ist für mich – aus Institutionsperspektive – der Prozess der drei Pressekonferenzen nach dem 28.1.2010. Am Anfang hatte ich entschieden, die Namen der Täter öffentlich nicht zu nennen, auch nicht in dem Brief vom 20.1.2010. Am zweiten Tag kamen schon die ersten Fragen nach Namen bei mir an. Ich musste sie bestätigen, um nicht andere, Unschuldige in den Schatten des Verdachts zu stellen. Bei der dritten Pressekonferenz musste ich die Namen der Verantwortlichen der damaligen Zeit benennen sowie das Beweisstück dafür herausrücken, dass sie um die Missbräuche wussten oder mindestens hätten wissen können. Ohne den Druck, bloß aus eigener souveräner Entscheidung, hätte ich diese Offenlegung nicht geschafft.

Auf der anderen Seite ist allein Druck kein ausreichender Grund, um seitens der Institution Entscheidungen zu verantworten, die einen Versöhnungsprozess zwischen Institution und Opfer ermöglichen oder wenigstens offen halten. Opfer haben nicht deswegen recht, weil sie Opfer sind. Nehmen wir als Beispiel die Frage nach Zahlungen und Entschädigungen. Ich hatte sie zum Zeitpunkt meines Schreibens noch gar nicht im Blick. Doch schon am


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zweiten Tag meldeten sich die ersten Anwälte direkt oder über die Presse mit Forderungen an die Institution (Schule und Orden). Es bedurfte eines Prozesses auf Seiten der Institution, um einzusehen und zu akzeptieren, dass eine bloße Entschuldigung nicht reicht, und dass die Anerkennung des zugefügten Leides auch einen finanziellen Aspekt hat, welcher der Institution auch ganz praktisch weh tun wird. Würden Buß-Leistungen dieser Art bloß auf Grund des Drucks zugestanden, so könnten sie keine befriedende oder gar versöhnende Wirkung haben. Es bedarf seitens der Institution auch der Einsicht, damit die finanzielle Leistung auch auf der Beziehungsebene etwas Konstruktives bewirkt. Der „runde Tisch“, den die Bundesregierung nun einberufen hat, wird sich zu recht nun mit den Rahmenbedingungen zu dieser Frage befassen.

Als Christ bin ich beeindruckt von der Macht des Sprechens der Opfer. Ein kleines Gespräch Mitte Januar war der Anlass für meinen Brief, der eine Lawine ausgelöst hat. Ich weiß, dass die Opfer sich dabei gar nicht mächtig fühlen. Im Gegenteil. Es geht ihnen nicht gut, sie sind erschöpft, enttäuscht, sie erleben vielleicht die Institution nach wie vor als übermächtig. Es gibt Reaktionen aus der Institution, die so verletzend sind, dass sie den Missbrauch im Grunde genommen fortsetzen. Und doch gilt die andere Erfahrung: Das Opfer ist zugleich mächtig, und zwar durch das, was es ist und zu erzählen hat. Damit führt die Begegnung mit den Opfern in die Mitte der christlichen Religion. Eine Kirche, die sich dem Sprechen der Opfer verschließen würde, hätte ihren Existenzzweck verloren. Es ist leicht, sich Opfern zu öffnen, wenn sie Opfer anderer Täter sind. Doch wenn sie Opfer der eigenen Taten und Unterlassungen sind, dann ist es schwer, sich zu öffnen. Die schöne Fassade der Institution sieht zunächst besser aus als der Unrat, der sich dahinter verbirgt. Aber, um es in einem anderen Bild zu sagen: Der Leichengeruch entweicht, wenn die Institution zulässt, dass die Opfer die Fenster aufmachen – und dann kann sich neuer Wohlgeruch in den Räumen sammeln. In der Wahrheit liegt für alle eine große Chance, die einzige, auf die es wirklich ankommt.


Menschenhandel in Brasilien – Pfingstnovene

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Worüber sprechen wir? Der Kauf und Verkauf von Menschen zur sexuellen Ausbeutung ist eine moderne Form der Sklaverei, die bekannteste und einträglichste Form der Sklaverei in unserer Zeit. Nach dem Handel mit Waffen und dem mit Drogen ist die dritte Gewinnquelle der Handel mit Frauen und Kindern. Wir sprechen also vom großen Geld und von kostba-


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ren Menschenleben. 2007 wurden im internationalen Menschenhandel insgesamt nicht weniger als 152 Billionen Dollar umgesetzt. Der Reingewinn dieses einen Jahres waren 91 Billionen Dollar. Brasilien ist der größte Exporteur lateinamerikanischer Frauen, die für den Sex verkauft werden sollen. Es gibt festgelegte Preise für die Körper von Frauen, je nach Alter, Rasse, Kultur, Schönheit … In diesem Handel wird die Person ihrer Menschenrechte beraubt. Ihr Leben ist in Gefahr, sie verliert ihre Würde, ihre Sicherheit und ihr Recht, sich frei zu bewegen. Die meisten der Opfer sind arm und wurden mit falschen Versprechungen getäuscht. Einige wurden durch Folter, Erniedrigung, Drogen oder Vergewaltigung gezwungen. Das Ziel ist, die Opfer so zu beeinflussen, dass sie sowohl unterwürfig sind als auch attraktiv für den, der sie als Sexsklaven gebrauchen will.

Wie kommt es, dass jedes Jahr fast vier Millionen Menschen im Welthandel sexueller Ausbeutung gekauft und verkauft werden?

Wir treffen Gabriela, eine 22jährige junge Frau, die immer davon geträumt hat, im Ausland zu leben. Als sie eines Tages in einem Einkaufszentrum unterwegs war, sprach eine Frau sie an. Sie sagte, Gabriela sehe gut aus und bot ihr eine Arbeit in einem Kosmetik-Studio in Madrid, Spanien, an. Gabriela war begeistert! Sie sah darin die Möglichkeit, durch die Arbeit ihre arme Familie zu unterstützen, berühmt zu werden und ihren Traum von einem Leben im Ausland wahr zu machen.

Nach viel Überlegung und einem Gespräch mit ihrer Mutter entschied sich Gabriela zu der Agentur zu gehen, die die Frau ihr vorgeschlagen hatte. Dort traf sie die Frau wieder, die ihr den Vorschlag gemacht hatte und wurde von einem Angestellten-Team der Firma in Empfang genommen. Sie sprachen miteinander und als klar war, dass Gabriela den Vorschlag angenommen hatte, kümmerten sie sich um die Details der Reise: Pass, Arbeitserlaubnis, Vertrag, Geld. Außerdem sagte die Frau, dass bei Gabrielas Ankunft am Flughafen von Madrid, jemand auf sie warten werde, um sie zu dem Kosmetik-Studio zu bringen, das sie angestellt habe.

Als sie in Madrid ankam, wurde sie von einer Frau in Empfang genommen, die ihr den Pass abnahm und sie zu dem Haus brachte, das sie für das Kosmetik-Studio hielt, das aber eher wie eine Vergnügungsstätte wirkte. In der Tat war es ein Bordell, wo es noch viele andere Frauen gab. Gabriela konnte nicht glauben, was ihr geschah und versuchte sogar zu erklären, dass sie zu solcher Art von Diensten nicht bereit sei. Die freundliche Frau, die sie am Flughafen abgeholt hatte, hörte auf nichts, was Gabriela sagte. In diesem Moment merkte Gabriela, dass sie getäuscht worden war. Dies war tatsächlich


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kein Kosmetik-Studio, sondern ein gut organisiertes Bordell.

Wie kann so etwas geschehen? Oh, so unbemerkt gibt es in ganz Brasilien viele solche Gabrielas, deren Träume sich blitzschnell in Albträume verwandeln. Sie dachten, sie wählten Leben, und finden sich verfangen in einem System, in dem sie jeden Tag ein bisschen mehr sterben.

Was tun wir in dieser Situation?

Die nationale Konferenz der Ordensleute (CRB) hat im ganzen Land kleine Gruppen gebildet, die zusammen ein nationales Netzwerk mit dem Namen „Grito pela Vida“ (Schrei für das Leben) bilden. Diese Gruppen arbeiten zusammen an einem internationalen Netzwerk als Antwort auf die Herausforderung des Menschenhandels. Bildungsmaterialien wurden entwickelt, um die Ausbreitung von Menschenhandel zu thematisieren. Es gibt ein Heft mit biblischen Reflektionen zum Thema Menschenhandel, das in den Gemeinden, sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gegenden, eingesetzt wird. Gruppen besuchen Schulen, um mit den jungen Frauen und Männern über die Folgen von Menschenhandel zu sprechen. Die Arbeit einiger Schwestern besteht darin, sichere Orte anzubieten für diejenigen, die versuchen aus dem System auszubrechen. Andere engagieren sich bei Beratungsangeboten. Einige sind dafür ausgebildet, Trauma-Opfern psychologische Hilfe zu geben. Es ist notwendig, die Ausbreitung des Menschenhandels zu dokumentieren; denn es ist so schwierig an Daten heranzukommen und doch so wichtig sie zu haben. Zeiten im Radio ermöglichen ebenfalls eine weitreichende Kommunikation zum Thema Menschenhandel.

Wir beten: Geist, der du uns in unserer Schwachheit hilfst, erwecke und stärke uns, im Vertrauen unsere Antwort zu geben, auf den Schrei der Armen zu hören. Hilf, dass uns unsere Achtsamkeit zu neuen und mutigen Formen führt, die Güte Gottes an Orten des Menschenhandels zu künden. Darum bitten wir dich in deinem Namen. Amen.


Menschenhandel in Uganda – Pfingstnovene

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Wir treffen Jennifer Achoro, die zwölf Jahre alt war, als sie auf ihrem Weg zur Schule entführt wurde. „Ich hatte gerade meine Schuluniform angezogen und war dabei zu frühstücken, als einige Männer von der Rebellenarmee kamen und meine Mutter fragten, ob wir ein Radio hätten. Als sie Nein sagte, drangen sie in unsere Hütte ein und zwangen mich, mit ihnen zu gehen.“


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Jennifer ist eins von mehr als 30.000 Kindern, die im Norden Ugandas entführt worden sind, um als KindersoldatInnen, ArbeiterInnen und SexsklavInnen für die „Lord‘s Resistance Army“ da zu sein. Die LRA ist eine der brutalsten Rebellenarmeen der Welt.

Komm, Heiliger Geist, komm!

Wir treffen Godfrey Kajubi. Er wurde des Mordes an einem 12jährigen Jungen im Jahr 2008 angeklagt. Nach der Anklageschrift warb er ein Paar aus Tansania an, dass ihn mit dem Abtrennen von Kopf und Genitalien des 12jährigen unterstützen sollte, die anschließend an Kajubi ausgehändigt wurden. Das Paar bezeugte später, dass Kajubi sie in seinem Auto begleitet habe, als sie den Kopf des Jungen abhacken sollten. Auch sagte das Paar aus, dass Kajubi ihnen beim Aufnehmen des Blutes des Jungen in einer Plastikwanne geholfen habe.

So grauenhaft es klingt, der Menschenhandel zum Zweck von Menschenopfern ist in Uganda nicht unüblich. Kinder sind in Uganda eher als Erwachsene im Blick als Menschenopfer, weil ihre Seelen als rein und jungfräulich gelten. Ein Medizinmann gab an, dass einer seiner Klienten ihm regelmäßig jede Woche drei menschliche Herzen und das dazugehörige Blut brachte. Seine Klienten glauben daran, dass sie Reichtum erwirken können dadurch, dass sie Körperteile von Kindern opfern. Allein im November 2008 wurden 100 Kinder in Uganda vermisst gemeldet, 80% davon in der Hauptstadt Kampala, dem modernsten Ort des Landes. Weiterhin wurde im Jahr 2006 von 25 Ritualmorden berichtet, bei denen Kinder betroffen waren, während im selben Jahr 260 Fälle von Kindesentführung gemeldet wurden. Im Jahr 2009 wurden 18 Fälle von Kindesopfern berichtet, aber nur 15 davon wurden auch verfolgt.

Komm, Heiliger Geist, komm!

Wir treffen die neunjährige Atugonza Maria. Atugonzas Vater verkaufte sie für 130 Dollar an Männer, die sie nach Kenia brachten. „Sie versprachen mir, dass ich in Kenia zu einer guten Schule gehen könne und einer Frau beim Putzen ihres Hauses helfen sollte. Als ich ankam, wurde ich heftig geschlagen. Sie sperrten mich in einen Raum ein und brachten Männer zu mir, die schmerzvolle Dinge mit mir machten. Wenn ich mich zu weigern versuchte, bekam ich viele Schläge und kein Essen. Wenn ich nett bin zu den Männern, die mich besuchen, bekomme ich zu essen. Ich weine jede Nacht, weil ich


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meine Mutter sehen möchte.“

Ruth Visick Evans, die Direktorin der NRO „Oasis Uganda“, sagt: „Das Problem des Menschenhandels steigt in den östlichen und zentralen Regionen des Landes extrem an, wo viele Kinder zur Grenze gebracht werden und leicht in das benachbarte Kenia geschmuggelt werden können zur Zwangsarbeit und Prostitution.“ Victoria Nafula, eine frühere Beamtin der Einwanderungsbehörde in Kampala stimmt zu und legt offen, dass mindestens 300 Kinder täglich verschifft werden für nicht mehr als 130 Dollar pro Kind.

Wir beten: Guter und fürsorgender Gott, du leidenschaftlicher und liebender Schöpfer von allem. Wir kommen zu dir im Namen der Millionen von Menschen, die heute in unserer Welt von Menschenhandel betroffen sind. Du Gott aller Güte, gib denen Freiheit, die mit den Ketten moderner Sklaverei gebunden sind. Tröste diejenigen, die gefangen und ausgebeutet sind, heile ihre Wunden und gib ihnen Mut und Hoffnung. Erwecke einen Sinn für Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit in jeder Person, deren Taten zur Versklavung ihrer Mitmenschen beitragen. Mach diejenigen unruhig, deren Untätigkeit den Menschenhandel problemlos seinen Gang gehen lässt. Gib allen, die Gesetze machen, Weisheit und Einsicht. Gib denen, die sie durchsetzen, Mut und Lauterkeit. Mach lebendig in uns allen ein Gefühl der Verantwortung für all unsere versklavten Brüder und Schwestern. Zeige uns, wie wir Werkzeuge deiner Liebe, deiner Gerechtigkeit und deines Friedens sein können, so dass alle Kinder Gottes in Freiheit leben können. Amen.

Als Gemeinschaft Schwestern Unserer Lieben Frau (SND) beten wir eine Pfingst-Novene, also ein 9-Tage-Gebet, zum Thema des weltweiten Menschenhandels. Aus verschiedenen Nationen werden Fakten genannt, zum Beispiel: Täglich werden in Uganda 300 Kinder verkauft; täglich gehen in Deutschland eine Million Männer auf die Straße und suchen eine Frau oder ein junges Mädchen auf; mehr als 92 Billionen Dollar werden für die Prostitution in Brasilien ausgegeben.


255 Rast auf dem Weg – Bild von Christian Schmidt


Mauern in und um Europa überwinden

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Mariam und ihre neue Familie – Lissy Eichert

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„Wir sind da!“ Die wunderschönen großen, braunen Augen weiten sich n noch mehr und spiegeln wortlos wilde Furcht wider. Die schmale Hand krallt sich am Arm der Begleiterin fest. Schon der äußere Anblick der zierlichen Gestalt verdeutlicht, dass wir mit unserer Bitte, Mariam möge erzählen, wie sie nach Berlin gekommen ist, ihrem persönlichen Flüchtlingsschicksal zu nahe gekommen sind. Die 20-jährige Eriträerin steht hilflos und verwirrt vor uns. Ihr einziger Halt ist der Arm ihrer Begleiterin, eine der beiden Comboni- Schwestern von Solwodi.


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„Sie ist noch ein Kind“, so hatte uns die Rechtsanwältin des Afrika-Centers eindringlich um Aufnahme gebeten. Eigentlich war der Wohnraum, der bei uns für Schützlinge im Kirchenasyl bereit steht, zu dem Zeitpunkt noch belegt. Eine 54-jährige Frau, die über 30 Jahre in der Illegalität in Berlin gelebt und nun ihren deutschen Lebensgefährten durch Krankheit verloren hatte, stand vor dem Nichts, weil es den beiden in über 30 Jahren nicht gelungen war zu heiraten, weil sie als Bürgerkriegsflüchtling ihre Identität nicht klären wollte … Jetzt in der Trauer hatte sie plötzlich auf der Straße gestanden. Und Hilfe gefunden beim Verein „Asyl in der Kirche“, bei dem wir, als „Kirchengemeinde St. Christophorus“, Mitglied sind. Der Bitte um „ein Dach über dem Kopf“ konnten wir zu dem Zeitpunkt unkompliziert entsprechen. Es war eine Aufnahme aus humanitären Gründen. Eine Übergangslösung. Wir, das „Forum Asyl mit St. Christophorus“, halfen nun mit ihre Identität zu klären. Nun aber wurde die Wohnung dringend angefragt, für einen „echten“ Kirchenasylfall, d.h. für einen Menschen, der von Abschiebung bedroht ist, dem aber in seinem Heimatland Gefahr an Leib und Leben drohen könnte. Wir starteten einen Hilfe-Rundruf. Erfreulicher Weise meldete sich eine engagierte Mitbewohnerin des Frauenbundhauses und später auch die Mennoniten-Gemeinde. Sie waren bereit, unseren derzeitigen Gast aufzunehmen. Keine Selbstverständlichkeit, denn es war für die engagierte Christin und auch für die Gemeinde die erste, noch ungewohnte Aufnahme dieser Art! Hier wie da ist Vertrauen die Basis, die den Weg zu den Herzen öffnet, auch unter christlichen Gemeinschaften.

„Herzlich willkommen!“ Nun war der Weg frei für die dringende Neuaufnahme. Mariam verstand nur wenig, eigentlich kaum Englisch, noch weniger Deutsch und nur ein paar Brocken Italienisch. Den sicheren Arm ließ sie so schnell nicht los. Doch ein Lächeln ist bekanntlich der kürzeste Weg zum Herzen des anderen. So bemühten wir uns darum, Mariam gegenüber Vertrauen aufzubauen. Mit freundlichen Blicken und liebevollen Gesten. Yakob, ein Mitglied des Forums, und Elizabeth, beide aus Äthiopien, konnten mit ihren Amhare-Kenntnissen bei der Kommunikation helfen. Dennoch gab es nicht selten Missverständnisse für die junge Frau in ihrer ungesicherten Position.

„Es muss auch ohne gehen!“ Bereits nach Tagen wurde uns das Ausmaß ihrer Traumatisierung klar, denn schon eine Frage zur Fluchtgeschichte konnte Ängste und entsprechende Symptome auslösen: Schlaflose Nächte, schlimme Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit und wieder die weit und angstvoll aufgerissenen Augen. Wer im Kirchenasyl ist, erhält die Gelegenheit, in Ruhe auch Details einer Fluchtursache zu erzählen. Oft wird unter der Angst und dem


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Druck bei Erstanhörungen nicht alles erzählt. Für den positiven Ausgang eines Asylantrags hilft aber eine gute, glaubwürdige Begründung.

„Ich habe es doch schon erzählt …!“, flehte Mariam eindringlich und fiel mir dankbar um den Hals, als wir sie von weiteren Erzählungen entlasteten. Es musste reichen, was wir schon wussten. Für ihre Glaubhaftigkeit reichte uns der Blick in ihre Augen …

Mariams Eltern haben die Deportation von Äthiopien zurück nach Eritrea nicht überlebt. Es gibt keine Verwandten mehr, keine Familie. Mariam war fast vier Jahre ihres Lebens auf der Flucht. Von Äthiopien aus floh sie durch die Wüste. Ein Jahr verbrachte sie, die Christin ist, als muslimische Frau getarnt im Sudan. Als Boots-Flüchtling gelangte sie dann über das Mittelmeer nach Italien. Hier lebte sie in der Illegalität und fand eine Beschäftigung als Hausmädchen an sieben Tagen der Woche. Nach knapp zwei Jahren meinte die Arbeitgeberin, in Schweden könne Mariam Papiere bekommen. Und eine Arbeit. Das verdiente Geld ging für die Passage mit einer Schlepperorganisation drauf. Auf dem Flug nach Schweden wurde sie bei der Zwischenlandung in Berlin-Tegel von dem Bundesgrenzschutz mit ihren falschen Papieren enttarnt und verhaftet. Danach war sie drei Monate in U-Haft und wurde erst durch das Amtsgericht Tiergarten freigelassen. Nun ist sie bei uns.

„Ihr seid jetzt meine Familie!“, verkündet Mariam strahlend, nachdem sie nun schon fünf Monate bei uns lebt. Schnell nimmt sie jene in den Arm, denen sie ihr Vertrauen schenkt. Ihre Herzlichkeit ist bemerkenswert, denn die Zeit im Kirchenasyl fällt ihr nicht leicht. Offiziell ist die Ausländerbehörde in Gießen für den Aufenthalt von Menschen aus Eritrea, die Asyl beantragt haben, zuständig. Solange sie von akuter Abschiebung bedroht ist, solange also der Umverteilungsantrag nach Berlin nicht positiv entschieden ist, haben wir sie gebeten, das Kirchengelände nicht zu verlassen. Kein Gefängnis und dennoch kein Ausgang, keine Bewegungsfreiheit. Stattdessen warten und hoffen, ja beten wir, um eine Lebensperspektive für sie! „Schutz am heiligen Ort“ ist kein rechtsfreier Raum, sondern setzt auf Respekt und eine neue Verhandlungsbereitschaft seitens der zuständigen Ausländerbehörde.

„Wie steht mein Fall?“ Diese Frage stellt Mariam öfter am Tag. Auch, wenn wir nichts dazu sagen können, versuchen wir sie zu ermutigen. Je länger es dauert, desto intensiver muss die Betreuung sein und desto wichtiger wird positive Ablenkung. Auf die sieben Wochentage verteilt, kümmern sich derzeit zwölf bis fünfzehn Freiwillige um Mariam. Oberstes Anliegen ist das Erlernen der deutschen Sprache. Der hochintelligenten Frau mit schneller Auffassungsgabe gehen die Übungen jedoch nicht leicht von der Hand, denn ohne die Bestätigung einer Perspektive in Deutschland ist der sonst wache


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Geist blockiert. Froh und dankbar sind wir, dass Xenion e.V., eine psychotherapeutische Einrichtung für Überlebende von Folter und organisierter Gewalt, uns einen Therapieplatz in Aussicht gestellt hat. Nach anfänglichen Horrorvorstellungen, dass sie zu einem Psychiater muss, der ihr Injektionen verabreicht, gegen die sie sich nicht wehren kann, vertraut sie uns und unserem Argument, dass die Therapie ihr zu helfen versucht, das Schlimme besser zu verarbeiten.

„Wenn du einen einzigen Menschen rettest, hast du die ganze Welt gerettet!“, so lautet eine Lebensweisheit im Talmud, die auch uns in der Arbeit begleitet. Ebenso wie der Vers aus dem Hebräerbrief, 13,2: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ Mariam wächst uns mit jedem Tag mehr ans Herz. Wir träumen davon, dass immer mehr engagierte Gemeinden Engel beherbergen und ihre Räume öffnen für Menschen in der Illegalität oder auf der Flucht, deren Existenz bedroht ist. Mariam träumt davon, einmal Modell zu werden. Als sie vor Weihnachten nicht die richtigen Worte fand, um „danke“ zu sagen, nahm sie die Bibel, schlug Psalm 27 auf und bat mich, allen, die ihr helfen, auszurichten, dass sie ihnen all das wünsche, was darin steht …, besonders die starke Zuversicht im letzten Vers.


Samira und ich – Corinna Schwarz

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Ich will versuchen, von meinen Begegnungen mit Samira zu erzählen.Wir haben uns vor ein paar Jahren kennen gelernt, uns zufällig wieder getroffen, uns eine Zeit lang regelmäßig gesehen und dann aus den Augen verloren. Diese Begegnungen waren immer nur Momente. Ich kann nur erzählen, was sie mir bedeuten: Der Beginn einer Freundschaft, die sich dann nicht weiter entwickeln konnte. Einer meiner Gründe, warum ich Volontärin bei ATD Vierte Welt geworden bin, ist die Suche nach Möglichkeiten, wie aus solchen Momenten dauerhafte Freundschaften im Alltag werden können.

Samira und ich haben uns aus den Augen verloren. Aber ich habe sie und ihre Kinder nicht vergessen. Das erste Mal bin ich ihr auf einem Fest begegnet, auf der Geburtstagsfeier eines Bekannten im Asylbewerberheim. Sie saß mir gegenüber, war schon leicht betrunken und drängte sich an ihren Freund. Zufällig hatte dieser Freund am Tag vorher vor mir an der Kasse im Supermarkt gestanden. Er fiel mir damals auf, weil er noch ziemlich jung schien und trotzdem schon „vom Leben“ gezeichnet war.


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Samira drängte sich an ihren Freund. Im Laufe des Abends stellte sie mir auch ihre Tochter vor – das jüngste ihrer vier Kinder – und einen ihrer drei Söhne. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie auf ihre Kinder sehr stolz war, besonders auf ihre Tochter, die etwas sehr Sanftmütiges an sich hatte.

Später kam Samira in einen Deutschkurs, in dem ich unterrichtet habe. Ich sehe sie noch vor mir in einer braunen GST-Trainingsjacke. Damals habe ich mich gefragt, wo sie dieses anachronistische Kleidungsstück – mehr als fünfzehn Jahre nach der Wende – her hatte. Sie kam relativ regelmäßig in den Deutschkurs. Es war nicht immer einfach für sie, weil sie kaum lesen und schreiben konnte. Trotzdem war es gut, dass sie da war. Sie kam fast immer zu spät und brachte etwas mit, das sie auf dem Herzen hatte, etwas, das sie berührt oder erschüttert hat. Das waren oft Ereignisse, die von den Medien ausgeschlachtet wurden: Die Entführung von Natascha Kampusch, der Gammelfleischskandal oder Berichte über Menschenhandel. Mich stört es oft, wie die Emotionen von uns allen von den Medien manipuliert werden. Ich versuche, bei solchen Dingen einfach abzuschalten und nicht dabei mitzumachen, wenn persönliche Schicksale zu Objekten kollektiver, millionenfacher Neugier gemacht werden. Trotzdem hat es mich berührt, wie sich Samira die Schicksale von Menschen, die sie gar nicht persönlich kannte, zu Herzen nahm. Sie konnte das, was sie erfuhr, nicht einfach zur Seite schieben, sondern identifizierte sich damit, als trüge sie ein Stück vom Leid anderer mit. Später einmal saß ich bei ihr am Küchentisch und sie erzählte mir in gebrochenem Deutsch, was sie Schlimmes im Krieg in Ex-Jugoslawien gesehen hatte. Sie weinte. Auch mir liefen die Tränen über die Wangen. Eine Sozialarbeiterin erzählte mir später einmal, dass Samira schon vor Beginn des Krieges nach Deutschland gekommen war. Ich musste über mich selbst lachen, dass ich mich von einem erfundenen Augenzeugenbericht zu Tränen rühren lasse. Trotzdem glaube ich, dass sie nicht umsonst geweint hat.

Irgendwann lud mich Samira zu sich ein. Sie lebte in einem der barackenförmigen Gebäude des Asylbewerberheims. Das waren ehemalige Schweineställe, die man für das Asylbewerberheim umgebaut hatte – weit außerhalb der Stadt, ganz dicht neben einer Kläranlage. Für sich und ihre Kinder hatte sie damals eine Küche ohne Fenster und zwei Räume: Ein Schlafzimmer, in dem sie mit ihrer Tochter schlief und ein Wohnzimmer, wo die Jungs schliefen. Tagsüber hält einmal in der Stunde ein Bus beim Asylbewerberheim. Weil dieser Bus nicht genau zur vereinbarten Zeit dort vorbei fuhr, kam ich mit meiner Tochter ein bisschen zu spät. Samira war nicht zu Hause – aber ihre


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Kinder, die uns kritisch beäugten. Es war klar, dass wir erwartet wurden, aber auch, dass wir zu spät kamen. Obwohl es sich nur um eine Viertelstunde handelte, hatte Samira offensichtlich nicht mehr daran geglaubt, dass wir noch kommen würden und den Ofen, in dem ein halbgares Hähnchen schmorte, ausgemacht. Ihr Sohn holte sie und das Hähnchen schmorte weiter.

Die Kinder waren im Wohnzimmer, das durch die zugezogenen Gardinen halb verdunkelt war. Die ganzen Stunden unseres Besuches über liefen ununterbrochen Videospiele im Fernseher. Im Dämmerlicht gab es einen kleinen Käfig mit zwei großen Kaninchen. Die Kinder nahmen meine Tochter, die ein Jahr jünger als die Tochter von Samira ist, bei sich auf: Sie zeigten ihr die dicken Kaninchen und spielten mit ihr. Obwohl meine Tochter mehrmals hintereinander das Spiel gewann, gab es keinen Ärger. Die Gastfreundschaft und Großzügigkeit von Samiras Kindern haben mich sehr beeindruckt.

Da war noch ein fremder Junge, der die ganze Zeit vor dem Fernseher saß und sich nur für die Videospiele zu interessieren schien. Er wurde nicht mit eingeladen, als wir uns zu siebt um den Couchtisch setzten und das Hähnchen mit Spaghetti aßen. Die Situation brachte mich in Verlegenheit und ich fragte Samira, ob dieser Junge nicht auch mit uns essen könne. Der isst bei sich, war ihre Antwort. Den Jungen schien es nicht zu stören, von unserem Essen ausgeschlossen zu sein.

An dieses Hähnchen habe ich gedacht, als eine andere Sozialarbeiterin mir später sagte, Samira würde sich nicht um ihre Kinder kümmern und ihnen nichts zu essen machen. Sie könne ja gar nicht kochen.

Der Deutschkurs war irgendwann zu Ende und ich hatte anderswo zu arbeiten begonnen. Wir versuchten, trotzdem in Kontakt zu bleiben. Samira hatte kein Telefon. Manchmal rief sie mich von einer Telefonzelle aus an und das Gespräch brach plötzlich ab, weil das Geld alle war. Manchmal fuhr ich einfach so zum Asylbewerberheim, um sie zu suchen. Wenn ich Glück hatte, konnte ich sie finden. Aber die Dinge liefen immer schlechter. Das Jugendamt hatte entschieden, dass die beiden ältesten Söhne ins Heim kommen. Als Samira das erfuhr, verlor sie die Nerven. Die Polizei nahm am selben Abend alle vier Kinder mit. Sie kamen auf unbestimmte Zeit ins Heim. Nach dieser katastrophalen Wendung in ihrem Leben, die sie schon lange Zeit befürchtet hatte, war Samira kaum noch zu finden. Sie hatte noch ein Zimmer im Asylbewerberheim, aber ich konnte sie dort nicht antreffen. Ich hatte eine neue Arbeit, bei der ich täglich einen langen Fahrtweg hatte und ich war müde und erschöpft. Immer wieder habe ich an sie gedacht, wollte mich am Wochenende einmal aufraffen, sie zu suchen …


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Dann bin ich weit weggezogen, ohne sie vorher noch einmal zu sehen. Immer wieder einmal denke ich an sie und daran, ihr ein Lebenszeichen zu geben. Aber wie? Sie hat kein Telefon, oder wenn sie jetzt eines hätte, kenne ich nicht ihre Nummer. Eine Postkarte könnte sie sich vielleicht vorlesen lassen, aber sie kann ja nicht antworten.

Vielleicht sind das auch alles Ausreden. Vielleicht habe ich Angst vor ihr. Angst, ihr mit meiner Freundschaft falsche Versprechungen zu machen. Angst vor der Erfahrung der Hilflosigkeit.

