Kurs:Zwischen Grundgesetz und Scharia/Paralleljustiz
Als Paralleljustiz wird in Deutschland eine Rechtssprechung durch nicht-staatliche Organisationen beschrieben, die sich außerhalb der deutschen Rechtsordnung und demokratischer Prinzipien bewegt. Im Rahmen einer Expertentagung der Hanns-Seidel-Stiftung am 6. April 2016 im Konferenzzentrum München wurde folgende Definition formuliert: „Paralleljustiz ist eine Form der Konfliktlösung und Beilegung von Streitigkeiten oder Straftaten, die nach deutschem Recht rechtlich relevante Tatbestände darstellen. Die Schlichtung jedoch bewegt sich außerhalb der deutschen Rechtsordnung und demokratischer Statuten.“ [1] Während die Gründe sich ähneln, unterscheiden sich die Ausformungen von Paralleljustiz. Beobachtet wird diese Art der Rechtssprechung sowohl im Bereich des Straf- als auch des Familienrechts.[1]
Geschichte der Debatte
BearbeitenEntfacht wurde die Diskussion über eine "islamische Paralleljustiz", im Rahmen der öffentlichen Islamdebatte, durch das 2011 erschienene Buch "Richter ohne Gesetz" des Journalisten Joachim Wagner. Wagner beschreibt eine, unbemerkt von Öffentlichkeit und Justiz, entstandene islamische Paralleljustiz. Dabei agierend sogenannte Friedensrichter als Streitschlichter, der deutsche Staat bleibt bei den Verhandlungen außen vor. Häufig werden Opfer beeinflusst und unter Druck gesetzt, um Falschaussagen zu tätigen oder Aussagen zurückzuziehen. Auch deutsche Anwälte seien laut Wagner involviert. Wagner hat aus Recherchezwecken unter anderem mit Polizisten, Staatsanwälten, Verteidigern, Richtern und auch Friedensrichtern gesprochen und zudem Strafakten eingesehen. Der Autor sieht eine Gefährdung des Rechtsstaats, welche er mit von ihm ausgewählten Beispielen darstellt. Die durch das Buch entfachte Debatte beschäftigte im Laufe der Jahre verschiedne Akteure. So befasste sich 2014 das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit der Frage nach der Existenz einer Paralleljustiz in Deutschland. 2015 führten Prof. Dr. Matthias Rohe und Dr. Mahmoud Jaraba im Auftrag des Landes Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz, ebenfalls eine Studie zur Paralleljustiz durch. In den darauffolgenden Jahren beschäftigten sich verschiedene Autoren mit Paralleljustiz, den daraus resultierenden Chancen, den Problemen,sowie den Ausprägungen des Phänomens. Zwar wird der Begriff Paralleljustiz häufig auch ohne den Zusatz islamisch oder religiös verwendet, betrachtet man die Debatte jedoch genauer, fällt auf, dass es sich fast ausschließlich um Beobachtungen handelt, die dem Islam zugeordnet werden.
