Projekt Diskussion:Politik der Wende
Mecklenburg-Vorpommern
BearbeitenLandesbevollmächtigter
BearbeitenMethodios (Diskussion) 15:51, 23. Jun. 2023 (CEST)
Seilschaften
In den Schweriner Ministerien häufen sich die Affären: Es geht um Mauscheleien und die dunkle Vergangenheit von Spitzenbeamten.
21.04.1991, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 17/1991
Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Alfred Gomolka, 48, sah sich zu einer Ehrenerklärung genötigt, die auffallend halbherzig ausfiel.
Sein Staatssekretär Hans-Joachim Kalendrusch, 52, sei zwar ein »Repräsentant des alten Systems«, räumte Gomolka vor dem Landtag ein. Doch habe sich der »nichts Ehrenrühriges zuschulden kommen lassen« - jedenfalls »soweit ich das kenne und beurteilen kann«.
Über seine vorsichtige Formulierung wird der Schweriner Regierungschef noch froh sein. Denn der CDU-Parteifreund und enge Mitarbeiter Gomolkas ist mittlerweile in eine Affäre um dubiose Immobiliengeschäfte und Mauscheleien in Rostock verstrickt.
Ausgerechnet Kalendrusch, der, Novum in Landesregierungen, als Parlamentarischer Staatssekretär beim Ministerpräsidenten diesen auch »im Parlament und in der Regierung« (Gesetzentwurf) vertreten soll, gilt inzwischen selbst in der Staatskanzlei als »schlimmer Prototyp einer CDU-Altlast«.
Acht Jahre lang saß der Politiker im SED-beherrschten Rat des Bezirkes Rostock. Er war verantwortlich für Handel und Tourismus, zuletzt war er stellvertretender Vorsitzender des Rates. Die SED-Politik habe er »immer nur abgenickt«, beschreibt ein ehemaliges Ratsmitglied die politischen Talente des Unionsmannes.
Solche Talente halfen dem Mann auch, trotz 20jähriger Mitgliedschaft in der SED-hörigen Blockpartei die Wende zu überstehen. Kalendrusch stieg, eine ostdeutsche Blitzkarriere, zum Regierungsbevollmächtigten für den Bezirk auf, mit erweiterten Machtbefugnissen.
Die neuen Befugnisse nutzte Kalendrusch so unerbittlich, daß er nicht nur die Opposition gegen sich aufbrachte, sondern auch im eigenen Lager inzwischen Kritik hervorrief. Angelegentlich und »ohne eigentliche Zuständigkeit«, so beurteilt es die Rostocker Filiale der Treuhand, kümmerte sich Kalendrusch beispielsweise persönlich um die Entflechtung des Handels in der Hafenstadt. Das wäre an sich Sache der beiden Bezirks-Direktoren für Handel und für Wirtschaft sowie des Rostocker Senats gewesen.
Die hatten sich denn auch, im August vergangenen Jahres, über die Vergabe von 26 HO- und Konsum-Kaufhallen geeinigt: Die Spar-Kette sollte bedacht werden, ebenso Rewe, Aldi, Edeka und Nordkauf.
Doch obschon die Konditionen zum Teil fertig ausgehandelt waren, schaltete Kalendrusch den Hamburger Immobilienmakler Hans-Werner Mix mit dem Spezialauftrag ein, »für den Regierungsbevollmächtigten tätig« zu werden. Ausgewiesen durch eine »Empfehlung von politischen Freunden« (Mix) in Hamburg tat der das - vor allem zum eigenen Vorteil.
Während Kalendrusch seinem Wirtschaftsdirektor strikt »untersagte«, so ein internes Behördenprotokoll, weiter »auf diesem Gebiet« tätig zu werden, verlangte die Firma Mix + Partner von Miet- oder Kaufinteressenten aus dem Westen »für jeden Fall des Nachweises« Vermittlungsprovisionen. Die beliefen sich auf happige »3,42 Prozent von der 10fachen Jahresmiete«, für drei Edeka-Märkte allein 136 088, 64 Mark.
In der Treuhand kann sich die Rechnungen des Hamburger Immobilien-Maklers niemand erklären. »Die Verträge gab es doch schon«, sagt eine der Verhandlungsführerinnen. Nun verlangt die Opposition im Schweriner Landtag Erklärungen über die Hintergründe des Immobilien-Deals von Kalendrusch und Mix.
Die Verbindungen zwischen dem Beamten und dem Grundstücksmakler waren offenbar recht eng. Mix + Partner operierten auf Briefen und Rechnungen stets mit zwei Anschriften: einer in Hamburg und einer besonders vertrauenerweckenden »Kontaktadresse« in »Rostock: Wallstraße 20« - »Bezirksverwaltungsbehörde«.
Der angegebene Telefonanschluß, 003781/378250, war am Schreibtisch des Regierungsbevollmächtigten Kalendrusch.
Dort soll zwar »lediglich eine Sekretärin Anrufe entgegengenommen haben«, behauptet Mix. Doch er räumt ein, der Briefkopf sei wohl, in jeder Beziehung, »keine glückliche Lösung« gewesen.
Der Fall Kalendrusch ist symptomatisch für die Personalpolitik der CDUgeführten Landesregierung in Schwerin. Seit Wochen schon nehmen in den Ministerien Spitzenbeamte aus Ost und West die Arbeit auf, die aufgrund ihrer schillernden Persönlichkeit oder politischen Vergangenheit der Regierung mehr schaden als nutzen und bisweilen sogar schon wieder nach Hause geschickt werden mußten.
Bereits Anfang Februar wurde der »falsche Professor« (Behördenspott) im Kultusministerium, Walter Molt, 58, als Abteilungsleiter für Wissenschaft und Forschung abgelöst. Monatelang hatte sich der auch fachlich umstrittene Augsburger zu Unrecht mit dem Akademikertitel geschmückt und versucht, sich so bei Amtsgeschäften ins rechte Licht zu rücken.
Innenminister Georg Diederich beurlaubte jetzt seinen Abteilungsleiter für Kommunalpolitik, Thomas Darsow, der erst drei Monate im Amt war. Grund: Darsows rechtsextreme Vergangenheit.