Vielleicht braucht eine solche Freundschaft einen besonderen Raum, damit sie wachsen kann. Vielleicht muss sie getragen werden von anderen Freundschaften in unserm Leben. Jede und jeder hat seine eigene Verantwortung, dem „Nächsten“, um es biblisch auszudrücken, gegenüber. Aber wir sind nicht in der Lage, dieser Verantwortung ganz allein zu entsprechen.

Père Joseph wollte mit ATD Vierte Welt eine Gemeinschaft gründen, die es ermöglicht, gemeinsam diese Verantwortung zu übernehmen, eine Gemeinschaft, die für alle – unabhängig von ihrer Religion oder ihren politischen Überzeugungen – offen ist.

Gleichzeitig war er katholischer Priester. Was er tat, war nicht nur getragen von den Freundschaften, die er im Laufe seines Lebens gefunden hatte, sondern auch von seiner Freundschaft mit Christus. Dieser Glaube kann denen, die ihn teilen, Hoffnung geben: Dass wir miteinander authentische Beziehungen aufbauen können und niemand in den Sackgassen des Lebens allein gelassen wird.

Für Père Joseph können wir das Risiko, einen Weg gemeinsam zu gehen, auf uns nehmen, weil Christus in allen Katastrophen und Ausweglosigkeiten immer schon da ist:

„So ist er, der Ewige, in die Zeitlichkeit eingetreten.

Auch er hat es erlebt, dass die Zeit stehen blieb,

durch Unglück, Katastrophen, Ängste ohne Ende.

Er ist gleichsam in die Wirklichkeit der Elenden hineingestorben.

Durch jedes neue Unglück, jede Katastrophe, jede Gemeinheit und Niedertracht,

wurde er den Armen immer ähnlicher,

bis er schließlich auf Golgotha der Erste unter den Leidenden wurde.

In dieser Stunde hat die Liebe über das Elend gesiegt,

und die Armen sind in die Ewigkeit eingetreten.

So kommt es, dass Christus – im Himmel wie auf Erden – nun nie mehr allein ist.

Ihn aufnehmen heißt, sie alle aufnehmen.“


Im Moment lebe ich bei meiner Familie – Smajl

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14. April 2009

Wie ihr alle wisst, bin ich seit einer Woche von Berlin weg. Ich hatte den Weg nach Albanien eingeschlagen und nun es ist etwas komplizierter geworden, als mir lieb ist. Ich schreibe euch jetzt aus Rom.

Das Leben zeigt sich mir gerade mit seinen Höhen und Tiefen und ich komme mir vor, als würde ich auf dem Pilgerweg sein und nicht wissen, was mir der nächste Tag bringen wird und wo er mich hinführt. Das ist eine schöne Erfahrung, die aber auch mit viel Angst verbunden ist. Ich denke gerade an meine letzten Exerzitien in Berlin, mit welch schlechter Erfahrung sie begonnen haben und wie aufgeräumt mein Leben am Ende der Exerzitien war. Ich bin davon überzeugt, dass das Problem, das ich gerade habe, am Ende ausgeräumt sein wird.

21. April

Mir gehts gesundheitlich sehr gut. Meine Situation hier wird langsam komplizierter, was das Übernachten angeht. Ich habe zwar noch Geld in meiner Tasche, aber das muss ich mir aufheben für die Fahrt nach Albanien. Für mein Leben hier beginnt ein neues Kapitel: Wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte, nämlich das Leben auf der Straße. Ich hätte nie gedacht, dass das Leben auf der Straße so leicht anzunehmen ist, und dass ich meinen Frieden damit finde, hätte ich mir auch nicht gedacht. Ich stelle gerade fest, dass es viel Schlimmeres im Leben gibt, als auf der Straße zu leben, wenn ich daran denke, dass es Menschen gibt, die um ihr Leben fürchten müssen und sie nicht wissen, ob sie in der nächsten Minute oder Stunde noch am Leben sind – durch Kriege, Hunger, Krankheiten. Das Leben hier auf der Straße ist ein Luxus.

Trotz meiner Probleme mit der Weiterreise habe ich aber auch schöne Erlebnisse hier und ich habe den Eindruck, dass ich Exerzitien auf der Straße mache. Ich besuche hier sehr oft die Kirchen, den Vatikan und Orte, wo Menschen ohne Papiere sind (wie ich). Orte, wie ein Park bei Kolosseum, wo man viele Afrikaner, Afghanen, Palästinenser trifft. Ich sehe ihr Leiden in ihren Gesichtern und ich sehe ihre Hoffnung auf ein besseres Leben. Eine Hoffnung, an die sie sich fest klammern. Es gibt hier einen Park ganz in der Nähe von Santa Maria Maggiore, wo die muslimischen Flüchtlinge hingehen und ihre Gottesdienste unter freiem Himmel feiern und sie sind sehr dankbar, dass die Stadt Rom es zulässt. Vor drei Tagen habe ich den Johnjob (Abkürzung für Johannes und Jakob) aus Holland kennen gelernt. Er ist Bus-


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fahrer. Wir trafen uns auf der Straße, er sprach mich an und sagte: Hier gibt es heute viele Holländer. Sein Ausdruck war Holländer-Alarm. Wir kamen so ins Gespräch und der Schwerpunkt unseres Gesprächs war Vergebung. Wir haben stundenlang über Vergebung gesprochen und wir merkten erstmal gar nicht, dass es Sachen in uns gibt, die wir uns selbst vergeben müssen. Dann sagte er etwas, was mir Gott noch näher gebracht hat: „Wir alle haben einen Vater und wenn wir etwas getan haben, was unserem Vater nicht gefallen hat, dann brauchen wir uns nur zu entschuldigen und die Fehler werden schon vergeben. Und so ist es mit Gott auch. Bei ihm brauchst du nur deine Sünde zu gestehen und schon wird Gott dir vergeben, weil Gott keine bösen Absichten mit dir hat.“ Nach dem stundenlangen Gespräch haben wir dann gemerkt, dass wir Hunger haben und er lud mich zu einer Pizza ein und wir waren so glücklich, über dieses Thema gesprochen zu haben.

Ich spüre hier deutlich die Engel Gottes, nämlich euch meine Lieben. Ich habe jedem von euch Vieles zu verdanken und jeder von euch versucht sein Bestes zu geben, um mir helfen zu können. Was für mich eine Bestätigung ist, dass Gott für mich sehr gute Engel ausgewählt hat.

8. Mai

Diesmal melde mich aus dem Kosovo. Ich hoffe euch allen geht‘s gut. Im Moment lebe ich bei meiner Familie und es ist schön nach so vielen Jahren meine Familie und meine Verwandten wiederzusehen. Ich bin hier eigentlich unfreiwillig, weil, um in Albanien leben zu dürfen, muss ich erstmal eine Staatsangehörigkeit haben, dass ich aus dem Kosovo komme, was ich bis vor drei Tagen nicht hatte.

Mein Leben hier ist nicht leicht, weil ich in einem Ort wohne, wo 3800 Menschen im Kosovokrieg umgebracht worden sind. Es gibt so viele traumatisierte Menschen hier. Viele haben seit Jahren ihre Häuser nicht verlassen aus Angst, der Realität zu begegnen. Andere Menschen sehen keinen Sinn mehr im Leben, weil sie so viele Familienangehörige verloren haben und sie mit dieser Situation nicht klar kommen. Und viele Menschen haben sich das Leben genommen. Die psychologische Betreung ist sehr sehr schwach, weil der Staat kaum Finanzen hat um die Therapien bezahlen zu können und die Betroffenen haben kein Geld um es selbst zu finanzieren.

Mir geht‘s nicht so gut, weil ich auch Familienangehörige im Krieg verloren habe und davon betroffen bin. Ich fühle mich hier von meinen Gefühlen gefangen genommen, weil die Leute so viel von sich erzählen und ich kaum Zeit habe das verdauen zu können, denn schon kommt der nächste und dann geht


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das Ganze von vorne wieder los. Ich habe euch so viel von hier zu berichten, aber im Moment bin ich von meinen Gefühlen so sehr überrannt, dass ich nicht weiß, was ich euch erzählen soll.

23. Dezember

Dieses Weihnachten ist etwas Besonderes für mich, weil es das erstemal ist, dass ich Weihnachten mit meiner Familie feiern darf, obwohl meine Familie eine andere Religion vertritt. Da meine Familie sehr wenig über Weihnachten weiß, habe ich mir vorgenommen, ihnen an Weihnachten zu erzählen, was Weihnachten ist, welche Bedeutung Weihnachten für Christen hat und wieso Weihnachten gefeiert wird.

Dieses Jahr war für mich emotional sehr geprägt, im positiven Sinn als auch im negativen. Ich hatte sehr viele Höhen und Tiefen, sehr viele Begegnungen, die sehr gut waren, als auch Begegnungen, die gar nicht gut waren. Ich hatte gute und schlechte Erlebnisse. Die schlechten Erlebnisse dieses Jahres waren für mich: Die Situation der Menschen hier, unter welchen Bedingungen sie hier leben müssen. Und der Tod von dem Wachmann vor einem Monat, der auf der Tankstelle, wo ich arbeite, erschossen worden ist. Ich möchte euch alle bitten, dass ihr für ihn betet (er hieß Sadri) und für meinen Cousin und mich, die wir das miterlebt haben und dadurch seelisch sehr verletzt sind. Die guten Erlebnisse für mich waren das Wiedersehen mit meiner Familie, die ich Jahre lang nicht gesehen hatte und die Besuche von Stephan und Clemanse und danach von Katja.


Fort aus unserem Land – Ramesh Kompella

keine Ahnung warum wir die Heimat verließen

keine Ahnung wie man lebt in diesem Land

tief in uns hören wir unsere Herzen schlagen

niemand versteht uns, niemand gibt Antwort

wir sind erfüllt mit dem Schmerz unsrer Sehnsucht

und suchen vergeblich den, der sie erfüllt

irrende Wanderer, die Heimat verloren

Truppen, die Frieden suchen statt Sieg


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noch sind wir verbunden mit losen Fasern

der reichen Mischung unsrer Kultur

gebt uns die Chance, hier bei euch zu leben

geteilt ist das Leben sicher nur

mit euch zu teilen das Erbe der Alten:

tragt Sorge, dass jedes Leben wachsen darf!

gewidmet den Roma und ihrer Geschichte

Grüße aus Indien – Bernd

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Ich bin gerade in meiner vorletzten Woche in Kalkutta, um den Missionaries of Charity (Schwestern von Mutter Teresa) bei ihrer Arbeit zu helfen. Ich denke an euch, da sehr viel aus meinen Erfahrungen der Straßenexerzitien hier mit auftaucht und wieder lebendig wird. Ich arbeite in Prem Dan, das ist eines der beiden „Sterbehäuser“ – wobei ein Großteil der Patienten sich durch gute medizinische und therapeutische Versorgung auf dem Weg der Besserung befindet. Viele sind einfach nur alt und schwach, andere sind blind oder haben Lähmungen oder neurologische Erkrankungen. Die Jüngeren hier haben körperliche Behinderungen oder sind durch AIDS geschwächt. Das Staunen habe ich hier wieder gelernt: Wenn ich mich dazu überwinde, einen Mann mit einer schweren Hauterkrankung, der sich dadurch selbst in die Isolation setzt, zu berühren und seinen Körper einzuölen – da kann das Eis brechen und er vertraut mir, beginnt zu reden, mich anzusehen und segnet mich. Wenn ich dabei erkenne, dass in diesem entstellten Körper eine Seele wohnt, scheint mir meine Arbeit ein Gebet zu sein. Die ganze Reihe von alten zahnlosen Herren, die teilnahmslos dasitzen, taut auf. Plötzlich reden sie, lachen, sagen mir was ihnen fehlt und was ich ihnen tun kann. Ein Junge, der sich nicht aufrichten wollte und sich in der Hocke vorwärts bewegte, geht jetzt von selbst (nachdem wir ihn hartnäckig und unnachgiebig aufgerichtet haben und ihn auf die Beine gestellt haben) – traumatische Erlebnisse haben ihn wohl niedergedrückt, aber nun „nimmt er sein Bett und geht“. Oder ein alter Mann, der sich die Hüfte gebrochen hatte, lernt wieder zu gehen, nachdem ihn bisher niemand dabei unterstützt hatte. Voller Eifer und Dankbarkeit übt er seine Schritte. Überhaupt, den Menschen zu zeigen, dass und wie sie mit ihren kranken Körperteilen leben können. Und dennoch lebt der Tod auch


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in diesem Haus, heute sind zwei Männer gestorben. Wie würdig sie aus dem Leben scheiden konnten, mit einem Menschen bei sich, anstatt irgendwo auf den Straßen zu sterben. Am Sonntag waren wir im Stadtteil Howrah, um dort Kinder aus der Nachbarschaft zu waschen und ihnen Mittagessen zu geben. Im Mutterhaus steht am Kreuz „I thirst“. Neulich habe ich abends in meiner Meditation erkannt, dass ich genau dieser Aussage begegne: Dass ich durch den Durst dieser Menschen meinem eigenen begegne. Dass jemand meinen Körper achtet. Dass mir jemand zutraut, dass ich mein Kreuz tragen kann und mir sagt, dass ich mich aufrichten soll. Dass meine Spiritualität geachtet wird (einem Mann ist es das Wichtigste und Heiligste in der ganzen Woche, zum Gottesdienst gebracht zu werden). Dass sich jemand traut, mich zu berühren. Dass Sprachlosigkeit schwindet und Eisberge in unseren Herzen schmelzen. Dass Fremde zu Freunden und Brüdern werden (auf den ersten Blick sind mir diese Menschen wirklich fremd mit ihrer anderen Kultur) und Kultur und Hautfarbe keine Rolle spielen. Dass mir jemand einen reinen Blick für die Realität verschafft (auch wenn nur meine Brille geputzt wird). Dass ich niemandem sagen muss, wer ich bin und was ich getan habe, um berührt zu werden. Einfach gesehen zu werden (die erstaunlichsten Dinge geschehen mit den meisten Menschen in den letzten Reihen). Ich glaube, dass dieser gemeinsame Durst unsere gemeinsame Heiligkeit ist, die wir teilen und mit der wir uns begegnen.

Ansonsten hat es schon eine Zeit gedauert, bis ich mich in dieser lauten und dreckigen Stadt eingelebt habe. Die ersten Tage kamen sogar Zweifel durch. Der Weg zur Arbeit führt mich vorbei an Menschen, die auf der Straße leben und schlafen und durch die Slums an den Bahngleisen, wo die Kinder auf den Müllkippen spielen. Und auf der andere Seite der Stadt sehe ich Männer in gebügelten Hemden und Frauen in glitzernden und bunten Saris. Nun weiß ich, warum ich hier bin. Es ging mir nie darum, gegen die Armut anzukämpfen – nun habe ich erkannt, dass es gut ist, dass ich hier bin, dass ich einen Monat aus meiner „westlichen Bequemlichkeit“ ausgebrochen bin, um auch nur einem Menschen etwas den Durst zu stillen. Der kommt zwar wieder, mein eigener auch, aber das sind eben Exerzitien – eine Übung, zu der ich immer wieder aufbrechen kann, nicht nur in Indien. Mich macht die Arbeit richtig satt, ich bin weg vom Wollen und Wünschen. Ich habe das, was ich jeden Tag brauche. In Bescheidenheit. Keine Träumereien, keine Ablenkung durch Internet und Medien. Keine emotionale Achterbahn. Niemand, dessen Erwartungen im Alltag ich gerecht werden soll. Kein System, dem ich dienen muss. Eine Freiheit. Auch wenn sie wieder vergeht, wenn ich zurückkehre. Ich habe sie erfahren. Einfach nur das Gute für mich und meine Mitmenschen.


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Außerdem habe ich in Kalkutta jeden Abend die Möglichkeit, zum Meeting der Anonymen Alkoholiker zu gehen. Das ist mir ein Zuhause geworden in dieser Stadt. Unbeschreiblich, dass dieses Bündnis um die ganze Welt geht. Und wie bei meinen Exerzitien auf der Straße vor zwei Jahren in Berlin holt mich das Thema wieder ein. Ich kann nicht mal in Indien davor fliehen.

Mein Seelenfreund Franz hat mir einen Brief geschrieben. Er erzählt mir oft von den Bildern, in denen er seine Ruhe findet. Und er schrieb über den Gedanken an mich, wie ich in Indien unter den Kranken und Armen bin: „Ich sehe dich nackt und die bedürftigen Kinder und Erwachsenen geben dir Kleidung und Nahrung durch ihre Dankbarkeit und ihr Lächeln. Und diese Vorstellung macht mich unendlich froh, denn endlich trägst du ein Gewand, das dich ehrlich kleidet und es schmückt dich unglaublich schön – denn darin bist du Du“. Dieser Brief hat meine Erfahrung hier sozusagen vollendet.


Ein Freudenstrahl aus Simbabwe – Angelica Schulz

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In der Jesuitenzeitschrift „Weltweit“, im Winter 2001, bat Pater Husemann, einem Shona einen Auftrag zu geben zum Schnitzen einer Krippe mit 13 Figuren, jede 36 cm hoch. Dieser Shona-Schnitzer, 200 km von Harare entfernt im „Busch“ lebend, war schwer zu erreichen. Ein heiterer Briefwechsel entwickelte sich zwischen Berlin und Harare mit der Bitte um Geduld!

Und siehe da, schon nach relativ kurzer Zeit wurde ein Riesenpaket, aus London kommend, bei mir ausgeliefert. Jede Figur „eigenhändig“ von Pater Husemann in Zeitungspapier eingewickelt, unbeschädigt und herrlich anzuschauen! In unserer Gemeinde in Dahlem zeigten sich alle Beschauer wunderbar staunend, freudig überrascht. Afrika war uns plötzlich nahe!

Wegen der Größe der Figuren wollte ich die Krippe verschenken an eine Gemeinde, die vielleicht nur eine kleine Krippe besaß. Unser Erzbistum Berlin reicht von der Ostsee bis in die Lausitz mit vielerlei landschaftlichen Schönheiten, kleinen, bedürftigen Dörfern, „chaotischen“ Städten mit den unterschiedlichsten sozialen Gegebenheiten.

Welche Überraschung! Keiner wollte die Krippe mit schwarzafrikanisch dargestellten Figuren haben, man befürchtete in der Gemeinde Unverständnis, Ärgernisse und Aggressionen ob der Herkunft! Eine meiner Nichten – sie arbeitete mehrere Jahre mit Pater Bernd Günther in Neukölln in der Migrantenseelsorge – riet mir, einfach im Kreuzberger Kiez „Naunynstraße“ anzufragen.


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Ich war fast sprachlos – spontan sagte eine klangvolle, sympathische Stimme ohne zu zögern: „Ja, ich komme die Krippe abholen!“ Jedes Jahr zur Weihnachtszeit werde ich von Pater Herwartz zu einem Begegnen mit vielen interessanten Menschen verschiedener Lebensweisen eingeladen mit Schauen und Erzählen und zu einem Mahl.


Unter‘m Deckmantel – Alexander Dreßler

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Oft woll‘n wir Menschen uns‘re Ruh‘

und decken vieles mit einem Mantel zu.

Mit den Worten, ach da lässt sich eh‘ nichts machen

glauben wir‘s selbst und vermeiden Attacken.


Gesetze sind zwar wichtig

doch liegen sie nicht immer richtig.

Von Poltikern schön durchdacht

sind sie nicht immer g‘recht gemacht.


Viele Illegale leben Hier

und suchen Arbeit und Quartier.

Der deutsche Staat sagt aber nein

und steckt sie in Gefängnisse hinein.


Einige können nicht in ihr Land zurück

weil sie erwartet dort kein Glück.

Wenn Ausländer sind in Abschiebehaft

fehlt ihnen meist die Geisteskraft.


Ihnen täte es schon gut

wenn wir uns zusammentun.

Eine Mahnwache vor dem Knast

nimmt denen drinnen manche Last.


Alle Mauern müssen fallen

die Berliner war eine der Ersten

von allen!!!


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Training im Hinsehen – Christian Herwartz

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In allen Bundesländern stehen versteckt Haftanstalten, in denen Männer und Frauen bis zu 18 Monaten einsitzen, die wegen keiner Straftat angeklagt sind. Die Ausländerbehörde möchte sie außerhalb der Grenze fliegen, welche die im Schengener Abkommen zusammengeschlossenen Länder Europas um sich gezogen haben. Sie wird militärisch gesichert. An ihr sterben jedes Jahr Tausende von Flüchtlingen, die sie aus unterschiedlichen Gründen passieren wollen.

Ein großes Polizeigewahrsam für Frauen und Männer steht in Berlin-Köpenick. Die Gruppe „Ordensleute gegen Ausgrenzung“ lädt seit 1995 regelmäßig zu einem Mahnwachengottesdienst vor dieser Abschiebehaftanstalt ein. Das Gebäude ist ein ehemaliges DDR-Gefängnis am Stadtrand.

Wir stehen vor den Mauern, die für uns ein Teil der Mauer um Europa ist. Denn die hier festgehaltenen Menschen sollen außerhalb dieser Mauern leben. Am Anfang unserer Zusammenkunft informieren wir über die Situation in der Haftanstalt und aller Flüchtlinge in unserer Stadt, besonders aber der Menschen ohne Pässe. Sie leben in der Angst, deshalb inhaftiert zu werden. In Berlin sind es etwa 100.000 Mitbürger und Mitbürgerinnen, bundesweit etwa eine Million. Wir erfahren von Menschen in der Haft, die nicht abgeschoben werden können, weil die Heimatländer grundsätzlich keine Abschiebungen dulden. Sie sitzen dort – wie die Behörde sagt – zur Abschreckung. Sie will damit die Fluchtbewegungen eindämmen. Die Ursachen sehen wir in politischen Notlagen und dem Reichtumsgefälle. Die Einreiseverweigerung soll diese Abhängigkeit zementieren. Gleichzeitig wird ungehinderter Geld- und Warenfluss gefordert und für uns Europäer Reisefreiheit. Vor diesen Widersprüchen stehen wir im Gebet vor der Haftanstalt, singen und hören meist einen biblischen Text.

Wir Berliner haben traumatische Mauererfahrungen. Hier stehen wir wieder vor einer solchen Mauer. Der Wachturm der Haftanstalt ähnelt den Wachtürmen an der Berliner Mauer. Die realsozialistische DDR wollte sich von dem kapitalistischen Westen abschirmen. Diese Mauer ist gefallen. Wir bitten in unseren Gebeten um das Fallen dieser neuen Unrechtsmauer in unserer Stadt. Dabei sehen wir all die anderen gesellschaftlichen Mauern deutlicher, auch die Mauer zwischen den USA und Mexiko und anderswo. Wie oft rechtfertigen und unterstützen wir – vielleicht ungewollt – diese das Leben eingrenzenden „Bauwerke“? Wenn diese Mauer fällt, dann ist unsere Gastfreundschaft neu gefragt, die im Moment durch staatliche Maßnahmen einschneidend behindert wird. Andere Staaten ahmen die Abgrenzungspo-


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litik nach und grenzen uns aus. Die Freizügigkeit zu schützen, wäre eine gesellschaftlich Aufgabe und nicht sie zu verhindern. Diese Gedanken und Gebete kommen uns angesichts des Gefängnisbaues. Manchmal winken uns die Menschen von dort zu.

Bei dem Mahnwachengebet stellen wir ein Symbol in unsere Mitte. Einmal war es eine Liege und ein Stuhl. Wenn die Mauer fällt, dann brauchen die jetzt Inhaftierten Wohnraum und vieles mehr. Wünschen wir – auch mit diesem Eingriff in unseren Alltag – wirklich den Fall der Gefängnismauer hier in Berlin-Köpenik und rund um Europa, in der wir alle eingeschlossen sind? Mit dieser Frage verteilen wir uns auf dem Vorplatz, winken den Gefangenen zu und werden etwa eine Viertelstunde still. Oft ist diese Stille schwer aushaltbar. Einsichten tauchen auf, die wir sonst schnell beiseite schieben. Dann kommen wir alle wieder zusammen, tauschen uns über die spontanen Gefühle und Einsichten aus, beten und bitten um den Segen Gottes. Einige von uns besuchen anschließend Gefangene. Doch bevor wir gehen, singen wir über die Mauer zu den Gefangenen mit unserer ganzen Hoffnung: „We shall over come“.

Zurück im Alltag erkennen wir die Illusion noch deutlicher, Reichtum mit einer Mauer sichern zu wollen. Die Trennung von reich und arm im Land wird deutlicher. Auch bei uns leben die Menschen in einer ersten und immer mehr in einer vierten Welt. Kinderarmut nimmt zu. Schutzrechte werden abgebaut und im Grundgesetz verankerte Menschenrechte durch Verwaltungsanweisungen begrenzt. Viele Probleme unseres Alltags überfordern uns und wir sehen weg. Dann ist es gut, wieder an die Mauern der Abschiebehaft zurückzukehren und die Not der Opfer zu ahnen, biblische Erfahrungen zu hören und still zu werden vor dieser großen Monstranz, die ja jedes Gefängnis ist. Jesus hat uns vorausgesagt, dass er in den Gefangenen anwesend ist (Mt 25,36). Am Anfang seines öffentlichen Wirkens verkündete er in seiner Heimatstadt Nazareth, dass er gekommen sei, Gefangene und alle Zerschlagenen in Freiheit zu setzen (Lk 4,18).

veröffentlicht in: Franziskaner-Mission, Sept. 2008

Warum stehen wir an diesem Ort? – Mahnwache März 2007

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Im vorbereitenden Gespräch stießen wir auf diese Frage. Einige Erfahrungen verwirren uns; sie sind schwer auszudrücken. Der Unterschied zwischen „gut“ und „böse“ ist nicht immer so leicht auszumachen. Nach dem Motto: „gut“ sind die, die drinnen sitzen, „böse“ sind die, die einsperren. Aus


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Gesprächen erfahren einige von uns auch, dass Menschen das Risiko der Abschiebehaft schon in ihrer Heimat genau kennen und trotzdem nach Deutschland kommen. Das „Spiel“ mit dem eigenen Leben und mit der Inhaftierung hat einen verzweifelten Charakter. Wie viel Verzweiflung, muss da sein, um ein solches „Spiel“ zu spielen?

Aber eben auch: Wie viel Not und wie viel Lebenswille ist im Spiel? Wir stehen mitten in einer neuen Völkerwanderung. Die Globalisierung, das Beschleunigen der Zeiten und die Verkürzung der Räume auf unserem Planeten, die wir selbst gemacht haben, ermöglicht Bewegungen von Völkern über den gesamten Globus. Flugzeug, Schifffahrt und Eisenbahn bringen eben nicht nur Touristen an ferne Traumstrände, sondern auch Flüchtlinge und Einwanderer zu uns. Das ist ein unaufhaltsamer Prozess des Zusammenkommens von Menschen und Völkern. Wir stehen mitten in dieser Flut von Menschenströmen. Die Abschiebehaft zeigt uns diese andere Seite der Globalisierung, den vergeblichen Versuch, Menschen und Völker durch Mauern an der Einreise zu hindern.

So verschob sich im Laufe des Gespräches die Eingangsfrage: Auf welchem Fundament stehen wir mitten in dieser Völkerwanderung über den Globus? In einigen Jahrzehnten wird sie das Gesicht unseres Landes grundlegend verändert haben. Daran wird auch die Abschiebehaft und die politische Strategie, für die sie steht, nichts ändern, im Gegenteil: Sie erschwert – und wird erschweren – die Begegnung der Völker auf dem Globus in Menschlichkeit.


Grünes Holz, dürres Holz – Mahnwache März 2008 Weint nicht über mich; weint über euch und eure Kinder … Denn wenn das mit dem grünen Holz geschieht, was wird dann erst mit dem dürren werden?“ (Lk 23,31) Diesen Satz spricht Jesus zu klagenden Frauen, die am Wegesrand seines Kreuzweges stehen und klagen. Ein rätselhafter Satz, den wir in den Vorbereitung auf die Mahnwache neu entdeckten und entschlüsselten: Grünes Holz lässt sich nicht so schnell verbrennen wie dürres Holz!

Das Feuer, das uns als dürres oder grünes Holz verbrennt, ist die Situation, in der wir und unser Land vor der Abschiebehaft stehen. Dieses Gebäude steht für eine Politik, die Schlimmes angerichtet hat. Jahrelang hat sich das Land geweigert, Einwanderung zur Kenntnis zu nehmen und sich daraufhin zu verändern. Nun prallen Parallelwelten aufeinander, verstehen einander


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nicht, verletzen sich, pflegen intern Kränkungschmerzen und verschaffen sich oberflächliche Linderung durch Feindbilder, Mackertöne und Gewaltbereitschaft. Das Feuer der Gewalt, der Demagogie und der Resignation brennt. Auch in anderen Lebensbereichen stoßen wir auf das „Angerichtete“. Reformen, die inzwischen den Namen eines rechtskräftig verurteilten Managers tragen, haben die sozialen Spannungen in unserem Lande vertieft. Hartz IV ist zum Symbol des tiefen Grabens mitten durch die Gesellschaft von den Dazugehörenden und den auf vielfältige Weise Ausgegrenzten geworden. Das Kapital der Reichen flieht in die Steueroasen, im Namen des Kapitals werden die Grenzen Europas vor den Flüchtlingen abgeschottet. Im Bildungs- und Gesundheitsbereich haben Reformen ebenfalls den Druck auf die Menschen erhöht und Ungerechtigkeiten vertieft. Die verantwortlichen Politiker möchten das Jammern aus Familien, Schulen und Krankenhäusern nicht mehr hören und stehen doch selbst – sofern sie noch in der Verantwortung sind – immer mehr wie die Zauberlehrlinge vor den Geistern, die sie riefen, und nun nicht mehr los werden.

Wie stehen wir mitten in diesem „Angerichteten“ da – als dürres Holz oder als grünes Holz? Nur jammernd und klagend, oder auch mit einem Ja zum Leben und mit Widerständigkeit, die sich die Freude an der gottgeschenkten Würde aller Menschen nicht nehmen lässt; die auch im Angerichteten aufkeimendes Leben und Chancen sehen kann, und Perspektiven für das Land. Beides ist in uns, grünes und dürres Holz. Aber vielleicht wird einiges von dem dürren Holz in uns nass, wenn wir uns zur Mahnwache treffen, dort die Augen aufmachen und miteinander über die Mauer beten.


Dienst am Mammon – Mahnwache Oktober 2008

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Im Vorbereitungsgespäch gingen wir von aktuellen Ohnmachtserfahrungen aus, die wir in der Begleitung von Menschenschicksalen in der Abschiebehaft machen. Dabei spürten wir den Druck der Ohnmacht, besonders der Ohnmacht gegenüber dem Schweigen: Schwangere Frauen werden in&xnbsp; der Abschiebehaft zum Abtreiben verführt, um abschiebetauglich zu werden, und niemand spricht darüber. Wie viele andere solcher Geschichten geschehen? – Wir kennen sie, wir hören von ihnen, und wir spüren nicht mehr die Kraft oder sehen keine Möglichkeit, laut zu werden, weil niemand zuhört.

Schlimmer als der Rassismus – wenn man hier überhaupt gewichten kann – ist die Allmacht des Geldes in der Abschiebehaft spürbar. Sie macht sich über den ganzen Globus breit und regiert zugleich in die Zellen der Abschiebehaft


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hinein. Sie erschöpft auch die Mitwissenden, die Verwandten und die Begleitenden. Aber nicht nur die Macht korrumpiert, auch die Ohnmacht tut es: Keine Kraft, kein Strahlen im Gesicht, keine Freude mitten in der Bedrängnis, sondern Gewöhnung, Resignation, Seufzen, Verstummen, und somit: Funktionierendes Stück im Mammon-System.

