Esquirol (1827) Tafel V - VII

Esquirol, J. E. D.: Allgemeine und spezielle Pathologie und Therapie der Seelenstörungen. Frei bearbeitet von K. C. Hille. Nebst einem Anhange kritischer und erläuternder Zusätze von J. C. A. Heinroth. Mit XI lithographierten Tafeln. Leipzig: C. H. F. Hartmann 1827. Deutsche Übersetzung im Jahr der französischen Erstausgabe.

Tafel V, Lithographie 20 x 11,5 cm.


Tafel VII, Lithographie 20 x 11,5 cm.


Tafel VII, Lithographie 20 x 11,5 cm.

Diagnosen: Dämonomanie [Heutige Diagnose: Depression mit psychotischen Anteilen], Lungentuberkulose.

D., sechs und vierzig Jahre alt, war ein Dienstmädchen von mittlerem Wuchse, kastanienbraunen Haaren, braunen kleinen Augen und brauner Hautfarbe, welche bei mäßiger Körperstärke mit einer großen Nervenempfänglichkeit begabt war; zwar in religiösen Grundsetzen erzogen, hatte sie dennoch eine große Eigenliebe. In ihrem vierzehnten Jahre erschien ihre Menstruation, die sich nachher nur gering und unregelmäßig zeigte.

Im dreißigsten Jahre verliebt sie sich in einen jungen Mann, mit dem sie sich zu verbinden, man ihr abschlug; sie wurde nun traurig und melancholisch und glaubte sich von aller Welt verlassen; ihre monatliche Periode verschwand, ohne sich wieder zu zeigen: sie ward außerordentlich andächtig, machte das Gelübde der Keuschheit und weihte sich Jesu Christo. Einige Zeit nachher sündigte sie aber gegen ihr Gelübde, jetzt erfaßten sie Gewissensbisse, sie glaubte verdammt und dem Teufel übergeben zu seyn, und litt alle Qualen der Hölle. Sechs Jahre vergingen so in diesem Zustande ihres Irrwahns und ihrer Qualen; allein hierauf führten sie Thätigkeit und Zerstreuungen wieder zur Genesung und zu ihrer gewöhnlichen Beschäftigung zurück.

Im vierzigsten Jahre wurde sie abermals von einem von einem Geliebten verlassen, erneuerte ihr Gelübde der Keuschheit, und verbrachte ihre Zeit mit Beten. Eines Tages, als sie auf den Knieen lag und die Nachahmung Christi las, [Thomas von Kempen: Imitatio Christi (1471)], trat ein junger Mann in ihr Zimmer, und sagte ihr: er sey Jesus Christus, er käme sie zu trösten, und wen sie sich ihm ganz überlassen wolle, brauche sie den Teufel nicht mehr zu fürchten. Sie unterlag, glaubte sich nun zum zweiten Male in der Gewalt von Dämonen, und empfand alle Qualen der Hölle und der Verzweiflung; man schickte sie in die Salpetriere, wo sie fast immer liegen blieb, Tag und Nacht seufzte, wenig aß, sich immerfort anklagte, und ihr Unglück jedermann erzählte.

Den sechzehnten März 1813. Diese Person, jetzt sechs und vierzig Jahre alt, wurde in die Krankenabteilung der Salpetriere versetzt: sie war außerordentlich mager, ihre Haut erdfahl, das convulsivisch verzerrte Gesicht entfärbt, die Augen matt und stier, der Athem riechend, ihre Zunge trocken, rau und von weißen Punkten besäht, dabei verweigert sie Nahrungsmittel, obgleich sie sagt, daß sie von Hunger und Durst gequält würde, und ist schlaflos; ihr Puls ist klein und schwach, der Kopf ist schwer, im Innern brennend, äußerlich wie mit einer Schnur zusammengezogen. Ueberdies hat sie sehr schmerzhafte Zusammenziehungen der Kehle, rollt die Haut des Halses unaufhörlich mit ihren Fingern und drängt sie nach dem Brustbeine hin, indem sie versichert, daß der Teufel sie da ziehe, zusammenschnüre und sie etwas zu verschlingen hindere; die Muskeln des Unterleibes, der ihr bei der Berührung selbst empfindlich und welcher verstopft ist, sind gespannt; auf dem Rücken der rechten Hand und des linken Fußes zeigt sich eine scruphulöse Geschwulst.