Der ehemalige Beamte des Kieler Innenministeriums, unter CDU-Ministerpräsident Uwe Barschel sogar zum Verfassungsschutz versetzt, war Ende der siebziger Jahre mit Aufsätzen in rechtsextremen Blättern aufgefallen. Darin plädierte Darsow beispielsweise gegen Entfremdung und eine nationale »Lebensraumzerstörung« durch Einwanderung von Ausländern und »Fremdarbeiterheeren«. »Völkermord«, so Darsow, »muß nicht unbedingt immer in Vernichtungslagern stattfinden.«
Dabei war der Ministeriale keineswegs ein Unbekannter. Sein neuer Amtschef, Innen-Staatssekretär Volker Pollehn, mußte wissen, wen er sich ins Haus holte. Der CDU-Politiker und Parteifreund, der Darsows »konsequente antikommunistische Haltung« noch von früher schätzt, kommt ebenfalls aus Schleswig-Holstein.
Pollehn war lange Jahre enger Mitarbeiter und Vertrauter Barschels, Freund der Familie und zuletzt Leiter der Jugendstiftung des Landes. Dort fiel seine einseitige Förderung CDUnaher Politaktivitäten selbst dem Landesrechnungshof auf, der in Pollehns Amtsführung »keine Konzeption erkennen« konnte und sie öffentlich rügte.
Im Schweriner Exil umgab sich Pollehn sogleich wieder mit alten Bekannten. Aus Barschels Staatskanzlei etwa kommt, neue Männer braucht das Land, Jürgen Lambrecht. Der Kieler, Autor der Rufmord-Broschüre »Betr. Engholm«, mit der Barschel seinen SPD-Gegner diskreditieren wollte, wechselte an die Spitze der Allgemeinen Abteilung.
Daß sich in der Landesregierung »eine ganze Galerie von Altlasten ansammelt«, wie SPD-Sprecher Knut Degner empört feststellt, zeigt sich auch in anderen Häusern. Lambrecht-Kollege Frieder Henf, zu Zeiten der Barschel-Affäre dritter Mann in der Presseabteilung der Staatskanzlei, avancierte zum Abteilungsleiter im Umweltministerium.
Auch die Karriere des »falschen Professors« Molt ist noch lange nicht zu Ende. Der einstige Abteilungsleiter kehrte inzwischen zu Kultusminister Oswald Wutzke zurück - als Sekretär der Strukturkommission für Hochschulen.
Immer wieder aber ist es Kalendrusch, der seinem Regierungschef politische Unbill beschert. Der Staatssekretär, inzwischen auch offizieller Regierungsbevollmächtigter für die Sowjettruppen, wurde von Gomolka jetzt dringlich »um Aufklärung gebeten«, was hinter einem obskuren Handel mit sowjetischen Liegenschaften auf der Ostsee-Halbinsel Wustrow steckt, den der selbstherrliche Verwalter noch wenige Tage vor der Vereinigung eingefädelt hat.
Kurz vor der Unterzeichnung der Regierungsabkommen über den Abzug der sowjetischen Truppen war Kalendrusch nämlich, wieder mal, persönlich tätig geworden. Zusammen mit dem Kommandierenden der Westgruppe der Sowjettruppen unterzeichnete Kalendrusch ein »Memorandum«, das die Nutzung der Sowjetliegenschaften auf der Ostsee-Halbinsel Wustrow noch schnell einer zu gründenden »Hotel- und Tourismus GmbH« zuspricht.
Die Gesellschaft, für die auch »Vertreter der UdSSR« vorgemerkt sind, soll die »Nutzung der Gebäude und Anlagen der sowjetischen Garnison« übernehmen. Eine Planungsgruppe, in der neben den Sowjets und zwei alten SED-Größen auch ein Kalendrusch-Vertrauter plaziert wurde, leistet die Vorarbeiten.
Dabei war seit Sommer vergangenen Jahres erkennbar, daß sowohl das alte DDR-Verwaltungsvermögen als auch die Sowjetliegenschaften an den Bund übergehen würden. Und auch zahllose Privatleute hatten schon damals Ansprüche auf das einstmals enteignete Bodenreformland an der Ostsee angemeldet.
Nun reicht der schlechte Ruf des Mecklenburger Staatssekretärs bis nach Bonn. Im Auftrag des Bundesfinanzministeriums bemühen sich Regierungs-Juristen, die eigenmächtige Kalendrusch-Initiative zu korrigieren und im Grundbuchamt »die voreiligen Eintragungen zu kippen«. o
Chaos, Altlasten und Intrigen in der Schweriner Koalition
taz vom 16. März 1992
■ Die Werftenfrage bot vor allem Anlaß, den CDU-internen Machtkampf in Mecklenburg-Vorpommern zu verschärfen; der Sturz Gomolkas löst die Krise nicht
Die Werftenprivatisierung war Auslöser der Regierungskrise in Schwerin. Der Streit der CDU-Kampfhähne im Schweriner Schloß dauerte aber schon länger als die Auseinandersetzung in der Werftenpolitik. Justizminister Ulrich Born hatte sich mit zunehmender Unterstützung in den eigenen Reihen zum Wortführer der Gomolka-GegnerInnen gemacht. Deshalb steuerte Alfred Gomolka mit Borns Entlassung zielstrebig auf seinen eigenen Rücktritt zu.
Daß die Werftenfrage vor allem Anlaß bot, den CDU-internen Machtkampf zu verschärfen, zeigen die Positionen der Kontrahenten, die so eindeutig nie waren, wie sie öffentlich präsentiert wurden. Noch am Dienstag hatten Born und der jetzt als aussichtsreichster Gomolka- Nachfolger gehandelte Diederich im Kabinett dem von Gomolka und dem Koalitionspartner FDP unterstützten Treuhand-Kompromiß zugestimmt, nach dem die Wismarer Werft und das Rostocker Dieselmotorenwerk an die Bremer Vulkan AG und die Neptun- Warnow-Werft in Rostock und Warnemünde an die norwegische Kvaerner-Gruppe verkauft werden sollen. Öffentlich forderten die beiden Minister mit der Mehrheit der CDU- Fraktion im Rücken ab Mittwoch jedoch wieder die „große Verbundlösung“ — also den Verkauf aller Werften an Vulkan — für die auch die SPD eintritt und die WerftarbeiterInnen auf die Straße gehen.
Die CDU-FDP-Koalition in Schwerin stand von Anfang an auf wackligen Beinen. Nur mit der Stimme eines fraktionslosen Abgeordneten und Ex-SPDlers hat die Regierung eine hauchdünne Mehrheit. Um den Mann zu binden, verschaffte Gomolka ihm den gutdotierten Posten des Bürgerbeauftragten. Bereits im Frühjahr 1991, knapp ein halbes Jahr nach Regierungsantritt, stimmten die FDP und mindestens ein CDU-Abgeordneter gegen einen von Gomolka ausgetüftelten Nordostdeutschen Rundfunk.