Keiner kann zwei Herren zugleich dienen – ihr könnt nicht Gott dienen und zugleich dem Mammon (Lk 16,13). Dieser Satz Jesu enthält eine Verheißung: Wir können auch einem anderen Herrn dienen. Ein kleiner Schritt, dies zu tun, ist der, vor die Abschiebehaft zu treten und sie dadurch sichtbar zu machen: Seht, so sieht der Preis aus, der totgeschwiegene Preis für den Dienst des Landes am Mammon. Die Verantwortlichen mögen es nicht, dass diese Seite des Systems sichtbar wird. Auch dazu hatte einer von uns eine ermutigende Geschichte aus der Abschiebehaft zu erzählen: Als Häftlinge kürzlich spürten, dass die Bediensteten in der Haft Angst vor Öffentlichkeit haben, drohten sie in einem konkreten Fall damit, sich an die Presse zu wenden. Für einen kurzen Moment war die Ohnmacht überwunden.


Seht, ich mache etwas Neues – Mahnwache Dezember 2008

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Christenverfolgung in Indien war der Ausgangspunkt unseres Gespräches. Ein Aspekt der aktuellen Pogrom-Gewalt besteht darin, dass Gesellschaften, die ein Ordnungs- oder Harmoniemodell vertreten, die Fremden und Anderen im eigenen Land, die keine so starke religiöse Bindung an diese Ordnungskonzepte haben, als Störung der Ordnung erleben und deswegen vertreiben. Die Vertriebenen kommen bei uns an und stören auch bei uns die Ordnung.

Hinter Gewalt steckt oft das Bedürfnis nach Ordnung. Dieses Bedürfnis ist auch unser Bedürfnis. Wir erleben schmerzlich den Verlust von Ordnungen, die uns gut taten. Die Welt verändert sich durch Globalisierung, Flüchtlingsströme und internationale Krisen. Aus dem Verlust von Ordnung kann aber auch rückwärts gewandte, idealisierende Ordnungssehnsucht werden, nach dem Motto: „Früher war alles in Ordnung.“ Harmonie- und Ordnungsvorstellungen religiöser oder politischer Art, die neues Leben, Konflikte und Bewegung nicht zulassen können, werden schnell gewalttätig. Harmoniesüchtige Familien, Gruppen und Gesellschaften sind Gefängnisse, gelebter Atheismus – wie Dorothe Sölle es einmal formuliert hat: „Alles soll bleiben wie es ist – das ist Atheismus.“


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Das Neue meldet sich manchmal still – als Mitgefühl, als Trauer über den Stillstand, als Flüchtling, als Klopfen an der Tür des Herzens. „Merkt ihr es nicht?“ (Jes 43,9), fragt Gott durch den Propheten. Wir laden zur Mahnwache ein, um etwas davon zu merken und zu beginnen, Mauern abzutragen, damit wir nicht nur rückwärts gewandt trauern, sondern auch neue Visionen geschenkt bekommen.


Der Zaun – Mahnwache Juni 2009

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Die Tage von Heiligendamm beschäftigten uns bei der Vorbereitung der Mahnwache: Die friedlichen und die gewalttätigen Proteste; die Vermischung von „schwarz“ und „weiß“, die Verunsicherung der schwarz-weiß-Kategorien bei der Unterscheidung zwischen denen „hinter dem Zaun“ und denen „vor dem Zaun“. Auch das Thema der Provokation beschäftigte uns im Gespräch: Einige Provokateure aus dem „schwarzen Block“ werfen Steine und traten damit die Dynamik der Gewalt los. Provokateure gibt es aber auch anderswo: Diejenigen, die mit Parolen Brand stiften, ausländerfeindliche Stimmungen schüren und zur Explosion bringen. Im Evangelium sind Provokateure am Werk, wenn sie im Hintergrund das Volk von Jerusalem gegen Jesus aufstacheln.

Doch am eindrücklichsten bleibt uns aus den Tagen von Heiligendamm der Zaun sowie der rechtliche und politische Kampf um die Breite der Verbotszone für Demonstrationen in Erinnerung. Diese Zone hat auch angesichts des Zauns um die Abschiebehaft und des „Zauns“ um die Schengengrenzen einen hohen symbolischen Wert. Im zähen Streit um diese Verbotszone mischen sich unentwirrbar verschiedene Anliegen: Der Wunsch nach Sichtkontakt zwischen denen, die vor und hinter dem Zaun sind, die Schutzzone, der Bannkreis, die Angst, das Sichtbar-werden der großen Demonstrationspuppen, die Botschaft an die G8: „Ihr repräsentiert nicht die Welt.“

Wir wollen uns in der nächsten Mahnwache mit dem Zaun und mit der Verbotszone beschäftigen, vor der wir in Grünau stehen. Was wir darin entdecken, wollen wir versuchen auszusprechen und ins Gebet zu bringen.

Die Mahnwache fand am Ende eines Hungerstreikes von fünf Kurden und einem Bosnier statt – zwei Afrikaner unterstützten sie zeitweise. Ihre Forderungen lauteten:

Wir wollen gegen unsere Abschiebungen protestieren und auf unsere Notsituation aufmerksam machen.


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Wir wollen gegen die Abschiebehaft protestieren, wo man uns wie Kriminelle behandelt. Wir sind Flüchtlinge und keine Straftäter.

Durch die drohende Abschiebung werden bei uns Väter von ihren Frauen und Kindern, die weiter in Deutschland leben, getrennt.

Die jungen Kurden, die abgeschoben werden sollen, müssten in der türkischen Armee dienen und würden vor allem im Osten der Türkei eingesetzt.

Damit müssten sie auf ihre kurdischen Brüder schießen und Dörfer und Städte ihrer Heimat angreifen.

Wir setzen uns mit unserem Hungerstreik für einen Zivildienst in der Türkei ein.

Die Alewiten, die im türkischen Militär dienen müssen, werden dort schikaniert.Die Männer brachen ihren Hungerstreik am Samstag, den 20. Juni ab, weil sie gesund bleiben wollen. Sie danken allen in der Öffentlichkeit, die sich weiterhin für sie einsetzen.

Keine Abschiebung nach Griechenland – Mahnwache Dezember ‘09

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Bei der Vorbereitung der Mahnwache und unseres Gottesdienstes angesichts der Mauern (um das Gefängnis / um Europa) und der Menschen, in deren Gesichter wir sehen dürfen, wurde uns deutlich, wie einseitig die Berichterstattung ist, die uns Anstöße zum Begreifen der Welt geben. Wir haben kurz nach dem Jahrestag des Mauerfalls vor 20 Jahren gesehen, wie viele Ähnlichkeiten es gibt/gab bei der Berichterstattung über das Leben in der DDR und das aus den Ländern der sogenannten 3. Welt. Themen aus den neuen Bundesländern, wie Verarmung, Rechtsradikalismus, Identitätsspaltung und Heimatverlust, werden beim Feiern gern verschwiegen.

Ebenso feiern die europäischen Politiker das neue Abkommen von Dublin, mit dem sie die Zuständigkeit für Flüchtlinge neu regeln. Menschen werden dabei geradezu zu einer Ware, die hin und her verschoben werden kann. Da Deutschland praktisch kaum Außengrenzen hat, werden Flüchtlinge nach Möglichkeit in das nächste Durchreiseland zurückgeschoben. Die Abschiebehaft ist für viele Flüchtlinge in gewisser Weise ein Depot, in dem sie auf eine Entscheidung warten. Dieses Hinhalten macht krank und so sehen wir, wie der Aufenthalt im Abschiebegefängnis oft durch eine Einweisung in die Psychiatrie beendet wird. Menschen sind keine Waren, die zwischengelagert werden können.


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Wir vermissen angemessene Entscheidungen für den Abtransport und für die Zeit des Wartens. So ist es unverantwortlich nach Griechenland zurück zu führen, nachdem Griechenland die gerichtliche Überprüfung von behördlichen Entscheidungen für Flüchtlinge abgeschafft hat (Widerspruch ist nicht mehr möglich). Der europäische rechtliche Mindeststandart ist nicht mehr gewährleistet. Abschiebungen dorthin nehmen diese Ungesetzlichkeit gegenüber Flüchtlingen in Kauf. Von diesem Unrecht wollen wir nicht weg sehen, wenn wir vor den Mauern der Abschiebehaft stehen und in die Gesichter der Inhaftierten sehen, die auf Grund von fehlenden Aufenthaltspapieren dort festgehalten werden.

Herzliche Einladung sich mit diesen Herausforderung auseinander zu setzen, ins nachdenkliche Schweigen zu finden, zu beten und einige Gefangene zu besuchen.


Nehmt sie mit in eure Fürbitten – Wilma Berkenfeld

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Ordensleute stell ich mir gerne mit Kinderseele vor, und sie haben eine hot-line nach oben. Und so wünsch ich mir, dass ihr in euer Klagen und Bitten zwei „Scherben“ afrikanischer Biografien aufnehmt:

Irene aus Camerun. Sie sprach gutes Deutsch. „Mama hat gesagt: Lernen ist wichtig!“ Sie distanzierte sich von den anderen Afrikanerinnen. „Ich sage denen: Kämpft mit dem Mund – nicht mit der Faust“. Sie lebte im Zimmer mit den Osteuropäerinnen, die über die afrikanischen Frauen sagen: „Keine Kultur“. – Nach zwei/drei Monaten Haft zerbrach etwas in ihr. Ihr Klagen war: „Was soll ich machen?“ Sie liebte ihren Sohn, drei Jahre alt, und den toten Papa. Von dem träumte sie oft. Ich schlug vor: Wenn der Papa in deine Träume kommt, dann stell ihm deine Frage „Was soll ich tun?“ – Irene hat sich im Klo aufgeknüpft, kam ins Krankenhaus Hellersdorf, wo ich meine Kollegin informierte. Die hat mich dann benachrichtigt: Irene wurde nach zwei Stunden entlassen.

Mary aus Camerun. Sie kam im Januar. Verstört. Vielleicht war sie minderjährig, vielleicht auch nicht. Die Schlepper wissen schon, was sie ihren Reisenden einzuflüstern haben. Die Rechtsanwältin befand sie als wortkarg, kriegte aber „Vergewaltigung“ heraus. Mary lebte zurückgezogen von allen, fasste kurz Vertrauen zu einer „Weißen“ – ich erlebte sie wie in Trance, die Lebensenergie kreiste um irgendwas, was mit der aktuellen Außenwelt nichts zu tun hat. – Nach elf Monaten Haft knüpfte sie sich auf im Klo, kam ins Krankenhaus Hellersdorf, wo sie sich nach zwei Tagen verabschiedete – zu


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sammen mit einer anderen Patientin. Am Montag rief mich der Kollege aus der Abschiebehaft an: Er sei aus einer Jugendeinrichtung in Britz angerufen worden; eine Mary sei dort sehr verstört gelandet, die Mitarbeiter hilflos. Wilma Berkenfeld, 14.10.1943 – 16.11.2006, hat viele Jahre als Seelsorgerin in der Abschiebehaft gewirkt. Sie half auch, Kontakt zur Situation der Menschen hinter den Mauern zu finden. Sie ist eine Brücke ins Leben grenzenlos. In ihrer Todesanzeige schreibt sie: „lebt wohl alle, denen ich begegnet bin in meinem spannenden Leben. mit KrebsTicket bin ich wieder auf Reise ins geliebte ferne Grenzenlos. gedenkt meiner freundlich.“


Alltag der Abschiebehaft – Redaktion Fluchtpunkt

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Ali lebte 13 Jahre in Berlin, bevor er in die Türkei abgeschoben wurde. Ungefähr die Hälfte dieser Zeit hat er als „sans-papier”, d.h. ohne offizielles Aufenthaltsrecht, in Deutschland zugebracht. Er wusste, dass er sich nicht erwischen lassen darf, dass das Versteckspiel nicht ewig gut gehen kann. Er hatte auch über Abschiebungen gelesen und dennoch erfolgreich die Frage verdrängt, was wohl passieren würde, wenn er eines Tages auf der Straße nach seinen Papieren gefragt werden würde. Nun bekam er die Antwort: Während der Arbeit geriet er in eine Kontrolle und konnte sich nicht ausweisen. Er wurde zur erkennungsdienstlichen Erfassung und anschließend in den Abschiebegewahrsam, von dessen Existenz er bis dahin nicht einmal wusste, gebracht. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass sie ihn in ein Gefängnis stecken würden …

Ali wird zu einem sensiblen Beobachter der Zustände in der Abschiebehaft. Manchmal scheint er genug Distanz zu haben und macht sich über diese Zustände lustig, das nächste Mal ist er jedoch frustriert und erschüttert, wie mit ihm und den anderen Gefangenen umgesprungen wird. Seine guten Deutschkenntnisse erleichtern ihm einerseits den Aufenthalt in der Haft, denn er kann Schriftstücke ohne fremde Hilfe lesen und den Umgang mit den meisten Polizisten einfacher gestalten. Diese sind häufig überfordert, da sie mit einem nicht geringen Teil der Inhaftierten nicht einmal kommunizieren können. Jedoch ist es an diesem Ort manchmal auch ein „Segen”, nicht alles verstehen zu können, zum Beispiel, wenn man von einem Beamten ohne Grund „Arschloch” genannt wird oder „Drecksack”, nur weil man schmutzige Sachen anhat (schließlich geschah die Verhaftung während der Arbeit). Man wird auch mal


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auf einen Stuhl geschubst, wenn der Beamte dies für angebracht hält, selbst wenn man lieber stehen möchte.

Ein weiteres Beispiel der alltäglichen Schikanen: Bei einer Umquartierung in einen anderen Gebäudeteil sollen die Gefangenen sich überlegen, mit wem sie eine Zelle teilen wollen. Die Gruppe um Ali soll dann eine der alten Zellen reinigen bzw. aufräumen, obwohl es nicht ihre Zelle ist und sie ihre eigene Zelle ordentlich verlassen haben. Da sie sich weigern, werden sie dann bei der Neubelegung der Zellen bewusst getrennt. Das sind nur einige Beispiele aus der Haftzeit von Ali, die ihn empört haben. „Das Fass läuft dann jedoch über” infolge einer Meinungsverschiedenheit mit einem Beamten, der seine Post kontrollieren will (Ali muss dabei gegen seinen Willen ein aufgeklebtes Foto abreißen). Ali wird von dem Beamten zurück in seine Zelle gestoßen, wobei der Beamte ihm seinen Schlüsselbund gegen den Hals drückt. Als Folge davon entsteht eine deutliche Rötung. Ali ruft daraufhin die Polizei „draußen“ über die Nummer 110 an, die auch tatsächlich kommt und eine Strafanzeige wegen Körperverletzung aufnimmt. Er wird befragt und die Personalien der Zeugen werden erfasst (von sechs Zeugen haben sich allerdings nur zwei bereit gefunden, auszusagen). Das Ermittlungsverfahren wird später jedoch eingestellt, da die abweichende Schilderung der Auseinandersetzung durch den Beamten „nicht zu widerlegen” sei; es fehlten „objektive Beweismittel”.

Zur Zeit ist Ali gezwungenermaßen Wehrdienstleistender in der Türkei, da es eine Form des Ersatzdienstes in der Türkei nicht gibt. Hier in Deutschland hatte er erfahren, dass es auch anders ginge, und er hatte sich entschlossen, sich der Armeepflicht zu entziehen: „Es ist hier – in der Armee – wieder wie im Gefängnis in Berlin”, sagt er und meint damit die demütigenden Bedingungen des Abschiebegewahrsams. Seine letzten gewaltsamen Erfahrungen in Berlin haben ihn generell skeptischer gemacht gegenüber Deutschland, er fühlt sich gedemütigt. Negative Erlebnisse gab es auch schon vor der Haft, aber sie waren vereinzelt, weniger dominant und passierten in größeren Abständen. Trotz aller Umstände (seiner „Papierlosigkeit”) dachte er, er gehöre nach so vielen Jahren „hierher” und war verletzt, als er in der Abschiebehaft nochmals mit aller Deutlichkeit zu spüren bekam, dass man ihn nicht wollte und dass man einen enormen Aufwand betrieb, um ihn wieder loszuwerden. Obwohl seine Zukunft „zu Hause” sehr ungewiss ist, ist er sich nach dem Erlebten nicht sicher, ob er jemals wieder nach Deutschland zurückkommen würde, selbst wenn er die Möglichkeit dazu hätte.

Ahmed ist 16 Jahre alt und kommt aus dem westafrikanischen Land Benin. Die Eltern des Jugendlichen werden während eines Aufruhrs in Verbindung


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mit den Wahlen umgebracht, wahrscheinlich aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Opposition. Freunde der Eltern entscheiden, dass Ahmed nach Deutschland fliehen soll, denn hier wäre er sicher. Was mit seinem 14jährigen Bruder geschehen ist, weiß Ahmed bis heute nicht. Mit einem Schiff reist der 16jährige Ahmed nach Hamburg und von dort mit der Bahn weiter nach Berlin. Am Bahnhof verbringt er seine erste Nacht und wird hier von der Polizei aufgegriffen und sofort in den Abschiebegewahrsam nach Köpenick transportiert. Aus der Haft heraus stellt Ahmed im Dezember 2001 dann einen Asylantrag, der jedoch abgelehnt wird. Aus Angst vor der drohenden Abschiebung und den damit verbundenen Folgen in Benin weigert sich Ahmed, einen Passersatzantrag zu stellen. Da er über keine Deutschkenntnisse verfügt, versteht er die bürokratischen Vorgänge nicht. Man stellt ihn der Botschaft von Benin in Bonn vor, ein Pass wird ihm jedoch nicht ausgestellt. Bekannte von ihm bringen eine geringe Summe für eine Anwältin auf, die Ahmed dann auch in der Haft besucht. Sie ist bereit, bei der Ausländerbehörde Einblick in seine Akte zu nehmen und die Botschaft Benins zu kontaktieren, um zu erfahren, ob Reisepapiere zu einem späteren Zeitpunkt ausgestellt werden. Mit diesen Informationen wäre eine Haftbeschwerde begründbar, auch aufgrund der Minderjährigkeit Ahmeds – wegen fehlender weiterer Honorarzahlungen legt die Anwältin ihr Mandat dann jedoch nieder. Schließlich werden finanzielle Mittel aus dem Rechtshilfefond von Pro Asyl bewilligt; und ein Anwalt vom Republikanischen AnwältInnen-Verein ist bereit, den Fall zu übernehmen. Kurz vor seiner dritten Haftprüfung drängt die Ausländerbehörde Ahmed, einen Passersatzantrag zu unterschreiben, was er jetzt auch tut, denn sechs Monate im Gefängnis, die Angst vor weiteren drei Monaten Haft und die Unklarheiten bezüglich seiner Abschiebung haben ihn mürbe gemacht. Bei der Haftprüfung wird die Haft dann für nur zwei Wochen verlängert, wahrscheinlich dank der Beharrlichkeit des Rechtsanwaltes.

Elf Tage später wird Ahmed mit einer Grenzübertrittsbescheinigung entlassen und in einem Jugendhaus mit anderen ausländischen Jugendlichen untergebracht. Die Betreuung ist hier, verglichen mit den Schicksalen vieler anderer entlassener Häftlinge, ziemlich gut. Ahmed bekommt sofort einen Platz in einem Deutschkurs und auch eine sechsmonatige Duldung, nachdem die Grenzübertrittsbescheinigung ungültig geworden ist. Das Jugendhaus liegt zentral, Ahmed teilt sich ein Zimmer mit einem Jugendlichen aus Guinea. Die Angst vor der Abschiebung aber bleibt, denn im Januar wird Ahmed achzehn Jahre alt und die Duldung läuft ab.


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Geschwisterlich leben in der Abschiebehaft – Ludger Hillebrand

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Jeden Freitag laden wir, die christlichen SeelsorgerInnen in der Abschiebehaft Berlin-Köpenick, alle Gefangenen zu einem Gottesdienst ein. Es kommen Menschen aus Vietnam, Tunesien, Equador, China, Guinea-Bissau, Uganda, der Türkei, Afghanistan, den USA und … Wir beten und singen mit Muslimen; Yesziden; Buddhisten; Atheisten; orthodoxen, evangelischen und katholischen Christen. Ich finde es jedesmal beeindruckend, dass so verschiedene Menschen gemeinsam in der Haft nach Gottes Licht in der Dunkelheit suchen. Die einstündige Feier in dem schlichten Gebetsraum hat einen schlichten Aufbau: Ein Psalm wird in verschiedenen Sprachen gebetet. Meist Englisch, Französisch, Vietnamesisch, Türkisch, Russisch und Deutsch. Bei der Lesung aus der Bibel ist es ebenso. Die Predigt findet normalerweise in Deutsch und Englisch statt. Vor den Fürbitten gibt es eine kurze Zeit der Stille, das „Vater unser“ zum Schluss wird in allen anwesenden Sprachen gebetet. Aufgelockert wird der Gottesdienst durch Lieder, wobei fast immer das Lied „Give me joy in my heart, keep me praising“ den Abschluss bildet. Ich mag das Lied nicht besonders. Viele Gefangene lieben es. Vielleicht weil es so naiv fröhlich ist?

Gern erinnere ich mich an einen speziellen Gottesdienst. Vor dem Gefängnis war mit einer Mahnwache und Gebeten gegen die Abschiebungen protestiert worden. Mitglieder dieses Kreises brachten anschließend die Blumen ihres Gottesdienstes in die Haft. Wir stellten die Blumen in unserem Gottesdienst auf und sagten: „Draußen fand gerade ein Gottesdienst von Menschen statt, die gegen die Abschiebehaft protestieren. Ihre Blumen stehen jetzt hier bei unserem Gottesdienst.“ Die Augen von Gefangenen füllten sich mit Tränen. Die Blumen haben keine Abschiebung verhindert und keine Ausländerbehörde beeindruckt. Aber sie waren für ein paar Momente Sakramente der Geschwisterlichkeit. Ein paar Menschen ließen sich durch Mauern nicht von einander trennen.

Ein weiteres Bild ist in mir präsent: Ich gehe abends durch die Zellentrakte und sehe einen älteren Polizisten vor einem Gitter sitzen. Auf der anderen Seite sitzt ein Flüchtling vom Kaukasus. Sie spielen miteinander durch die Gitter Schach. Die richterlichen Entscheidungen wurden dadurch nicht geändert. Die Abwehrpolitik gegenüber Flüchtlingen in Europa ging währenddessen weiter. Aber für zwei Menschen kam Geschwisterlichkeit ins Spiel. Gefangenen und mir sind solche Momente lebenswichtig.


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Migration, ein Lebenswille – Christian Herwartz

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Aus sehr unterschiedlichen Gründen machen sich Menschen auf den Weg das Gewohnte, die Heimat, die Familie zu verlassen und in die Fremde zu gehen: Hungersnot, Krieg, Verfolgung, der Wunsch auf Heilung einer im Heimatland nicht behandelbaren Krankheit, Abenteuerlust, Bildungshunger, die Liebe zur Familie, um ihr ein Überleben oder ein besseres Dasein zu ermöglichen. Migration ist ein Sammelbecken verschiedener Lebenswünsche und Notlagen. Menschen, die einer erzwungenen Heirat oder dem lebensbedrohlichen Druck, zu einer bestimmten Religion/Partei zu gehören, oder einer ethnischen Ausrottung als Opfer oder Täter entkommen sind, ist der Rückweg trotz aller familiären Bindungen verbaut. Sie leben im Aufnahmeland in größerer Abhängigkeit als jemand der vorübergehend ausgereist ist und vielleicht auch aus einer großen Not heraus sein Glück oft in unmenschlichen Situationen versucht, wie der erzwungenen Prostitution oder anderer versklavenden Arbeitsbedingungen. Sie sind darauf angewiesen, auch unter sehr demütigenden Situationen, z.B. ohne Papiere, im Fluchtland zu bleiben und sie meiden jeden Kontakt zu Behörden, da sie berechtigterweise keine Hoffnung auf eine Duldung haben.

Der große Lebenswille von Migranten wird deutlich im Ertragen der Strapazen, die sie auf ihrem oft lebensgefährlichen Weg auf sich nehmen. Mitten in allen Illusionen haben sie ein Gespür für ihre Sehnsucht, mit der sie aufbrechen und große Gefahren überwinden. Im Nachgehen ihrer Lebenswege, stoßen wir auf eine große Beharrlichkeit, auf eine deutliche Spiritualität, die sie auf ihre Lebenshoffnung verweist, auf die Gemeinschaft mit Gott und all seinen Geschöpfen.

Wie fordern die Migranten die Menschen in den Ankunftsländern heraus, ihre Blockaden zu überwinden und einen neuen Zugang zu ihrer lebensbegründenden Sehnsucht zu finden? Im Einzelfall spüren wir auf der nördlichen Halbkugel über alle sprachlichen, kulturellen und politischen Grenzen hinweg, wie gelebte Gastfreundschaft und die sich darin entwickelnden näheren Beziehungen viel Freude auslösen kann. Doch es kommt auch der Moment der individuellen Überforderung, aber auch der von Familien und kleineren Gruppen. Dann spürt wohl jede/r in sich die Gefahr aufkommender Fremdenfeindlichkeit oder gar Rassismus. Dann steht nochmals die eigene Menschlichkeit auf dem Prüfstand, manchmal selbst nach langer interkultureller Praxis am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis. Jede/r wird einmal müde, sich


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Neuem zu öffnen. Es ist eine Überforderung, diese Offenheit durchgehend zu leben. Wo üben wir dann, neue Schritte des aufeinander Zugehens?

Seit vierzehn Jahren sind für mich die regelmäßigen Mahnwachen vor dem Abschiebegefängnis in Berlin eine Zeit der Öffnung. Die dorthin ausgegrenzten Menschen sollen hinter die Mauer um Europa abgeschoben werden. Der einzige Grund für den skandalösen Freiheitsentzug ist ihr „Fehlverhalten“, keinen anerkannten Pass zu besitzen. Wir stehen dort mit meist etwa 40 Leuten als BürgerInnen unseres Staates, aber auch als gläubige Menschen in der Geschichte mit Abraham, der im Vertrauen auf Gott seine Heimat verließ, und mit Jesus, der keinen Ort hatte, sein Haupt hinzulegen. Uns wird vor diesem Gefängnis deutlich, wie oft wir im Alltag die Abschiebungen unbewusst rechtfertigen oder überfordert wegsehen, weil wir keine Antwort auf die weltweiten Migrationsströme haben. Wir stehen an dem Ort der Ausweisung und besuchen anschließend Einzelne in der Haft, um unsere Herzen neu für alle Menschen im Lande zu öffnen, Menschen mit und ohne Pass, mit kurzer Aufenthaltsberechtigung oder längerer Duldung. Diese Rückkehr aus Grundsatzdiskussionen ins konkrete Leben stärkt uns, damit wir dann unsere persönlichen, sehr unterschiedlichen Schritte im Alltag gehen können. An diesem Ort, der meist unmenschlichen Ausweisungen, spüren wir etwas von den Empfindungen der Inhaftierten, die immer wieder zu dem mitziehenden Gott rufen und ihm in ihrer Not trauen (wollen). In diese Spannung und Befreiung – in ihren spirituellen Lebenshunger – nehmen sie uns mit und laden uns zu einem neuen Schritt ins Leben ein. veröffentlicht in: Franziskaner-Mission, 3/2008


Auf dürrem Wüstenland – Ramesh Kompella

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Mehr und mehr fühle ich mich hingezogen zur Schönheit

des dürren Wüstenlandes.


Zornig wisch ich hinweg die letzten Tropfen der Liebe,

die doch nie meinen Durst zu löschen vermochte.


Der Schmerz trocknet mich so sehr aus, dass ich die Dürre zu lieben beginne.


Ungeduldig greif ich nach dem scharfen, kalten Messer,

das mich frei machen soll –



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doch immer noch wehre ich mich,

nur um zuzusehen wie es in mir wegschmilzt und dann hinweg trocknet,

wie mein Durst steigt und steigt.


Nein, ich habe sie satt, diese Kälte! Oh, diese Kälte habe ich so satt!

Je mehr ich Liebe suche, erhoffe, umso frostiger kommt es zu mir zurück.


Wenn ich keine Wärme finde in diesen erkalteten Herzen,

sei‘s drum, ich lebe mit der brennenden Glut

mag sie mich verbrennen, und vielleicht so die Kälte ein wenig mindern,

die sonst noch andere Herzen erfrieren lässt.


Morde in Moskau – Mahnwache vor der russischen Botschaft

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Am 6.11.2008 fand eine Mahnwache im Gedenken an die beiden Jesuiten Victor Betancourt-Ruiz und Otto Messmer statt, die am 25. und 27.10.2008 in ihrer Wohnung in Moskau ermordet wurden.

Victor Betancourt wurde 1966 in Equador geboren. Seit 2001 arbeitete er in Russland und war einer der Leiter des Instituts des Hl. Thomas von Aquin in Moskau; hier war er mit missionarischen Aufgaben innerhalb der hauptstädtischen Intelligenzia betraut. Otto Messmer war russischer Staatsbürger; er wurde 1961 in Karaganda in einer kinderreichen Familie verbannter deutscher Katholiken geboren. Seit 2002 war er Superior der Unabhängigen Russischen Region der Jesuiten.

Die Ermordeten wurden anschließend in der Presse verleumdet. Im Flugblatt zur Mahnwache heißt es: „Die Stimmung angesichts der entsetzlichen Morde – ‚Weiter zur Tagesordnung – nicht der Rede wert‘ – darf nicht unwidersprochen bleiben. Wir wehren uns gegen das brutale, schamlose Schweigen, das nun auch über die Gräueltat an unseren Mitbrüdern gelegt werden soll. Wir wehren uns gegen ihre Verleumdung und Verhöhnung durch eine Presse, die sich faktisch in den Dienst der Gewalttäter stellt. Mit großer Sorge sehen wir eine wachsende Pogrom-Stimmung in Russland gegen viele christliche Gruppierungen, denen ohnehin in den letzten Jahren und Monaten immer mehr Wind ins Gesicht bläst, auch von offizieller staatlicher Seite her: Behinderungen aller Art, bürokratische Schranken, Verdächtigungen, Entrechtung, Gewalt. Mit Trauer nehmen wir zur Kenntnis, dass Jesuiten, andere Katholi-


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ken und überhaupt andere Christen, auch ökumenisch gesonnene orthodoxe Christen in Russland auf fremdenfeindliche Gewalt stoßen, die zum Mord bereit ist und sich dabei auch noch der klammheimlichen Zustimmung in der Gesellschaft sicher sein kann.“ Diese Morde führen vor Augen, dass Mitglieder rechter Gruppierungen in diesem Jahr 100 Menschen allein in Moskau ermordeten, die Kirchen in Russland Feindseligkeiten untereinander nicht überwunden haben und im Land seit Jahren ein grausamer Krieg geführt wird. Die ca. 200 Teilnehmer der Mahnwache forderten die russische Regierung auf, sich dafür einzusetzen, dass die Morde an den beiden Jesuiten lückenlos aufgeklärt und sich anti-ökumenischem und fremdenfeindlichem Denken in Russland erkennbar entgegenzustellen und nicht-russischen Christen ein deutliches Zeichen der Akzeptanz zu geben. Ebenso baten die Teilnehmenden alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland, denen deutsch-russische Beziehungen mehr bedeuten als Geschäfte mit Erdgas und Pipeline, zu helfen, dass das Schweigen über die Morde nicht siegt.

Der folgende Brief wurde verlesen und bei der Botschaft eingeworfen:

Sehr geehrter Botschafter Kotenev, in der vergangenen Woche wurden die beiden Jesuiten Victor Betancourt und Otto Messmer in Moskau ermordet. Wie wir der Presse entnommen haben, hat Patriarch Alexej II von Moskau sein tief empfundenes Mitgefühl für die grausamen Morden an den beiden Jesuiten zum Ausdruck gebracht; auch wird berichtet, dass sich die Administration von Präsident Medwedjew in den Fall eingeschaltet hat.

