Infinitivkonstruktionen im Vorfeld

In diesem Kapitel geht es um Konstruktionen, bei denen Verben im Vorfeld erscheinen. Da das finite Verb des Satzes in die C°-Position bewegt werden muss, kommen für die Vorfeldbesetzung nur infinite Verben in Frage bzw. Konstruktionen, die infinite Verben enthalten. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Frage, ob die Bewegungsanalyse der Vorfeldbesetzung hierfür aufrechterhalten werden kann.

Beispiele:

  • Gelesen hab ich das nicht.
  • [Alles gelesen] hab ich nicht.
  • [Ein Fehler unterlaufen] ist ihm schon öfters.
  • [In Kassel leider nicht warten] kann der Regionalexpress nach Fulda. (Ansage im Zug)
Zur Literatursituation

Ein klassischer Aufsatz, der im Folgenden ausgewertet wird, ist Haider (1990).[1] Sternefeld (2006) erwähnt die Existenz solcher Konstruktionen an manchen Stellen, behandelt sie aber nicht näher.[2] Das Standardwerk zur deutschen Syntax von Haider (2010) analysiert die Konstruktion ebenfalls nur äußerst kurz.[3]

Infinitivkonstruktionen im Vorfeld als VP-Topikalisierung? Bearbeiten

Wie oben erwähnt, gibt es im Deutschen eine Art Konstruktion, bei der infinite Verben (zusammen mit anderen Konstituenten des Satzes) die Vorfeld besetzen:

  • [Einen Satz gelesen] hat Peter.

Diese Konstruktionen erzeugen ein Problem: Es wird klassischerweise davon ausgegangen, dass im Vorfeld ein "Satzglied", bzw. eine abgeschlossene Phrase, stehen muss. Nach unseren syntaktischen Annahmen ist aber Verb + Objekt, und erst recht ein infinites Verb allein, keine Phrase (da die VP das Subjekt enthält). Man versucht trotzdem, diese Konstruktionen als Topikalisierung einer Phrase zu analysieren, nämlich als VP.

Bezeichnet man diese Infinitivkonstruktion im Vorfeld als VP-Topikalisierung, ist der Satz im Beispiel ein Ergebnis von zwei Bewegungen: einmal wird das finite Verb (hier hat ) in C-Position, einmal wird eine Phrase (hier einen Satz gelesen ) in Spec-C-Position bewegt:

  • [CP [Einen Satz gelesen]i [ hatj [Peter ti tj ]]]

Haider (1990) erhebt aber eine andere Auffassung gegen der Bewegungsanlayse, nämlich "representational analysis":

Die verbale Projektion generiert in der Spec-C-Position und koindiziert mit einer leeren Kategorie in funktionaler Basisposition.

Problem 1: Zusammengesetztes Prädikat vs. VP-Einbettung ? Bearbeiten

Es gibt zwei Möglichkeiten, die Baumstruktur von Sätzen mit komplexem Prädikat im Deutschen zu skizzieren (Beispiel: Möchtest du mich heiraten? ):

a) Das finite Verb und das infinite Verb werden als zusammengesetztes Prädikat verbunden, d.h. sie bilden zusammen den Kopf der VP:
 
Zusammengesetztes Prädikat
b) Das infinite Verb wird zuerst mit dem Objekt verbunden und sie bilden zusammen eine VP, die dann mit dem finiten Verb verbunden wird und in der größten VP eingebettet ist: 
 
VP-Einbettung

Der Vorteil der VP-Einbettung ist, dass diese Struktur erklären kann, warum sich das Objekt und das finite Verb zusammen im Vorfeld befinden dürfen. Sie werden als eine Konstituente ins Vorfeld bewegt:

 
Obj-Infin.im VF

Es ist zu beobachten, dass diese Strukturen das Subjekt ("du") außerhalb einer infiniten VP platzieren müssen, denn sein Nominativkasus muss vom finiten Verb regiert werden. Inhaltlich (hinsichtlich der thematischen Rolle) gehört es allerdings zum infiniten Verb.

Nach der Analyse von VP-Einbettung entsteht auch ein anderes Problem: Da das infinite Verb mit dem Objekt zusammen eine VP bilden, ist es in der Baumstruktur möglich, dass es noch Adjunktion rechts an diese Phrase (in der Basisposition) gibt, die das infinite Verb und das finite Verb trennt, was den Satz ungrammatisch macht:[4]

  • * dass er wohl fragen, ob wir einverstanden sind, müssen wird.
  • * dass wohl jeder Hunde füttern, die Hunger haben würde.