Die CDU schlug sich mit Altlasten aus der DDR-Vergangenheit und mit einem halben Dutzend Stasi- ZuarbeiterInnen in den eigenen Reihen herum. Gomolka hatte mit dem Rostocker Hans-Joachim Kalendrusch einen Repräsentanten des alten Systems in die Staatskanzlei geholt, der in zwielichtige Immobiliengeschäfte verwickelt war. Aber auch Innenminister Diederich beschäftigte Altlasten: allerdings aus dem Westen. So wurde der ehemalige Barschel-Vertraute Volker Pollehn bei ihm Staatssekretär.
Die Schweriner SPD hält die zerstrittene Koalition, in die zudem über Krause von Bonn aus hineinregiert werde, schon längst nicht mehr für handlungsfähig. Auch mit den jetzt neben Diederich ins Spiel gebrachten Nachfolgekandidaten, dem Generalsekretär der Landes-CDU, Bernd Seite, und dem Stralsunder Oberbürgermeister Harald Lastovka, änderte sich nichts am Chaos in der Regierung. Die Gangart allerdings, mit der in Schwerin Politik gemacht wird, dürfte aber zumindest unter Diederich härter werden. Trotz seines Engagements gegen das SED-Regime während der Wende gehört er zur „Law and Order“-Fraktion der Konservativen und vertritt eine rigide Asylpolitik.
Käme es zu Neuwahlen, die auch von den WerftarbeiterInnen gefordert werden, hätten SPD, Bündnis 90 und die Grünen gute Aussichten auf eine Mehrheit. Bei der Landtagswahl errangen die Bürgerbewegten knapp zehn Prozent, kamen aber nicht in den Landtag, weil sie sich nicht auf eine gemeinsame Liste einigen konnten. Ein erstes Gespräch zwischen den GenossInnen und Bündnis-90- VertreterInnen gab es am letzten Freitag.
--Methodios (Diskussion) 20:11, 24. Jun. 2023 (CEST)
Ministerpräsidenten
Die CDU/FDP-Koalition des Schweriner Regierungschefs Gomolka ist brüchig, die Liberalen gehen auf Distanz. Unterstützung sucht die Union bei der PDS.
05.05.1991, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 19/1991
Wenn es eng wird für die CDU im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, dann flüchten sich die Christdemokraten aus Regierung und Fraktion neuerdings in Beschimpfungen des Parlaments.
Der CDU-Fraktionsvorsitzende Eckhardt Rehberg, 37, vergleicht das Schweriner Abgeordnetenhaus gern mit einem »Kasperletheater«. Und Regierungschef Alfred Gomolka, 48, verbittet sich auch schon mal eine »Einmischung« der gewählten Volksvertreter in die Politik des Landes.
Nach Mißerfolgen im Bund, Differenzen mit dem liberalen Koalitionspartner im eigenen Haus und einer herben Abstimmungsniederlage zur eigenen Rundfunkpolitik sind die Christdemokraten nervös geworden. Nur sechs Monate nach Regierungsantritt scheinen die politischen Gemeinsamkeiten mit der FDP bereits verbraucht, eine Koalitionskrise ist unübersehbar.
Das christlich-liberale Bündnis, das, beispiellos in deutschen Landen, ohne eigene Mehrheit regiert und sich auf einen parteilosen Abgeordneten stützt, stehe »auf tönernen Füßen«, urteilt ein FDP-Spitzenpolitiker. Das Wort von Neuwahlen oder gar einer Großen Koalition macht die Runde im Schweriner Schloß, dem Parlamentssitz.
Ein Pakt zwischen CDU und SPD schien schon einmal, nach der ersten demokratischen Landtagswahl am 14. Oktober vergangenen Jahres, unausweichlich. 38,3 Prozent der Stimmen für die CDU (29 Mandate) und 5,5 Prozent für die FDP (4) reichten nicht zu einer christliberalen Mehrheit im Landesparlament, in dem 66 Abgeordnete sitzen.
Doch Gomolka widersetzte sich dem Werben der Sozialdemokraten (20 Sitze). Als »Mehrheitsbeschaffer für eine Koalition, die vom Wähler keine Mehrheit bekommen hat« (SPD-Bundesvize Wolfgang _(* In seinem früheren ) _(Chrysler-Dienstleihwagen beim ) _(Amtsantritt am 27. Oktober 1990. ) Thierse), mußte der fraktions- und parteilose Abgeordnete Wolfgang Schulz, 56, herhalten. Der hatte zwar unmittelbar vor der Wahl die SPD verlassen, war auf den Stimmzetteln jedoch noch als Sozialdemokrat ausgewiesen.
Schulz sicherte dem CDU-Regierungschef gute Kooperation zu, der belohnte ihn dafür mit dem Amt eines Bürgerbeauftragten. Mit parlamentarischen Tricks und Kniffen laviert sich das Regierungsbündnis seitdem durch politische Untiefen.
Mal verweigert die ungewöhnliche Koalition eine geheime Abstimmung im Landtag - so bei einem Mißtrauensantrag gegen Kultusminister Oswald Wutzke (CDU). Mal korrigiert die CDU, der FDP zu Diensten, im letzten Moment den eigenen Gesetzesvorschlag - etwa bei der Verankerung der Gesamtschule im Schulgesetz. Oder sie wertet, um sich des fraktionslosen Ex-Genossen Schulz sicherer zu sein, den Bürgerbeauftragten zum Staatssekretär auf.
Doch all die Finessen vermögen nicht zu überdecken, daß sich die Regierungspartner überworfen haben. »Die CDU sucht den Eindruck zu erwecken, sie wisse alles, sie könne alles, sie allein bewege die Bürger und dürfe deshalb auch Koalitionsentscheidungen vorgreifen«, klagte der liberale Wirtschaftsminister Conrad-Michael Lehment, 46.
Wie wackelig das Bündnis schon jetzt ist, erwies sich bei einer Entscheidung über Gomolkas Rundfunkpolitik. Die FDP stimmte gegen den christdemokratischen Partner, sogar mindestens ein CDU-Abgeordneter verweigerte sich dem Ministerpräsidenten: Ein Oppositionsantrag kam auf 35 Stimmen. Damit war vorletzte Woche zunächst Gomolkas Plan gescheitert, zusammen mit Brandenburg und Berlin einen vom Kanzler gewünschten schwarz dominierten Nordostdeutschen Rundfunk als Konkurrenz zum Norddeutschen Rundfunk zu gründen.
