Autor: Lisa Dürr

Exzerpt: Barthel, Christian: Gemeinwesenorientierte Polizeiarbeit und Organisationsentwicklung. In: Kreissel, Barthel, Ostermeier (Hg.) 2008: Policing in Context. Rechtliche, organisatorische, kulturelle Rahmenbedingungen polizeilichen Handelns. Lit. Berlin

Kernthese: Gemeinwesenorientierte Polizeiarbeit benötigt eine durchlässige Kommunikations- und Organisationskultur, die das Dienstwissen der Praktiker systematisch nutzt.

Seite 209

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Die Polizei und ihre Polizisten bilden in der spätmodernen Unsicherheitsgesellschaft eine wichtige Diagnoseinstanz, da sie die Sicherheitslage nicht nur analysieren, sondern auch kommunizieren dürfen. Sie hat die Legitimation, alltägliche Verunsicherungen zu thematisieren und ihre kontinuierliche Beobachtung des Gemeindelebens woraus regionalspezifische Problemschwerpunktdiagnosen resultieren dient als Voraussetzung für zielorientierte Polizeiarbeit.

Seite 210

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Dienstwissen, welches als solches Wissen definiert werden kann das Praktiker, also Polizisten*innen, auf der Straße generieren, lässt sich im Vergleich mit offiziellem Wissen nicht einfach einfangen. Es ist eine mikropolitische Ressource in der Auseinandersetzung mit der Hierarchie und anderen Dienstzweigen und wird in der Weitergabe zu erzählbaren Geschichten stilisiert.

Seite 211

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Allgemein sind polizeiliche Behörden in der Alltagsorganisation durch vertikale und horizontale Hierarchie gekennzeichnet und kämpfen auf beiden Ebenen mit Misstrauen. Da jede Sparte innerhalb der Polizei eigene Themenbereiche bearbeitet entstehen innerhalb der Sparten individuelle Denk- und Handlungsmuster und die Wirklichkeit die relevant ist, ist die eigene. Mangelhafte Konfliktaustragung oder Konfliktvermeidung untereinander verstärken die bereits vorhandenen Spannungsfelder.

Seite 213 - 214

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Hier setzt das Konzept der Prozessorganisation an. Es zielt nicht auf den Rückbau der Hierarchien sondern auf die Wiederherstellung abgebrochener Informationswege. Aus den Ebenen „Oben“ und „Unten“ will es drei gleichwertige machen:

  • Makrosystem/konstituierende Führung: die Organisation als Ganzes. Gesamtausrichtung der Organisation, grundlegende Unternehmens- bzw. Organisationsziele und langfristige Ziele.
  • Mikrosystem/dirigierende Führung: das Individuum oder die Gruppe: konkrete Handlungsebene, operative Führung
  • Mesosystem/organisierende Führung: Zwischenstelle, Zusammenfassung, interne Kommunikation, Ressourcenverteilung

Die drei Ebenen sind nicht pyramidal angelegt sondern bestehen nebeneinander und spiegeln unterschiedliche Ausschnitte der Organisationswirklichkeit wieder. Das Ergebnis ist Prozessorganisation. Das bringt für die Polizei zwei Vorteile: Die Mikroebene wird in ihrer eigenen Handlungslogik ernstgenommen und die Mesoebene übernimmt selbst Führung und stellt Verbindungen her.

Seite 215

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Im Weiteren will die Prozessorganisation kontraproduktive Formen der Verknüpfung unterschiedlicher Wissens- und Rationalitätsformen hinterfragen. Das bedeutet auf der vertikalen Ebene die Spannungen zwischen Praktikern und dem Management zu reduzieren, auf horizontaler Ebene das Machtgefüge und Abgrenzungsmanöver in den Blick zu nehmen.

Seite 216

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Innerhalb der intransparenten Zonen zwischen den verschiedenen Ebenen wird es jedoch ebenfalls problematisch. Der vermeidliche Universalismus des Managementwissens unterdrückt den Blick darauf, dass die Organisation unterschiedliche Deutungsmuster haben könnte.

Seite 218

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Das professionelle Wissen der Praktiker und das Managementwissen schließen sich immer wieder gegenseitig aus, obwohl sie sich gegenseitig benötigen. Wo Wirtschaftlichkeitsüberlegungen dominieren sieht der Praktiker seinen Kernauftrag, den Einsatz bedroht, werden jedoch die Interessen des Managements außer Acht gelassen droht der Organisation Verwahrlosung. Daran wird nochmal deutlich, dass beide Ebenen ihr Spannungsverhältnis bearbeiten müssen.

Seite 219 - 220

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Das Erfahrungswissen der Experten vor Ort ist eine Mischung aus:

  • Explizitem Wissen: Wird in der Ausbildung vermittelt
  • Impliziertem Wissen: Erworben durch praktisches Tun
  • Narrativem Wissen: Durch Gespräche gewonnen, beiläufiger Erzählungen

Seite 222

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Dieses Erfahrungswissen ist das Wissen der Praktiker. Es kann jedoch der gesamten Organisation zu gute kommen. Es muss der Organisation allerdings daran gelegen sein, dieses Erfahrungswissen zu fördern.

Seite 228 -230

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Die Mobilisierung des Erfahrungswissens bedarf operativer Führungskräfte [oF]. Sie tragen die Ziele der Organisation in ihre Gruppen von Praktikern und spannen einen gemeinsamen Sinnhorizont, also ein gemeinsames ‚mind-set‘:

  • „social“: Intersubjektiv geteilter Sinn entsteht in Kommunikationsprozessen
  • „Identity“: OF müssen der Stereotypisierung des polizeilichen Gegenübers entgegenwirken, um alternative Erklärungsmuster zuzulassen
  • „Retrospect“: OF sollen Kommunikationsräume eröffnen um Praktikern die Chance zu geben sich mit ihren Gedanken auseinander zu setzen
  • „Cues“: Erweiterung des Glossars der Einsatzbeamten fördern. Neue Begriffe ermöglichen alternative Perspektiven auf polizeiliche Probleme
  • „Ongoing“: Der Prozess der professionellen Wissensgenerierung und Reflexion ist fortläufig
  • „Plausible“: Qualifizierung des Dienstwissens durch Reflexion. Neben engagiertem Handeln ist auch mehrperspektivisches Verstehen wichtig
  • „Enactment“: Sinnstiftung. Den Polizisten dabei helfen, sich weiter zu bewegen

Seite 230

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Nach der Einführung dieser Konzepte auf der Mikroebene ist die Mesoebene gefragt. Sie unterstützt dabei, die Eigenlogik der Mikroebene zu verstehen und professionelles Wissen zu generieren. Geschieht dies nicht und die Managerebene glaubt weiterhin die Universalvernunft zu besitzen, koppelt sie sich ab und verschärft die Glasdecke zwischen den Dienstgraden. Organisationsentwicklung im Sinn der Prozessorganisation ist anspruchsvoll aber ein für die gemeinwesenorientierte Polizei mögliches Konzept.