Aber es kann jetzt nach Bewegungsanalyse nicht erklärt werden, warum das finite Verb mit dem Nebensatz zusammen im Vorfeld, aber nicht in der Basisposition im Mittelfeld stehen darf:

(1) a. * dass er wohl [fragen, ob wir einverstanden sind], müssen wird.
    b. [Fragen, ob wir einverstanden sind] wird er wohl müssen.
(2) a. * dass wohl jeder [Hunde füttern, die Hunger haben] würde.
    b. [Hunde füttern, die Hunger haben], würde wohl jeder.

Gibt es eine Lösung mittels Transformationen? Bearbeiten

Es ist schon sehr früh vorgeschlagen worden, den Widerspruch zwischen beiden obigen Analysen zu lösen, indem man eine VP-Einbettung zugrundelegt und eine Transformation darauf anwendet.[5] Hierbei würde das Verb (V°) aus der eingebetteten VP an das einbettende V° adjungiert:

  1. Wenn du VP[mich heiraten] möchtest
  2. Wenn du VP[mich ti] [heirateni möchtest]

Um auch alle anderen Effekte komplexer Prädikate zu erfassen, ist in diesen älteren Ansätzen außerdem vorgeschlagen worden, dass die VP-Grenze nach Bewegung des Kopfes getilgt werden kann, dass also eine strukturzerstörende Transformation angesetzt wird, deren Ergebnis die übliche Mittelfeldstruktur ist. Eine solche Möglichkeit wurde später vielfach abgelehnt, wird aber neuerdings in anderem Zusammenhang von G.Müller (2018) wieder vertreten (siehe im Kapitel Das Problem der mehrfachen Vorfeldbesetzung).

Haider (2010) vertritt die Position, die oben im Baum (a) dargestellt ist, nämlich dass der Verbkomplex aus mehreren V°-Köpfen als Einheit basisgeneriert wird. Dies erfordert dann allerdings, dass VPs im Vorfeld nicht durch Bewegung dorthin gelangen, sondern ebenfalls als solche dort erst erzeugt werden.

Problem 2: Unvollständige VPs im Vorfeld Bearbeiten

"Rest-Topikalisierung" Bearbeiten

Wir betrachten einen Beispielsatz aus S.Müller (2018: 74), der aus einem Zeitungstext entnommen ist. Die Wortstellung dieses Satzes reagiert offenbar darauf, dass von dem Känguruh zuvor im Text bereits die Rede gewesen war, wogegen der Autofahrer in diesem Satz neu eingeführt wird:

Bei der Polizei angezeigt hatte das Känguruh ein Autofahrer, nachdem es ihm vor die Kühlerhaube gesprungen war und dabei fast angefahren wurde.

Das Problem an diesem Satz ist die Vorfeldbesetzung "Bei der Polizei angezeigt". Dies ist keine vollständige VP; dazugehören würde außerdem "das Känguruh" als Objekt von "anzeigen", sowie in vielen Analysen (z.B. Haider 2010) auch das Subjekt "ein Autofahrer". Objekt und Subjekt stehen jedoch getrennt im Mittelfeld.

Es gibt eine gängige Analysemethode für solche Sätze, die die unvollständige VP im Vorfeld als das Ergebnis aus einer Abfolge mehrerer Bewegungsprozesse erklärt. Haider (1990) argumentiert wohlgemerkt gegen diese Analyse. Da es aber eine klassische Idee ist und oft gut zu funktionieren scheint, soll man sie kennen.

 
Schritt 1: Grundreihenfolge im Mittelfeld
 
Schritt 2: Mittelfeldabfolge nach Scrambling des Objekts

Schritt 1 Bearbeiten

Wie bei jeder Bewegungsanalyse der Topikalisierung, muss man für den Satz eine zugrundeliegende Normalabfolge im Mittelfeld rekonstruieren. Im Beispiel ist auffällig, dass das Objekt "das Känguruh" vor dem Subjekt "ein Autofahrer" steht, auch dies muss bereits ein Bewegungsprozess gewesen sein (Scrambling). Die Grundreihenfolge ist:

Subjekt Objekt Oblique Ergänzung Verb Hilfsverb (finit) Nachfeld
ein Autofahrer das Känguruh bei der Polizei angezeigt hatte (nachdem... etc)

Zur Analyse benutzen wir der Einfachheit halber die Struktur mit Einbettung einer VP im Mittelfeld, wie sie in Sternefeld (2006) verwendet wird. Diese Analyse ist kontrovers, aber ermöglicht für unsere gegenwärtigen Zwecke eine unkomplizierte Näherungslösung. Im ersten Baum wird die vereinfachende Annahme gemacht, dass das Nominativsubjekt in der VP des finiten Verbs erscheint (obwohl es thematisch zum infiniten Verb gehören würde; Sternefeld 2006 äußert sich nicht dazu, ob er das Subjekt daher in die höhere VP bewegen möchte). Der Nebensatz mit "nachdem" wäre rechts an VP zu adjungieren (als Nachfeld), diesen Schritt vernachlässigen wir hier.