Mit ihrem Votum wollten die Liberalen die »selbstherrliche Vorgehensweise« des Regierungschefs bremsen, so der FDP-Fraktionsvorsitzende Walter Goldbeck, 46. Einer zweiten Abfuhr entging Gomolka nur haarscharf. Dem Mißtrauensantrag der Opposition gegen Kultusminister Wutzke, dem »Inkompetenz und Intoleranz« (SPD-Oppositionschef Harald Ringstorff, 51) angelastet werden, verweigerten sich die Liberalen nur, so ein FDP-Spitzenmann, »um Gomolka noch eine Chance zu geben«.
Bei der Verabschiedung des Schulreformgesetzes hätte ihm nicht einmal die FDP helfen können. Die Mehrheit geriet in Gefahr, weil ausgerechnet die christdemokratische Vorsitzende des Kulturausschusses, Heide Großnick, 49, immer wieder Bedenken vorgebracht hatte. Bei der Verabschiedung im Plenum enthielt sie sich der Stimme.
Rettung brachte der PDS-Abgeordnete Peter Stadermann, 50. Der frühere Offizier der Nationalen Volksarmee gilt in den eigenen Reihen als »alter Bekannter« Gomolkas, so Linke Liste/PDS-Fraktionschef Johann Scheringer, 54. Stadermann, dem auch Spitzeldienste für die Stasi vorgeworfen werden, verließ, zur Überraschung seiner eigenen Fraktion, rechtzeitig vor den Abstimmungen das Parlament und verschaffte Gomolka damit die Mehrheit.
Ob solches Gewackel das Kabinett Gomolkas noch über die Sommerpause trägt, scheint angesichts der anstehenden Entscheidungen zweifelhaft. So fordert die FDP, das Rundfunkgesetz müsse spätestens bis Ende Juni erneut in den Landtag. Noch im Mai möchte die Regierung das umstrittene Staatssekretärgesetz verabschiedet wissen.
Das Regelwerk würde die einstmals unabhängige Institution des Bürgerbeauftragten an die Regierung anbinden und dem Amtsinhaber Schulz, neben den Abgeordnetendiäten, über 80 000 Mark Jahresgehalt zusätzlich einbringen. Zugleich enthält die Regierungsinitiative eine andere bislang beispiellose Regelung: Es soll ein »Parlamentarischer Staatssekretär beim Ministerpräsidenten« geschaffen werden.
Mit diesem Amt will Gomolka ausgerechnet den CDU-Abgeordneten Hans-Joachim Kalendrusch, 52, bedenken, der wegen seiner Verstrickung in dubiose Immobiliengeschäfte ins Zwielicht geriet (SPIEGEL 17/1991). Die wohl größte Belastungsprobe steht der Schweriner Regierung wegen der Überprüfung aller Landtagsabgeordneten auf eine Mitarbeit bei der Staatssicherheit bevor. Das jeweilige Ergebnis wurde bislang jedem Abgeordneten einzeln im verschlossenen Briefumschlag übermittelt. Nicht einmal die Fraktionsvorsitzenden wurden ins Bild gesetzt, der Ältestenrat erfährt Details nicht vor Ende des Monats.
Sicher ist jedoch schon jetzt, daß Gomolkas Mehrheit zur Zeit von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern abhängig ist. Aufklärer machten ein rundes Dutzend belasteter Abgeordneter in den Fraktionen aus. Darunter finden sich nicht nur Inoffizielle Mitarbeiter (IM), die der Schnüffeltruppe »nichts über Personen mitgeteilt« hätten, so einer der Ermittler. Es seien auch IM darunter, die »bis zuletzt aktiv waren«, außerdem mindestens ein Parlamentarier »mit einer satten Funktionärskarriere«. Und: Ein halbes Dutzend der Spitzel, so der Ermittler, säßen in der CDU-Fraktion.
Falls solche Abgeordnete aus der CDU ausgeschlossen werden, dem Parlament aber als Fraktionslose weiter angehören wollen, ist Gomolkas Mehrheit erst mal futsch. Auf der Suche nach neuen Verbündeten hat die CDU einen Partner aus alten Zeiten wiederentdeckt - die SED-Nachfolgerin PDS.
Mitglieder der PDS-Fraktion, die über die Linke Liste und ohne Parteimitgliedschaft ins Landesparlament eingerückt sind, erfreuen sich seit jüngstem besonders liebevoller Aufmerksamkeit. Ein erster Flirt zielte auf die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ingrid Tschirch, 45.
Ein CDU-Emissär, der ihr die Kooperation anbot, blitzte jedoch ab. »Ich könnte mich«, sagt die Abgeordnete, »sonst selber nicht mehr angucken.«
- In seinem früheren Chrysler-Dienstleihwagen beim Amtsantritt am 27. Oktober 1990
--Methodios (Diskussion) 20:16, 24. Jun. 2023 (CEST)
Hauptstadt Schwerin? „So geiht dat nich!“
■ Kreistage und kreisfreie Städte votieren für Schwerin als Landeshauptstadt von Mecklenburg/Vorpommern
taz vom 18.8.1990
Schwerin (taz/dpa/adn) - Der Streit um die künftige Landeshauptstadt von Mecklenburg/Vorpommern geht weiter. Sofort nach der Bekanntgabe Schwerins als vorläufiger Landeshauptstadt meldete sich eine Rostocker Arbeitsgemeinschaft „Mündiger Bürger“ mit einem „Aufruf zum Veto“ zu Wort. Unter Hinweis auf den Landesverfassungsentwurf wird energisch verlangt, das Volk in die Entscheidungen einzubeziehen: „Man kann derartige Entscheidungen nicht dirigieren, zum Teil fraktionsgelenkten Abgeordneten überlassen. Vor allem nicht, wenn sie mit Kaffeefahrten finanziert und manipuliert worden sind.“ Die Bürger werden aufgefordert, für eine Volksabstimmung über die künftige Landeshauptstadt im Norden Unterschriften zu sammeln.