Gerade wegen dieses dankenswerten Engagements ist es uns vollkommen unverständlich, wie das Zusammenspiel einiger Informanten aus den Ermittlungsbehörden und der Presse in Russland dazu geführt hat, dass die ermordeten Jesuiten in Russland auf üble Weise und widerspruchslos in der Presse verleumdet werden. Deswegen richten wir die Bitte an Sie, Ihrer Regierung mitzuteilen, dass wir diese Morde nicht vergessen werden. Wir hoffen, dass sich die russische Regierung für eine lückenlose Aufklärung der Morde einsetzt und einschreitet, wenn die Ermittlungsbehörden durch ihr Verhalten verleumdende Berichterstattung begünstigen oder gar fördern. Insbesondere wünschen wir uns ein klares Zeichen der Regierung für die Akzeptanz auch von katholischen Christen in Russland. Moskau ist die Stadt, in welcher der katholische Christ Friedrich Josef Haas bis heute als der „Heilige Doktor von


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Moskau“ von der russischen Bevölkerung verehrt wird. Es darf nicht sein, dass heute in derselben Stadt katholische Christen und andere wegen ihres Bekenntnisses berechtigte und ernsthafte Sorge um ihr Leben haben müssen. Für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen an der heutigen Mahnwache vor Ihrer Botschaft

P. Klaus Mertes SJ


Traueransprache in Novosibirsk – Bischof Joseph Werth SJ

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Evangelium: Joh 11, 17-44

Wir gedenken der unschuldig getöteten Jesuiten P. Otto und P. Victor. Sie haben wahrscheinlich oft während ihres pastoralen Dienstes bei Gottesdiensten für Verstorbene dieses Evangelium gelesen und damit Schwestern oder Brüder, Kinder oder Eltern der Verstorbenen getröstet. Möge auch uns dieses Evangelium heute trösten: Die leibliche Schwester von P. Otto, Sr. Lina, und uns, Schwestern und Brüder in Christus.

Jesus sagt zu Martha, der Schwester des Lazarus: „Dein Bruder wird auferstehen“ und Martha bezeugt daraufhin ihren Glauben an Jesus Christus, den Glauben an die Auferstehung der Toten: „Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tag.“

Es ist wichtig zu wissen, dass sich dies zu Lebzeiten von Jesus Christus ereignet hat. Er war noch nicht gestorben und nicht von den Toten auferstanden. Jesus hat oft zu seinen Jüngern gesprochen: Der Menschensohn muss leiden, er wird getötet werden und am dritten Tag wird er von den Toten auferstehen. Aber die Jünger haben nicht verstanden, von was Er spricht. Vor diesem Hintergrund strahlt das Bekenntnis der Martha besonders hervor: Ich weiß, dass er auferstehen wird … Nach diesem Glaubensbekenntnis hat Jesus Christus feierlich folgende wichtige Worte verkündet: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben:“ Hier spricht Er bereits nicht mehr vom Glauben der Martha: – wenn du glaubst; – nein, Er spricht vom Glauben des Lazarus, des Verstorbenen: Wenn du an mich glaubst, auch wenn du stirbst, wirst du leben. Er spricht von unserem Glauben: Und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben!

Ihr Lieben! Möge der Tod der Priester P. Otto und P. Victor unseren Glauben an Jesus Christus wiederbeleben, der Glaube an das Ewige Leben ohne räumliche und zeitliche Grenzen. „Jeder, der lebt und an Mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben!“


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Verstehen wir, was das bedeutet? Dies bedeutet, dass Reichtum oder Armut, Ruhm oder Schmach, Gesundheit oder Krankheit, Leben oder Tod – dies alles zählt nicht und macht keinerlei Unterschied, wenn wir wissen, dass jeder der lebt und glaubt an Jesus Christus für immer nicht stirbt! Deshalb sind alle Leiden dieses Lebens nichts im Vergleich zur ewigen Herrlichkeit mit Christus! Nach dem Krieg ereignete sich in Deutschland eine entsetzliche Tragödie: Während eines Busausfluges von Novizen der Jesuiten passierte ein Unfall und das gesamte Noviziat der Jesuiten kam dabei ums Leben. Diese Tragödie hat die gesamte Kirche in Deutschland erschüttert. Und im nächsten Jahr kamen zu den Jesuiten so viele Kandidaten, dass kaum Platz mehr für sie war. Der Tod der zwei Jesuiten hat den Orden in Russland und in der ganzen Welt erschüttert. In letzter Zeit während ihrer Zusammenkünfte, sprachen die Jesuiten immer öfter davon, dass in ihrem Dienst doch mehr das ignatianische Feuer entbrennen muss, dass der apostolische Eifer sich stärker entzünden muss. Doch wie schwer ist es, dieses Feuer am Brennen zu halten. Heute habe ich bereits mehrmals gehört: Die Jesuiten in Russland sind ab heute andere Jesuiten.

Ihr Lieben! Aber wir?

Vor vielen Jahren kam in Krasnojarsk P. Jan Fratzkevitz um das Leben – und wir blieben dieselben. Danach wurde ein Priester in Astrachan umgebracht – und wir blieben dieselben. Vor zwei Jahren wurde ein alter Priester in der Moskauer Diözese von Heranwachsenden umgebracht – und wir blieben dieselben. Und heute – nach dem Tod von P. Otto und von P. Victor – bleiben wir immer noch dieselben? Wie viele Opfer braucht es noch, damit die Kirche in Russland, in Sibirien vom Schlaf erwacht? Wir sagen, wir bauen heute auf dem Fundament der Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Aber diese Märtyrer lebten und starben schon vor vielen Jahren. Wer von uns hat sie noch gekannt? Und dieser Tod der beiden Priester, die wir selber kannten, die wir gesehen haben, manche von uns haben vor drei Tagen noch mit ihnen telefoniert – wird dieser Tod uns endlich doch verändern?

Die Neugetöteten P. Otto und P. Victor mögen doch vor Gott für uns bitten. Und wir beten für ihre Seelen: Herr, gib ihnen die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihnen. Lass sie ruhen in Frieden. Amen.

29.10.2008


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Verleumdung in der Presse – Stefan Dartmann

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Am 06.11. meldeten die russischen Ermittlungsbehörden der Öffentlichkeit einen geständigen Täter, einen mehrfach vorbestraften Sexualverbrecher, aktuell im homosexuellen Prostitutionsmilieu tätig, der Kontakt mit einem der Ermordeten gehabt habe. Die Presse in Deutschland hat diese Berichte inzwischen dargestellt. Dazu nimmt der Provinzial der Deutschen Provinz der Jesuiten, P. Stefan Dartmann SJ, wie folgt Stellung:

Nach wie vor bleiben bezüglich des Tathergangs viele Ungereimtheiten und Widersprüche bestehen. Diese betreffen sowohl die Tatzeit als auch die Umstände. Erschwerend kommt hinzu, dass der einzige bekannte Zeuge der Tat der Mörder selbst ist. Auf seinen Aussagen ruht in der Hauptsache die Rekonstruktion des Tathergangs.

Die Öffentlichkeitsarbeit der russischen Ermittlungsbehörden hat bereits vor dem Ergreifen des mutmaßlichen Täters eine Pressekampagne in Russland ausgelöst und begünstigt, in der die Mitbrüder, die Gesellschaft Jesu und die Katholische Kirche sowohl in den Personen der Ermordeten als auch grundsätzlich verleumdet und verunglimpft wurden. Ich weise die in dieser Kampagne lancierten Unterstellungen in aller Entschiedenheit zurück.

Die Umstände der Morde entsprechen einem bekannten Strickmuster im Russland der letzten Jahre. Zu diesem Muster gehört es unter anderem, Prostituierte gezielt auf engagierte Katholiken anzusetzen, um ihnen eine Nähe zum Rotlichtmilieu anzuhängen. Wie die diffamierenden Berichte in der russischen Presse zeigen, ist dies auch in früheren Fällen offensichtlich gelungen. Im Falle der beiden ermordeten Jesuiten wird dabei gezielt mit homophoben Klischees und Vorurteilen operiert, die Homosexualität mit sexuellen Monstrositäten gleichsetzen, und darauf gehofft, dass diese Gleichsetzung auch in katholischen Kreisen funktioniert und zu einer Distanzierung von den Opfern führt. Damit wird zugleich von der wirklichen Monstrosität abgelenkt: Den Morden.

Viele Jesuiten in Deutschland kannten Victor Betancourt und Otto Messmer persönlich. Die beiden Mitbrüder sind in lauterer Gesinnung, um der Kirche zu dienen, in Russland tätig gewesen. Wir werden nicht zulassen, dass ein unsägliches Gebräu aus Anspielungen, widersprüchlichen Recherche-Ergebnissen und Spiel mit Ängsten das Lebenszeugnis unserer Mitbrüder verdunkelt.

München, 10.11.2008


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Das Urteil – Ordensnachrichten

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Am 25. August 2009 wurde mit Urteil des Moskauer Stadtgerichts Michail Orechow zu 14 Jahren Freiheitsstrafe für den Mord an dem Geistlichen Victor Betancourt verurteilt und freigesprochen von der Anklage wegen Mordes an dem Geistlichen Otto Messmer. Das Urteil des Gerichts basiert auf dem Urteilsspruch der Geschworenen, bekanntgegeben am 21. August. Im Verlauf der Voruntersuchung hat Michail Orechow gestanden, am 26. Oktober 2008 Victor Betancourt ermordet zu haben und am 27. Oktober 2008 auch Otto Messmer, als dieser – von einer Dienstreise zurückkehrend – den Leichnam Victor Betancourts entdeckte. Während der Gerichtsverhandlung hat Michail Orechow seine ihn belastenden Aussagen zurückgenommen und erklärt, dass der Doppelmord von einer ihm unbekannten Person verübt wurde. Die geschädigte Seite dankt den Teilnehmern am Gerichtsprozess. Die Gerichtsverhandlung verlief seriös und sachlich und gab den Seiten der Anklage und der Verteidigung die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern, Fragen zu stellen, Beweise vorzulegen.

Den widersprüchlichen Versionen des Angeklagten hinsichtlich der Motive und Umstände des Mordes am Geistlichen Victor Betancourt wurde eine angemessene Einschätzung entgegengebracht – die Geschworenen erklärten Michail Orechow für jemanden, der keine Nachsicht verdient hat. Dass gleichzeitig die Geschworenen die Tatsache des Mordes an dem Geistlichen Otto Messmer unter den im Ermittlungsverfahren genannten Umständen als unzureichend bewiesen anerkannt haben, legt eine ungenügende Aufklärung des Verbrechens nahe. Dementsprechend erhebt sich die Frage über die Beweise und das Schuldbekenntnis des Verbrechers, der die Tat verübt hat.


Der Gegensatz zu politisch ist privat – Christian Herwartz

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Das Wort politisch erschreckt viele Menschen. Sie fühlen sich in die Öffentlichkeit gezerrt oder abgestoßen von dem Verhalten vieler Politiker, das sie täglich durch die Medien erfahren. Sie distanzieren sich davon. Die im öffentlichen Raum angeschnittenen Fragen überfordern uns oft. Wir reagieren darauf unterschiedlich. Manchmal gehen wir einfach weiter, nehmen die angebotenen Informationen nicht wahr oder reagieren verärgert. Es entsteht ein gesellschaftliches Klima, in dem wir die eigenen Anliegen nicht mehr vorbringen können.


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Die kleine Gruppe „Ordensleute gegen Ausgrenzung“ lädt seit 1995 regelmäßig zum Gebet vorm Abschiebegefängnis in Berlin-Köpenick ein. Dort wird Menschen das höchste gesellschaftliche Gut, nämlich die Freiheit, bis zu 18 Monaten entzogen, ohne dass sie sich strafbar gemacht haben. Auch der Grund für eine bevorstehende Abschiebung ist oft nicht gegeben, denn viele Inhaftierte können nicht abgeschoben werden. Wenn den Gefangenen durch Spenden Rechtsbeistand zuteil wird, dann werden 80% von ihnen entlassen: Die Inhaftierung – beantragt durch die Ausländerbehörde – verstößt gegen das Recht.

Bei den Gottesdiensten vor den Gefängnismauern informieren wir über die Situation hinter den Mauern. Manchmal winken uns Menschen von drüben zu. Wir singen und lesen einen Abschnitt aus der Bibel. Dann geht jeder an einen Ort des stillen Gebetes in Sichtweite der Gefangenen, mit denen Jesus sich ausdrücklich identifizierte (Mt 25,36; Lk 4,18). Nach einer Weile kommen wir wieder zusammen und sprechen das aus, was uns bewegt hat vor dieser Mauer. Sie erinnert auch an die Mauer um Europa, an der jährlich viele tausend Menschen sterben. Anschließend besuchen wir einige Gefangene.

Das anklagende Gebet an den Gefängnismauern wird als politisches Engagement wahrgenommen. Ist das Gebet nicht etwas ganz Persönliches? Im Gebet stehen wir vor Gott, der diskret und auch offen in seiner Schöpfung sichtbar ist. Unsere gutes Tun (Mt 6,3) und unser persönliches Gebet (Mt 6,6) bleiben lieber im Verborgenen, aber die Wahrheit, die Gott unter uns ist, gehört auf den Leuchter und nicht unter einen umgestürzten Eimer (Mt 5,15). Das Gebet vor den Gefängnismauern ist politisch: Es stellt die von Gott geschenkte Würde aller Menschen – mit und ohne Pass – auf den Leuchter.

Nicht alles gehört in die Öffentlichkeit. Einsichten, Versöhnung und vieles andere muss im Verborgenen wachsen. Doch auch dort ist es schon politisch. Die verborgenen Gespräche von Christen im Kreisauer Kreis während der Nazi-Diktatur waren politisch; ebenso das Verstecken von Menschen jüdischen Glaubens, von Zigeunern oder Behinderten.

Der Gegensatz zu politisch heißt privat. Wichtige Einsichten werden zum Privatbesitz, wenn wir unsere Erfahrungen nicht teilen: Zustände in Pflegeeinrichtungen, Beobachtungen in der Natur oder ein Mobbing im beruflichen Umfeld. Schritte in die Öffentlichkeit gehen wir entsprechend den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Danach mit anderen zu suchen, ist oft mühsam. Aber auf dem Weg werden sich die Aussagen und Forderungen verändern und festigen. Dabei wird klarer, welche Informationen für die Öffentlichkeit notwendig sind und nicht privatisiert werden dürfen und welche durch Diskretion geschützt werden müssen. Politisch verantwortliche Wege


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sind gemeinschaftliche, die oft im stillen persönlichen Lebensraum durchgebetet und bedacht werden müssen.

veröffentlicht in: Caritas-Konferenzen Deutschlands, 7/2009


291 Verflechtung – Bild von Christian Schmidt


Frieden, Interreligiöses Gebet

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Nimm keine Bestechungsgeschenke an – Arbeitergeschwister

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Nimm keine Bestechungsgelder an, denn Geschenke machen Sehende blind und verdrehen die Sache derer, die im Recht sind. So steht es im Buch Exodus (23,8). Mit diesem Vers aus der Tageslosung begann das Morgengebet der Arbeitergeschwister auf dem 2. ökumenischen Kirchentag 2010 in München vor der Rüstungsfirma Krauss-Maffei Wegmann mit dem Thema: Welche Arbeit ist in Deutschland wichtig angesichts der weltweiten Kriege? Nach der Begrüßung und einem Lied fragte Leh: Warum sind wir hier? Während auf dem Messegelände in zahlreichen Veranstaltungen gegen den Krieg weltweit die Stimmen erhoben werden, stehen wir heute morgen dort, wo für die Durchführung solcher Kriege tagtäglich gearbeitet wird. Wir sind gegen Krieg als Mittel einer politischen Auseinandersetzung. Wir sind der Ansicht, dass es auf diesem Weg gesellschaftlicher Einmischung nicht ausreicht, bundesdeutsche Kriegseinsätze beispielsweise in Afghanistan abzulehnen – eine Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land tut dies -, wenn gleichzeitig die


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Produktion von kriegswichtigem Material ungehindert weitergehen kann. Wir stehen heute morgen an einem solchen Ort der Kriegswaffenproduktion, nämlich vor der Rüstungsfirma Krauss-Maffei Wegmann (KMW), die maßgeblich an der Durchführung und Aufrechterhaltung von Kriegen ihr Geld verdient. KMW ist einer der Hauptlieferanten für die Bundeswehr, versorgt diese Armee mit kriegswichtigem Gerät. Wir sind der Ansicht, dass es nicht hinnehmbar ist – auch 65 Jahre nach dem verheerendsten Krieg nicht, der von Deutschland ausging -, dass in diesem Land große Waffenschmieden immense Geschäfte machen mit der Produktion und dem Export von Tötungsmaschinen. Der Rüstungskonzern KMW ist mittlerweile zum Marktführer von Kriegsgeräteproduktion in Europa aufgestiegen. KMW produziert den Schützenpanzer „Dingo“, genauso wie die „Leopardpanzer“, die Flugabwehrkanonen-Fahrzeuge „Gepard“ und sie produziert Minenwerfer. Dieser Konzern ist der Wartungspartner und Ersatzteillieferant des deutschen Heeres.

Wir wollen Mut machen und zeigen, dass es möglich ist, die Geschäftsstrukturen solcher Konzerne wie KMW zu benennen und die Orte der Rüstungsproduktion aufzusuchen. Wir wollen damit ins Bewusstsein rücken, dass in diesem Land nicht nur Kriege politisch organisiert werden, sondern dass wirtschaftlich mit der Kriegsproduktion lukrative Geschäfte gemacht werden. Es sind Geschäfte mit Waffen, die anderswo ganze Regionen und die Menschen dort um ihr Leben bringen. Es sind Waffen, die todbringende Wirkung entfalten sollen, Waffen, die Existenzen vernichten, die Menschenleben zerstören oder die Menschen lebenslang zu Invaliden machen. Wir nennen solche Produktionsabläufe Organisierung von Massenmord aus niederen Beweggründen. Zeigen wir, dass wir mit Rüstungsproduktion weltweit nicht einverstanden sind!

Fangen wir damit hier und heute an, vor der Rüstungsfirma KMW! Fangen wir an, nein zu sagen zu solchem Geschäftsgebaren und organisieren wir Widerstand dagegen überall und immerzu! Wann, wenn nicht jetzt!

Auf dem Liedzettel fasst Carsten zusammen:

Gott im Himmel und auf der Erde, wir bitten dich: Dein Reich komme! Dein Wille geschehe! Wie im Himmel, so auch hier: In der Firma Krauss-Maffei Wegmann. Von diesem Ort aus werden über 3000 Arbeitende geleitet, die jährlich über eine Milliarde Euro Umsatz erarbeiten mit Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Geschützen. Wir bitten dich um deine Zärtlichkeit, mitten hinein in dieses harte Geschäft.


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Wir bitten dich um deinen lebendigen Geisthauch, mitten hinein in diese Büros und in alle Produktionsstandorte dieses Weltkonzerns.

Wir bitten dich um deine Lebendigkeit, die Menschen Mut macht, auf dich und auf Schwestern und Brüder zu vertrauen, statt auf Arbeitgeber und andere Herren,

und die Mut macht, sich Fragen nach dem Sinn der Arbeit zu stellen.

Wir bitten dich, lass die Menschen nicht allein, die von deutschen Waffen bedroht werden und die sich nicht mit gepanzerten Fahrzeugen von Krauss-Maffei Wegmann in Sicherheit bringen können. Lass sie nicht im Stich! Und wir bitten diese Menschen und dich um Vergebung unserer Schuld,

dass wir in Deutschland vom Waffenhandel profitieren. So soll es sein, das heißt: Amen.

Anschließend spricht Leh uns den Segen zu:

GOTT segne dich und behüte dich,

auf dass du mutig wirst und andere ermutigst,

auf dass du wachsam wirst, wo andere wegschauen

auf dass du dich einsetzt, wo Leben bedroht ist.

Die EWIGE lasse IHR Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig,

auf dass du handeln lernst und nicht zurückschreckst, weil du

Fehler machen könntest.


Der EWIGE GOTT erhebe SEIN Angesicht über dich

und schenke dir Frieden,


auf dass DU dich erhebst, aufstehst gegen den Krieg zu deiner Zeit

und dort, wo du lebst,

auf dass du mit Herz und Sinnen mit Mund und Händen

der Erlangung des Friedens nachjagst. Amen.

(nach Numeri 6,24-26)

Die Arbeitergeschwister engagierten sich im Bündnis „Fair teilen statt sozial spalten“ mit vielen anderen Gruppen, die den Wunsch nach Gerechtigkeit auf dem Kirchentag deutlich ausdrücken wollten.


Bin ich, was ich arbeite? – Jens Klein-Bösing

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Auszüge aus Stellenanzeigen der Krauss-Maffei Wegmann GmbH

Gesucht: Entwicklungsingenieur Software 3D

Aufgaben: Anpass- und Neuentwicklung von Simulationssoftware in C++ und


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OpenGL

Generierung fotorealistischer 3D-Darstellungen in Echtzeit

Erweiterung von Simulationen um dynamische Objekt- und Geländeeigenschaften

Integration und Weiterentwicklung bestehender Softwarekomponenten

Analyse von Kundenanforderungen und Detailabstimmung mit dem Kunden, technische Unterstützung bei der Angebotserstellung

Anforderungen: Hochschulstudium im Bereich Mathematik, Physik, Elektrotechnik,

Informatik oder vergleichbar

Erfahrung in objektorientierter Analyse und Design

Sichere Beherrschung von C++ und OpenGL sowie Linux und Windows

Wünschenswert ist Erfahrung in Game Engines und Skriptsprachen

Idealerweise Erfahrungen in aktueller Spieleentwicklung

Gute Englisch-Kenntnisse

Selbständige, gewissenhafte und zuverlässige Arbeitsweise, Teamfähigkeit


Gesucht: Servicemonteur oder -techniker m/w befristet für 1 Jahr

Aufgaben: Instandsetzungsaufgaben an gepanzerten Kampffahrzeugen insbesondere im Bereich Turm Leopard2 im Rahmen der Behebung von Gewährleistungsschäden, der Bearbeitung von Instandsetzungsaufträgen sowie bei Nachrüstungen und Kontrollarbeiten Mithilfe bei der dezentralen Ersatzteilbeschaffung der Bundeswehr

Durchführung von Ausbildungsveranstaltungen für Personal der Bundeswehr

Einsatz bei Fahrzeugbetreuung im Ausland (auch Krisengebiete) Anforderungen: – Je nach Funktion abgeschlossene Berufsausbildung als Kfz-Mechaniker, Meister (Kfz-Technik) oder Techniker (Maschinenbau) Kenntnisse der Fahrzeugtypen Leopard 1 und 2, DINGO und anderen in Instandsetzung und Funktion erwünscht

Kenntnisse der Turmsysteme von Kampfpanzern erwünscht … Bereitschaft für ständige Außendiensttätigkeit, auch in Krisengebieten Teamfähigkeit, Belastbarkeit, hohes Maß an Dienstleistungsorientierung Englischkenntnisse in Wort und Schrift

Ihr beschreibt Anforderungen und Aufgaben,

aber wo steht, was Ihr mir bietet?

Was gebt Ihr mir?

Ich teile mit Euch meine Kenntnisse,

das, was ich gelernt habe,


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was ich lernen wollte und was ich lernen musste, in der Schule, während der Ausbildung, im täglichen Leben, so gut ich eben konnte, mit meinen Grenzen und mit meinen Talenten.

Ihr verlangt von mir Teamfähigkeit,

und immer wieder und so lange schon

lerne ich mich selbst und den anderen achten,

in der Familie, unter Freunden, auf der Arbeit, unter Fremden.

Immer wieder versuche ich eine gemeinsame Sprache mit meinem Gegenüber zu finden,

und freue mich, wenn aus der Verschiedenheit etwas Neues wächst.


Ihr fordert von mir meine Belastbarkeit,

die Fähigkeit stehen zu können, lebendig und gelassen zu bleiben,

trotz widriger Bedingungen.

Den Glauben daran, Krisen meistern zu können im Wissen,

durch Krisen gegangen zu sein.

Ich gebe Euch meine Kenntnisse,

ich gebe Euch meine Teamfähigkeit,

ich gebe meine Belastbarkeit,

aber was tut Ihr damit wenn Ihr es habt?

Ist das alles nicht ein Teil von mir?


Bin ich, was ich arbeite?

Ich bin Entwicklungsingenieur, Servicemonteur, Kfz – Mechaniker, Meister, Geselle, Arbeiter, Arbeitnehmer, Arbeitsuchender …

Gefordert sind Kenntnisse, Belastbarkeit, Teamfähigkeit, Bereitschaft, Erfahrung, Beherrschung …

Ich soll, muss, habe zu …

Dabei wäre ich so gerne ganz,

wünsche, ich wäre heil,

wäre so gerne zwecklos,

wäre einfach Mensch.

Beitrag zum Morgengebet der Arbeitergeschwister vor dem Werkstor der Rüstungsfirma



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No to nukes: Atomwaffen, nein danke – Elisabeth Wackers

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In meinem damaligen Wohnort bekam ich Kontakt zu einer Familie, deren beide Töchter für eine Demonstration in Schottland warben. Dazu gingen einige Informationen per Mail hin und her. Ich beschäftigte mich mit der Blockade faslane365 im März 2007. In Faslane ist das britische Atomwaffensystem Trident (Atom-U-Boote) stationiert. Es besteht aus vier Atom-U-Boote, davon sind ständig zwei im Einsatz. 58 Interkontinentalraketen und 200 Sprengköpfe. Jeder dieser Sprengköpfe hat das achtfache Zerstörungspotential der Bomben, die Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 trafen. Faslane365 fand zu einem Termin statt, da der britische Regierungschef Tony Blair angekündigt hatte, eine neue Generation Atom-U-Boote bauen zu lassen. Am 14. März 2007 sollte darüber im Parlament entschieden werden. Die U-Boote haben eine Lebensdauer von ca. 30 Jahren und die Bauzeit beträgt ca. 14-17 Jahre. Die zweite Generation wurde 1994 eingesetzt und ist bis voraussichtlich 2024 einsatzbereit. Ich erfuhr im Internet, dass sich Gruppen aus vielen Ländern Europas dazu eingetragen hatten: Friedensinitiativen, kirchliche und gewerkschaftliche Gruppen, Mediziner, Studierende, Lehrer, Politiker – alle waren bereit, ein oder zwei Tage in der unwirschen Landschaft nördlich von Glasgow dafür einzustehen, dass Großbritannien endlich atomwaffenfreie Zone wird. Die britische Bevölkerung steht mehrheitlich hinter diesen Protesten und unterstützte den Aufruf. Mein Interesse wuchs und ich spürte eine Solidarität mit denen, die sich für eine atomfreie Welt einsetzen. Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen. Sie sind illegal und gehören abgeschafft. Es klopfte in mir eine Verantwortung an, für mich, meine Familie und Freunde, meine Umwelt, die Erde und die gesamte Schöpfung mitzumachen.

Die Vorbereitung war per Mail gut organisiert. Und doch blieb bei mir Unsicherheit und auch wohl Angst mit im Gepäck. Meine Familie und Freunde waren sehr skeptisch und besorgt. Ich selber stand an einer neuen Wegkreuzung und dachte daran, meinen Wohnsitz für einen neuen Lebensabschnitt zu wechseln – und dafür sah ich diesen Einsatz als geeignete Probe an. Inzwischen gab es eine Teilnehmerliste und ich nahm Kontakt zu Christian auf. Er berichtete von der Herstellung von Lock-ons (Arm-Rohre) und den Treffen, die in Berlin stattfanden. Soweit es ging, bereitete ich mich nun von meinem Wohnort aus darauf vor, besorgte mir einen weißen Overall und nötiges Zeltzeug.

Mit einem Bus, in dem wir sitzen und liegen konnten, fuhren wir am 26. März 2007 über Calais-Dover nach Schottland. In einer Kirchengemeinde


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wurden wir herzlich aufgenommen. In der Nacht beschäftigten wir uns mit der Form der Blockade, bekamen wichtige Skizzen über Orte und Lage, lernten uns kennen, zu sprechen und gewaltfreies Verhalten zu üben. Wir lernten die Lock-ons anzulegen und uns darin zu bewegen. Wir waren 25 Leute. Davon meldeten sich einige als Aktionshelfer, andere, die Präsenz zeigen wollten, wieder andere, die ohne Materialien blockierten oder andere wichtige Aufgaben übernahmen und schließlich die, die sich zu einer angeketteten Sitzblockade bereithielten. Wir tauschten Verhaltensregeln aus, wichtige Informationen und Hinweise. Viele Telefonate und Organisatorisches waren zu erledigen. Ich selber war das erste Mal bei einer solchen großen Demonstration im Ausland. Aufmerksam zu sein und zu lernen war wichtig für mich. Das wurde mir leicht gemacht durch unser gemeinschaftliches Ziel und Miteinander. Die Unsicherheiten anderer Teilnehmer forderten mich auch wohl heraus. Meine Nachbarin wurde unsicher, ob sie an der Sitzblockade teilnehmen kann und wollte es erst am nächsten Morgen entscheiden. Ich zeigte Verständnis dafür und es gelang ihr dann doch mitzumachen. Eine andere zog vor, sich auf einen naheliegenden Berg zum Beten zurückzuziehen.

Wir anderen fuhren am frühen Morgen – noch im Dunkeln – mit den Autos zur Mainroad. O je, die Polizei war schon anwesend?! Was wir noch nicht wussten: Zu unserem Schutz! Ich brauchte noch einen weiteren Schutz und bat noch im Bus Christian um Gottes Segen. Das stärkte meinen Mut, der jetzt gefragt war. Als der Bus hielt, steckten wir geschwind und wortlos unsere Arme in die Rohre und liefen auf die Straße. Dort nahmen wir schnell unsere Position ein, legten uns flach in die Mitte der Straße und bildeten eine menschliche Barriere. Zusammengeschweißt sein bedeutet seither für mich: Doppelte Kraft. Dieses Band spürte ich ganz stark. Es hat mich bis heute gehalten, auch nach dem Auseinandersägen von Schneidbrennern. Aktionshelfer mit Transparenten stellten sich den Autos in den Weg. Ein Autofahrer wollte ärgerlich die Sperre durchrasen. Da sprang die Polizei im benachbarten Auto heraus zu unserem Schutz. Über Walkie-Talkies forderten sie Verstärkung an. Mit neongelben Schutzwesten ausgestattet, eilten Bobbies heran und versuchten uns zu bewegen, die Straße freizugeben. Wir wurden gebeten, wenigstens auf eine Seite zu wechseln. Das war nicht in unserem Plan. So blieben wir angekettet auf der Straße liegen und sangen laut unsere Lieder: Währt Euch, leistet Widerstand, gegen die Atomwaffen im Land. Schließt Euch fest zusammen, schließt Euch fest zusammen.

An den Straßenrändern standen Menschen aus der Bevölkerung, die uns zuriefen und klatschten. Musik unterstützte die Rufe und unsere Lieder. Die


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nachrückende Polizei ließ nicht lange auf sich warten. Immer wieder wurden wir um Aufgabe gebeten. Der letzte Vorschlag war, dass wir uns über dem Randgrünstreifen dem Marinestützpunkt nähern dürften. Auch diesem Plan trauten wir nicht. Also blieben wir. Wir wechselten im beginnenden Tageslicht bei feucht-nebliger Luft und kaltem schottischem Seewind, die Positionen vom Liegen zum Stehen und umgekehrt unter Sprechchören und Liedern:


Bleibet hier und wachet mit mir …

Ich bleib hier und Du in mir …

Bleibt in mir und ich in Dir …

Nach dieser Erde wäre da keine,

die eines Menschen Wohnung wär,

darum Menschen achtet und trachtet,

dass sie es bleibt.

Wem denn wäre sie ein Denkmal,

wenn sie still die Sonn umkreist.