Gründe
BearbeitenDie Gründe für die Existenz einer Paralleljustiz sind vielfältig. Sie reichen von nicht vorhandener Kenntnis über das deutsche Rechtsystem und daraus resultierendem Misstrauen, über Angst vor beispielsweise Abschiebung bis hin zur Ignoranz der geltenden Rechtsordnung. Häufig sind andere Normen- und Wertevorstellungen, basierend auf kulturspezifischen Hintergründen ursächlich.[1] Zudem werden Rechtskonflikte oft als Privatsache angesehen und das öffentliche Austragen von Konflikten häufig als Ehrverlust betrachtet. Das Phänomen lässt sich besonders in schlecht integrierten Millieus und Großfamilien- und Clanstrukturen beobachten, die häufig abgeschottet leben und patriarchalische Kulturen pflegen.[1]
Problematik
BearbeitenIn Fällen von Paralleljustiz wird häufig weder eine Konfliktlösung auf gerichtlichem Wege gefunden, noch kommt eine strafrechtliche Verurteilung zu Stande.[2] Zwar ist auch in Deutschland eine außergerichtliche Streitbeilegung in Form von Mediation und Schlichtung gängig, die Wahrung geltenden Rechts und demokratischer Statuten ist dabei jedoch Voraussetzung.[1] Die außergerichtliche Lösung von Konflikten wird in Deutschland nicht grundsätzlich als problematisch betrachtet. Dennoch muss diese Art der Konfliktbeilegung rechtsstaatlich akzeptkabel sein. So darf eine Konfliktlösung nicht unter Druck, also unter Anwendung von Androhungen oder Gewalt, erfolgen. Des Weiteren darf diese auch keinen sittenwidrigen Inhalt haben, also nicht den Rahmen des rechtlich Akzeptierten verlassen.[2] Auf Grund von Verstößen gegen die geltende Rechtsordnung, torpediert die Paralleljustiz das Rechtsstaatsprinzip.[1] Sowohl Methoden und Inhalte von Paralleljustiz, als auch deren Auswirkungen auf das Rechtssystem sind problematisch zu betrachten.[3] So finden Drohungen und Gewalt oft Anwendung um Konflikte zu "lösen", das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen wird dabei missachtet. Es kann also nicht von einer neutralen und professionellen Schlichtung ausgegangen werden.[3]
Ausprägungen
BearbeitenStrafrecht
BearbeitenEine typische Ausprägung von Paralleljustiz im strafrechtlichem Bereich besteht in der Beeinflussung von Opfern und Zeugen. Damit gehen sowohl Änderungen von Aussagen, als auch der Rückzug von Strafanzeigen einher. Häufig werden die Betroffenen dabei unter Druck gesetzt, so dass diese um ihr Wohl oder das Wohl ihrer Familie fürchten.[1] Zwar ist die Ahndung von Straftaten dem Staat vorbehalten, jedoch ist es Privaten (vorbehaltlich im Einzelfall konkret verhängter Verbote) nicht verboten, Kontakte zu Opfern,Tatverdächtigen, Angehörigen und sonstigen Personen herzustellen und mit ihnen auch über die in Rede stehenden Vorfälle zu sprechen.[2] Im strafrechtlichen Bereich sind nicht die rechtlichen Rahmenbedingungen problematisch, vielmehr scheint es problematisch Überschreitungen der Grenzen in Einzelfällen zu erkennen, diese aufzuklären und zu sanktionieren.[2] Auch ein außergerichtlicher Täter-Opfer-Ausgleich ist möglich.
Familienrecht
BearbeitenAls Teilgebiet des Zivilrechts wird das Familienrecht prozessual nach der Zivilprozessordnung und dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) behandelt. Überschneidungen bei Straf- und Familienrecht, lassen sich vor allem bei Fällen häuslicher Gewalt beobachten. Derartige Fälle bleiben häufig jedoch unbekannt, da Opfer Täter erst anzeigen müssen, damit ein solcher Fall der Öffentlichkeit, bzw. dem Rechtssystem bekannt wird. Beim Familienrecht gilt die Dispositionsmaxime, nach der es den verschiedenen Parteien frei steht, den Streitfall vor Gericht zu bringen oder diesen außergerichtlich, beipielweise mit Unterstützung von nichtstaatlichen Schlichtungsstellen, Mediatoren oder Schiedsgerichten, beizulegen. Eine Außnahme stellen dabei Ehe- und Abstammungsangelegenheiten dar. [1] Im Rahmen des internationalen Privatrechts spielen in Deutschland auch ausländische Rechtsnormen eine Rolle. So versuchen deutsche Richter in Fällen von Scheidung oder Erbschaft durch Anwendung des entsprechenden Rechtskreises bestmöglich Ausgleich zu schaffen.[1] Als problematisch erweist sich hier vor allem die Tatsache, dass sich die Parteien meist nicht auf Augenhöhe begegnen. So fällt es häufig vor allem Frauen, die beispielsweise Opfer häuslicher Gewalt wurden, schwer, gegen die Täter vorzugehen. Dies lässt sich nicht zuletzt auf kulturell oder religiös geprägte Rollenbilder zurückführen. Nicht selten werden diese Frauen von ihrem sozialen Umfeld sowohl unter Druck gesetzt als auch kontrolliert. Mangelndes Wissen über das deutsche Sozialsystem sowie keine finanzielle Absicherung bestärken diese Angst zusätzlich. Häufig besteht auch keine Kenntnis über ein sogenanntes Gewaltschutzverfahren, anhand dessen das Gericht verschiedene Anordnungen zum Schutz einer verletzten oder bedrohten Person aussprechen kann. Familienrechtliche Fälle von Paralleljustiz treten vor allem in den Bereichen Ehe- und Kindschaftssachen, sowie bei erbrechtlichen Angelegenheiten auf.[1] Derartige Fälle werden in einigen Kulturkreisen als reine Privatsache betrachtet und deshalb in Form einer Paralleljustiz "gelöst".