Für Schwerin als Landeshauptstadt hatten sich die Abgeordneten der Kreistage und kreisfreien Städte des künftigen Landes am Donnerstag mit einer Stimmenmehrheit von 17 zu 9 entschieden. Die Wahlkommission mußte elf Ergebnisse wegen Formfehlern für ungültig erklären. Die Entscheidung muß noch durch den Landtag bestätigt werden. Einspruch gegen die Abstimmungspraktiken hat auch der Rostocker Regierungsbeauftragte Hans-Joachim Kalendrusch erhoben. Der Verkündung des Abstimmungsergebnisses war er bereits demonstrativ ferngeblieben. Sein Schweriner Amtskollege Dr. Georg Diederich bezeichnete das Abstimmungsergebnis als „Vorentscheidung“, die der Stimmung in der Bevölkerung entspreche. Er wolle die Mitbewerberin Rostock nicht als Verliererin betrachten, sondern meinte, daß jetzt „uneingeschränkte Solidarität“ notwendig sei. Ostseemetropole und Wirtschaftshauptstadt Rostock, Kulturstadt und Verwaltungszentrum Schwerin, damit könnten nach Meinung des Schweriner OB Kwaschik auch die Zögerer in der Hauptstadtfrage leben.
„Landslüd - so geiht dat nich!“ kritisierte der Mecklenburger Heimatbund die hitzigen Hauptstadtstreiter und appellierte an Sachverstand und Objektivität. In dem seit Wochen währenden Gezeter halten die Rostocker den Schwerinern vor, zu emotional für ihre Stadt zu werben. So hatte sich Schwerin längst an der Stadtgrenze als Landeshauptstadt ausgewiesen, diesen Vorgriff aber, auch nach Protesten der eigenen BürgerInnen, wieder zurückziehen müssen. Rostock dagegen muß sich den Vorwurf gefallen lassen, mit Gewalt alle Macht im künftigen Bundesland an sich zu ziehen. Kaum zu Wort kamen die Vorpommern, die sich seit der Öffnung der Grenze als „Hinterhof Mecklenburgs“ sehen. Ihre Stimmen wurden zum Zünglein an der Waage bei der Abstimmung. Will die künftige Landeshauptstadt bei großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert werden, muß sie sich der Verbesserung der Infrastruktur im Gebiet zwischen Rügen und Anklam besonders zuwenden.
Schon in der Vergangenheit erwies sich die geografische Lage Schwerins als nicht günstig. Die Haupthandelswege führten an der Stadt vorbei. In diese Kerbe zielen auch heute wieder die Schwerin-Gegner. Dafür weist die 130.000 -BürgerInnen-Stadt einige kulturelle Anziehungspunkte auf, wie das Mecklenburgische Staatstheater mit der über 425jährigen Mecklenburgischen Staatskapelle und das weltweit als „Holländer-Museum“ geschätzte Staatliche Museum Schwerin. Der gotische Dom mit seiner wertvollen Ladegast -Orgel, das Schloß, barocke und klassizistische Bauten prägen das Bild der „Stadt der Seen und Wälder“.
Rostock dagegen blickt auf eine reiche Handelsgeschichte zurück. Nach dem Niedergang der Hanse, dem 30jährigen Krieg und fast hundert Jahre währender Besetzung durch verschiedene Heere erlebte die Stadt aber erst im 19. Jahrhundert wieder einen Aufschwung. Nach 1945 entstanden in der zu 40 Prozent zerstörten Stadt Betriebe wie der Überseehafen, die Warnowwerft, das Fischkombinat. Mittelalterliche Kirchen und Stadttore, die im alten Hafen erhaltenen Speicher und die Bürgerhäuser erinnern noch heute an die Blütezeit der Hanse.
Sachsen
BearbeitenSuche Siegfried Ballschuh:
Wie setzt Google die jüngste Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum "Recht auf Vergessen" um?
Das jüngst verkündete Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union hat weitreichende Folgen für Suchmaschinen in Europa. Das Gericht stellte das Recht bestimmter Personen fest, von Suchmaschinen wie Google die Entfernung von Ergebnissen für Suchanfragen mit ihrem Namen zu verlangen. Nach dem Urteil müssen die angezeigten Ergebnisse entfernt werden, wenn sie den Zwecken der Verarbeitung nicht entsprechen, dafür nicht oder nicht mehr erheblich sind oder darüber hinausgehen.
Seit der Verkündung des Urteils am 13. Mai 2014 arbeiten wir rund um die Uhr an dessen Umsetzung. Diese ist nicht einfach, da wir jeden Antrag individuell prüfen und zwischen dem Recht des Einzelnen auf Schutz seiner personenbezogenen Daten und dem Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu diesen Informationen und ihrer Verbreitung abwägen müssen.
Wenn Sie einen Antrag auf Entfernung von Inhalten stellen möchten, füllen Sie bitte dieses Webformular aus. Sie erhalten daraufhin eine automatisch erstellte Antwort mit einer Bestätigung, dass Ihr Antrag bei uns eingegangen ist. Anschließend wird Ihr Fall geprüft. Aufgrund der hohen Anzahl der bereits gestellten Anträge kann dies allerdings einige Zeit dauern. Bei der Bearbeitung Ihres Antrags prüfen wir, ob die Ergebnisse veraltete Informationen über Ihr Privatleben enthalten. Wir untersuchen außerdem, ob ein öffentliches Interesse an den in unseren Suchergebnissen verbleibenden Informationen besteht, zum Beispiel, ob es um Betrugsmaschen, berufliches Fehlverhalten, strafrechtliche Verurteilungen oder Ihr öffentliches Verhalten als (gewählter oder nicht gewählter) Amtsträger geht. Dies sind schwierige Abwägungen, die wir als privates Unternehmen nicht in jedem Fall zweifelsfrei vornehmen können. Wenn Sie mit unserer Entscheidung nicht einverstanden sind, können Sie sich an Ihre lokale Datenschutzbehörde wenden.
In den nächsten Monaten werden wir eng mit Datenschutzbehörden und anderen Stellen zusammenarbeiten und die Verfahren weiter verbessern. Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union stellt für Suchmaschinen eine wesentliche Änderung dar. Obwohl wir die Konsequenzen des Urteils kritisch sehen, respektieren wir die Entscheidung des Gerichts und arbeiten intensiv an der Entwicklung eines rechtskonformen Prozesses.
Wenn Sie künftig online nach einem Namen suchen, werden Sie unter Umständen einen Hinweis sehen, dass die Suchergebnisse möglicherweise aufgrund europäischem Datenschutzrechts modifiziert wurden. Wir zeigen diesen Hinweis in Europa bei der Suche nach den meisten Namen an und nicht nur bei Seiten, die von einer Entfernung betroffen sind.
Sigrid Meuschel/Michael Richter/Hartmut Zwahr
Friedliche Revolution in Sachsen
Das Ende der DDR und die Wiedergründung des Freistaates
Berichte und Studien Nr. 22
Herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden
Dresden 1999
https://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A82586/attachment/ATT-0/
--Methodios (Diskussion) 17:53, 26. Jun. 2023 (CEST)
w:de:Karl Nolle gemeinsam mit Michael Bartsch, Christoph Jestaedt und Michael Lühmann - Sonate für Blockflöten und Schalmeien. Zum Umgang mit der Kollaboration heutiger CDU-Funktionäre im SED-Regime. - Eigenverlag Karl Nolle, Dresden 2009, ISBN 978-3-00-028062-7.