Drei Stunden lagen, standen und sangen wir bereits, dann wurden Schneidbrenner herangefahren. Zunächst wurden Christian und ich getrennt, danach ich von Irene. Es war eine lange Prozedur. Ein Dolmetscher kam hinzu, der mir erklärte, was jetzt passiert. Und blieb bei mir. Hinter mir stand der Motor und meine Augen begannen stark zu brennen und zu tränen. Doch die Techniker und die Polizei waren freundlich und sehr behutsam. Mit sehr viel Sorgfalt, Augenschutzbrillen, Lederplanen zum Schutz, sägten sie durch die Rohre. Journalisten und Kameraleute waren in der Nähe. Das Gefühl beim Durchtrennen an den Gelenken war schon heikel. Nach einer geraumen Zeit war die Prozedur vorbei, ich streckte freudig beide Arme und Hände in die Luft: Alles dran! Erleichtert ließ ich mich zu einem nahegelegenen Mannschaftswagen tragen. Ich war die erste darin, die anderen folgten bald. Durch ein kleines Fenster konnte ich die Aktion dann weiter beobachten. Männer und Frauen wurden in getrennte Polizeiwagen getragen und nach ca. vier Stunden waren wir von der Straße geräumt und die Autokolonne fuhr mit uns durchs Land. Zweimal wurde in verschiedenen Gegenden zur Kontrolle und Personalüberprüfung angehalten. Dann fuhren wir weiter in eine Verwahrungsanstalt. Bücher und Sonstiges, alles hatten wir abzugeben. Wir wurden in Zellen verteilt. Durch den Schlitz in der Türe, die von innen kein Schloss und keine Klinke hatte, fragten wir nach Wasser. Die Zelle war


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so eng, dass ich leider den dünnen Plastikbecher mit Wasser umstieß. Sofort teilten Irene und Katja liebevoll ihren Becher mit mir. In der Nacht wurden wir geholt, jeweils allein. Es wurden Fingerabdrücke genommen, Fotoaufnahmen erstellt, Fragen zur Person etc. waren zu beantworten. Die diensttuenden Beamten/innen erleichterten mir die Untersuchungen mit ihrer Freundlichkeit und erklärten dabei ihre Untersuchungen. Durch den Türschlitz erbat ich mir ein Stück Papier und Bleistift. Ich machte mir Notizen über meine derzeitigen Beobachtungen und Gefühle. Jetzt hatte ich Zeit nachzudenken über mein Sein und Suchen. In der engen Zelle spürte ich, wie wenig es zum Leben braucht?! Und immer wieder tauchten Ängste und Unsicherheiten auf. Das Rascheln der Schlüssel draußen im Flur ließ mich schaudern. Die verbrauchte Luft machte mir Kopfschmerzen. Künstliches Licht konnte nur von außen geschaltet werden und Wasserbecher wurden hin und wieder durch den Schlitz gereicht. Es roch beißend nach Verbranntem. Atomwaffen vernichten. Wie und wo will ich mich dem Leben nähern? Was gilt es nach- und aufzuarbeiten in mir, in meinem Leben? Leitet mich die Angst oder auch die Zusage Gottes? Wir waren zu dritt in dieser Zelle. Die stille, empfindsame Gemeinschaft spürte ich als Kraft. Ab und zu sangen Katja, Irene und ich einen Kanon. In der Nacht und am folgenden Tage war viel Unruhe in den Fluren und keiner wusste so genau, wie es weitergeht. Die oft falschen Informationen der Diensttuenden und die Unsicherheiten zerrten an unseren Nerven. Nach 32 Stunden wurde eine nach der anderen aus der Zelle geholt. Ich verließ als Letzte die Zelle und atmete auf. Alleine zurückbleiben zu müssen war dann doch bei mir angstbesetzt.

Ich staunte, als der Beauftragte des Gerichtes mich in deutscher Sprache empfing. Er erzählte, dass er Verwandte dort wohnen hat, wo ich herkomme. Er war sehr beeindruckt von der Disziplin und sagte: Es sei die beste Blockade und die besten Lock-ons gewesen, die sie gesehen hätten. Er bedankte sich. Musste mir aber, wie auch den anderen, einen Brief des Gerichts aushändigen, wonach ich ermahnt wurde, zwar nach Schottland weiterhin kommen zu dürfen, jedoch ohne bei einer strafbaren Tat mitzumachen, da ich sonst für eine erneute Straftat verurteilt würde. Ich war froh, die anderen draußen zu finden. Mit meinem Handy bestellte ich ein Taxi für uns drei und teilte unsere Freilassung unseren Aktionshelfern mit. Da erfuhren wir eine wunderbare Überraschung. Während unserer Fahrt interessierte sich der Taxifahrer für unsere Aktion. Mit Vorbehalt erzählten wir von unserer Blockade in Faslane und unserem Aufenthalt im Knast. Der Mann am Steuer nahm großen Anteil, entschuldigte sich für die Behandlung, die wir über uns ergehen lassen mussten. Er drückte seine Freude aus über unsere mutige Unterstützung, wofür


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die Menschen hier in Schottland sehr dankbar seien. Am Ziel angekommen, wollte ich zahlen. Nein, sagte er, das ist mein Beitrag jetzt für euch. Auch zum Dankeschön nahm er nichts an, gab Gas und verschwand. Davon waren wir sehr beeindruckt. Im Gemeindehaus war ich froh, Christian und meine Freunde wiederzusehen. Gemeinsam bereiteten wir ein Essen, stärkten uns und traten dankbar die Rückfahrt an. Mein weiterer Weg war für mich deutlich geworden.


Ein Weckruf für uns alle – Melannie Die Ereignisse vom 11. September waren ein Weckruf für uns alle. Die Ereignisse zwangen uns, die Bedeutung aller Dinge neu zu bewerten. Die Tragödie unterstrich die Dinge, die wirklich wichtig sind: Die Heiligkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens, das Geschenk von Familie und Freundschaft, der echte Heroismus, der darin liegt, sein Leben füreinander hinzugeben. Vielleicht können wir uns an diesem Thanksgiving-Fest fragen: Was ist wirklich wichtig für mich? Für was oder für wen wende ich meine Zeit und Energie auf? Worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit als Einzelpersonen, als Hausgemeinschaften, als Provinz und als Kirche? Sind diese Dinge die Zeit und die Aufmerksamkeit, die wir ihnen geben, wert?

Wir können diese heilige Aufgabe, unsere Welt wieder aufzubauen, damit beginnen, jeder Person mit Ehrfurcht zu begegnen. Gott schenkt uns jeden Tag. Der traditionelle Gruß in Indien heißt namaste. Das ist ein kurzes Wort mit einer tiefen Bedeutung. Namaste bedeutet:

Ich ehre in dir den Ort, an dem das ganze Universum wohnt.

Ich ehre in dir den Ort der Liebe, des Lichtes, der Wahrheit und des Friedens.

Ich ehre in dir den Ort, wo – wenn du an diesem Ort in dir bist und ich an diesem Ort in mir – wir beide eins sind.

Auszug aus ihrem Brief aus den USA vom 24. Oktober 2001


Was wird aus unserer Zukunft? – Kathrin Swaton

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Anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung hat das Maximilian-Kolbe-Werk im Januar 2010 in Zusammenarbeit mit der Deutschen Sektion von


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Pax Christi und dem Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim die internationale Begegnung „65 Jahre nach Auschwitz“ veranstaltet. Wir waren 30 junge Erwachsene zwischen 18 und 28 Jahren – aus Polen, Deutschland und anderen Ländern – und wir trafen uns mit etwa zwölf Überlebenden/Zeitzeugen von verschiedenen Konzentrationslagern und Ghettos. Die Zeitzeugen gaben, für alle mit ähnlichem Schicksal, dem oft namenlosem Leid, Gesicht und Stimme. In intensiven Gesprächen, in Arbeitsgruppen und in Interviews, erhielten wir einen authentischen und persönlichen Einblick in Struktur und Folgen der nationalsozialistischen Verbrechen! Sensibilisierung für die Bedrohung menschlicher Werte, die Stärkung des sozialen Engagements sowie die Vorbereitung einer Botschaft für den Frieden als Vermächtnis der Überlebenden waren Elemente der gemeinschaftlichen Tage.

Als ich mit der Gruppe vorm Eingang ins ehemalige KL Auschwitz 1 stand – vor dem Tor mit dem Spruch „Arbeit macht frei“ -, befiel mich ein so schweres, bedrückendes Gefühl. Ich konnte plötzlich nicht weitergehen – überwand dann aber dieses drückende Gefühl von Schwäche und Angst und ging mit der Gruppe unter dieses Tor hindurch – weiter hinein. Diesen inneren Kampf mit meiner Schwäche hatte ich während der gesamten Woche, aber die Gemeinschaft hat mir sehr viel Halt gegeben, weiter zu gehen.

Uns wurde viel über die grausamen Verbrechen, die damals begangen wurden, erzählt und gezeigt: U. a. eine riesige Urne mit Asche, Koffer, unendlich viel Haare, Brillen, Todeszellen, Gaskammer, Verbrennungsöfen … und und und …

Ich hatte mir vorgenommen etwas an diesem Ort als Geschenk zu lassen und ich bekam wirklich die Möglichkeit, an der Todesmauer meine Taufkerze anzuzünden und für einen Moment sogar in Gedanken zu beten: Gott – trotz allem hier – ich glaube Dir! Ich verspürte in diesen Augenblicken viel Hoffnung und Mut trotz meiner Angst und es war für mich wieder wie eine Tauferneuerung! Danach hatte ich wirklich mehr Kraft, mir ganz intensiv das Gehörte und Gesehene von Auschwitz bewusst zu machen und zu verstehen – auch wenn es fast unmöglich ist, alles zu begreifen. Nach etwa zwei Stunden Besichtigung fuhren wir weiter zur Gedenkstätte „Auschwitz-Birkenau“. Als wir über das Gelände des Konzentrationslagers gingen, wurde uns das Ausmaß der Zerstörung und Verbrechen immer bewusster. So weit mein Auge sah: Alles voller Baracken, Krematorien – auf ca. 175 Hektar.

Im Mittelpunkt der Begegnung stand die gemeinsame Teilnahme an der Feier zum 65. Jahrestag der Befreiung in der Gedenkstätte „Auschwitz-Birkenau“ am 27.1.10. Ich durfte mit einem Überlebenden durch das Haupttor (ehemaliges „Todestor“) gehen und ihn begleiten. Es war sehr beeindruckend für


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mich, ihn beim Gehen durch die Gedenkstätte zu stützen; ich bekam durch ihn irgendwie Kraft noch mal dadurch zu gehen! Er hat sich sehr gefreut und mich fröhlich umarmt. Als wir mit den Zeitzeugen Gespräche führten, wurde mir wirklich vieles sehr nahe und vorstellbar und es war sehr aufwühlend und traurig. Doch ich merkte, dass ich diesen Zeitzeugen keinen Gefallen tue, wenn ich gleich zusammenbreche – ich hab versucht ihnen in die Augen zu schauen und zu begreifen. Sie erzählten zwar viele schreckliche Erlebnisse in den verschiedenen Konzentrationslagern und Ghettos, aber gaben uns auch die Botschaft, das Gehörte und Gesehene niemals vergessen zu lassen, Frieden auch heute versuchen zu schaffen.

Es war alles – jeder Moment in diesen Tagen – sehr bewegend. Ich kann das gar nicht so ausdrücken. Aber ich möchte einfach sagen, dass ich sehr dankbar für diese Erfahrung dort bin. Ich bin verändert und beeindruckt zurückgekommen. Und ich möchte alle ermahnen, die noch nie dort waren: Geht dort hinein. Seht und hört und vor allem betet, dass es so was wie damals nie wieder geben wird! Wenn ich – wenn du es nicht begreifst – was wird dann aus unserer Zukunft?


Mit einer Friedenskerze nach Jerusalem – Thomas Joachim Uhlig

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Von der Mauer in Potsdam und Berlin zur Mauer in Jerusalem. Selbst an der Berliner Mauer aufgewachsen, habe ich die friedliche Revolution von 1989/90 als 14-jähriger miterlebt. Die Kerzen in den Händen der demonstrierenden Menschen in Leipzig, Dresden und Chemnitz und vielen anderen ostdeutschen Städten haben mich nie wieder losgelassen. Tief im Inneren haben Sie haben mich geprägt. Sie zeigten mir, welche Kraft ihr Licht in sich trägt. Die Sehnsucht im Hier und Jetzt nach Frieden, nach Liebe und Gerechtigkeit, nach Verbundenheit mit der Natur, nach allem, für was es schlägt. Im Hier und Jetzt lehrte mich die Kerze, mich zu meiner, unser aller, Geschichte zu bekennen, im Guten wie im Schlechten. Sie lehrte mich täglich mehr in Kontakt mit mir selbst zu kommen und in die Augen des Nächsten zu schauen und die Quelle zu erkennen. Sie hilft mir loszulassen und mich der Angst zu stellen und sie so zu überwinden und zur Quelle zu gehen.

Wie wir alle kam ich mehr oder weniger oft vom Weg ab, war mein Denken und Tun oft von Unrecht geprägt! Früh jedoch wurde der Meister in mir wach. Täglich begleitet er mich und auch in den dunkelsten Tälern hatte ich das Glück, dass es in mir leuchtete und mein eigenes Fragezeichen mit Leben erfüllte. Er fand die Antworten beim wunderbaren Sonnenuntergang in den


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Bergen, als die Sonne die Berge erleuchtete und inmitten des Lagers, das ihn seit Jahren im Herzen und Geiste begleitete. Auf der Todesrampe von Auschwitz weinte ich und fühlte doch gleichzeitig mit der Kerze in der Hand den Frieden und die Versöhnung der Herzen, als sich eine Jüdin und ein ehemaliger deutscher Wehrmachtssoldat beim Gottesdienst im Lager umarmten und den Kelch tranken. So traurig es ist, durch den millionenfachen Mord und die größte Pervertierung des Menschlichen hat Auschwitz endgültig seine Bestimmung gefunden und die tiefste Sehnsucht des Menschen freigelegt – Nie Wieder!

Auf den eingefahrenen Wegen kommen wir nicht weiter. Andere Wege müssen wir gehen. Daher brach ich mit der Friedenskerze auf und sie „bezwang“ mich, denn ihrer Wahrheit und der Wahrheit des Herzens kann man nicht entrinnen, sie kann man nicht belügen.

Tiefen herzlichen Dank empfand er für die Geschenke, für die Tränen und die Verbundenheit, welche sich an so vielen verschiedenen Orten zeigte, in den Wäldern der Masuren, den Klöstern und Kirchen, Moscheen und Synagogen, in den vielen Lagern und am allermeisten bei den Menschen, zu welchen ich kam und welche mich mit so großer Herzlichkeit aufnahmen. Vertrauen, wo sonst Angst herrscht, Offenheit und Herzlichkeit, wo sonst die Mauern der Fremdheit zu fühlen sind.

Pfingsten 2009 brach ich von der Friedenskirche in Sanssouci mit einer dort gesegneten und entzündeten Friedenskerze zu Fuß nach Jerusalem auf. Selbst an der Mauer aufgewachsen, fühlte ich, die Welt hat genug Mauern gesehen auf dass die Mauern fallen.

Möge die Kerze zur Kerze in unseren Herzen werden. Möge sie uns „zwingen“, uns der Wahrheit zu stellen, auch unserer eigenen. Möge sie mir dir Kraft geben, meinen Beitrag zur Überwindung der Mauern unserer Welt zu leisten. Was treibt mich? Was treibt dich? Wofür leben wir? Was ist unsere innere Sehnsucht und folgen wir ihr? Was ist die Verantwortung unserem Gewissen gegenüber? Können wir, wenn wir das Glück einer Familie haben, unseren Kindern in die Augen sehen und ihnen sagen: „Wir haben getan, was wir tun konnten, um euch ein Feld, eine Erde zu hinterlassen, welche ihr bestellen könnt, auf welcher ihr ohne Mauern in Frieden und Gerechtigkeit, in Würde und Einheit mit unserer Mutter Erde leben könnt! Haben wir wahrhaft alles getan, was wir tun konnten? Die Beschäftigung mit diesen Fragen und die Verantwortung etwas für ihre Beantwortung zu tun, trieben mich auf diesen Weg.


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Täglich kamen am Anfang die Gedanken, ob es der Weg ist, ob das eigene Tun recht ist! Diese Fragen sind nach wenigen Wochen in mir gestorben – denn der Weg offenbarte klar die Antworten, zeigt mir die Wahrheit und Schönheit des Lebens, offenbarte klar, es ist der Weg, antwortete jeden Tag mehr und mehr, ja, ja, ja. Mein Lächeln wurde freier und die Lehren des Weges klarer. Tief „wanderten“ sie in die Tiefe meines Wesens und werden mein zukünftiges Leben tragen, denn durch sie fand ich zurück ins Leben. Täglich lehrte mich das Leben, wer nicht auf dem Weg der Demut ist, wird auf diesem Weg in die Demut gezwungen – jeden Tag dankte sein Herz für dieses Geschenk. Das größte Geschenk seines Lebens – die Kerze zwingt zu Wahrheit und Demut und Demut ist der Schlüssel zur alles umfassenden Liebe – zur größtmöglichen Wahrheit im täglichen Tun, im eigenen Fühlen und Denken, im Umgang mit dem Nächsten, zu Tieren und Pflanzen. Sie zwingt auf den Weg und der Weg ist das Ziel (das ist kein Allerweltssatz, sondern eine tiefe Wahrheit) und man wird reich beschenkt mit dem tiefen Gefühl, noch einen weiten Weg vor sich zu haben und doch immer stärker zu fühlen, auf dem Weg zu sein!

Ein kleines und doch so großes Erlebnis, welches Hoffnung gibt, dass wir aus dem Kreislauf der Geschichte ausbrechen können, dass der Weg zum Frieden doch machbar und nicht ewig ist: Ein deutscher Soldat sprach mich an, als ich gemeinsam mit 4000 Pilgern in das größte polnische Heiligtum, zur Schwarzen Madonna von Jasna Gora pilgerte, wovon ich direkt weiter nach Auschwitz wollte. Dort pilgern seit einigen Jahren deutsche, polnische und amerikanische Soldaten in Uniform und mit Fahne gemeinsam, singen heilige Lieder, gehen, beten und setzen Zeichen der Versöhnung. Am sechsten Tag gab ihm der Soldat einen großen Beutel voller Medizin, welche die Soldaten gesammelt hatten und drei Namensschilder von jungen deutschen Soldaten für die Mauer in Jerusalem – Nie Wieder! – auch der Herzens-Wunsch dreier Soldaten, deutscher Soldaten 60 Jahre nach dem Holocaust. Ich weinte in dem Augenblick und ich weinte als ich jetzt an diesen Augenblick erinnere – eines der größten Zeichen des Weges.

Der Weg mit der Kerze durch einige der dunkelsten Orte dieser Welt, die Konzentrationslager in Polen schenkte mir Leichtigkeit, immer öfter Leichtigkeit, denn die Tränen versöhnten mich und wurden getragen von meinem Herzen. Wie schwerer Ballast lag das Traumata des Holocaust in den Tiefen meines Wesens und beeinflusste jeden Tag meines Lebens bewusst und unbewusst, verhinderte ein normales Leben. Das „Nie Wieder!“ wurde zum Lebensstrom in meinen Adern und trägt mich nach Jerusalem. In den folgenden Wochen


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und Monaten nach Auschwitz konnte ich lachen und mit weit geöffneten Augen das Leben und die Natur aufsaugen, das frische Wasser in den Bächen der Berge genießen, mich satt essen an den wunderbaren Sonnenaufgängen, den Feldern voller Beeren, den Tieren und Vögeln.

Leben, Leben, Leben, ist der Ewige Sinn des Lebens. Den „höheren“, deinen eigenen Sinn des Lebens kannst du dir Kraft deiner Entscheidung selbst geben. Auch diese Einsicht und die Liebe zum Leben schenkte ihm der Weg endgültig. Leben ist Liebe – von Herzen Dank der Kerze und dem Weg dafür. Shalom

kleiner Einblick in den Weg: http://www.stutthof.pl/deutsch/node/82


Notizen aus Bethlehem – Giselher Hickel

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Ich bin seit Mitte März in Palästina. Für drei Monate werde ich voraussichtlich Mitarbeiter eines Programms des Ökumenischen Rates der Kirchen sein: „Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel“ (EAPPI; Ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel).

Das Programm hat im wesentlichen zwei Aspekte: Zum einen geht es um die Präsenz in den seit 1967 von Israel okkupierten palästinensischen Gebieten. Dies ist ein Zeugnis von Solidarität mit den unter der Besetzung leidenden Menschen, es verbessert ihre Sicherheitslage und ermutigt die Betroffenen. Zugleich schafft das Programm, das ist der zweite Aspekt, internationale Öffentlichkeit. Die Erfahrungsberichte der Teilnehmenden sind dafür der wichtigste Beitrag.

Al Ma‘sara ist ein Dorf nahe Bethlehem. Am Freitag (19. 3. 2010) nach dem moslemischen Mittagsgebet in der Moschee formiert sich ein kleiner, aber lebhafter Demonstrationszug. Eine gewisse Routine ist spürbar. Dreißig Jahre bereits währt der Kampf um die Gemarkungen des Dorfes. Anfangs waren es Siedler, die die Felder in Besitz nehmen wollten. Damals half noch ein Gerichtsurteil zugunsten des Dorfes. Palästinensische Bauern und israelische Siedler haben inzwischen einen modus vivendi erreicht. Einige Dorfbewohner haben in der Siedlung sogar Arbeit gefunden. Doch nun soll ein Großteil der Felder dem Bau der Mauer zum Opfer fallen, die Bethlehem immer mehr vom palästinensischen Umland abzuschneiden droht. Sicherheitsfragen, mit denen der Mauerbau offiziell begründet wird – obwohl die Mauer an dieser Stelle ca. 10 km von der Grenze zu Israel entfernt auf palästinensischem Boden gebaut werden soll –, rangieren vor zivilen Gerichtsurteilen.


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An jedem Freitag sind jetzt Dorfbewohner, von israelischen und internationalen Unterstützern begleitet, auf den Beinen, um gegen die völkerrechtswidrige Konfiszierung der Felder zugunsten der monströsen Mauer zu protestieren. In den kurzen Ansprachen zum Auftakt höre ich aus den arabischen Sätzen mehrfach den Namen Gandhi heraus. Gewaltlosigkeit ist das erste Gebot für die Teilnahme an der Aktion.

Nach ca. 1000 Metern ist die Dorfstraße blockiert. Eine Stacheldrahtrolle stoppt den Zug und dahinter eine Abteilung schwer bewaffneter Soldaten. Auge in Auge stehen sie sich gegenüber, Fahnen schwenkend, Losungen skandierend die einen, unbewegt, stumm die anderen. Reden werden gehalten, diesmal in Arabisch, Hebräisch und Englisch, direkt an die Soldaten gerichtet:

„Wisst Ihr, was Ihr hier tut? Ist euch klar, dass Ihr dabei seid, die Existenz von Bäuerinnen und Bauern zu zerstören? Ihr vertreibt sie von dem Land, auf dem sie seit Generationen leben und arbeiten. Ihr tut Menschen Gewalt an, die Eure Väter und Mütter sein könnten, Kindern, die Eure Söhne und Töchter sein könnten …“ Natürlich bleiben die Fragen unbeantwortet, aber immerhin werden keine Schockgranaten geworfen, kein Tränengas und keine Gummigeschosse eingesetzt, wie in der Vergangenheit mitunter. Auch dann nicht, als eine Schafherde im Rücken der Demonstranten auftaucht. Ist das gute Regie oder Zufall? Der Schäfer macht keine Anstalten, die Herde umkehren zu lassen. Demonstanten greifen beherzt in den Stacheldraht und heben ihn so weit empor, dass die Herde passieren kann. Die Soldaten treten zur Seite. Die Befestigung der Stacheldrahtrolle hat sich gelockert. Entschlossen ziehen Demonstranten sie zur Seite. Wir halten den Atem an. Der Weg ist frei. Bewegung auf der anderen Seite, unsichere Blicke zum Kommandanten, hastige Telefonate.

Doch statt vorzurücken setzen sich die in der ersten Reihe Stehenden auf dem Asphalt nieder. Schließlich überschreiten zwei Soldaten die unsichtbare Grenze zwischen den Fronten und holen den Draht zurück in die ursprüngliche Position. Die Aktion ist beendet. Die Anspannung löst sich. Wir gehen auf der Dorfstraße zurück. Eine zweite Schafherde zieht vorüber – offenbar also doch keine Regie, sondern Alltag. Diesmal öffnen die Soldaten selbst die verlassene Absperrung. Ein Pressevertreter hält Marwan, einem der Organisatoren, das Mikrofon hin: „Können Sie erklären, warum die Demonstranten nicht die Chance ergriffen haben, weiterzuziehen, als der Weg frei war?“ Marwan: „Wir wollten keine Gewalt. Wären wir weitergegangen, hätten wir die Soldaten gezwungen, Gewalt einzusetzen. Es sollte bis zum Ende ein friedlicher Protest bleiben. Das haben wir geschafft. Nächste Woche werden wir wieder hier sein.“ Wir, die ökumenischen Begleiter, auch.


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Nachtrag: Haaretz (angesehene liberale israelische Tageszeitung): „… Omar A‘laa al-din, 25, aus Ma‘sara, einem Dorf in der Westbank, wurde vor zwei Tagen aus dem Gefängnis entlassen. Gestern, zehn Tage nach einem Zwischenfall mit der Grenzpolizei, waren die Blutergüsse auf seinem Rücken und seinen Beinen deutlich sichtbar. Es fällt ihm schwer zu laufen und zu sitzen, und infolge von Schlägen gegen den Kopf ist sein Sehvermögen beeinträchtigt. … Der Sprecher der IDF (Israelische Defence Force) sagt, A‘laa al-din habe versucht, Angehörige der Grenzpolizei bei einer regulären Inspektion anzugreifen.

A‘laa al-din, der an der Hebron-Universität Englisch und Französisch studiert, kam am 15. März mit dem Bus von Bethlehem zurück. Am Container-Checkpoint südlich von Abu Dus stiegen zwei Angehörige der Grenzpolizei ein. Einer von ihnen nahm A‘laa al-dins Identitätskarte. Als er sah, dass er aus Ma‘sara kommt, deren Einwohner jede Woche gegen den Trennungs-Zaun auf ihrem Boden demonstrieren, befahl er ihm auszusteigen …“

„Kommt und seht!“, das ist eine Aufforderung, die wir oft hören. Hinsehen und hinhören ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, Eindrücke aufnehmen und, so gut es geht, weiter vermitteln.

Gestern Mittag klingelt das Telefon: “Kommt und seht! In Al Kahdar ist ein Hausabriss im Gange.” Al Khadar ist ein Dorf am Rande von Bethlehem. Eine halbe Stunde später sind wir vor Ort. Eine Handvoll Menschen ist versammelt. Sie versuchen von den Soldaten der israelischen Armee, die das Gelände abriegeln, die Erlaubnis zu erwirken, passieren zu dürfen. Doch die verhalten sich strikt abweisend, auch uns gegenüber. Im Hintergrund ist das Geräusch einer schweren Baumaschine zu hören, die, für uns nicht sichtbar, ihre Arbeit verrichtet.

Schließlich eilt ein Rechtsanwalt herbei. Auf ihn muss sich der Offizier der schwerbewaffneten Militäreinheit einlassen. Er weist ein Dokument vor. Der Offizier führt per Funk ein Gespräch. „Yes, the job is done“, hören Umstehende ihn ins Mikrofon sprechen. Das Dokument enthält die Entscheidung des israelischen Obersten Gerichtshofes vom Vortag, die den Befehl zum Hausabriss für ungültig erklärt. Aber der Job ist bereits erledigt. Die Soldaten ziehen sich zurück. Der Weg ist für uns frei.

Wir kommen an der Trümmerstätte an. Frauen wehklagen händeringend. Männer starren mit ausdruckslosen Gesichtern in den Berg von Schutt und Schrott. Kinder irren weinend umher. Ein kleiner Junge, den Schulrucksack noch auf dem Rücken, schluchzt immer wieder: „Wo ist mein Haus? Wo ist mein Haus?“ Neun Menschen war das bescheidene, wellblechgedeckte Ge-


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bäude ein Zuhause. Die sieben Kinder von Ali Salim Musa und seiner Frau sind im Alter zwischen einem und acht Jahren. Aus drei kleinen Räumen, Küche und Bad bestand die Wohnung. Einige verstreute Möbel und Küchengeräte zeugen von äußerst ärmlichen Verhältnissen. Einige Meter weiter ist ein bereits abgestandener Schutthaufen aufgetürmt. Es sind die Reste eines früheren Hauses. Es ist das zweite Mal, dass die Familie auf diese Weise ihr Haus verliert.

Die Obdachlosen werden vorerst in zwei benachbarten Hütten Unterkunft suchen müssen. Sie gehören zwei Söhnen des Vaters aus erster Ehe. Achmad lebt mit Frau und fünf Kindern in einem Raum von ca. zwölf Quadratmetern und einer kleinen Küche. Mahmoud hat drei Kinder und sein Haus ist etwa ebenso groß. „Wir kommen wieder!“, sagte, bevor er abzog, einer der Soldaten zu dem fassungslosen Achmad mit Blick auf die verbliebenen zwei Häuser.

Auf meine Frage, die ich einem uns bekannten palästinensischen Menschenrechtler stelle, was wohl der Grund für den Abriss sei, reagiert dieser mit fast zornigem Unverständnis. „Sie brauchen keinen Grund. Egal ob Zone A oder B oder C des palästinensischen Autonomiegebietes, sie machen, was sie wollen.“ Der Ort am Rande des Dorfes liegt auf einer Anhöhe, von der aus man die Fernverkehrsstraße Nr. 60 überblickt, die nicht nur Jerusalem und Hebron miteinander verbindet, sondern auch die Zufahrt zu etlichen israelischen Siedlungen in dem besetzten Gebiet darstellt. Sollte das der Grund sein? Aber die Straße ist ohnehin durch Zäune und Gitter vor Steinwürfen geschützt.

Noch ist keine Stunde vergangen. Ein Frontlader von einer nahegelegenen Baustelle kommt und beginnt, den Schutt beiseite zu räumen. Ein Trennschleifer ist zur Hand. Stahlschienen werden durchtrennt und beiseite gelegt. Einrichtungsreste aus dem Schutt gezerrt. Das Aufräumen und zugleich der Wiederaufbau hat begonnen. Selbstverständlich ohne Genehmigung, denn deren Beantragung würde Jahre dauern, und es ist unwahrscheinlich, dass sie erteilt werden wird. Die Drohung, „Wir kommen wieder“, ist nicht aus der Luft gegriffen.

Als wir uns von Achmud verabschieden, dankt er uns mit warmen Worten, dass wir gekommen sind, um zu sehen und zu hören. Und er lacht dabei sogar ein wenig. Es wird hier viel gelacht, trotzalledem.


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Menschliche Großzügigkeit – Helene Bode

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Eine erste Lehre über menschliche Großzügigkeit, vor mehr als 40 Jahren von einem Bettler erklärt:

In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren Betteln und Obdachlosigkeit noch strafbar.

Eines Tages bekam ich für einen Berufsbettler, der mit einem scheinbar verkürzten Bein „arbeitete“, ein Pflichtmandat, weil er mehr als drei Monate in Untersuchungshaft war.

Nach der Verhandlung klärte er mich als Dankeschön über die Gesetze seiner Arbeit auf.