Schritt 2 Bearbeiten

Wenn das Akkusativobjekt vor dem Subjekt erscheint, muss es gescrambelt worden sein. Diese Umstellung wird als eine Bewegung dargestellt, durch die eine Phrase links an VP adjungiert wird (nach Sternefeld 2006). Durch diese Bewegung ist die infinite VP teilweise entleert worden. Diese gelb markierte VP im abgebildeten zweiten Baum ist nun genau die Einheit, die im obigen Beispielsatz im Vorfeld steht! Es kann also ab hier der Verbzweit-Satz standardmäßig gebildet werden: Das finite Verb geht nach C° und die VP "bei der Polizei angezeigt" ins Vorfeld. Diese VP ist der Rest, der nach einer (Scrambling-)Bewegung übrigbleibt, daher der Name "Rest-Topikalisierung". Im Beispiel ist das Vorliegen von Scrambling an der Mittelfeld-Reihenfolge zweifelsfrei zu sehen, was diese Analyseidee stützt.

Topikalisierung einer VP, die ein Subjekt enthält Bearbeiten

Ein Subjekt kann in der topikalisierten VP auftreten, während andere Elemente dieser VP im Mittelfeld zurückbleiben, vorausgesetzt, das Objekt steht direkt nach dem finiten Verb.

Beispiel[6]
a. Ein Außenseiter gewonnen hat das da nie.
b. * Ein Außenseiter gewonnen hat da nie das Derby.

Die Existenz solcher Daten wurde in der Literatur erst seit der Arbeit von Haider (1990) anerkannt. Haider führt sie in dem Zusammenhang an, dass er eine Bewegungsanalyse der VP-Topikalisierung ablehnt. Es wird jedoch nicht genau diskutiert, inwiefern die Daten gegen eine Bewegungsanalyse sprechen. Ein Lösungsvorschlag im Rahmen einer Bewegungsanalyse ist wiederum "Rest-Topikalisierung". Durch das Scrambling werden einige Elemente erst aus der VP herausgenommen. Der Rest wird dann topikalisiert. Diese Analysemöglichkeit wird im folgenden im einzelnen betrachtet -- allerdings wird hier keine endgültige Lösung dieses Problems empfohlen werden!

Durch Scrambling kann zuerst das Adverbial nie aus der VP herausbewegt und adjungiert werden (oder es wird angenommen, dass es als VP-Adjunkt eingesetzt wird). Eine Spur wird in der VP zurückgelassen.

 
Scrambling: Adverbial wird adjungiert

Das Adverbial da und das Objekt das werden dann auch so behandelt.

 
Scrambling: Objekt wird adjungiert

Zuletzt wird die teilentleerte VP ins Vorfeld bewegt und hinterlässt eine Spur.

 
Rest-Topikalisierung

Somit wurde die Wortstellung wie gewünscht abgeleitet. Diese Analyse hat aber ein Problem: Es ist keine Regel angegeben worden, wie das Subjekt den Nominativ-Kasus erhält. Es steht nämlich im Inneren einer infiniten VP. Sternefeld (2006) erzeugt das Nominativsubjekt grundsätzlich in der Projektion des finiten (Hilfs-)Verbs, das dann das Kasusmerkmal regulär regieren würde; dann fragt sich aber, wie das Subjekt bei einer Topikalisierung der infiniten VP mitgenommen werden kann. Eine Lösung wäre dann nur noch, die gesamte finite VP – also einschließlich der Spur des finiten V – zu topikalisieren:

[Ein Außenseiter gewonnen  tk ]i   hatk  hier noch nie  VP[ ti ]

Dies ist eine neuartige Idee, da nun die Spur des finiten Verbs (tk) ungebunden ist (man findet sonst auch keine Daten mit offensichtlich topikalisierter finiter VP). Um diese Struktur zu verarbeiten, muss erst die bewegte VP an die Stelle ti rekonstruiert werden, und dann muss das finite Verb in die zuvor rekonstruierte Konstituente hinein rekonstruiert werden (an die Spurposition tk, nachdem diese wieder nach unten gebracht wurde). G.Müller (1998)[7] befürwortet die Existenz von solchen Bewegungen. Es wird jedoch in der Literatur kaum je klargemacht, ob Autoren diesen Mechanismus annehmen, auch Müller zeichnet keine Spuren solcher Bewegungen in den übrigen Beispielen seines Buches ein (und äußert sich nirgends, welche Annahmen er zur Position des Subjekts im Mittelfeld macht). -- Wir müssen diesen Punkt also als offenes Problem stehen lassen.

