Hans-Peter Haack

Zum psychologischen Gehalt und zur literarischen Gattung einer Kurzgeschichte Goethes.

«Die gefährliche Wette» ist eine Groteske, die Goethe in seinen Sozial-Roman Wilhelm Meisters Wanderjahren eingefügt hat. Gelächter schlägt um in Erschrecken.

Als Fabel gelesen, wie es Goethe empfiehlt, entlarvt sie Dünkel als zerbrechliche Lebenslüge. Dünkel ist die Attitüde, mit der Leere kompensiert werden soll, insgeheim erkannte Leere. In der Erzählung lassen Hohn und Spott diese Fassade einstürzen wie ein Kartenhaus. Eine expressiv auftretende Persönlichkeit verliert auf einen Schlag ihren Halt, weil sie Studenten-Ulk als ungesühnte Blamage erlebt. Die Kränkung bringt den Gefoppten um, nicht unmittelbar, doch mitwirkend.

Goethe hat den Einschub verharmlosend einen Schwank genannt und gemeint, dergleichen Unregelmäßigkeiten seien an dieser Stelle der Rahmenhandlung am richtigen Platz. Borchmeyer folgt ihm und findet, die Binnenerzählung sei „eher ein Schwank“ [1], ohne auf den Text weiter einzugehen. Doch ein Schwank endet nicht tödlich. Auch spielen Axt und Degen, wie noch beschrieben wird, im Schwank keine Rolle, allenfalls in der Posse. Zum Schwank gehört auch nicht eine Gesichtsverletzung, mit der einer der Beteiligten zeitlebens mit Hässlichkeit gestraft wird. Der Schwank als literarische Gattung geht glimpflich aus.

Folgendes ereignet sich:

Eine Clique von Studenten, die der gemeinsame Drang zum Übermut zusammenhält, hat während der Sommerferien in einem ländlichen Gasthof Quartier gemacht. Unter ihnen ist auch St. Christoph, ein Handwerker, der wegen seiner originellen Possen in ihren Kreis aufgenommen ist. Als die Tafelrunde gerade aufgehoben wird, sehen sie, wie im Hof eine schöne Equipage vorfährt, vierspännig angeschirrt. Ihr entsteigt ein älterer Herr mit auffallend großer Nase, der sein fortgeschrittenes Alter durch rüstiges Auftreten zu verbergen sucht. Durch das anspruchsvolle Auftreten des Ankommenden fühlt sich St. Christoph herausgefordert, den Übrigen eine gefährliche Wette anzubieten. Er werde den vornehmen Rührmichnichtan an der Nase zupfen, ohne dass dieser ihm ein Haar krümmen werde. Mit einem Heiterkeitsausbruch wird die Wette angenommen.

Der Initiator des Klamauks lässt sich von einem Bedienten als Barbier empfehlen und wird von dem neuen Gast auch akzeptiert. Vor der Rasur überredet er den Gravitätischen schlau, sich bei geöffneten Fenstern rasieren zu lassen. So können die übermütigen Studenten und Wett-Teilnehmer aus den gegenüberliegenden Fenstern zusehen. Beim Rasieren der Partie über der Oberlippe fasst er die Nase der „Exzellenz“, so hatte er den alten Herrn angesprochen, und biegt sie hin und her. Der Genasführte ist mit der Rasur zufrieden, ermahnt aber den vermeintlichen Barbier, daß man Leute von Stande nicht bei der Nase faßt. Welchem Stand er sich zurechnet, der Geburtsaristokratie, der Geld- oder geistigen Aristokratie [1] oder keiner der drei, erfährt der Leser nicht.

Verschwiegenheit zu fordern ist nicht das Mittel, sie zu erlangen. Der Streich spricht sich zur allgemeinen Heiterkeit im Gasthof herum, der Ausgelachte erfährt, welchen Tort man ihm angetan hat und kommt mit einer Axt, um sich für die Kränkung zu rächen. Mit Mühe können sich die Studenten durch die Hintertür über angrenzende Dachböden und Scheunen in Sicherheit bringen. Auch den verrauftesten unter ihnen, der sich mit seinem Degen entgegenstellen will, können sie mit sich ziehen. Nur der vorgebliche Barbier verpasst die Flucht und muss sich die Axthiebe des Rasenden gegen die verbarrikartierte Tür anhören, die jedoch standhält.

Der Sohn des Gedemütigten begegnet nach Jahren einem der Studenten, demjenigen, der damals auf seinen Degen vertrauen wollte. Er duelliert sich mit ihm und fügt ihm eine Wunde im Gesicht zu, die diesen zeitlebens entstellt.[2]

Zu der Zeit, in der man sich noch rasieren lies, war es nicht unüblich, dass die die Haut über der Oberlippe durch leichtes Ziehen der Nase nach oben vom Barbier gestrafft wurde. Sich darüber zu empören, ist das eigentlich Absurde dieser nicht geheuren Kurzgeschichte.


  1. Diese drei Aristokratien nennt Schopenhauer 1851 in seinen «Aphorismen zur Lebensweisheit».
  2. Eine auffällige Narbe oder die Durchtrennung von Ästen des Gesichtsnerven N. faciales mit dem Resultat eines schiefen Gesichts.


Originaltext