Der Teufel hat ihr eine Schnur von dem Brustbein bis zur Scham gezogen, wodurch sie verhindert wird, aufrecht zu bleiben; der Dämon in ihrem Körper, brennt und kneipt sie, beißt ihr ins Herz und zerreißt ihre Eingeweide; sie ist von Flammen umgeben, und mitten in dem, Anderen Unsichtbaren, Feuer der Hölle Niemand kann ihr dieß glauben, allein ihe Qualen sind unerhört, schrecklich und ewig; sie ist verdammt, und der Himmel kann kein Erbarmen mit ihr haben.

Im März 1813. Die Kräfte der Kranken vermindern sich, sie sieht Niemand, der sich ihr nähert, und der Tag kommt ihr nur als ein Schein vor, in dessen Mitte Gespenster und Dämonen herumschweifen, die ihr ihren Lebenswandel vorwerfen, ihr drohen, und sie mißhandeln.

Allen Tröstungen widersteht sie und erzürnt sich, wenn man darauf besteht; der Beistand eines Dieners der Religion ist umsonst, und auch ärztliche Hilfe weist sie zurück: ihre Krankheit ist [sei] noch niemals gesehen worden, Menschen vermöchten bei ihr nichts, sie bedürfe übernatürlicher Kräfte; sie verflucht den Teufel, der sie brenne und martere, und lästert Gott, der sie in die Hölle geschleudert habe.

Mai. Es ist Marasmus eingetreten; die unteren Extremitäten sind nach dem Unterleib zurückgezogen, und die Kräfte verfallen gänzlich, dennoch kann sie nicht sterben. Den fünf und zwanzigsten Mai war die Zunge braun, die Hitze brennend, die Respiration erschwert; sie hatte Durst und einen kleinen, zusammen gezogenen Puls. Den dreißigsten Mai fanden sich ihre Füße geschwollen, sie hatte unregelmäßige Frostschauer, während sie brennend heiß war; trauriges Seufzen.

Den sechsten Juni: Zur Geschwulst der Füße, auf denen sich hier und da gefärbte Knöpfchen zeigten, kam noch wäßriger Durchfall, die Zunge blieb schwarz und der Puls sehr klein und häufig. Den zwölften Juni. Ihre Kräfte sanken ganz und gar zusammen, es hatte sich ein Brandschorf auf dem Schwanzbeine [Os coccygis] gebildet, und ihr Delirium blieb dasselbe. Denn funfzehnten Juni trat Sprachlosigkeit und schnelles Athemholen ein; der Puls war kaum mehr fühlbar, übrigens dasselbe Seufzen, dasselbe Delirium und die Ueberzeugung, nicht sterben zu können. Den zwei und zwanzigsten Juni Abends sieben Uhr starb sie endlich, nachdem sie zwei Tage schon nicht mehr die geringste Bewegung zu machen noch irgend etwas hinunterzuschlucken vermocht hatte.

Auszug des Hrsg. aus dem Sektionsprotokoll vom 24. Juni 1813: Reichlich Flüssigkeit in den Seitenventrikeln und dritten Ventrikel. [Ventrikelerweiterungen ?] Seröse Ergießungen auf der Schädelbasis. „Die tuberculösen Lungen“ waren überall mit der Pleura verwachsen. Verwachsungen des rechten Herzohres und der Herzspitze mit dem Herzbeutel. Das Netz war atrophisch und so sie das Peritoneum von kleinen schwarzen Punkten versehen, die Unterleibeingeweide verwachsen, die mesenterialen Lymphknoten haselnußgroß, die Milz breiartig und verfärbt, die Darmschleimhaut an mehreren Stellen ulceriert.

Dieser Beobachtung habe ich [Esquirol] drei Zeichnungen beigefügt: die erste zeigt das Gesicht dieser Person [Tafel V], wie es zwei Monate vor ihrem Tode gezeichnet wurde; Unruhe und Schwäche characterisiren es. Die zweite zeigt das Profil derselben, es wurde vor ihrem Tode begonnen und nach dem Tode beendigt, wo der ganz Kopf in Gyps geformt wurde; dieses Profil ist besonders durch die Abplattung der Stirn bemerkenswerth. [Tafel VI] Die dritte Zeichnung endlich giebt die Dimension des Hirnschädels. [Tafel VII]

[Orthographie und Interpunktion wurden übernommen.]


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