Problem 3: Gespaltene Topikalisierung Bearbeiten

In der topikalisierten VP steht das Verb zusammen mit dem Kopf einer NP, während der Rest dieser NP im Mittelfeld des Satzes bleibt, d.h., die NP wird nicht ganz topikalisiert, sondern wird gespalten.

  • [Briefe geschrieben] hat sie mir nur drei traurige bis jetzt.[8]

Für diesen Satz gibt es keine Quelle für Rest-Topikalisierung, weil es ungrammatisch ist, eine NP durch das Scrambling zu spalten. Für den Satz oben wird eine Basisstruktur wie folgendes erforderlich, was ungrammatisch ist:

  • * dass sie nur drei traurige bis jetzt Briefe geschrieben hat.[9]

Problem 4: Skopusasymmetrie ohne Rekonstruktion[10] Bearbeiten

Nach der Feststellung von Skopus und den darin liegenden Satzteilen lässt sich ein Satz mit sowohl Modalverb als auch Negation durch verschiedenen Lesarten verstehen:

  • Max darf jemandem kein Buch verkaufen.
LA 1: Max ist erlaubt, jemandem kein Buch zu verkaufen. (NEG: eng)
LA 2: Max ist nicht erlaubt, jemandem Buch zu verkaufen. (NEG: breit)

In diesem V2-Satz ist das Modalverb ("dürfen") anscheinend außer des Skopus von Negation ("kein"), trotzdem ist die zweite Lesart möglich, wofür der Grund ist, dass sich der Skopus auf Rekonstruktion beziehen kann:

  • Max darfi [ jemanden kein Buch verkaufen ti ].

Ein Problem ist aber jetzt zu entdecken, dass die Lesart auf die erste beschränkt wird, wenn man die Infinitivkonstruktion ("jemandem kein Buch verkaufen") im Vorfeld setzt:

  • [ Jemanden kein Buch verkaufen ] darf Max.
LA: Max ist erlaubt, jemandem kein Buch zu verkaufen. (NEG: eng)

Der Skopus der Negation verändert sich und hier funktioniert die Rekonstruktion nicht.

Bewegung oder Basisgenerierung im Vorfeld? Bearbeiten

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  • Wie sähe die Alternative zur Bewegungsanalyse aus? Dies ist nicht ausgearbeitet, Haider (1990) gibt dazu nur wenige Anhaltspunkte.
    • Sein Abschnitt 2.7 enthält den Verweis auf Konstruktionen mit Linksversetzung (left dislocation) einer VP; diese sind nicht bewegte, vorangestellte Infinitiv-VPs, verhalten sich aber auch anders als die im Vorfeld

Fußnoten Bearbeiten

  1. Haider, Hubert (1990): Topicalization and other puzzles of German syntax. In Günther Grewendorf & Wolfgang Sternefeld (eds): Scrambling and Barriers. Amsterdam: Benjamins. S. 93–112.
  2. Sternefeld, Wolfgang (2006): Syntax. Eine morphologisch motivierte generative Beschreibung des Deutschen. Stauffenburg, Tübingen. -- Siehe den Baum (3e) auf S. 334 für die einzige Analyse einer VP-Topikalisierung.
  3. Haider, Hubert (2010): The Syntax of German. Cambridge University Press. -- Die einzige Erwähnung ist eine kurze Diskussion der "Resttopikalisierung" S. 344–347.
  4. vgl. Haider 1990: Bsp. (5), (6)
  5. Eine Diskussion dieser Literatur findet sich in Haider (2010), S. 325ff. Die früheste Variante dieser Idee ist eine Arbeit von Evers aus dem Jahr 1975.
  6. Haider 1990: Bsp. (12c), (12b)
  7. Gereon Müller: Incomplete Category Fronting. Berlin: Springer
  8. Haider 1990: Bsp. (33)
  9. Haider 1990: Bsp. (32b)
  10. vgl. Haider(1990): Kap. 2.6, 4.6

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