--Methodios (Diskussion) 19:41, 26. Jun. 2023 (CEST)
Z BoÏej pomocu
Vor 20 Jahren wurde der Freistaat Sachsen wieder gegründet
von BERND KUNZMANN
Neues Archiv für sächsische Geschichte
Z BoÏej pomocu
Vor 20 Jahren wurde der Freistaat Sachsen wieder gegründet
von
BERND KUNZMANN
Am 3. Oktober 2010 hat der Freistaat Sachsen zusammen mit den anderen neuen
Bundesländern seinen 20. Geburtstag gefeiert. Ein solches Jubiläum ist sicherlich
kein ungeeigneter Anlass zu der Frage: Wie sächsisch ist eigentlich dieser Freistaat
Sachsen?
Am 28. Mai 2008, 16 Jahre und ein Tag nachdem die vierte sächsische Verfassung unterzeichnet und ausgefertigt worden war, legte gemäß Art. 61 der Verfassung der erste in Sachsen geborene und aufgewachsene Ministerpräsident im Sächsischen Landtag seinen Amtseid ab. Der von Art. 61 vorgeschriebene Amtseid
kann mit der Beteuerung „So wahr mir Gott helfe“ geleistet werden. Diese Beteuerung benutzte Ministerpräsident Tillich, als er nach seiner mit den Stimmen
von CDU und SPD erfolgten Wahl seinen Amtseid leistete, und er ergänzte sie um
drei weitere Worte: „Z BoÏej pomocu“.1 Eigentlich war das nur eine Bekräftigung
der religiösen Eidesformel in seiner obersorbischen Muttersprache, doch kann
man darin auch ein symbolisches Ereignis sehen. Es ging damit der erste Abschnitt
in der Geschichte des im Jahre 1990 wieder gegründeten sächsischen Staates zu
Ende: Der Abschnitt der Entfremdung von sich selbst.
I. Der sächsische Traditionsbruch des Jahres 1990
Am 3. Oktober 1990 ist Sachsen nach 38 Jahren Nichtexistenz als Staat wieder
erstanden. Die erste demokratisch gewählte und zugleich historisch letzte Volkskammer der DDR hat im Sommer 1990 einerseits die Beseitigung der staatlichen
Existenz der DDR und damit die Beendigung der deutschen Teilung und andererseits die Wiedererrichtung der Länder beschlossen. In seiner mehr als tausendjährigen Geschichte hat Sachsen dadurch zum dritten Mal Staatlichkeit erlangt.
Anknüpfend an die Geschichte der Mark Meißen, des sächsischen Staates und des
niederschlesischen Gebietes,
gestützt auf Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte,
1 Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 4/107, S. 8832; wörtlich übersetzt: „mit göttlicher Hilfe“ (Aussprache in etwa: „s boschej pomozu“).
ausgehend von den leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft,
eingedenk eigener Schuld an seiner Vergangenheit,
von dem Willen geleitet, der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Bewahrung der
Schöpfung zu dienen,
hat sich das Volk im Freistaat Sachsen
dank der friedlichen Revolution des Oktober 1989
diese Verfassung gegeben.
So beschreibt die Präambel der Sächsischen Verfassung jene Situation. Am 3. Oktober 1990 freilich sah die staatliche Wirklichkeit noch lange nicht so aus, wie dieser
Text vermuten lässt. Tausend Jahre Staatlichkeit waren entgegen mancher romantischer Auslassungen keineswegs ein Kennzeichen von „ununterbrochener Kontinuität“ sächsischer Geschichte.2 Als das Jahr 1989 begann, existierte Sachsen
weder als „Staat“ noch als „Land“. Es existierte nicht einmal als Verwaltungseinheit. Noch im September 1989 war Sachsen im Bewusstsein seiner Bewohner keine
gegenwärtige Kategorie. Hätte sich jemand auf die Suche nach „Sachsen“ gemacht,
wäre er oder sie auf nur wenige Spuren seiner verblichenen Existenz gestoßen.
Einige Bahnhofsschilder trugen hinter dem Ortsnamen den Zusatz „i. Sa.“ oder
„(Sachs)“. Gleiches vermeldete das Kursbuch der Deutschen Reichsbahn, des
wohl letzten Trägers der „Reichsidee“ auf dem Territorium der DDR. In Museen
und Galerien hingen Portraits von Herzögen, Kurfürsten und Königen „von
Sachsen“. Eine der evangelischen Kirchen in der DDR nannte sich „EvangelischLutherische Landeskirche Sachsens“, eine andere „Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen“.
In der Bevölkerung der DDR lebte Sachsen zu Beginn des Jahres 1989 nicht
mehr. Ihm ging es insoweit nicht anders als den anderen Ländern des Mitteldeutschlands. Dem jüngeren Teil der Bevölkerung, den unter Vierzigjährigen, war
Sachsen bestenfalls ein Teil der geschichtlichen Allgemeinbildung, irgendwo zwischen Luther, Napoleon, Bebel und Bismarck. Es war Teil einer Geschichte, die
nichts mit der Gegenwart zu tun hatte. Sie war durch Hitlerfaschismus, Befreiung
durch die Sowjetarmee und Aufbau des Sozialismus in der DDR von der Gegenwart abgeschnitten, abgepuffert durch mehrfache historische Brüche. Die sächsisch-deutsche Geschichte schien vielen, vor allem unter den Jüngeren, von der
Gegenwart geradezu kausal entkoppelt.
Erst gegen Ende 1989 tauchten aus unterschiedlichen Motiven erste Forderungen nach Wiederherstellung der einstigen Länder auf. Es dauerte noch bis zum
Sommer 1990, bis das Projekt zur Schaffung der neuen Länder, die eigentlich die
alten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren, Gestalt annahm. Voraussetzung dafür war, dass die von der SED-Führung um Walter Ulbricht in den Jahren
192 Bernd Kunzmann
2 So aber beispielsweise Ministerpräsident a. D. Kurt Biedenkopf in der Podiumsdiskussion „Von der friedlichen Revolution zur Sächsischen Verfassung“ am 27. Mai 2009 in
der Dreikönigskirche in Dresden.