Gegenmaßnahmen
BearbeitenUm islamischer Paralleljustiz effektiv zu begegnen, ist ein grundsätzliches Wissen über deren Inhalte und Mechanismen unabdingbar. Weitere Maßnahmen können laut Matthias Rohe sowohl wirksamer Opfer- und Zeugenschutz, als auch schnelle und effiziente Rechtsdurchsetzung sein.[3] Neben rechtlichen Maßnahmen sind auch soziale Herangehensweisen, wie eine verstärkte Integration und Bemühungen um den Aufbau eines Vertrauens in die deutsche Justiz, ein wirksames Mittel um der Ausdehnung einer derartigen Paralleljustiz vorzubeugen.[1] Eine Maßnahme des Bayerischen Justizministeriums war es, einen Rechtsbildungsunterricht zur Aufklärung über das deutsche Rechtssystem ins Leben zu rufen.[1] Durch freiwillige Richter und Staatsanwälte, werden die Grundlagen des deutschen Rechtsstaates, sowie der Demokratie, vermittelt. Im Rahmen der Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung vorgestellte, weitere Maßnahmen, die der Eindämmung einer Paralleljustiz dienen, könnten unter anderem sein:
- schnelle Durchführung von Vernehmungen nach der Tat
- richterliche Vernehmungen oder Videovernehmungen
- Telefonüberwachung und Kameraaufnahmen
- Vorratsdatenspeicherung
- staatliche Präsenz im öffentlichen Raum
- Unterstützung von NGOs die sich in den entsprechenden Brennpunktgebieten angesiedelt haben
- Kontakt zu in der Szene involvierten Protagonisten
Auch Frauen, die den Schritt zum Anwalt in einer derartigen Situation bereits einmal gewagt haben, können als Multiplikatoren dienen und andere Betroffene ermutigen. An die Bedrohungslage angepasste Vernehmungsmethoden und Zugriff auf internationale Kommunikationsmittel wurden im Rahmen der Tagung ebenfalls als sinnvoll erachtet.[1]
Positionierung der Parteien
BearbeitenIm Beschluss der Justizministerkonferenz 2012 heißt es, dass man sich einig sei, dass "eine Paralleljustiz, die außerhalb unserer Rechtsordnung stattfindet und dem Wertesystem des Grundgesetzes widerspricht, nicht geduldet wird oder würde."[4] Dass es jedoch unterschiedliche Auffassungen über die tatsächliche Relevanz des Themas gibt, zeigen die unterschiedlichen Herangehensweisen der Parteien.[5]
CDU/CSU
BearbeitenDie CDU/CSU setzte das Thema Paralleljustiz zwar auf die Tagesordnung, verzichtete jedoch auf eine Zuordnung zum Islam. Um eine öffentliche Debatte anzustoßen und Handlungsoptionen zu diskutieren, startete die Partei sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene Initiativen. Das Phänomen wird dabei als ein in der Kultur und Tradition der Herkunftsländer und nicht in der islamischen Religion begründetes Problem bewertet.[5] Dennoch wurde das Thema im Programm zur Bundestagswahl 2013 aufgegriffen und auch von islamischen Verbänden ein Entgegenwirken gefordert.[6]
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke
BearbeitenSowohl die SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke hielten eine Paralleljustiz, auf Grund mangelnder belastbarer Daten über Ausmaß und Form des Phänomens, keinesfalls für ein Massenphänomen, das dramatisiert werden dürfe. Des Weiteren lehnten sie eine Zuordnung zum Islam ab. Ebenfalls wurden politische Initiativen zur Bekämpfung und Thematisierung von Paralleljustiz entsprechend eines islampolitisch optimistischen Ansatzes als unangemessen abgelehnt. [5]
FDP
BearbeitenDie kaum vorhandene öffentliche Auseinandersetzung der FDP mit dem Thema Paralleljustiz deutet darauf hin, dass die Partei eine derartige Diskussion nicht vorantreiben will. So war die FDP zwar keine treibende Kraft bei der politischen Diskussion um eine islamische Paralleljustiz, lehnte eine Bagatellisierung dieser jedoch ab.[5]
Literatur
Bearbeiten- Studien
- BMJV: Gibt es eine Paralleljustiz in Deutschland? Streitbeilegung im Rechtsstaat und muslimische Traditionen., 2014.
- Matthias Rohe, Mahmoud Jaraba: Paralleljustiz. Eine Studie im Auftrag des Landes Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz. 2015.
- Matthias Rohe, Mahmoud Jaraba: Paralleljustiz - Zusammenfassung.
- Artikel in Zeitschriften
- Matthias Rohe: Paralleljustiz in Deutschland. In: Zeitschrift für Rechtspolitik. 47/2014, Nr. 4, S.97.
- Manfred Brocker: Scharia-Gerichte in westlichen Demokratien: Eine Betrachtung aus Sicht der Politischen Philosophie. In: Zeitschrift für Politk. 59/2012, Nr. 3, S.314-331.
- Hochschulschrift
- Malte Dreß: Die politischen Parteien in der deutschen Islamdebatte. Konfliktlinien, Entwicklungen und Empfehlungen. Springer VS, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-658-22666-4, S. 453-458.
- Tagungsbericht
- Kea-Sophie Stieber: Paralleljustiz.
- Justizministerkonferenz 2012
- 83. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 13. und 14. Juni 2012 in Wiesbaden, Beschluss „Paralleljustiz“: Paralleljustiz.
- Berliner Arbeitskreis für Staat und Islam in Deutschland (BASID)
- Statement von Prof. Dr. Dr. Peter Scholz, im Rahmen der siebten Sitzung des DIK-Vorbereitungsauschusses am 16. Dez. 2011, zum Buch "Richter ohne Gesetz" von Joachim Wagner: Statement Prof. Dr. Dr. Peter Scholz.
- Regierungsprogramm CDU/CSU 2013-2017
- CDU/CSU: Gemeinsam erfolgreich für Deutschland. Regierungsprogramm 2013-2017 S. 66.
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ a b c d e f g h i j k l m Kea-Sophie Stieber: Paralleljustiz.
- ↑ a b c d BMJV: Gibt es eine Paralleljustiz in Deutschland? Streitbeilegung im Rechtsstaat und muslimische Traditionen., 2014.
- ↑ a b c Matthias Rohe: Paralleljustiz in Deutschland. In: Zeitschrift für Rechtspolitik. 47/2014, Nr. 4, S.97.
- ↑ 83. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 13. und 14. Juni 2012 in Wiesbaden, Beschluss „Paralleljustiz“:Paralleljustiz.
- ↑ a b c d Malte Dreß: Die politischen Parteien in der deutschen Islamdebatte. Konfliktlinien, Entwicklungen und Empfehlungen. Springer VS, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-658-22666-4, S. 453-458.
- ↑ CDU/CSU: Gemeinsam erfolgreich für Deutschland. Regierungsprogramm 2013-2017 S. 66.