Kurs:Mikropolitik(WS 2018/19)/Polizei II

Autor: Aylin Dalkiran

Exzerpt: Gelebte Hierarchien - Mikropolitische Arrangements und organisationskulturelle Praktiken am Beispiel der Polizei, Anja Mensching (2008)

Kernthese: Anja Mensching hat das Ziel, die Organisation Polizei nicht nur mikropolitisch erklären zu wollen, sondern, anders als in der bisherigen (Feld-)Forschung, innenpolitische bzw. innerpolizeiliche Kommunikation aufzuzeigen und Handlungen innerhalb einer Gruppe von Polizeibeamt*innen zu beschreiben. Seit den 1990er Jahren wurde vermehrt auf das Außenverhältnis von Polizei und Bürger*innen in der Forschung eingegangen, so auch Männlichkeit in den Blick genommen sowie Strategien der Vernehmung als Hauptaufgabe der Polizei definiert. Mensching wechselt die Perspektive in das Innere der Organisation Polizei und stellt die zentrale Frage in ihrer Arbeit, inwiefern Hierarchieerwartungen und tatsächlich praktizierte Hierarchiebeziehungen zusammenhängen.

Kapitel 5 Spielerische Arrangements der gelebten Hierarchien - Das Spiel des Als Ob („Türkenbauen“)

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Mikropolitische Arrangements können zum einen die Mikropolitik in der Polizei erklären, d.h. Machtverhältnisse, Hierarchiestrukturen, hier: Sub- und Supraordination, zum anderen Konsens, Verträge und die damit einhergehenden und notwendigen Prozesse

verständlich machen, hier: Arrangements Mikropolitische Arrangements werden als Spiele zweier Ebenen verstanden: Während die erste Ebene alle gelebten Hierarchien umfasst, handelt die zweite Ebene von ihrer Umsetzung

Bsp. Spiel „Türkenbauen“: Wird heute zwar nicht mer verwendet, verweist aber auf gelebte Hierarchien in der Polizei, denn der Staatsbeamte und Mechaniker Wolfang von Kempelen führt 1770 einen Schachautomaten vor, der „getürkt“ war, „denn in seinem Inneren lenkte eine versteckte Person seine Geschicke“. Mensching fasst alle Spiele unter diesen Begriff, da sie so auf gelebte Hierarchien, auf Täuschungen bezüglich polizeilicher Aktivitäten und Handlungsspielräume, aufmerksam machen will.

Spielpraktiken der gelebten Sub- und Supraordination

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Spielpraktiken umfassen Wettbewerbe um Dienststellen, Umgang mit schriftlichen Informationen etc. und ihr Außenverhältnis Mensching verweist auf die „Als-ob-Praxis“ von Ortmann, und damit auf die doppelte Funktion von Spielen: eine (scheinbare) Aktionspraxis wird nach den regeln der Aktenpraxis dokumentiert bzw. ausgeführt, und die Aktionspraxis nach genauen Regeln, d.h. die genaue Praxis der Praxis (= „Genau-so-und-nicht-anders-Praxis“)

Statistikspiele - Wettbewerb auf der Ebene der visiblen Aktenpraxis

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Polizeiliche Arbeit, d.h. vor allem (Miss-)Erfolg wird über das Medium Statistik definiert und durch Medien verbreitet und damit verstärkt. Das sorgt für Konkurrenz innerhalb der Polizei, denn die Erfassung dienstlicher Einsätze, Sachverhalte etc. sorgt dafür, dass ein ständiger Konkurrenzkampf um Personal und Beförderung stattfindet. Aktenpraxis ist hier also wichtiger, denn sie beweist statistisch, welche Beamt*innen herausragende Arbeit leisten und welche Dienststelle durch bestimme Arbeit und Dokumentation hervorsticht. Zwar ist die Aktionspraxis ein wichtiger Bestandteil, denn Zufriedenheit von Bürger*innen etc. wird ebenfalls erfasst, spielt aber für den Wettbewerb keine wichtige Rolle.

S. 269-271

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Personal und die Chancen auf einen höheren Dienstgrad hängen immer mit dem statistischen Erfolg des polizeilichen Handelns ab, weshalb es zu sich häufenden Strafanzeigen kommt. Denn Personal wird hierüber definiert und die Qualität der polizeilichen Arbeit nimmt ab, weil die Statistik primär im Vordergrund steht.