1949 bis 1952 geschaffene DDR politisch und rechtlich grundlegend umgestaltet
und der Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands unumkehrbar beschritten war.3
Die Wiedergründung des sächsischen Staates im Jahre 1990 war als politisches
Projekt strategisch motiviert, und es wurde taktisch vorangetrieben. Die Forderung nach Wiedereinführung der Länder in der DDR war für den älteren Teil der
Bevölkerung eine Wiederbelebung eines in partielle Vergessenheit versunkenen
Teils ihrer Biografie. Für den jüngeren Teil war sie eher Instrument im Kampf um
den politischen Umbruch: Den Behörden des DDR-Staates, die zunächst nur eine
neue Volkskammer vorgesetzt und eine neue Regierung übergestülpt erhalten
hatten, konnte man Kompetenzen um Kompetenzen entziehen, wenn man neue
Landesbehörden schuf. Umgekehrt war es für die bestehenden Behörden eine
Lebensfrage, dass sie selbst diese neuen Landesbehörden wurden. Von daher ging
von den bestehenden Bezirksverwaltungsbehörden ein erheblicher Impuls aus,
bald zu Ländern zu kommen, zu deren Organ die jeweilige Behörde werden
konnte. Der Versuch, ein Kuratorium zu bilden, das am 18. April 1990 auf der
Albrechtsburg zu Meißen das Land Sachsen ausrufen sollte, war ein deutlicher
Ausdruck dieses Bestrebens.4
1. Die Länderbildung schon vor Bildung der Länder:
Wer bildete 1990 den Freistaat Sachsen?
Als am 3. Oktober 2010 die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zwanzig Jahre alt wurden, da hätte dieser
Tag durchaus Anlass geboten, daran zu erinnern, dass ihr 20. Geburtstag eigentlich
erst am 14. Oktober 2010 hätte sein sollen. Denn als die Volkskammer der DDR
am 22. Juli 1990 die Wiederherstellung ihrer fünf Länder beschloss, legte sie den
Tag ihrer Geburt auf den 14. Oktober 1990 fest.5 Doch schon sechs Wochen später
musste die Volkskammer ihre Entscheidung korrigieren. Am 23. August fasste sie
nämlich ihren historischen Beschluss, dass die DDR dem Geltungsbereich des
Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beitritt, und zwar mit Wirkung
Z BoÏej pomocu 193
3 Im Frühjahr 1990 gab es vereinzelte Überlegungen, ob es nicht möglich sei, innerhalb
der DDR das Land Sachsen wieder zu gründen. Sachsen hätte dann den Staatsverband der
DDR verlassen und sich nach einer mehr oder weniger langen Zeit eigenstaatlicher Existenz
der Bundesrepublik Deutschland anschließen können. Im Verfassungsentwurf der „Gruppe
der Zwanzig“ wurde die Idee vertreten, dass im wieder gegründeten Land Sachsen zunächst
die Sächsische Verfassung von 1947 fortgilt. Nach dieser sollte die Landesregierung gewählt
werden und diese wiederum dem Volk den Entwurf einer neuen sächsischen Verfassung zur
Volksabstimmung vorlegen. Am Tage des Beitritts zum Geltungbereich des Grundgesetzes
(im Folgenden: GG) sollte die neue sächsische Verfassung in und die Verfassung von 1947
außer Kraft treten; vgl. ARNOLD VAATZ, in: Die Union, 29. März 1990, S. 3. Selbst im ersten
Gohrischer Entwurf hieß es noch unbestimmt: Sachsen ist ein Land im deutschen Bundesstaat, womit zunächst noch offen blieb, ob damit die DDR, die alte Bundesrepublik oder
die wiedervereinigte Bundesrepublik gemeint war.
4 MICHAEL RICHTER, Die Bildung des Freistaates Sachsen, Göttingen 2004, S. 251-259.
5 Gesetzblatt der DDR (im Folgenden: GBl.) I 1990, S. 955.
vom 3. Oktober 1990.6 Das war eine Entscheidung aus Not geboren, denn die
DDR war in der Folge der am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik faktisch unregierbar geworden.
Ein kleines Problem bestand darin, dass die DDR am Tage ihres Beitritts noch
keine Länder haben würde, denn diese sollten erst 11 Tage nach dem Beitritt das
Licht der Welt erblicken. Somit war eine kleine Korrektur der Entscheidung vom
22. Juli erforderlich. Diese Korrektur wurde mit dem Einigungsvertrag vorgenommen, den die Volkskammer am 31. August ratifizierte.7 Klein war diese Korrektur allerdings nur im Hinblick auf den Zeitraum. Groß waren hingegen die
Folgen. Denn in welchem Zustand waren die fünf Länder am 3. Oktober 1990,
dem Tage ihrer Geburt, an dem sie neben die Länder der alten Bundesrepublik und
das an eben diesem Tage wieder vereinigte Land Berlin traten und zusammen mit
ihnen die vereinigte Bundesrepublik bildeten? Sie waren handlungsunfähig. Sie
waren ohne Parlament, ohne Regierung, ohne eigene Behörden, ohne eigene Gerichte. Was sie bereits hatten, waren ihre Gemeinden und Landkreise. Sonst nichts.
Eigene Organe der Länder entstanden erst in den Wochen und Monaten nach dem
Beitritt. Ihre ersten eigenen Handlungen konnten die neuen Länder nicht vor
November 1990 vornehmen. Doch in rechtlicher Hinsicht mussten sie sofort handeln, bereits vom ersten Tag ihrer Existenz im vereinigten Deutschland an. Wie
war es zu dieser paradoxen Situation gekommen?
Die Negation geschichtlicher Kontinuität im Osten Deutschlands
Die DDR war ein Zentralstaat. Ihre 15 Bezirke waren Verwaltungseinheiten, ihre
Bezirkstage waren „örtliche Volksvertretungen“. Solche örtliche Volksvertretungen gab es wesensgleich auf Bezirks-, Kreis-, Stadt-, Stadtbezirks- und Gemeindeebene: Die örtlichen Volksvertretungen sind die von den wahlberechtigten
Bürgern gewählten Organe der Staatsmacht in den Bezirken, Kreisen, Städten,
Stadtbezirken, Gemeinden und Gemeindeverbänden lautet Artikel 81 der Verfassung der DDR von 19688 wie von 1974.9 Zunächst gab es bei der Gründung der
DDR 1949 noch die fünf Länder Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt,
Sachsen und Thüringen, die nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft analog
zu den westlichen Besatzungszonen auch in der sowjetischen Besatzungszone neu
gegründet worden waren. Sie waren das Kontrastprojekt zu dem nationalsozialistischen Einheitsstaat, der fast ganz Europa in ein Trümmerfeld verwandelt hatte.