„Sehnse, Frau Anwältin,“ sagte er, „wennse wirklich Jeld bekommen wollen, dürfen Se nicht bei die Reichen betteln. Ne, die jebn nischt. Ick jehe immer in die Ausgsburger – das war damals Straßenstrich und Bordellbezirk im alten Westberlin – frühmorgens, wenn die Nutten nach Hause jehn, denn bettele ick da. Die jeben mir dann alle wat und saren, det ick och nur een armer Kerl bin und nich leben soll wie een Hund. Denn klimperts in mein Hut. Det wern Se bei die reichen Damen nich erleben.“ Recht hat er, der Gute.

Einem schlichten Gemüt gelingt es unverhofft, das Steuer herumzureißen. Lang, lang ist‘s her, da habe ich eines Tages wegen eines Diebstahls – m.E. bei sehr schwacher Beweislage – einen schlichten jungen Mann vertreten, der auf den ersten Blick wie ein Einfaltspinsel wirkte, ungeheuer sympathisch war und angenehm zu verteidigen. Er hatte nur einen kleinen Fehler: Er glaubte noch an Gerechtigkeit. Zuständig für ihn war Moabits gnadenloseste Amtsrichterin, brutal, hart, machtbewusst, ohne jedes Verständnis für Menschen, also die absolute Fehlbesetzung.

Der junge Mann wurde aus der Haft vorgeführt. Es war eine Schöffensache. In den Händen hielt er ein kleines holzgeschnitztes Schaf, seinen Glücksbringer. Er stellte es liebevoll vor sich auf die Balustrade. Die Vorsitzende verlangte, er solle es wegtun, einstecken. Er barmte um seinen Glücksbringer „der doch keinem was tut“ und kämpfte 20 Minuten lang, bis das Schaf auf seinem Platz vor dem Angeklagten bleiben durfte. Die Richterin war schon sauer. Die Beweisaufnahme lief gut für uns, das merkte man den wohlwollenden Schöffen an, nur die Frau Vorsitzende pfiff den Angeklagten an, warum er bei dieser Beweislage kein Geständnis ablege. Vermutlich dachte sie im Innern: „Na ja, bei dieser Verteidigerin.“ Vom Angeklagten kam schlicht die Antwort: „Weil ich unschuldig bin.“ Sie drang trotz meines Widerstandes weiter in ihn, da fielen die entscheidenden Worte – das Schaf wurde hoch gehalten – „Sa-


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gen Sie mir, was ich tun muss, damit Sie mir glauben. Was soll ich machen, damit Sie von meiner Unschuld überzeugt sind, sagen Sie es mir.“ Der Ton und die Worte trieben mir die Tränen in die Augen. Ihr verschlug es wohl die Sprache. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück.

Nach mehr als zwei Stunden betraten erst zwei schweißgebadete Schöffen den Saal, dann die Richterin, die mit wutbebender Stimme den Freispruch verkündete, der ihr durch die Schöffen aufgezwungen worden war, und ihn dann schlecht und gehässig begründete mit dem Hinweis, die Staatsanwaltschaft könne und werde sicher Berufung einlegen. „Nein“, sagte der Herr Staatsanwalt, er fände das Urteil richtig.

Der Angeklagte und das Schaf bedankten sich artig bei Gericht und traten nie mehr in Erscheinung.


Zivilcourage – Hannelore Behrendt

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Es geht um eine eher traurige Begebenheit, die wir Frauen „Unterwegs für das Leben“ in einem der neuen Bundesländer hatten. Zunächst möchte ich uns vorstellen, indem ich aus unserem Selbstverständnis einige Sätze zitiere. Wir machen uns gemeinsam auf den Weg von Ort zu Ort, um uns zu informieren und Gespräche zu führen mit Menschen über deren Alltag und ihre Sorgen und Nöte. Wir besuchen soziale Einrichtungen.

Die Fragen und Einsichten aus zahllosen Begegnungen unterwegs haben wir eingebracht in unsere jährlichen Gespräche mit Abgeordneten des Bundestages und Vertretern der Bundesministerien.

Es geht uns um das Auseinanderdriften von Arm und Reich, um Gewalt zu überwinden und um die Lebensgrundlage für die Schöpfung zu erhalten.

In diesem Jahr, waren wir in einem der neuen Bundesländer unterwegs. Wir besuchten den öffentlichen Kindergarten in einem der kirchlichen Gemeindehäuser. Wir informierten uns über die Situation arbeitender Mütter, über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir durften „mit“ den Kindern essen und dabei feststellen, mit wieviel Sorgfalt und Liebe das Essen zubereitet wurde.

Plötzlich stürzte eine der Betreuerinnen ins Zimmer: „Mein Fahrrad ist weg.“ Geklaut aus einem Hof, der durch einen hohen Bretterzaun von der Straße abgeschirmt und nicht einsehbar war. Wer macht so etwas? Doch nur jemand, der tagelang das abgestellte Fahrrad dort gesehen hatte. Das war kein spontaner Diebstahl.


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Später fuhren wir mit der Bahn zu unserer nächsten Verabredung, einer Diakonie-Station. Hier wollten wir uns informieren über die gerade angelaufene Pflegeversicherung. Wie funktioniert sie? Wie viel Zeit müssen Pflegekräfte für den Papierkram aufwenden? Braucht es am Ende mehr Zeit für die Verwaltungsarbeit als für die eigentliche Pflege? Fragen über Fragen.

An einer Haltestelle – wir waren schon eine gute Weile unterwegs – stieg ein Mann mit einem Fahrrad in den Zug. Ein Schelm, wer sich Böses dabei denkt. Aber: „Das ist ja das Fahrrad!“ Einige hatten es im Hof gesehen, fast neu, mit einem Einkaufskörbchen auf dem Gepäckträger. „Und da ist der Mann“. Einige hatten auch ihn gesehen. Was also tun? Waren wir ganz sicher? Zivilcourage war gefragt. Wir informierten den Zugführer, der wiederum die Polizei. Wir erfuhren, dass der Mann, den wir für den Dieb hielten, genau an der gleichen Station aussteigen wollte wie wir. Polizei war keine zu sehen. Wir stellten uns in den Weg und hinderten den Mann so am Fahren. „Das ist mein Fahrrad. Was fällt ihnen ein. Es gehört mir“. Ein Dutzend Frauen umringten ihn und schrieen auf ihn ein. Ohne Erfolg. Eine von uns, die Frau eines Pfarrers, versuchte es ganz ruhig und eher leise:

„Da liegt doch kein Segen drauf. Geben sie her.“ Das brachte ihn schlagartig zur Besinnung. „Ich rühre ihr Fahrrad nie mehr an“. Er ließ davon ab. (Hoffentlich auch kein anderes, so dachte ich)

Was war das für ein Mensch? Ich betrachtete ihn. Obdachlos war er nicht. Ein Süchtiger? Ein Klein-Krimineller? Ein Arbeitsloser, der mit seinem Geld nicht auskam? Letzteres war für mich wahrscheinlich. Er hat uns nur verraten, dass er auch schon für die Kirche gearbeitet hat auf dem Friedhof. Also ein Gelegenheitsarbeiter.

Abends waren wir mit einer Frauengruppe zusammen, die von ihrem Pfarrer begleitet wurde. Es ging um den ganz normalen Alltag, den zu bewältigen vielen Frauen in der ehemaligen DDR, zumal auf dem Land, noch schwerer fiel als uns im Westen. Natürlich erzählten wir unsere Fahrradgeschichte. Sie gehörte ganz einfach zu dem Besuch dazu. Der Pfarrer kannte sie schon: „Das hat mein Sohn, ein Fahrschüler, mir schon erzählt. Aber geglaubt hatte ich es nicht.“

Oft werden wir gefragt, welche Erfolge wir bei den Politikern hätten. Schwer zu sagen, auf alle Fälle nicht messbar. Aber das war doch ein sichtbarer Erfolg, wenn auch nicht in Berlin.

Dies zum Thema Zivilcourage. Wenn die 15 Gaffer sich am Bahnsteig zusammen getan hätten, wäre der Mord an Dominik Brunner mit Sicherheit verhindert worden.


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Dominik Brunner wurde am 19. September 2009 in München erschlagen. Er hatte sich schützend vor eine Gruppe Kinder gestellt, die von zwei Männern bedroht wurden.


Ziviler Ungehorsam – Gregor Böckermann

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Ende Oktober 2004 hielt ich folgende Predigt in einer Frankfurter Kirche: Schwester Roswith meinte am Telefon, „bei Gandhi habe ich gelesen – wer Aktionen zivilen Ungehorsams begeht, muss auch die Konsequenzen tragen. – Also sollten wir uns doch noch mal überlegen, ob wir die Rechnung der Fraport bezahlen“. Was war geschehen?

Am Karfreitag 2003 hatte die Initiative Ordensleute für den Frieden (IOF) versucht, in einer Protestaktion gegen den Irak-Krieg auf das Rollfeld des Frankfurter Flughafens zu gelangen, um dort ein Holzkreuz aufzustellen. Dabei waren zwei Zäune durchschnitten worden. Markus, Heike und ich waren zu je 30 Tagessätzen verurteilt worden. Jetzt forderte die Flughafengesellschaft fast 1.700 Euro für die Reparatur der beiden Zäune. Bedeutet die Konsequenzen dieser Aktion zivilen Ungehorsams zu tragen, die Rechnung zu zahlen? Wie waren wir in der IOF überhaupt zu Aktionen zivilen Ungehorsams gekommen?

Im Jahre 1990 hatten wir drei Tage lang eine Slumhütte vor der Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt aufgebaut. Unsere Forderung: Schuldenstreichung für die Dritte Welt. Bei den folgenden monatlichen Mahnwachen merkten wir langsam, es geht nicht nur um die Armen in der Dritten Welt. Auch in Frankfurt werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer und zahlreicher. Bei der jahrelangen Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem haben wir uns anschließend vor allem mit der bestehenden Geldordnung und dem Zinsnehmen befasst. Heute können wir sagen: Der Zinsmechanismus bewirkt, dass sich notwendigerweise eine kleine Minderheit auf Kosten der Vielen bereichert. Diese Superreichen werden ihre Privilegien aber nicht freiwillig aufgeben. Deshalb sind wir, mit viel Zögern und Zaudern, zu Aktionen zivilen Ungehorsams übergegangen. Wir wollten deutlich machen: Diese Unrechtssituation wird nur durch Druck von unten verändert. Ankettaktionen, Straßenblockaden, Menschenteppiche, Auskippen von Gülle vor der Deutschen Bank waren einige solcher Zeichen unseres Protestes. Die Konsequenzen daraus? Nie hat die Deutsche Bank in Frankfurt uns angezeigt wegen Nötigung, Sachbeschädigung oder anderer Delikte.


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Die Filiale der Deutschen Bank in Köln dagegen erstattete Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Und das Bundeskanzleramt in Bonn wegen Bannmeilenverletzung. Monika-Maria, Marlene, Heike und ich haben deswegen einige Tage im Gefängnis gesessen: Ersatzfreiheitsstrafe oder Beugehaft. Für mich waren die Tage im Gefängnis eine wichtige Erfahrung. Um mich selbst auf den Arm zu nehmen, denke ich manchmal bei mir: Wenn wir im kapitalistischen Unrechtssystem Widerstand geleistet haben, werden wir im nachfolgenden System vielleicht als Widerstandskämpfer „gefeiert“.

Auf keinen Fall möchte ich später einmal das Dilemma erleben, in dem unsere Eltern und Großeltern steckten, als wir sie fragten: „Warum habt ihr keinen Widerstand geleistet gegen Hitler und den Nationalsozialismus? Ihr wusstet doch …“. Wir wissen heute, dass unser kapitalistisches Wirtschaftssystem über Leichen geht, die Umwelt ausbeutet und den kommenden Generationen nur geringe Überlebenschancen lässt. Auch uns wird man mit Sicherheit fragen: „Warum habt ihr keinen Widerstand geleistet?“

Haben wir etwas erreicht? Man könnte entgegnen: Nein, denn die Situation der Armen in unserem Land und in der Dritten Welt hat sich in den letzten Jahren eher verschlechtert. Aber dann denke ich an die Kampagne Erlassjahr 2000. Mit über 20 Millionen Unterschriften weltweit forderte sie eindrucksvoll Schuldenstreichung für die Dritte Welt. Dann kam die globalisierungskritische Bewegung attac, die allein in Deutschland heute über 10.000 Mitglieder hat. Sie fordern nicht nur Schuldenstreichung für die Dritte Welt, sondern „demokratische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte“ (Tobin-Steuer, Schließung der Steuerparadiese, …). Oder ich denke an die Hunderttausenden, die in diesem Jahr auf die Straße gingen, um gegen die Agenda 2010 und den Sozialabbau der Regierung in Berlin zu protestieren. Für mich alles eindrucksvolle Zeichen der Hoffnung für die Armen.

Auch für uns selbst haben wir etwas erreicht. Wir sind mutiger geworden im Auftreten und klarer in unseren Aussagen. Wir tragen unseren Protest nicht mehr nur vor die Deutsche Bank, sondern auch vor Parlamente und in Dome (wie in Köln, Mainz und Frankfurt). Vor allem letzteres: Ein schwieriger aber wichtiger Schritt für Ordensfrauen und -männer. Doch so deutlich und mutig wie Jesus sind wir noch lange nicht. Er, der wenige Tage vor seinem Tod mit einer Aktion zivilen Ungehorsams im Herzen des damaligen Unrechtsystems, dem Tempel, sein Schicksal besiegelte. Gott fordere keine Opfer, schon gar nicht von den Armen, warf er den Mächtigen vor. Wann werden wir den Mächtigen von heute so deutlich widerstehen?

Die Rechnung der Fraport werden wir aber nicht bezahlen, auch wenn die dritte Mahnung inzwischen fast 20 Euro für Zinsen berechnet.


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Was dabei und danach passierte geht aus dem Interview hervor, das Thomas Klein am 4. Juni 2005 in der „Jungen Welt“ veröffentlichte: Bischof von Limburg maßregelt kritischen Pater.

Frage: Sie wollen ihren Orden verlassen. Begründet haben sie das u.a. damit, die Ordenszentrale habe auf sie politischen Druck ausgeübt. Was ist vorgefallen?

Gregor Böckermann: Im Oktober habe ich in der St. Josefskirche in Frankfurt-Höchst eine Predigt gehalten. Darin ging ich auf diejenige Stelle im Evangelium ein, an der eine Witwe einen ungerechten Richter auf die Neven geht. Das setzte ich in Bezug zu Aktionen des zivilen Ungehorsams. Als ich dann noch von dem „kapitalistischen Unrechtssystem“ sprach, kamen empörte Zwischenrufe. Ich bat die Zwischenrufer nach vorne und forderte sie auf, ihre Kritik für alle hörbar zu äußern. Trotzdem ging das Murren weiter, ein Ehepaar verließ laut schimpfend die Kirche.

Frage: Und wer hat Druck auf ihre Ordenszentrale ausgeübt?

G.B.: In der St. Josefskirche war auch ein ehemaliger Landtagsabgeordneter der CDU anwesend, der sich mit einer Beschwerde an den Limburger Bischof Franz Kamphaus wandte. Daraufhin wurde mir das Predigtverbot angedroht. Außerdem musste ich bei meinen Ordensoberen in Köln vorsprechen. Hier wurde ich von meinem Provinzial und dem Vizeprovinzial regelrecht in die Mangel genommen. Bei dieser Gelegenheit wurde mir auch der Brief des ehemaligen CDU-Politikers gezeigt. Da es sich bei diesem Mann um einen Stockkonservativen handelt, bin ich sehr enttäuscht darüber, wie Bischof Kamphaus mit dieser Beschwerde umgegangen ist. Vor zehn Jahren hat er uns noch verteidigt, als sich die Deutsche Bank über unsere Mahnwachen vor der Konzernzentrale beschwerte.

Frage: Haben sie den Eindruck, dass ihre Aktionen des zivilen Ungehorsams der Kirchenleitung immer mehr auf die Nerven gegangen sind? Ich denke dabei auch an den Zaun der Rhein-Main-Airbasis, der aus Protest gegen den Irak-Krieg durchtrennt wurde.

G.B.: Es sieht sehr danach aus. Es gab zwar in den vergangenen Jahren immer wieder Kritik an uns, aber jetzt ist es in der Tat sehr dick gekommen. Da gab es ja nicht nur das unangenehme Gespräch mit meinem Provinzial. Im Januar wurde ich zusätzlich vom Provinzrat einbestellt. Man ließ mir nur wenige Minuten Zeit, um drei Fragen zu beantworten. Warum wir uns als „Ordensleute für den Frieden“ an Aktionen des zivilen Ungehorsams beteiligen und gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem protestieren, interessierte dabei nicht.


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Mir ist aber wichtig, genau darauf hinzuweisen: Jesus wurde nicht zuletzt wegen einer Aktion des zivilen Ungehorsams ans Kreuz geschlagen. Kurz vor seiner Hinrichtung ging er noch in den Tempel, um das Tempelsystem anzuprangern, das auf der Ausbeutung der Armen beruhte. Er hat dort Tische umgeworfen. Heute würde man sagen: Er hat randaliert. Er hat den Mächtigen die Stirn geboten. Unserer Initiative wird erneut sehr deutlich, was wir schon oft kritisiert haben: Dass die Kirche Teil des Wirtschaftssystems ist, das wir ablehnen. Schlimmer noch, sie liefert die ideologische Untermauerung für das kapitalistische Wirtschaftssystem. Wenn wir uns in der Tradition von Jesus sehen und sein Handeln als beispielhaft betrachten, dann müssen wir heute auch die Kirche anprangern.

Frage: Ist es aus Sicht der Kirchenleitung nicht konsequent, wenn sie immer mehr Druck auf sie ausübt und sie ausgrenzt?

G.B.: Der Druck auf Abweichler wie uns ist immer größer geworden. Das gilt nicht nur für die Gesellschaft insgesamt, sondern auch für die Kirche.

Frage: Immerhin – die Heilige Inquisition gibt es heute aber nicht mehr.

G.B. (lacht): Doch die gibt es noch – aber im moderneren Gewand. —

Seit dem 17. Juni 2005 bin ich glücklich verheiratet. Der größer gewordene Abstand zu innerkirchlichen Fragen macht mich gelassen, die Schere zwischen arm und reich, die immer schneller auseinander geht, bedrückt mich weiterhin, aber der (zeichenhafte) Widerstand von Mitstreiterinnen und Mitstreitern in der IOF hält mich aufrecht.

So haben wir beispielsweise 2007, während des Katholikentages in Osnabrück, eine etwas andere Fronleichnamsprozession gemacht. In der Monstranz befand sich statt der Hostie ein Geldstück. Unsere Frage: Beten wir, die Gesellschaft, die Kirchen den Gott im lebendigen Brot an oder im Geld? Im Jahr 2008 haben wir in der Innenstadt von Frankfurt/M ein „Mahnmal für eine gerechte Wirtschaftsordnung“ aufgestellt. Ein Ortsschild mit der Aufschrift „Bankfurt: Sie verlassen den demokratischen Sektor“ und auf der Rückseite „Frankfurt: Sie verlassen den kapitalistischen Sektor“. Obwohl wir das Schild in den Gehweg vor der Deutschen Bank eingemauert hatten, hielt es nur eine Nacht. Bereits am nächsten Morgen wurde es von der Stadt Frankfurt entfernt.


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Alles, was alt ist – Sascha Peter Schuhardt

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verwittert und verwegen

steht der alte Reiter hier

als Monument –

und wenn nachts der Mond

mit wehen Strahlen brennt

ist‘s als wenn er unter

Feuer steht;

staunend und verrückt

der Rabe auf dem Kopf

des Reiters …

Der Reiter bleibt bei allem

unbeeindruckt und geht

dem Ziel – dem Schlachtgewinn

entgegen!


Die Kirche, die Hoffnung spenden kann – Peter Bretzinger

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Gerade komme ich von der Reise nach El Salvador zurück. Wie ich früher schon erwähnt habe, soll dort ein Projekt unserer Gemeinschaft verwirklicht werden, dem eine besondere Bedeutung zukommt. Wie vielleicht bekannt ist, fand während des Bürgerkrieges im Jahre 1981 in dem kleinen Flecken „El Mozote“, Provinz Morazan, ein Massaker statt, bei dem etwa 1000 Campesinos ums Leben kamen. Dabei handelte es sich vorwiegend um Frauen und Kinder. Die Überlebende Rufina Amaya musste alles von einem Versteck aus ansehen und so zur Zeugin des schrecklichen Geschehens werden. Sie sah den Tod ihres Mannes und ihrer drei kleinen Kinder. Und sie konnte nicht eingreifen, da dies ihren sicheren Tod bedeutet hätte, wobei sie andererseits keine Chance gehabt hätte, das Furchtbare zu verhindern. Sie spürte vielmehr, dass sie sich verborgen halten sollte, um nachher in aller Öffentlichkeit die Wahrheit zu bekunden. So verblieb sie die ganze Nacht im Gebet und brachte sich dann in der Frühe an den Soldaten vorbei, die zum Teil vom Gemetzel übermüdet und betrunken waren, in Sicherheit. Am Vormittag wurde sie dann, einige Kilometer von „El Mozote“ entfernt, total erschöpft und steif vor Kälte von Bekannten am Wegrand in einem Graben gefunden. Schnell brachte man sie in ein Haus, wusch sie und verabreichte ihr Massagen, um sie wieder zu sich zu bringen. Anfangs konnte Rufina nicht reden.


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Durch all das, was ihr widerfahren war, hatte sie regelrecht die Sprache verloren. Dann aber erzählte sie, immer wieder durch Weinkrämpfe erschüttert, was sie erleben musste. Bis vor etwa zwei Jahren, bis zu ihrem Tode, hat Rufina Amaya weltweit Zeugnis gegeben und sich so zum Sprachrohr so vieler Menschen gemacht, die durch dieses Massaker Familienangehörige verloren haben.

Wiewohl auch im Jahre 1992 ein Friedensabkommen unterzeichnet wurde, ist es nie zu einer wirklichen Versöhnung gekommen. Die Schuldigen sind bis heute nicht zu ihrem Verbrechen gestanden und haben es nicht fertig gebracht, um Vergebung zu bitten. Das mag einer der Gründe sein, warum El Salvador gegenwärtig zu einem der gewalttätigsten Ländern der ganzen Welt gehört. Gewalt ist allgegenwärtig. Sie kommt tagtäglich in den Nachrichten und in der Presse zur Sprache. Das Thema der Gespräche unter den Menschen ist immer wieder Angst und Gewalt. Man spürt es sofort, das Leben der dortigen Gesellschaft vollzieht sich in einer immer unerträglicher werdenden Spannung. Niemand weiß, wie es weitergehen soll. Keine Lösung politischer oder wirtschaftlicher Art ist in Sicht, wie sehr auch der vor einem Jahr gewählte Präsident Mauricio Funes allgemeine Wertschätzung genießt, was sich im Rückhalt von über 80 % der Bevölkerung widerspiegelt. Es gibt kaum Arbeitsplätze, die „Maras“, erpresserische Terrorgruppen, die Geldforderungen stellen an viele, die oft selber nur ein kleines Einkommen haben. Und sollte dieser Forderung nicht nachgegeben werden, ist der Tod so gut wie sicher. Das Land selber ist bitter arm. Industrie gibt es kaum, der Wassermangel ist ein großes Problem. Wer nicht irgendeinen Verwandten in einem der reichen Länder hat, ist übel dran. Aus dieser Situation ergibt sich wie von selbst Aussichtslosigkeit, Verzweiflung, Gewalt und Angst. Wie kann man aus dieser Zwangsspirale herauskommen? Hat die Kirche vielleicht in dieser Not etwas zu sagen?

Ich denke, ja. Die Kirche ist meines Erachtens die wichtigste Kraft, die Hoffnung spenden kann, wenn sie aus jener Quelle lebt, aus der sie entstanden ist. Das ist die Botschaft des großen Propheten, den dieses Land in seiner schwierigen Geschichte hervorgebracht hat: Monsenor Oscar Romero, dessen 30. Jahrestag seiner Ermordung am 24. März begangen wird. Es ist erfreulich und ermutigend zu sehen, wie lebendig die Gestalt des Märtyrerbischofs in der heutigen Gesellschaft El Salvadors ist. Monsenor Romero ist es gelungen inmitten schwierigster Umstände das Evangelium in einer Authentizität zu leben, die Staunen erregt. Wer sein Leben kennt, weiß aus welch großer Tiefe er wirkte. Wahrhaftig, in ihm hat Gott dieses Volk besucht und in ihm ist er noch einmal am Kreuz aus Liebe gestorben. Das haben die Menschen nicht


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vergessen. Im Gegenteil. Je tiefer die Nacht wird, die sich jetzt über El Salvador legt, um so fester klammert man sich an die Hand des großen Beschützers, der er in seiner Zeit gewesen ist und es auch heute ist und immer mehr wird. Monsenor Oscar Romero hat das Wichtigste für sein Volk getan, er hat ihm den größten Dienst erwiesen, der überhaupt geleistet werden kann: Er hat die Quelle wieder neu erschlossen, aus der allein Hoffnung auf Erneuerung fließen kann. Er hat sein Volk mit dem lebendigen Gott in Verbindung gebracht. Jetzt geht es darum, dieses lebendige Wasser den Menschen weiterzugeben, die am Verdursten sind. Und genau darin besteht die Mission, die der Herr unserer Gemeinschaft geschenkt hat. Wir sollen mithelfen, dass das geschieht.

Wie sehr der Herr das wünscht und wie sehr Er uns dabei hilft, davon soll im Folgenden die Rede sein. Beim diesjährigen Besuch in El Salvador ist es mein Wunsch gewesen, so viele Tage wie möglich mit den Menschen in „El Mazote“ zu leben. Gleichzeitig konnte der Architekt unserer Gemeinschaft, der mich freundlicherweise begleitete, an Ort und Stelle die Bedingungen begutachten, die gegeben sind, um ein Projekt zu verwirklichen, das für die Menschen in El Salvador zu einem Zeichen der Hoffnung werden soll. Es handelt sich um eine Gedenkstätte für die Opfer des Massakers und die Errrichtung eines geistlichen Zentrums. Dies besteht aus einem Exerzitienhaus, zwölf Einsiedeleien und einer Kapelle, die dem großen Friedensmann, dem heiligen Bruder Klaus gewidmet werden soll. Letztes Jahr bereits, bei meinem ersten Besuch, habe ich schon bemerkt, wie sehr die Menschen dieses Projekt lieben und wie dankbar sie sind, dass irgendjemand endlich etwas dafür tut. Dieses Jahr konnte ich tiefer die geistliche Bedeutung unseres Vorhabens erfassen, indem ich die Menschen einlud, miteinander für deren Verantwortung zu beten. Vormittags besuchte ich die Familien des etwa 300 Menschen umfassenden Dorfes. Nachmittags hatten wir täglich von 15-18 Uhr Anbetung des Allerheiligsten und wir endeten nach dem Rosenkranzgebet mit der Feier der Heiligen Messe. Am ersten Tag kamen etwa acht Personen zur Anbetung, am nächsten zwölf, dann zwanzig, schließlich fünfzig und mehr. Zur Feier der Heiligen Messe kamen jeden Tag mehr als 200 Personen, d.h. die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Am Mittwoch ging es dann mit den Beichten los, die sich bis zum letzten Tag , zum Sonntag, hinzogen. Manche kamen sogar zweimal und wollten noch einmal das eine oder andere erzählen, das ihnen auf dem Herzen lag. Es war so eine intensive Zeit, wie ich sie nur selten in meinem 27jährigen Priesterleben erfahren durfte. Ein großes Geschenk – wir alle haben es so empfunden.


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Im nächsten Jahr, am 11. Dezember, zum 30. Jahrestag des Massakers, hoffen wir die Einweihung der Gedächtnisstätte durchzuführen. Anschließend soll in unmittelbarer Nachbarschaft, d.h. in einem vier Hektar umfassenden Gelände, das geistliche Zentrum „Heiliger Bruder Klaus“ errichtet werden. Das große Anliegen besteht darin, diesen Ort des Leidens und Sterbens in einen Ort des Friedens und der Versöhnung umzuwandeln, d.h. in einen Ort, dem lebensspendende Quellen entströmen zur Erneuerung eines durch Armut, Korruption und Gewalt geschwächten Volkes. Ich habe es diesmal so deutlich gespürt: Wir sind nicht allein. So viele Menschen guten Willens gruppieren sich um uns, d.h. nicht um uns, sondern um Den, Der uns führt, Der will, dass wir das für Ihn und die Menschen tun, die so sehr der Hoffnung bedürftig sind.


Vater unser Gedicht – Christian Schmidt

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vater im himmel dein sohn ist geheiligt

im himmel und auf erden geschehe dein wille

dein reich komme


gib uns das tägliche brot

und vergib uns unsere schuld

wie auch wir vergeben unseren schuldigern


in der versuchung stärke uns vom bösen erlöse uns

dein reich ist deine macht und herrlichkeit

in ewigkeit amen



Interreligiöses Gebet Berlin – Klaus Mertes

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Entstehung und Verlauf

Das „Interreligiöse Friedensgebet Berlin“ geht auf eine Einladung zurück, die nach den Anschlägen vom 9.11.2001 in New York ausgesprochen wurde. Der Kreis, der sich daraufhin in den Räumen der Gemeinde deutschsprachiger Muslime und gelegentlich auch im Canisius-Kolleg traf, beriet lange über Fragen des eigenen Selbstverständnisses sowie über mögliche Formen und Orte eines Gebetes der Religionen in Berlin. Das erste Gebet fand im Mai 2002


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statt. Nach einigen Experimenten und Erfahrungen ergab sich eine Struktur, in der wir nun seit Oktober 2003 regelmäßig beten:

Wir versammeln uns jeden ersten Sonntag im Monat auf dem Gendarmenmarkt in Berlin, und zwar vor dem Deutschen Dom. Manchmal sind wir eine sehr kleine Gruppe, manchmal sind wir 30 bis 40 Personen. Auf den unteren Stufen des Domes wird ein Plakat entfaltet, auf dem weithin lesbar steht: „Interreligiöses Friedensgebet Berlin – betend den Mut finden zum Sprechen.“ Das Plakat bleibt während des ganzen Gebets, das etwa eine Stunde dauert, entfaltet. Eine Person aus dem Kreis verteilt an vorübergehende Passanten Zettel, auf denen die Gruppe sich und das Thema des Gebetes vorstellt. Die anderen Personen stehen im offenen Halbkreis, so dass Interessenten auch spontan hinzutreten und wieder weggehen können.

Das Gebet wird von einem Teilnehmer eröffnet und am Ende auch von diesem abgeschlossen. Zwischendurch gibt es keinen festen Verlauf oder geplante, vorbereitete Texte. Vielmehr sind alle Teilnehmenden eingeladen, ein Gebet zu sprechen, das ihnen auf dem Herzen liegt oder das sie mitgebracht haben. Nach jedem Gebet – oder auch nach jeder längeren Phase gemeinsamen Schweigens – wird ein Lied angestimmt, das textlich offen ist, so dass alle oder doch möglichst viele es mitsingen können, zum Beispiel eine Melodie mit dem einfachen Wort „Shalom/Salam“ oder andere, ähnlich offene Gesänge. Wenn größere Gruppen von Passanten stehen bleiben, kann es auch sein, dass einer die Gruppe mit lauter Stimme vorstellt: „Wir sind eine Gruppe von Menschen aus verschiedenen religiösen Traditionen: Juden, Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten, Sikhs, und auch religiös suchende Menschen ohne spezielle Religionszugehörigkeit.“ Manchmal stellen sich Passanten hinzu. Aber ansonsten bleiben die Betenden vor allem dem Gebet zugewandt und nicht der Wahrnehmung dessen, was auf dem Platz passiert.