Beispiel Gruppe 1: Beamt*innen sprechen nicht von „getürkten“ Statistiken, sondern häufig von kreativen Verschiebungen bzw. Verschönerungen. Es lässt sich erkennen, dass häufig Strafanzeigen aufgegeben werden, um die Erfolgsrate einer Dienststelle zu erhöhen, wie im Gespräch zum Tragen kommt: 7 Autos wurden beschädigt, wobei nur eine Anzeige aufgegeben wurde. Sobald aber der Täter gefasst wird, werden 7 Anzeigen geschrieben, um auch 7 erfolgreich aufgeklärte Strafverfolgungen nachzuweisen. Lügen werden demnach als legitime Modulation umschrieben.

Beispiel Gruppe 2: Bei Fahrgeldhinterziehung wird deutlich, dass hier Zahlen aufgenommen werden, die nicht mit einer härteren Bestrafung einhergehen, sondern lediglich die Erfolgsquote einer Dienststelle erhöhen, und damit angleichen.

S. 272/273

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Beispiel Geschwindigkeitsmessungen: Überwiegend finden Messungen an ‚normalen‘, ruhigen Orten statt, denn diese erhöhen die Einnahmen für Polizei und oftmals Kommunen. Obwohl Geschwindigkeitsmessungen die Rate von Unfällen etc. reduzieren sollen, werden sie primär für Einnahmen genutzt bzw. polizeiliches Handeln gerechtfertigt.

Beispiele und Gruppendiskussionen zeigen deutliche Diskrepanz zwischen nach außen hin kommunizierten polizeilichen Handeln und den eigentlichen Motiven polizeilicher Arbeit. Mensching hält fest, dass eine doppelte scheinheilige Legitimation stattfindet, denn einerseits wird polizeiliches Handeln an Statistik orientiert und angeglichen und damit wird die Qualität der Einsätze völlig ausgeblendet und sind primär nicht die Motivation der Beamt*innen, anderseits sind sich die Beamt*innen dieser Lügen bewusst, wollen aber die Statistiken und Erfolge nicht gefährden.

Ein Beamter im Beispiel verweist auf die fehlende Kontrolle von Statistiken, denn sie sollen Angaben und Handlungspraxen abgleichen. Wenn aber leitende Beamt*innen bestimmte Bereiche beobachten und mit den Statistiken abgleichen, so fuhrt das zu mehr „Freiräume[n] für alles andere“.

S. 275/276

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Auch wenn die Aktionspraxis wenig nachgewiesen bzw. kontrolliert werden kann, sind sich die Beamt*innen bewusst, dass Lügen in der Statistik erhebliche Folgen haben können, wie enormen Druck auf zukünftige Aktionspraxen auszuüben und auch „ein Echo“ generiert wird, da negative Konsequenzen zum jetzigen Zeitpunkt nicht genauestens abgewägt werden können. Im Gespräch wird enttarnt, dass modifizierte Statistiken nicht nur erheblich der Polizei schaden, sondern auch der Politik, die mit diesen Zahlen arbeitet und sich ebenfalls an der Erfolgsquote in der Aufklärung orientiert.

Die Modifikation statistischer Daten wird als „Führungsinstrument“ definiert, Mensching jedoch fügt hinzu, dass sie außerdem der Repräsentation nach Außen dient. Was im Inneren der Polizei primär als Entlastung und Selbstdarstellung gesehen wird, hat negative Auswirkungen in ihrem Außenverhältnis, d.h. „fatale Fehleinschätzungen über die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Polizei“.

Beurteilungs- und Gehaltsspiele - Nutzbarmachung der Akten- für die Aktionspraxis

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Aktenpraxis wird für die Aktionspraxis bewusst genutzt, weil Beamt*innen eigenen Interessen nachgehen und Chancen auf höhere Dienststellen erhöhen wollen. Ziel ist es, „individuelle Bedürfnisse

nach finanzieller Anerkennung oder Anerkennung durch Beförderung innerhalb der formellen polizeilichen Hierarchien zu realisieren". Auch wenn die Statistik eine große Rolle spielen,

so geht es in dieser Art von Spiel primär um individuelle Vorteile und den gezielten Ausschluss negativer Konsequenzen.