Zwischen den Gebeten trifft sich die Vorbereitungsgruppe ebenfalls monatlich – in der Regel in der Gemeinde der deutschsprachigen Muslime –, um über die Erfahrung des letzten Gebetes zu sprechen und auf Grund der aktuellen privaten oder politischen Ereignisse nach Themen zu suchen, die beim nächsten Gebet im Mittelpunkt stehen könnten. Die Einladung zu diesem Auswertungs- und Vorbereitungsgespräch ist offen. Am Ende wird ein Gesprächsprotokoll verfasst, das auf dem Zettel abgedruckt wird, der beim nächsten Gebet verteilt wird. Die meisten dieser Protokolle sind einsehbar auf einer Homepage: http://www.friedensgebet-berlin.de

Prozesse

Das erste Gebet fand anlässlich des Besuches des amerikanischen Präsiden-


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ten nach dem 11. September 2001 in Berlin statt. Es folgten die Anti-Irak-Krieg-Demonstrationen im Oktober 2002 und Januar 2003. Unsere Gebete fanden auf der Bühne des Gendarmenmarktes statt: Im Anschluss an die offiziellen Demonstrationsredner stiegen wir auf die Bühne, einige von uns an der Kleidung erkennbar als Amtspersonen unserer jeweiligen Religionsgemeinschaften. Die äußere Erkennbarkeit hielt noch einige Zeit bei weiteren Gebeten an; sie war auch ein Blickfang für Journalisten. Einmal wurde sogar ein Artikel veröffentlicht mit dem Titel „Heilige Männer …“. Auf die Dauer nahmen wir aber Abstand von der offiziellen Kleidung. Alle stehen jeweils für sich als Christ, Hindu, Jude oder Muslim im Gebet und bringen das auf die Weise zum Ausdruck, die ihnen am angemessensten erscheint.

Von Anfang an war klar, dass es beim interreligiösen Gebet nicht darum gehen kann, von den Beteiligten einen kleinsten gemeinsamen theologischen Nenner im Gebet zu erwarten, auf den sie sich dann im Gebet zu beschränken haben. Schon der Begriff des „interreligiösen Gebets“ oder die Möglichkeit eines gemeinsamen Gebetes ist ja in einigen Religionsgemeinschaften umstritten. Aus christlicher bzw. katholischer Perspektive war der Bezug auf das Weltgebetstreffen in Assisi hilfreich,“ das Gebet im Rahmen einer multireligiösen Begegnung, bei der Gebete verschiedener Glaubensgemeinschaften neben- oder nacheinander vollzogen werden. Während die Vertreter einer Glaubensgemeinschaft ihr Gebet vollziehen, hören die anderen Teilnehmer in respektvollem Schweigen zu.“ „Respektvolle Gegenwart“ ist möglich, auch wenn die Unterschiede, die nicht nur nebeneinander, sondern auch gegeneinander stehen, im Gebet des jeweils anderen hörbar oder spürbar werden.

So entschieden wir uns relativ zügig für den Vorrang der Praxis des Gebets vor einem theoretischen Konsens über theologische Fragen. Unser Ziel ist weniger der Dialog als vielmehr das Gebet selbst sowie die Offenheit dafür, dass in dem Gebet etwas wächst, was dann gemeinsam benannt werden kann. Zwar riskiert die Erklärung zum eigenen Selbstverständnis, die in den letzten fünf Jahren jedes Mal auf der Rückseite des aktuellen Handzettels stand und ausgeteilt wurde, auch eine gemeinsame theologische Sprache über den Begriff „des Heiligen“ (Neutrum), aber die Zustimmung zu diesem Text ist nicht einfach die Basis der Gemeinsamkeit der Betenden. Vielmehr ist das Gebet selbst zusammen mit der respektvollen Gegenwart die eigentliche Basis.

Gebet und Predigt

Schon bald zeigte sich, dass die einzelnen Mitglieder des Kreises für sich und vor der Gruppe einige Dinge klären mussten. Eine erste Frage betraf das Verhältnis von Gebet und Predigt. Einige waren der Meinung, dass das Gebet in


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den sakralen Raum gehört und die Predigt in den öffentlichen Raum; somit müssten wir mit einer Botschaft an die Öffentlichkeit treten, wenn wir auf Straßen und Plätzen interreligiös präsent seien. Die Gegenposition bestand auf dem Gebetscharakter der Zusammenkunft: Die Betenden sprechen nicht zu Passanten oder zu einer als präsent vorgestellten Öffentlichkeit, sondern zum Himmel; selbst wenn das Gebet in seiner faktischen Wirkung etwas im Umfeld der Betenden und für diese bewirkt, so treten doch die Betenden absichtslos vor Gott, absichtslos in Hinblick auf etwas, was sie bei den Umstehenden erreichen wollen.

Diese erste Meinungsverschiedenheit führte dazu, dass uns einige verließen, die dieser Konzeption nicht zustimmen konnten. Umgekehrt klärte sich in dieser Anfangsphase ein erster Punkt für alle. Christlich ausgedrückt: Gebet ist Umkehr des Betenden zu Gott. Es ist nicht die Aufforderung an die anderen, zu Gott umzukehren. Es kann einem Betenden auch der Auftrag gegeben werden, anderen die Umkehr zu predigen. Aber das Hören dieses Auftrages setzt das Gebet voraus, und um dieses geht es zuerst einmal.

Loyalitäten

Eine nächste Klärung bzw. Scheidung ergab sich aus der Loyalitätsproblematik „nach hinten“, in der alle, die an dem Gebet teilnehmen, auf die eine oder andere Weise stehen. Besonders eklatant und schmerzlich brach sie einmal auf, als der jüdische Rabbi und der palästinensische Scheich ihre Teilnahme an dem Gebet in der Beziehung zu ihren Herkunftsgruppen „nach hinten“ nur dadurch rechtfertigen konnten, dass sie jeweils Stellung nahmen zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Die Situation drohte daraufhin innerhalb der Gebetsstunde zu eskalieren.

In langen Gesprächen wurde deutlich, dass einzelne Teilnehmer sich der Loyalitätsfrage „nach hinten“ nicht entziehen konnten. Es fielen Sätze wie: „Wenn dieser oder diese geht, dann kann ich nicht bleiben,“ oder: „Wenn diese oder jener zu der Gruppe gehört, dann kann ich nicht mehr kommen.“ Es war uns wichtig, die Loyalitätskonflikte ernst zu nehmen und zu respektieren, zumal es aus allen religiösen Gruppen und Gemeinschaften die Erfahrung gibt, dass Grenzen der Loyalität nach allen Seiten hin existieren, die mit Lebensentscheidungen und Zugehörigkeiten zu tun haben. So kann etwa ein Seelsorger, der einen Täter begleitet, nicht zugleich als Tröster des Opfers auftreten – und umgekehrt. Damit ist die Hoffnung auf Versöhnung und Einheit zwar nicht verloren, aber sie kann jetzt noch nicht durch das eigene Verhalten vorweggenommen werden. Einige verließen uns dann schließlich wegen dieser für sie höheren Loyalitäten.


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Für das Gebet selbst blieb aus diesem Konflikt eine wichtige Konsequenz: Wir unterscheiden in unserem Gebet und in unseren Fürbitten nicht zwischen Opfern und Opfern – denen, die erwähnt werden dürfen, und denen, über die man schweigen muss; denen, die beklagt werden, und denen, die gerechtfertigt werden. Die Opfer terroristischer Gewalt dürfen ebenso genannt werden wie die Opfer staatlicher, militärischer oder schlicht krimineller Gewalt. Die einen Opfer zu erwähnen mag von der „anderen Seite“ als Provokation verstanden werden, aber diese Provokation muss dann eben ausgehalten werden.

Abgrenzungen

Doch es gab und gibt auch die umgekehrte Fragestellung: Wen lassen wir zu unserem Gebet nicht zu? Der Begriff „Sekte“ schien uns nicht auszureichen, um eine Ausgrenzung zu rechtfertigen. So wird zum Beispiel die in China verfolgte Falung-Gong-Bewegung gerne und unreflektiert als „Sekte“ bezeichnet. Wir haben sie hingegen gerne zu unserem Gebet eingeladen. Ein anderes Mal trafen wir uns zu einem Gebet im Zusammenhang mit dem Konflikt um den Bau der Ahmadiyya-Moschee in Pankow; hier war es immerhin wichtig, den Schein der interreligiösen Harmonie dahingehend zu durchbrechen, dass auf die schmerzlichen Erfahrungen hingewiesen wurde, die Menschen in Pakistan mit der Ahmadiyya-Bewegung gemacht haben und machen. Schließlich kam es zu einer Auseinandersetzung in unserer Gruppe, als sich einer der Teilnehmer zu einem interreligiösen Treffen einladen ließ, das von der „Vereinigungskirche“ des Sang Myung Mun, umstritten auch als „Mun-Sekte“ bekannt, organisiert wurde.

Im interreligiösen Gespräch war für die Frage der Zulassung zum Gebet das Thema der Opfer wichtig. Das Ausgrenzungskriterium ergibt sich aus dem Ausgrenzungsverbot: Wenn es nicht gestattet ist, Opfer gegen Opfer auszuspielen, so gilt andererseits, dass die in unserem Gebet vertretenen Religionen vereint sind in der Hoffnung auf eine opferfreie Welt. Wo Menschenopfer im Gebet oder anders religiös gerechtfertigt werden, ist eine Grenze, die uns als Gruppe des interreligiösen Gebets unterscheidet. Dies gilt sowohl für Grenzziehungen gegenüber religiösen Gruppen als Ganze wie auch für Grenzziehungen innerhalb der religiösen Gemeinschaften, zu denen wir selbst gehören.

Ein weiteres Unterscheidungskriterium betrifft das Verhältnis zu Menschen, die religiöse Autorität beanspruchen. „Autorität“ kann auch positiv verstanden werden: Religiöse Schriften haben Autorität, Propheten haben Autorität, Amtsträger haben Autorität. Doch diese Autorität muss abgegrenzt werden


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gegenüber jenen Formen von Autoritätsansprüchen, die Menschen in Abhängigkeitsverhältnisse zu anderen Menschen führen. Autorität soll der Freiheit dienen. Das Gebet ist ein von außen unverfügbarer Ort, in dem sich die Seelen öffnen gegenüber einer Wirklichkeit, über die kein anderer Mensch eine Verfügungs- und Definitionsmacht hat. Das Gebet ist also ein Ort der Freiheit. Wer meint, diese Freiheit im Namen einer höheren Autorität aussetzen und in diesem Sinne „Gehorsam“ verlangen zu dürfen, muss beim „interreligiösen Gebet Berlin“ mit Widerstand rechnen.

Mission

Die Teilnehmenden am interreligiösen Gebet kommen zum Teil aus Religionen, die einen missionarischen Charakter haben. Gelegentlich traten während des interreligiösen Gebetes empörte Passanten heran und riefen: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Auch innerhalb der religiösen Gemeinschaften stieß die Konzeption der „respektvollen Gegenwart“ auf kritisches Echo im Namen einer aktiven Bekehrungsmission. Interreligiöses Gebet mache keinen Sinn; „unser“ Auftrag sei es, dass alle Menschen am Ende Christen/Muslime etc. werden. Diese Kritik forderte zu einer Stellungnahme innerhalb der Gruppe des interreligiösen Gebetes heraus.

Die Teilnahme am interreligiösen Gebet setzt voraus, dass die richtig-falsch-Logik in Bezug auf das Gebet des anderen losgelassen wird. Es ist nicht möglich, in respektvoller Gegenwart neben dem anderen zu stehen, und sein oder ihr Gebet zugleich nach den Kategorien richtig und falsch zu bewerten. Respekt ist mehr als nur das Verschweigen der Missbilligung, die man gegenüber den inhaltlichen Prämissen und Aussagen des Gebetes des anderen empfindet. Der Respekt, um den es uns geht, ist ein Respekt des Herzens, nicht nur ein äußerliches Tolerieren. Daraus folgt aber auch, dass der Missionsauftrag, der in das Zentrum insbesondere der monotheistischen Religionen gehört, nicht richtig erfasst ist, wenn er von dem Schema ausgeht, dass die anderen im Falschen leben und „wir“ im Richtigen. Dies entspricht im übrigen auch nicht – aus christlicher Sicht gesprochen – dem Selbstverständnis der biblischen Texte und der kirchlichen Theologie von „Mission“ und der Begegnung mit Menschen anderer Kulturen und Religionen: Gott schließt mit Noah einen Bund, der die ganze Schöpfung einschließt; Abraham nimmt den Segen Melchisedeks an; Jesus kritisiert das aktive Proselytenmachen der Schriftgelehrten, und der Geist Jesu wirkt bei den Völkern und öffnet das Volk Gottes den Völkern. Manche Texte der jeweils eigenen Tradition und vor allem einige Praktiken der Geschichte müssten vor diesem Hintergrund neu gedeutet und einer Kritik unterzogen werden.


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Will ich, dass alle Menschen Christen werden? Diese Frage stellt sich mir als christlichem Teilnehmer des interreligiösen Gebetes. Ich kann den missionarischen Impuls jedenfalls nicht mit diesen Worten beschreiben. Doch das ist nicht zu verwechseln mit einer falschen Bescheidenheit bezüglich des Auftrags und der Vision, die mit dem Evangelium verbunden ist. Religion hat immer auch mit einer universalen Vision zu tun. Daraus ergibt sich die Frage: Was ist die mit meinem Glauben verbundene Vision für die Welt und die Geschichte als Ganze? Über diese Frage konnten und können wir sprechen.

Begegnungen

Doch mehr als Sprechen führen Begegnungen weiter. Interreligiöses Gebet ist interreligiöse Begegnung, und Begegnung ist Voraussetzung für Dialog. Das konnte ich bei mehreren Gelegenheiten erfahren. Denn erst unsere Präsenz im interreligiösen Gebet auf der Straße ermöglichte es anderen, uns anzusprechen und einzuladen.

So wurde ich eines Tages eingeladen, als Christ bei einer abendlichen Versammlung von mehr als 500 Muslimen zur Noah-Aschura über den biblischen Noah zu sprechen. Ich studierte die alttestamentliche Version der Noah-Geschichte vergleichend mit der aus dem Koran und konnte bei meiner „Predigt“ die besonderen Akzente der biblischen Tradition zeigen: Gott reagiert auf die Gewalt, die unter den Menschen herrscht, mit der großen Flut. Gott ist also ein reagierender Gott, der sich auf die Geschichte der Menschen einlässt. Nach der großen Flut gibt Gott der Schöpfung eine Zusage, die durch den Regenbogen bestätigt und bezeichnet wird. Die ganze Schöpfung steht unter Gottes Schutz – so wie unser Gebet auf der Straße.

Nach meinem kurzen Auftritt trat ein Mann tränenüberströmt auf mich zu. Er stellte sich mir als katholischer Christ vor. Seine Tochter war vor einigen Jahren anlässlich ihrer Hochzeit zum Islam konvertiert. Vorher war sie wie ihre Eltern in der katholischen Heimatgemeinde engagiert gewesen. Die Konversion war für die Eltern sehr schmerzhaft, so dass sie bisher keine der Einladungen ihrer Tochter zu muslimischen Festen angenommen hatten. Diese Noah-Aschura war nun das erste Mal gewesen, dass sie sich in die neue Welt ihrer Tochter hineingetraut hatten. Ausgerechnet da trafen sie auf einen katholischen Priester, der über die Bibel sprach. Das war für den Mann so überwältigend, dass er es als Regenbogenzeichen der Versöhnung über sich und seine Tochter deuten konnte. Mir blieb diese Begegnung lange im Sinne: Gott handelt auch in der interreligiösen Begegnung versöhnend. Erst im Rückblick lässt sich dies ganz erkennen.


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Ein Jahr später wurde ich von der selben muslimischen Gruppe zum ersten Advent eingeladen. Diesmal sollte ich darüber sprechen, was die Christen im Advent eigentlich erwarten. Eine wunderbare Herausforderung. Dabei wurde mir deutlich, dass der Hinweis auf das jährlich sich wiederholende Weihnachtsfest nicht ausreicht, um die Hoffnung des Advents zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr ist der Hinweis auf die Hoffnung Christi, das „Dein Reich komme“, ausschlaggebend für die Hoffnung der Christen auch heute. Das Kommen des Reiches hat natürlich mit dem Kommen Christi zu tun. An dieser Stelle begegnen sich wieder Islam und Christentum, denn beide kennen die Ausrichtung auf eine Wiederkunft Christi – wenn auch unter anderen christologischen Voraussetzungen. Ganz überrascht war ich, als ich abschließend gebeten wurde, den Adventskranz in der Mitte des Raumes anzuzünden und ihn zu segnen. Ich tat dies mit dem Gebet des 1. Adventsonntages und ohne die trinitarische Schlussformel beim Segen zu unterschlagen. Es war der Beginn vieler Gespräche über das große Thema der „Menschwerdung Gottes“. Sehr dankbar kehrte ich von diesem Abend nach Hause zurück.

Die Erinnerung an eine andere Begegnung will mich ebenfalls nicht verlassen. Zu unserem Gebet auf der Straße stellten sich einige junge Leute hinzu, die ganz fromm und still von Anfang bis Ende blieben. Nach dem Gebet kamen sie mit einem Anliegen auf uns zu. Sie hatten – aus religionslosen Verhältnissen stammend – im vergangenen Jahr einen Verein „Liebet eure Feinde“ gegründet, der es sich zur Aufgabe stellt, der Gewalt im Mauerpark während der „Walpurgisnacht“ (der Nacht zum 1. Mai) etwas entgegenzustellen. So hatten sie im Mauerpark z.B. einen Stand aufgebaut, in dem man Seifenblasen pusten statt Steine werfen konnte, oder wo man sich statt einen Schlag ein Küsschen abholen durfte. Dabei hatten sie sich sogar getraut, eine Gebetsstunde einzulegen – mit Gitarren und Halleluja-Gesängen. Ihre Erfahrung war rückblickend, dass die Atmosphäre des Gebets trotz des die Gebetsgruppe umgebenden Grölens und Spottens besänftigend gewirkt hatte. Nun wollten sie von uns wissen, wie man noch besser beten könne.

Gerne erklärte ich den Initiatoren in einigen Gesprächen unser Verständnis von Gebet, angefangen damit, dass gemeinsames Schweigen auch schon ein Gebet ist. Wichtig war auch der Hinweis auf den gegenseitigen Respekt sowie die Achtsamkeit im Umgang mit der religiösen Sprache des anderen – dass er oder sie weder vereinnahmt wird, noch daran gehindert wird, so zu sprechen, wie es im eigenen religiösen Bekenntnis angemessen ist.

Nach einiger Vorbereitung trafen wir uns dann am Nachmittag vor dem 1. Mai im Mauerpark. Dort steht eine Art Amphitheater aus Stein unter freiem Himmel, wo wir uns – vielleicht 60 Personen – versammelten und beteten


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mitten unter den vielen Passanten mit Alkoholflaschen und anderen Dingen in den Händen. Neben mir stand eine Frau, welche die „unsichtbaren Mächten des Guten“ ansprach. Nach dem Gebet blieben wir noch einige Zeit zusammen und begannen über Gott, „die Mächte des Guten“ und viele andere Fragen zu sprechen. Eine Traube von Interessierten gesellte sich hinzu. Es wurde ein Abend im Mauerpark voller Theologie, und das am Vorabend zum 1. Mai.


Unser religiöses Anliegen ist Frieden – Christian Herwartz Unser Jahrtausend beginnt mit einem erschütternden Ereignis: Am 11. September 2001 wurden gewaltsam zwei Hochhäuser in New York zerstört und viele Menschen starben in ihnen. Das ist ein Schock für viele sich in Sicherheit wiegende Menschen. Ein Symbol des westlichen Wirtschaftssystems lag in Trümmern am Boden. Die ungezügelte Marktwirtschaft stand nach dem Fall der Mauer in Berlin doch gerade als Sieger da. Der amerikanische Präsident wollte die Vorherrschaft zurückgewinnen und zettelte einen Krieg gegen den Irak an und suchte Verbündete.

Im Gegensatz zu dieser Reaktion versammelte sich eine kleine Gruppe von Menschen aus verschiedenen Religionen in Berlin. Sie lud im Zusammenhang mit den Friedensdemonstrationen zu Friedensgebeten ein. Doch der Irak wurde unter erlogenem Vorwand angegriffen und viele Menschen starben und sterben in diesem Krieg. Da entschloss sich die Gruppe jeden 1. Sonntag im Monat um 15 Uhr auf dem Gendarmenmarkt vor dem Deutschen Dom, weiter zu Friedensgebeten einzuladen. Die Teilnehmenden kommen aus unterschiedlichen Religionen oder sind ungebunden. Wir treffen uns unter der Himmelskuppel im Freien und haben alle Talare und Kultgewänder abgelegt, um vor Gott, dem Heiligen, dem uns geschenkten Leben zu stehen. Dort können wir unsere Not aussprechen, das Geschenk des Lebens neu sehen, beten.

Es es entspricht unserer Haltung zueinander und zu Gott, keinen aus dem Kreis besonders in den Mittelpunkt zu stellen. Drei Personen möchte ich geradezu als ein einziges Gesicht dieses sozial engagierten, politischen Gebetskreises nennen, so wie ja auch jede Einzelperson verschiedene Seiten beherbergt.

Mohammed ist ein westberliner Original. Er sucht geradezu nach den Konfliktsituationen, in denen er sich für den Frieden einsetzen kann. Dabei geht er auf ausgegrenzte Menschen zu, als Seelsorger besucht er Gefangene, nimmt Jugendliche mit gerichtlichen Auflagen auf, geht zu Kranken und Trauern-


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den. Und er wird von vielen Journalisten und interessierten Gruppen als auskunftsfreudiger Iman aufgesucht. Das Ringen um Frieden und Aufrichtigkeit beginnt immer in der eigenen Person. Als christlicher Prediger blieb ihm die Lehre vom dreifaltigen Gott fremd. Da suchte er als gläubiger Mensch nach einem Ausweg und fand Antwort im Koran. Auf dem Weg des Friedens sind Entscheidungen nötig. Wenn wir die Angst vor notwendigen Brüchen überwinden, können wir über alte Grenzen hinweg offener werden. Mohammed lebt diese Offenheit und lädt den Kreis zu sich ein, die Gebete vorzubereiten, neuen Menschen zu begegnen, aber auch die Feste zu feiern, die uns verbinden: Die Geburt Jesu, das Fastenbrechen im Ramadan, das mehrjährige Bestehen unseres Kreises zum Beispiel.

Roy stammt aus Indien. Sein Heimatdorf liegt heute in Bangladesh. Seine Kindheit hat er in enger Beziehung mit Muslimen, Christen und Hindus verbracht. Diese Verbundenheit auch in Berlin zu leben ist ihm seit über 40 Jahren ein großes Anliegen. Dies bringt er in den öffentlichen Gebetskreis ein, singt mit viel Kraft die Texte aus der Tradition der Hindus, benennt die Freuden und Missstände in unserer Gesellschaft und steckt uns an mit ihm sein Halleluja, nämlich Hare Krishna zu singen.

Klaus bringt auch viele Elemente aus Indien mit in das Gebet ein. Er engagiert sich dort mit der Gossner Mission unter Kastenlosen und Ureinwohnern (Adivasi), knüpft Kontakte über die Grenzen hinweg. Als evangelischer Theologe aus der DDR kennt er hautnah den politischen Druck einer Gesellschaft, die der oft schwer ausdrückbaren Beziehung zu Gott gegenüber steht. Er erlebte und erlebt heute wieder wie damit alle Menschen, die nicht ins System passen, ausgegrenzt werden. Auch wenn unser Gebetskreis keine politische Gruppe ist, so hofft er doch auf eine strukturell politische Veränderung, in der die Achtung vor allen Menschen wachsen kann. Ein ausschließendes Wohlfühlen im kleinen Kreis ist ihm suspekt. Er wird zum Gefängnis, dessen Mauern fallen sollten, damit das Leben – das Reich Gottes – seinen Geschmack nicht verliert. Andere Teilnehmer könnten noch genannt werden, die sich über das Gebet als Geschwister entdeckt haben.

Nach jedem Beitrag singen wir im Kreis: Shalom, salam oder einen anderen Gebetsruf. Auch wenn wir schweigen, bemerken wir, wie uns Kraft zufließt.

veröffentlicht in: Jesuiten „Gesichter der Zeit“ 2009/4




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Durch Teilen Trennendes überwinden – Friedensgebet Juni 2007

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Immer wieder kamen wir in den letzten Wochen auf das bevorstehende G8-Treffen zu sprechen. Weltpolitische und -wirtschaftliche Entscheidungen werden an vielen Orten getroffen, doch meistens im Verborgenen. Dieses Ereignis scheint eine besondere Aufmerksamkeit und Symbolkraft zu gewinnen.

Zum einen wird die Untrennbarkeit des Zusammenlebens in dieser Einen Welt vor Augen geführt. Auf der anderen Seite – verstärkt durch den errichteten trennenden Zaun – der Ans pruch weniger Mächtiger, die wichtigen Entscheidungen ohne Mitsprache des Rests der Welt zu treffen und bestehende Ausbeutungsverhältnisse beizubehalten und weiter zu zementieren.

Diese Machtdemonstration provoziert Gegenkräfte. Einer unübersehbaren Vielfalt von Menschen und Initiativen scheint es zu gelingen, über alle Unterschiedlichkeit hinweg ihre gemeinsame Bereitschaft auszudrücken, das Zeitalter der Trennung in Arme und Reiche, in Mächtige und Ohnmächtige durch Teilen von Brot und Mitsprache, durch maßhaltenden Umgang mit den Ressourcen dieses Planeten zu überwinden.

Dieser Protest ist nicht blauäugig und macht sich keine Illusionen. Sind diese Herren (und eine Dame) wirklich die geeigneten Adressaten? Das, was gesagt werden muss, wird gesagt werden, aber wird es Ohren finden, die hören wollen, die hören können? Es gehört zu den Spielregeln, dass Selbstzweifel auf der anderen Seite des Zauns, auch wenn sie vorhanden wären, nicht einmal angedeutet werden dürfen. Wer da aus der Reihe tanzt, dürfte seine Zugehörigkeit schnell verspielt haben. Werden die Medien diesmal ihrer Aufgabe gerecht, wirklich Bericht zu erstatten und die Botschaft des Teilens in den Mittelpunkt zu stellen oder werden sie der Versuchung erlegen, das sicher auch vorhandene Trennende zu beschwören? So sind vor allem die Menschen angesprochen, die dieses Spiel nicht länger mitmachen wollen. Die nicht länger auf der Grundlage anderen Ländern entrissener Rohstoffe und auf Kosten der nach Krieg und wirtschaftlicher Zerstörung zur Billigarbeit und anderen Formen der Sklaverei Gezwungenen leben wollen. Die es ablehnen, kulturelle, ethnische oder religiöse Unterschiede zum Vorwand für weitere Gewalt zu benutzen.

Wir finden das Motto unserer Friedensgebete also wieder in den Geschehen dieser Tage um Heiligendamm: Wir laden ein, indem wir aufeinander hörend unsere Traditionen teilen, den Mut zum Sprechen zu finden und Trennungen zu überwinden.


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Einheit und Verschiedenheit – Friedensgebet Juli 2007

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Ein Teilnehmer unseres Gespräches berichtete von einer Versöhnungsinitiative zwischen Christen und Muslimen in Nigeria. Bei einem Besuch in Berlin kam es zum Austausch zwischen unseren Erfahrungen mit dem interreligiösen Gebet und der interreligiösen Versöhnungserfahrung in Nigeria. Zu letzterem gehörte die Vereinbarung, dass Christen und Muslime aus Respekt vor dem anderen auf ein interreligiöses Gebet verzichten. Der Grund war, dass der Imam und der Pfarrer der Meinung waren, ihre Religion zu verlassen, wenn sie nicht missionarisch sind, sie aber den anderen verletzen würden, wenn sie es sind. Also gehe nur das respektvolle gemeinsame Schweigen.

Von einer anderen Seite her kamen wir auch auf das Thema von Versöhnung und Einheit. In Berlin gibt es durch den Widerstand von Katholiken, Protestanten (und anderen) gegen den Nationalsozialismus die Erfahrung, dass gemeinsamer Widerstand und auch gemeinsames Martyrium im Widerstand zu einer neuen Einheit führt. Die Hinrichtungsstätte der Nazis in Plötzensee ist ein Ort, an dem dies bezeugt wird. Gibt es auch eine Einheit zwischen Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit, die durch gemeinsamen Widerstand entsteht? Das ist ja eine Erfahrung, die wir ahnungsweise schon im Alltag machen können: Ein Ereignis „von außen“ schweißt Menschen enger zusammen. Bei interkonfessionellen oder interreligiösen Ehen führt die Ablehnung durch die Familien oft zu größerer Beständigkeit der Ehen. Ein behindertes Kind kann Eltern, Geschwister, Nachbarn und Menschen in ähnlichen Situationen auch aus verfeindeten Lagern ganz neu zusammenbringen. Gemeinsam in einer Zelle zu sitzen, gemeinsam in Not zu sein oder gar auf den Tod zu warten führt zusammen jenseits der Abgrenzungen, die nicht von Gott, sondern von Menschen kommen. „Von außen“ zusammengeführt entdecken Menschen im anderen eher den/die Gleiche, als wenn sie es aus eigener Anstrengung heraus tun. Als gemeinsam in Rechten und in der Würde Verletzte sehen Menschen leichter, was sie am Grunde des Seins verbindet. Schließlich sprachen wir wieder einmal über einen wichtigen Punkt unseres Selbstverständnisses: Haben wir mit unserem interreligiösen Gebet ein Botschaft an die Stadt? Sicher verbindet uns dies: Wir wollen mit unserem Gebet auch auf die Wirklichkeit in der Stadt eingehen, mehr noch: Sie hineinnehmen in das Gebet. Unser Gebet ist keine Informationsveranstaltung. Es ist auch nicht eigentlich „nur“ eine Rede an die Stadt. Aber es ist ganz tief verbunden mit der Stadt. Das darf und soll auch ins Wort gehoben werden.


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Da wurde unsere Lebensplanung geändert – Gebet Oktober 2007

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Dieser nüchterne Satz fiel am Ende der Erzählung vom Tod seiner Frau und seines erwachsenen Sohnes eines Teilnehmers bei unserem letzten Treffen. Sie hatten Pläne für die Zukunft gemacht und nun steht er allein da. Wie oft standen wir schon in Situationen, in denen wir nur noch feststellen konnten: Unsere Lebensplanung wurde umgeworfen; unsere Hoffnungen sind nicht erfüllt worden. Oft will oder kann kein anderer auf das damit verbundene Leid hören. Besonders im und nach Kriegen bleibt kaum Zeit, sich mit den unheilvollen Erlebnissen und der unheilen eigenen Geschichte auseinander zu setzen, die dann auch die nächsten Generationen mit inneren und äußeren Konflikten belastet.

Diese Traumatisierungen haben sowohl persönliche als auch politische Dimensionen. Gerade wenn eine bewusste Auseinandersetzung mit den verrohenden Strukturen verdrängt wird, erwächst aus dem eigenen erlebten Leid nicht Mitgefühl, sondern Abscheu vor der Schwäche des Nächsten, aus Angst vor der eigenen Angeschlagenheit. Man versucht immer wieder neu, unmenschliche Strukturen zu legitimieren oder eigenes Unrecht zu verdrängen.

Auch heute wird solche Verdrängung sichtbar in der Art, wie wir mit Kriegsflüchtlingen und Gewaltopfern umgehen.

In unausgesprochenem Schmerz und Enttäuschung, die keinen Ausdruck findet, vereinsamen viele und können leicht zum Spielball neuer Ideologien werden. So tragen zur Zeit von vielen Seiten Kräfte dazu bei, dass in unserer Gesellschaft z.B. eine Ablehnung der Muslime wächst. Menschen, die den Islam als ihren Glauben entdecken und konvertieren, kommen unter Generalverdacht und sollen namentlich erfasst werden. Der grundgesetzlich garantierte Schutz freier Religionsausübung scheint unerheblich unter dem Druck terroristischer Bedrohung. Muss nach der jüdischen eine andere Glaubensrichtung zur Begründung von Verdächtigungen und Ausgrenzung herhalten? Ein tieferer und nicht von Wut oder Ängsten geleiteter Blick ist nötig, um nicht neue Ungerechtigkeit und neues Leid zu schaffen, um Wege zu finden, um den Teufelskreis der Gewalt zu verlassen.

Es hilft, den Blick zu richten auf eine Person wie Alfred Delp, der, 1945 in Plötzensee von den Nazis hingerichtet, in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre. „Gott hat unsere Pläne geändert“, schrieb er kurz vor seinem Tod mitten im übermächtigen Schmerz seinen Freunden zum Trost. In scheinbarer Aussichtslosigkeit übermittelte er diese Worte des Vertrauens in den Weg des Lebens.


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Lasst uns dem Leben trauen, in dem die Hoffnung, Gott, Allah, die Kraft des Unbeschreiblichen mit uns lebt.


Was möchte ich nicht weitergeben? – Friedensgebet Februar 2008

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Tradition heißt: Weitergabe. Welche Traditionen meiner Familie, meines Volkes, meiner Religion möchte ich weitergeben, und welche nicht? Eine riskante Frage, denn sie kann leicht dazu führen, Unangenehmes, Schmerzliches zu verschweigen und die eigene Geschichte schön zu färben. Das ist hier nicht gemeint. Dennoch bedachten wir gemeinsam Situationen, in denen wir uns entscheiden, etwas nicht weiterzugeben. Beispiel. Ich leide unter Schwermut, aber es gelingt mir, die Schwermut nicht an meine Kinder weiterzugeben; die Konflikte, die hinter der Schwermut stehen, bleiben meine Konflikte und werden nicht zu den Konflikten meiner Kinder; ich ziehe sie nicht in meine Geschichte mit hinein.

Ein anderes Beispiel: Völker erzählen ihre Opfergeschichte – eine verlorene Schlacht, eine widerfahrenes Unrecht, eine traumatische Erfahrung – von Generation zu Generation weiter und machen so daraus einen Mythos, eine Ursprungsgeschichte, aus der sich niemand lösen kann. Diese Geschichten nicht weiterzugeben heißt, bereit zu sein, sie in einem Versöhnungsprozess hinter sich zu lassen, ohne dabei den Verlust von Identität zu fürchten. Die Identität eines Volkes besteht aus mehr als bloß aus seiner Opfergeschichte. Die Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen nach Jahrhunderten der „Erbfeindschaft“ ist ein gelungenes Beispiel dafür.

Auch in den Religionen gibt es das andauernde Weitergeben vergangener Konflikte. Was davon wollen wir nicht mehr weitergeben? Es gibt die Tradition der theologischen Zänkereien. Manche Streitfragen sind Jahrhunderte alt, aber bis heute blockieren sie die ökumenischen Bemühungen innerhalb der Religionen. Sie siegen sogar über neue Erfahrungen von Einheit und Zusammengehörigkeit. Muss das so sein? Nein. Und genauso ist es auch mit der Gewalt zwischen Religionen. Sie speist sich aus den Erinnerungen an vergangene Gewalt, die immer weitergegeben wird: Die Muslime vor Wien, die Franken in Jerusalem, die Polen vor Moskau …

Die Frage lautet: Was möchte ich nicht weitergeben? Sie lautet nicht: Was möchte ich, dass der andere nicht weitergibt? Deutsche können nicht vor Juden treten und sagen: Vergesst die Shoa. Israelis können nicht vor Palästinenser treten und sagen: Vergesst die Vertreibung. Palästinenser können nicht vor Israelis treten und sagen: Vergesst die Selbstmordattentate. Die Frage


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ist an „mich“ gerichtet. Im Gebet trete ich vor Gott und frage mich in seiner Gegenwart: Was gebe ich nicht weiter?

Noch ein Gedanke aus unserem Gespräch: Aus den Versöhnungsprozessen in den letzten Jahren, zum Beispiel aus den „Wahrheitskommissionen“ in Südafrika, wissen wir, dass zur Versöhnung die Wahrheit gehört. Es kann keine Versöhnung geben ohne Aussprechen und Anerkennen der Schmerzen. Aber es gibt auch hier Grenzen. Es gibt ein Verzeihen ohne Verstehen – weil es Grenzen des Verstehens gibt. Und deswegen kann es sein, dass ich auch etwas nicht ausspreche, damit zumindest ein erster Schritt der Versöhnung möglich ist. Das ist nicht das Ende, aber es weist uns auf eine höhere Wirklichkeit hin, der wir uns im Gebet öffnen: Versöhnung ist Geschenk, Gnade. Wir müssen nicht alles leisten.


Geschwister sehen, Blindheit überwinden – Friedensgebet März 2008

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Unser Gespräch wurde dieses mal angeregt durch einen Gast, der bei unserem letzten Gebet dabei war und mit der Vermutung an uns herantrat, dass es in der Gebetsgruppe am Gendarmenmarkt vielleicht ein typisch deutsches Schuldgefühl gegenüber dem Holocaust gäbe und dass wir deswegen das Wort „Shalom“ so häufig und das Wort „Salam“ weniger häufig singen würden. Auf diesen Vergleich wollten wir uns nicht festlegen lassen, unser Singen gründet einfach in der Absicht, die Bitte um Frieden in diesem schönen Lied auszudrücken, das den Vorteil hat, im Shalom als auch im Salam da zu sein.

Das Thema Shalom/Salam/Friede führte uns weiter auf das erschreckende Phänomen des Vernichtungshasses von Völkern gegen Völker. Im Holocaust kam er zum Ausbruch, aber auch in jüngerer Zeit in Ruanda, in diesen Tagen in Kenia, und einige von uns fürchten ihn aktuell auch für den Kosovo. Wir hoffen, dass die Chance einer schrittweisen Beendigung der Feindseligkeiten genutzt werden kann.

Wie können wir den Hass überwinden? Eine Ursache von Hass ist Blindheit. Darauf weist auch die Rede vom „blinden Hass“ hin. Ich sehe in dem Anderen den Feind, das Monster, nicht den Bruder oder die Schwester. Die Sichtblenden, mit denen ich aufgewachsen bin und die ich vorfinde, aber auch die Etiketten, die ich dem anderen anklebe oder die ihm von den Meinen angeklebt wurden, lassen mich die Suche nach dem menschlichen Gesicht hinter der Etikette vergessen.


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Im Gebet gehen wir in die Gegenrichtung. Dazu müssen wir eine Grenze überschreiten. Wir öffnen uns allen unseren Brüdern und Schwestern. Wie unser Gast es im Gespräch abschließend ausdrückte: In allen Menschen ist Gottes Wille am Wirken, im Gebet bringen wir uns dies in Erinnerung. Wir brauchen diesen regelmäßigen Schritt ins Gebet, weil wir sonst gefangen werden in der Blindheit und das Wirken Gottes in uns nicht mehr spüren.

Das Einswerden untereinander in der Wirklichkeit Gottes erleben zu können, ist das kostbare Geschenk des Gebetes. Diese Lebendigkeit zu erfahren, dazu laden wir ein.


Schein und Wirklichkeit – Friedensgebet Dezember 2008

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Mit diesen Worten lässt sich das Gespräch in der Vorbereitungsgruppe zusammenfassen. Verschiedene Bereiche kamen zur Sprache: Klischeevorstellungen über politische Ereignisse leisten einer Mythenbildung Vorschub, die mit der gelebten Wirklichkeit nichts zu tun haben. Deutlich wurde uns dies im Umgang mit der DDR-Vergangenheit. Der Mythos – die Menschen waren entweder Stasimitglieder oder Staatsfeinde – schlägt die Biographie all der Menschen tot, die sich bemühten, ihr Leben aufrecht und integer unter DDR-Verhältnissen zu führen. Von diesen Menschen wird in der Öffentlichkeit wenig gesprochen, um das erwünschte Klischee – ein ungebrochener, nicht angepasster Mensch kann nicht überleben – aufrecht zu halten.

Die Instrumentalisierung bürgerschaftlichen Engagements durch politische Parteien verschleiert die Wirklichkeit. Um zu sparen wird ehrenamtlicher Dienst manchmal gefördert. Mangelnde Friedensbereitschaft ist in unseren Debatten ein Thema. Heftige Auseinandersetzung – mangelnde „gewaltfreie“ Kommunikation: Was bedeutet Respekt in der Begegnung mit der/dem anderen?

Wir wollen den anderen ausreden lassen und dürfen einander bremsen, wenn jemand ins Schwafeln kommt. Respekt bedeutet auch, die Grenzen der Geduld beim Partner zu beachten. Und auch, sich eigener Sarkasmen oder Härten bewusst zu werden. Gern möchten wir im gegenseitigen Vertrauen wachsen, damit wir einander diese Dinge offen sagen können.

Zu einer Mahnwache für zwei Menschen, die in Moskau ermordet und verleumdet wurden, kamen in Berlin Anfang des Monats unerwartet viele TeilnehmerInnen. Mitten in dem traurigen Anlass wurde uns echte Verbundenheit geschenkt. Das ist ein sehr hoffnungsvoller Aspekt von Wirklichkeit.


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Der Gedenkmarsch anlässlich des neunten Novembers 1938 vom Berliner Rathaus über die großen christlichen Kirchen – Dom und St. Hedwig – zum Zentrum Judaicum wurde als sinnvolles Zeichen verstanden, weil wir uns ins Jetzt haben rufen lassen. Auf ganz verschiedenen Übungsfeldern ist es nötig, den Frieden vorzubereiten.

Dazu gehört auch der weite undefinierte Raum auf dem Gendarmenmarkt, wo wir allmonatlich schweigen und singen und sprechen.

Aber ebenso der innere Raum in unseren Herzen, den wir bereiten, um uns gegenseitig willkommen zu heißen.

Im gemeinsamen Gebet um Frieden finden wir Verbindung.


Mitten im Streit Frieden zulassen – Friedensgebet Januar 2009

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Man kann nicht mit allen Menschen in Frieden leben.“ Das scheint eine banale Erkenntnis zu sein. Wir hören diesen Satz in dieser oder ähnlicher Form, wie er mit Müdigkeit, Erstaunen oder Trauer ausgesprochen wird, als schwer errungene, leidvolle Erkenntnis, als Durchbruch im bisherigen Selbstverständnis, als eine ganz neue Perspektive auf die Wirklichkeit. Wir hören ihn in Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern, Kindern und Eltern, Kolleginnen und Kollegen, Konflikten auf Arbeit, in Cliquen und Clans. Da klingt er dann gar nicht mehr banal. Die Erkenntnis, nicht mit allen Menschen in Frieden leben zu können, schmerzt besonders, wenn es um nahe Menschen geht, also um „alle“ die Menschen, mit denen man konkret zusammenlebt.

Alle Religionen kennen neben der Sehnsucht nach Frieden auch die Notwendigkeit des Kampfes. Deswegen klingt die Melodie ihrer Texte auch lange nicht immer harmonisch. In diesen Weihnachtstagen sei ein solcher Satz aus dem Evangelium zitiert. „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern Spaltung.“ (Lk 12,51) Jesus tritt zwar nicht auf in der Intention zu spalten, aber er kommt zu der Erkenntnis, dass es ihm nicht gelingt, sich allen Menschen verständlich zu machen; es lässt sich nicht vermeiden, dass einige Anstoß an ihm nehmen; er muss es zulassen, ohne die anderen moralisch zu verurteilen oder sie so lange zu bearbeiten, bis sie verstehen und Friede da ist. Die bittere Erkenntnis ist, dass es jetzt jedenfalls einfach nicht geht. Von dieser bitteren Erkenntnis wissen alle Propheten zu berichten, alle Zeugen und Zeuginnen des Heiligen in der Welt.

Doch die Engel verkünden in der Weihnacht auch Frieden: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede den Menschen auf Erden.“ (Lk 2,14) Es gibt einen Frie-


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den, der unmöglich ist, und einen Frieden, der schon da ist. Ich kann nicht mit allen Menschen in Frieden leben, denn ich muss etwas bisher nicht Ausgesprochenes aussprechen, eine Entscheidungen treffen, mein Versprechen halten, meine Pflicht tun. Aber das ist keine Katastrophe. Vielmehr hilft mir die bittere Erkenntnis, echten Frieden von Scheinfrieden zu unterscheiden. Der Friede, den die Engel verkünden, ist der Friede für eine Welt, mit der eine bestimmte Art von Friede nicht möglich ist. Es geht um einen Frieden, den ich letztlich nicht selbst machen kann, sondern den ich zulassen, entdecken muss mitten in der Nacht der Unfriedens.


Die Würde des Menschen schützen – Friedensgebet Juni 2009

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In diesen Tagen sollen der Kapitän und ein Mitarbeiter von Cap Anamur dafür verurteilt werden, dass sie Flüchtlingen das Leben auf hoher See gerettet und diese anschließend auf europäisches Festland gebracht haben. Dieser unglaubliche Vorgang beschäftigt uns in der Vorbereitung auf unser Gebet. Erinnerungen wurden wach an die Schiffstransporte von jüdischen Flüchtlingen, die vor der Küste des englischen Mandatsgebietes in Palästina zurückgewiesen und auf hohe See zurückgesandt wurden. Es ist der gleiche Geist, der im DDR-Grenzregime wirkte, als ein Junge beim Spielen an der Spree-Uferböschung, die zu West-Berlin gehörte, in die Spree fiel und zu ertrinken drohte. Ein Mann aus West-Berlin wollte in das Wasser springen, um ihn zu retten, doch es wurde ihm mit Kalaschnikows im Anschlag untersagt. Als dann die DDR-Grenzwächter ankamen, war es zu spät. Über die Grenzen der Religionen hinweg empört es uns, dass Lebensretter mit dem Tod oder mit Gefängnisstrafe bedroht werden.

Ein anderes Thema, für das wir unser Gebet öffnen wollen, ist das zum Hohn gesteigerte Misstrauen gegenüber der Religion: Ein Flüchtling, der in Deutschland lebt, ist von seiner Herkunftsreligion zum Christentum konvertiert. Die Behörden unterstellen ihm, dass er nur deswegen konvertiert ist, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. In der Tat ist sein Leben wegen der Konversion in Gefahr. Nun wird er dem Richter vorgeführt, der ihm bizarre Fragen stellt und schließlich sinngemäß auffordert: „Das Christentum ist doch eine missionarische Religion. Also versuchen Sie mal, mich jetzt zu missionieren. Los!“

Es ist so leicht, sich über Menschen lustig zu machen, die eine religiöse Überzeugung haben. Das beginnt oft schon in der Schule. Erfahrungen und Überzeugung, die mit dem eigenen Intimbereich zu tun haben, sind nicht leicht


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in Worte zu fassen. Man kommt da leicht ins Stammeln und Stottern. Vor einem Richter, einem Lehrer oder einer Klasse zu stehen und wegen seines Glaubens zur Rede gestellt zu werden ist ein sehr verletzender Vorgang. Wir sind meist nicht so geschliffen und sprachgewandt, wie die Spötter es verlangen. Auch unser Gebet ist kein Ort für geschliffene Formulierungen. Vor Gott dürfen wir stammeln und um Worte ringen.

Was wir jedenfalls gemeinsam spüren, das ist, dass es einen heiligen inneren Raum gibt, der auch des Schutzes bedarf.


Verbunden im Schweigen – Friedensgebet August 2009

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Bei unserem Gebet auf der Straße hat das gemeinsame Schweigen mehr Raum gewonnen. Gerade beim letzten Gebet auf dem Hausvogteiplatz empfanden dies viele. Aus dem buddhistischen Umfeld überraschte und erfreute uns zunächst ein Text:

Statt zu sagen:

„Sitz nicht einfach nur da,

tu irgendetwas!“

sollten wir das Gegenteil fordern:

„Tu nicht irgendetwas,

sitz nur da!“

(Zen Meister Thich Nhat Hanh)


Ja, da können wir gut mit unserem Gebet einstimmen und ergänzen: Sag nicht irgendetwas, sondern schweig. So geschieht es zur Zeit in Frankreich in vielen Schweigekreisen für den Frieden. So geschah es ja auch bei der Begegnung von Muslimen und den Trappistenmönchen in Thibirine (Algier): Bis zu ihrer Ermordung 1996 trafen sie sich regelmäßig zu einem gemeinsamen Schweigen. Ihr Schweigen war auch eine Stellungnahme gegen den Krieg, eine Weigerung, im Bürgerkrieg zwischen der GIA (Bewaffnete Islamische Gruppe) und der algerischen Armee Partei zu ergreifen. Es sollte einigen von ihnen das Leben kosten.

Die Erinnerung an dieses eindrucksvolle Zeugnis interreligiöser Begegnung kommt wieder hoch. Neuere Aussagen ergeben, dass der Mord an den sieben Mönchen, der ursprünglich der GIA zugeschrieben wurde, vermutlich doch auf die algerische Armee zurückgeht (vgl. FAZ, 9.7.2009): Ein Hubschrauberkommando habe auf die von der GIA entführten Mönche geschossen, bevor deren Identität geklärt worden sei, und man habe sie erst anschließend enthauptet, um den Tod nachträglich als Bluttat der GIA zu verkleiden.


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Ein anderes Bild der Vergangenheit verändert sich durch neue Informationen: Die Ermordung Benno Ohnesorgs durch einen Polizisten, der – wie jetzt bekannt – Stasi-Mitarbeiter war. Nach solchen Aussagen wird der Wunsch neu wach zu verstehen, was wirklich geschehen ist – was wahr war und bleibt und was unwahr ist. Doch auch hierfür ist wieder das Schweigen notwendig: Das Schweigen gegen neue propagandistische Vereinnahmungen ebenso wie das Zulassen neuer Erkenntnisse gegen alle Ängste, die sich lautstark melden.

Tu nicht irgendetwas, sitz nur da! So wollen auch wir uns in das betende Schweigen begeben und zulassen, was darin geschieht.


Welches Wohl-Verhalten ist nötig? – Friedensgebet September 2009

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Im August 2009 meldete sich ein parteiübergreifendes Bündnis zu Wort. Es fordert die Aussetzung der Hartz-IV-Sanktionen. Erwerbslosen wird von den katastrophal unterbesetzten Jobcentern oft willkürlich und rechtswidrig das Existenzminimum gekürzt oder gestrichen. Die Gerichte entscheiden 2/3 der Klagen von Betroffenen positiv. (www.sanktionsmoratorium.de)

Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen – in Schulen und Gefängnissen, im Gesundheitswesen, um nur einige zu nennen – führt der Weg oft in die Sackgasse von Bestrafungen und Zurückweisungen. Dort, wo Vertrauen und Unterstützung notwendig wäre, wird blockierende Angst gefördert, soll Wohlverhalten und Angepasstheit erzwungen werden.

Auch in der Geschichte der Religionen und Weltanschauungen finden wir Anleitungen zu menschenverachtender Unterwürfigkeit und gedankenlosem Wohlverhalten. Konflikte sollen nicht benannt werden, damit persönlich bereichernde Interessen verborgen bleiben. Hinter diesen Ratschlägen, Predigten und Sanktionen, die ein unterwürfiges Wohlverhalten einfordern, versteckt sich die Angst, dass Unangenehmes enthüllt wird.

Meist sind wir gesellschaftlich überfordert, den dann nötigen Prozess der Versöhnung zu beginnen. Klärung, Weinen über die Opfer, Bitte um Verzeihung und Neuanfang wären einige Etappen darin. Bedingungsloses Wohlverhalten begräbt die weiterführenden Impulse, auf die Zorn und Zärtlichkeit hinweisen. Kontrolle und Angst vor Sanktionen lässt die entstehende Leere, die Verhärtungen und die manchmal traumatischen Verletzungen übersehen. Die authentischen Lebensimpulse der Einzelnen werden eingeebnet.

Der Arzt Prof. Dr. Yuri Ivanovic Bandazhevsky, der die gesundheitlichen Folgen des Unfalls in Tschernobyl untersucht hat, verschwindet im Gefängnis,


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weil neue Atomreaktoren in seinem Land gebaut werden sollen und Frauen, die von Menschenhändlern nach Deutschland zur Prostitution geholt wurden, werden abgeschoben, wenn sie ihre Not zur Sprache bringen.

Persönlich zu verantwortende Zivilcourage ist auf dem friedenserhaltenden Weg überlebenswichtig für uns alle. Die Bürgerbewegung „Freie Heide“ konnte jetzt nach 15 Jahren beharrlichen Widerstands das Bombodrom im Norden von Berlin abwenden.


Depression und Suizid – Friedensgebet Dezember 2009

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Zwei tabuisierte Themen, die in den vergangenen Wochen durch den von seiner Witwe bekannt gemachten Suizid eines Sportlers sichtbar wurden. Wir können und wollen nicht über Gründe für Suizid bei einzelnen Menschen, bekannten wie unbekannten, spekulieren, und auch nicht über die Motive und Erfahrungen hinter der massenhaften und bewegten Teilnahme, die im Fußballstadion von Hannover am 15.11.2009 sichtbar wurde. Aber das Thema Depression und Suizid geht auch uns an. In der Vorbereitung auf das Gebet fragen wir uns, was es uns bedeutet.

Zunächst einmal bringen wir unsere eigenen Erfahrungen mit Depression und Suizid mit. Depression ist nicht heilbar wie eine Grippe oder ein gebrochener Finger. Der Druck, der auf der eigenen Seele lastet und auch nach außen hin wirkt – in die eigene Familie hinein, in den Freundeskreis – braucht allerdings vor Gott nicht versteckt zu werden. Das Gebet kann ein erster Schritt sein, mich von dem Tabu befreien zu lassen, das ich verinnerlicht habe. Oft habe ich es mir auch auferlegt, getrieben von der Scham vor den eigenen Tränen, von der Verzweiflung über das Rätsel, das ich mir geworden bin.

Doch das Thema Depression und Suizid gehört auch in die Öffentlichkeit unseres Friedensgebetes. Ganz offensichtlich lastet vielfältiger Druck auf uns Menschen. Immer schneller, immer besser, immer mehr – „mehr Tore, mehr Siege, mehr Netto.“ Wer in diesem Wettlauf versagt, wird ausgepfiffen, abgehalftert, verspottet. Am Beispiel des Profi-Sportlers wird sinnfällig, wie sehr eine ganze Öffentlichkeit an diesem Druck beteiligt ist – als Täter und Opfer. Wie eine Meute, die für eine Sekunde zu begreifen scheint, was sie anrichtet, steht die Trauergemeinde vor dem sichtbar gewordenen Opfer des Drucks. Das ist ein Moment der Umkehr, der möglich werdenden Buße. Im Gebet können wir uns ohne Angst fragen: Wo gehören wir selbst zu Meuten? Wo machen wir mit beim Druckmachen?


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Zu Depression gehört die Versuchung, sich nur als Opfer zu begreifen. Das ist einer der tieferen Gründe für die Gewalt. Gewalt zwischen Gruppen, Völkern und Religionen geht einher mit einer rückwärtsgewandten, depressiven Grundstimmung. Auch Meuten haben unsichtbare, aber tief sitzende depressive Grundstrukturen. Schmerzliche Erfahrungen werden zu Mythen, die die eigene Opferposition unbewusst zementieren und so Gewalt legitimieren. Das gilt auch für das Thema Druck: Druck machen am meisten diejenigen, die sich als Opfer von Druck fühlen. In den panischen Attacken, die unsere Gesellschaft in regelmäßigen Abständen schütteln, wird das sichtbar, in den Heilserwartungen an Politiker ebenso wie im hysterischen Sicherheitsbedürfnis auf allen Ebenen des Lebens und im Ausgrenzen von angeblich bedrohlichen Menschen, die anders sind als wir selbst.

Ein Schritt nach vorne im Gebet besteht für uns darin, den Blick von uns selbst wegzulenken auf die anderen, die ich nicht sehe. Vor Gott suche ich die Anderen und erkenne sie immer mehr als meine Schwestern und Brüder.


Kein Patent auf Leben – Friedensgebet Januar 2010

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Landwirte und Verbraucher geraten weltweit in die Abhängigkeit weniger internationaler Konzerne. Bauernverbände in Europa, Asien und Südamerika rufen zum Widerstand gegen diese Monopolisierung auf. In der EU müssen sogar Bauern eine Gebühr an diese Konzerne zahlen, wenn sie ihr eigenes Saatgut verwenden.

Pflanzensamen werden von den Agrofirmen so verändert, dass das Saatgut nicht mehr vermehrungsfähig ist, sondern jeweils neu gekauft werden muss. Die Firmen privatisieren die uns geschenkten Ressourcen, indem sie ihr Saatgut patentieren lassen.

In Südamerika oder Asien angebaute Pflanzen wie Soja oder Baumwolle sind zusätzlich gentechnisch verändert. Man nennt es Terminator-Saatgut, weil es nicht mehr keimfähig ist. In riesigen Plantagen werden dort Futterpflanzen für die Hühner, Schweine und Rinder bei uns angebaut. Darüber tauchen die unerforschten Genmanipulierungen auch in unseren Lebensmitteln auf.

Darüber hinaus werden in Lateinamerika riesige Plantagen für den Export angelegt und viele Kleinbauern von ihren Äckern vertrieben. Die landwirtschaftlichen Flächen stehen für die eigene Versorgung mit Lebensmitteln nicht mehr zur Verfügung. Außerdem werden oft große Teile des Regenwaldes vernichtet. Ähnliches geschieht mit den Bauern in Kamerun, wo im Auftrag der Industrieländer Kokosöl für Biosprit angebaut wird.


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Die Versklavung und Vertreibung von Kleinbauern nimmt weltweit zu. In Indien haben sich in den vergangenen zehn Jahren 200.000 von ihnen das Leben genommen, weil das nicht wieder verwendbare Saatgut durch die Patentierung teurer geworden ist und vermehrt Pestizide braucht. Schulden häuften sich an.

Diese Entwicklung lässt Gefühle von Wut, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Resignation in uns aufsteigen. Gleichzeitig bagatellisieren wir gern und schauen weg, indem wir scheinbar kostengünstig einkaufen.

Durch die Patentierung von Pflanzen, Tieren und menschlichen Genen wird das uns geschenkte Leben zur Handelsware.

Wie finden wir zurück zur Ehrfurcht vor dem Leben in seiner ganzen Vielfalt? In allen Religionen verbindet uns die Freude am Geschenk des Lebens.


Drei-Königs-Preis 2009 – Diözesanrat in Berlin

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Das „Interreligiöse Friedensgebet Berlin“ fördert das Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen, Sprachen und Religionen. Die Gruppe „Interreligiöses Friedensgebet Berlin“ trifft sich seit Oktober 2003 an jedem ersten Sonntag im Monat um 15 Uhr auf dem Berliner Gendarmenmarkt zum Friedensgebet. Männer und Frauen verschiedener Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen, darunter Hindus, Buddhisten, Juden, Christen und Muslime, aber auch religiös Suchende bringen öffentlich zum Ausdruck, was sie über alle Unterschiede hinweg verbindet: „Das Verlangen nach einem lebensbewahrenden Frieden“. Durch das gemeinsame Beten unter freiem Himmel setzen sie ein Zeichen „gegen den Missbrauch von Religionen als Mittel zur gewaltsamen Durchsetzung von Interessen“, sie laden alle Menschen ein, sich dem Gebet anzuschließen. Die Mitglieder der Gruppe „Interreligiöses Friedensgebet Berlin“ respektieren die Unterschiede untereinander und tun das, was sei gemeinsam tun können. Dies ist vorbildhaft und ein Beispiel für konkrete Integrationsarbeit.

Am 15. Januar 2010 überreichte der Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Berlin der Gruppe den Drei-Königs-Preis 2009 bei ihrem Neujahrsempfang am Gendarmenmarkt.


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Friedvoll – Bürgerinitiative Liebet Eure Feinde

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Die Bürgerinitiative „Liebet Eure Feinde“, unterstützt von KopArt e.V. und vielen Anwohnern, bemüht sich bereits im vierten Jahr um eine gewaltfreie Walpurgisnacht.

Wer sich noch an frühere Jahre erinnert: Da glich unser Kiez an diesem Tag eher dem Schauplatz eines Bürgerkrieges als dem eines Festes. Anwohner parkten ihr Autos um, Ladenbesitzer verrammelten ihre Geschäfte und viele mieden es sogar, auf die Straße zu gehen. Polizisten mit Schutzkleidung, Schildern und Wasserwerfern rückten an. Der Mauerpark wurde zum beliebten Treffpunkt von Randalierern aus ganz Deutschland, die Streit mit den Ordnungskräften suchten, aber auch die Bewohner tyrannisierten.

Unser Kiez ist aber tolerant, kreativ und entspannt und wir haben Lust, das auch an diesem Tag zu zeigen, statt uns zurückzuziehen. Unser Traum: Ein Fest, das die Anwohner und alle, denen es am Herzen liegt, selbst gestalten, das mit Feuerkunst und Schwedenfeuern zu Trommel- und Weltmusik offen ist für Anwohner und Gäste. Ohne Krawall und Auweia.

Die Zusammenstöße vergangener Jahre mit der Polizei und Erfahrungen aus früheren Jahren mit der Organisation von Feuerstellen haben zum Verbot aller Formen von Feuer (Feuerwerk, Grillen, Jonglage etc.) im Park und zu vermehrter Präsenz der Polizei geführt. Wir finden das schade. Klar verstehen wir das Sicherheitsinteresse, wollen aber trotzdem in dieser einen Nacht im Jahr den Leuten Feuer ermöglichen. Es geht ja auch anders! Der eigentlich viel zu kleine Mauerpark wird stark genutzt und die Natur im Park, besondes die sensible Grasnarbe, verkraftet deshalb keine offenen Feuerstellen. Verstehen wir. Wir lieben ja unseren Park. Deshalb setzen wir auch in Zukunft auf Schwedenfeuer (Denn Feuer gehören – unserer Meinung nach – zu Walpurgis einfach dazu.) Bewährt hat sich auch das Glas-/Flaschenverbot im Park. Die Kontrollen sollen nicht euch als Gäste abschrecken, sondern verhindern Glasbruch, der später zu „Tretminen“ für Mensch und Tier wird. Der Park gleicht am Morgen danach sonst einem Schlachtfeld und der Rasen ist unbetretbar.

Friedensgebet in der Walpurgisnacht 2007

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Das Gebet ist in fast allen Religionen und Traditionen eine Hinwendung zu einer höheren Macht. Das Gebet ist ein Ausdruck dessen, dass wir an diese höhere Macht glauben und mit ihr in Verbindung treten können. Es gibt viele verschiedene Auffassungen von dieser höheren Macht und man könnte fast sagen, dass es so viele unterschiedliche Auffassungen gibt, wie es Menschen gibt.


343 Wir beten heute für Frieden. Jeder auf seine Weise, wie er diese höhere Macht für sich benennt, versteht und erfährt – und doch gemeinsam. So zu beten, setzt Toleranz, Akzeptanz, Demut und Hingabe voraus. Dieser Akt alleine ist schon ein starkes Symbol des Friedens. Und doch ist dies nicht der Sinn allein unseres Zusammenkommens.

Wir beten heute, hier im Mauerpark, auf dem ehemaligen Todesstreifen, am Vorabend des 1. Mai, auf dem seit Jahren Gewalt, Schmerz und Verzweiflung vieler Menschen besonders sichtbar werden. Wir beten für Frieden zwischen den Nationen, zwischen den Religionen, zwischen anderen Gruppen, für Frieden im Mauerpark und in ganz Berlin. Und wir beten für den wichtigsten Frieden ohne den kein anderer Friede auf Dauer lebendig bleiben kann – den Frieden im Inneren des Menschen – den Frieden mit Gott. Möge der Friede auch mit uns sein.


344 Hintergrund – Bild von Christian Schmidt


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