Beamt*innen äußern in Gesprächen, dass Lügen in der Statistik einen „Zwangscharakter“ aufweist, jedoch schwer zu umgehen sei, denn das Wahrheiten würden sich auf die Kosten von Kolleg*innen ausüben. Hinzu kommt das strategische Mitspielen, denn durch die statistische Bewertungen anderer (hier: Kolleg*innen) hängen Sympathien am Arbeitsplatz ab, denn diese entscheiden darüber, inwiefern man mit einbezogen oder isoliert wird. Zum Ausdruck kommt die Diskrepanz zwischen den Definitionen von Bewertungspunkten und den tatsächlich abgegebenen Bewertungen.

S. 279/280

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Vor allem altruistisches Denken beeinflusst die Bewertungspraxis innerhalb der Polizei, denn so können individuelle Erfolge garantiert werden, ebenso die der gesamten Dienststelle. Kurz vor Beurteilungspraxen, werden eigene Leistungen statistisch so modifiziert, sodass die Chancen auf eine Beförderung steigen bzw. die eigene Dienststelle garantiert sind. „[D]a geben sie plötzlich alle Gas“, diese Formulierung bestätigt das kurzzeitige Engagement von Beamt*innen, was aber für die innerpolizeiliche Zusammenarbeit zwecklos ist. Überspitzt formuliert „vor allem jene Polizeibeamt[*innen] sind, die ansonsten nicht durch übermäßiges Engagement auffallen, die sich in den Zeiten kurz vor den Beurteilungen hervortun.“

Auf Ebene der Aktionspraxis: Gehaltsspiele äußern sich besonders in der Dokumentation, denn „Überstundenberge“ finden tatsächlich mehrheitlich auf dem Papier statt, beispielsweise Dienstzeitenwechsel etc. werden als Mehrheitsdienst dokumentiert, die offiziell nicht in diese Kategorie reinfallen würden. So entwickelte diese Dokumentation eine Eigendynamik und ist in Statistiken häufig das Argument der Belastung, um auch den „Vergütungsanspruch der Beamt[*innen] auszuweisen.

Die ‚getürkte‘ Auflistung der alltäglichen Dienste deutet ebenfalls auf einen doppelten Charakter hin, denn auch wenn Lügen mit einhergehen, so steht der Zwang im Vordergrund. Mensching hebt hier die Frage hervor, weshalb Beamt*innen diesem Spiel nicht entgehen können und welche konkreten Konsequenzen bei Verweigerung des Beurteilungs- und Gehaltsspiels verbunden sind.

Der Konkurrenzkampf zwischen zweier Beamt*innen, die um die Höchstbewertung konkurrieren, haben immer Einfluss auf andere bzw. untergeordnete Beamt*innen, wenn auch indirekt. Jedoch verbirgt sich hier der Druck von Vorgesetzten, die damit Macht auf die gesamte Dienststelle ausüben.

S. 282/283

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Vor allem ein Alleingang hat erhebliche Folgen auf Kolleg*innen, denen ebenfalls ein Ausschluss von Beförderungen ‚droht‘, sobald ein*e Beamt*in „die Praktiken des Türkens“ entlarvt und an die Öffentlichkeit bringt (was aber nie der Fall ist, denn das würde die innerpolizeilichen (Macht-)Spiele erheblich beeinflussen bzw. völlig eliminieren).

S. 284-286

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Jahrmarktsprinzip: Beurteilerkonferenzen ähneln einem Jahrmarkt oder Basar, denn das Verhandeln um die höhere Dienststelle von Beamt*innen kommt es auf die (laute) Präsentation an. Ein Nullsummenspiel sind diese Konferenzen, zumal „[d]er eine wird runtergestuft, damit ein anderer befördert werden kann“.

S. 287/288

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Bei diesem Prinzip stehen weniger die Qualitäten der Beamt*innen im Vordergrund, vielmehr ist die Durchsetzungsfähigkeit der Beurteilenden ausschlaggebend. Die wohl größte Kritik seitens Beamt*innen lässt sich an diesem Prinzip finden, denn sie hinterfragen, inwiefern dieses Prinzip tatsächlich das misst, was es zu messen vorgibt: die Leistung der Beamt*innen.

PowerPoint Präsentation

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