Die deutschen Länder der Nachkriegszeit unterschieden sich freilich in ihrer
194 Bernd Kunzmann
6 Beschluss der Volkskammer der DDR vom 23. August 1990, Dok. Nr. 397A, in:
HANNS JÜRGEN KÜSTERS/DANIEL HOFMANN (Bearb.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, Sonderedition Deutsche Einheit, Oldenburg 1998.
7 Bundesgesetzblatt II 1990, S. 885 ff.
8 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, GBl. 1968 I, S. 199 ff., Abdruck
z. B. in: ERICH FISCHER/WERNER KÜNZEL, Verfassungen deutscher Länder und Staaten von
1816 bis zur Gegenwart, Berlin 1989.
9 GBl. 1974 I, Nr. 47, S. 432 ff.
Mehrheit schon deutlich von den historischen Ländern, die vor der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ einst auf ihren Territorien bestanden hatten. Im
Unterschied zu den westdeutschen Ländern, die 1949 die Bundesrepublik
Deutschland gebildet hatten, überlebten die fünf ostdeutschen Länder das Jahr
1952 nicht. Zwar wurden sie bis 1968 in der Verfassung der DDR genannt, faktisch
aber waren bereits 1952 im Zuge einer Verwaltungsreform die 15 Bezirke der
DDR an ihre Stelle getreten. Die Grenzen der Bezirke hatten keinen Bezug mehr
zu denen der Länder, die ihrerseits schon abweichend von den historischen Grenzen 1945/46 neu festgelegt worden waren. Die Landtage der fünf Länder der DDR
stellten im Juli 1952 sang- und klanglos ihre Tätigkeit ein und hauchten in einer
Atmosphäre der Banalität ihre Existenz aus. Mit einem „fröhlichen Beisammensein“ im Landtag klang in Dresden am 25. Juli 1952 die 1000-jährige Geschichte
Sachsens, die mit der Mark Meißen begonnen hatte, aus.10 Dass die Länder noch
auf dem Papier standen, aber in der Wirklichkeit nicht mehr anzutreffen waren,
störte kaum jemanden. Der Widerspruch zwischen geschriebenem Recht und
politischer Realität wurde fortan ein Markenzeichen der DDR. Er war fester
Bestandteil des politischen Status quo, sozusagen ein Kennzeichen der DDRNormalität. Im Oktober 1989 aber wurde alles anders.
Die friedliche Oktoberrevolution 1989 in der DDR
Im Oktober 1989 kulminierte die politische Krise in der 40 Jahre von der SED
regierten DDR. Es entstand spontan eine gegen das politische System der DDR
gerichtete Volksbewegung. Die absurde Ignoranz der Partei- und Staatsführung
gegenüber den unkontrolliert anwachsenden wirtschaftlichen und politischen
Problemen, die wie bei vielen anderen Anlässen zuvor in den Feierlichkeiten zum
40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung noch einmal ihren für jedermann
sichtbaren Ausdruck fand, machte vielen Menschen die Perspektivlosigkeit ihres
Lebens in der Gesellschaft der DDR deutlich. Schon nach der Bekanntgabe der
von den staatlichen Behörden der DDR offenkundig gefälschten Ergebnisse der
Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 und dem Anfang Mai 1989 auf Beschluss der
ungarischen Regierung Németh begonnenen Abbau der westlichen Grenzsperren
des Landes hatte eine Fluchtbewegung eingesetzt, die aus einem Gefühl der Perspektivlosigkeit und des Ausgeliefertseins an eine zu jedem Betrug fähige und zu
jeder Schandtat entschlossene Staatsmacht resultierte. Diese Fluchtbewegung über
die âSSR und Ungarn nach Österreich und die Bundesrepublik entwickelte sich
ab Mai 1989 zunächst allmählich, sehr wohl aber stetig, und schwoll ab August
lawinenartig an. Bei den noch nicht zum Verlassen der DDR entschlossenen Teilen
Z BoÏej pomocu 195
10 KARLHEINZ BLASCHKE, Zwischen Rechtsstaat und Sowjetsystem. Der sächsische
Landtag 1946 bis 1952, in: Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Sachsens.
Ausgewählte Aufsätze von Karlheinz Blaschke, hrsg. aus Anlaß seines 75. Geburtstages von
Uwe Schirmer und André Thieme (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde,
Bd. 5), Leipzig 2002, S. 595.
der Bevölkerung wuchs im September 1989 in rasamtem Tempo das Bewusstsein,
dass die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR unerträglich geworden waren. Den Funken in das Pulverfass brachte die am 3. Oktober 1989 ohne
vorherige Ankündigung vorgenommene Schließung der Grenzen zur âSSR, die
die Fluchtbewegung stoppen sollte. Danach kam es im Umfeld der kirchlichen
Friedensarbeit zu beständig anschwellenden Protesten. Dabei wurden die Sympathisanten von KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow am Rande der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag in Berlin, die Teilnehmer der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche sowie die Ausreisewilligen am Dresdner Hauptbahnhof und
in Plauen, die überall staatlicher Repression ausgesetzt waren, zu Kristallisationspunkten des Massenprotestes. Die Protestbewegung griff von den ausreisewilligen
auf die ebenso im Gefühl der Perspektivlosigkeit lebenden bleibewilligen DDRBürger über. Dieses Gefühl initiierte in den ersten Oktobertagen Massendemonstrationen, die zunächst mit dem Einsatz von Polizei, NVA, Kampftruppen,
Feuerwehr und Einsatzkommandos des MfS gewaltsam unterdrückt und immer
wieder aufgelöst wurden, vor deren gewaltsamer Unterdrückung die Staatsmacht,
beginnend in Plauen (7. Oktober), Dresden (8. Oktober) und Leipzig (9. Oktober)
aber dann doch zurückzuschrecken begann. Die Demonstrationen fanden in den
sächsischen Städten ab dem 9. Oktober regelmäßig, dem Vorbild der besonders
machtvollen Leipziger Demonstration folgend, am späten Montagnachmittag
(jeweils nach Arbeitsschluss) statt. Unter der Losung „Wir sind das Volk“ griffen
diese Demonstrationen ganz schnell auf alle größeren Städte der DDR über und
führten am 17. Oktober zum Sturz des SED-Generalsekretärs Erich Honecker,
danach zum Zerfall der Macht des Politbüros der SED und schließlich zum
Zerbrechen des politischen Systems der DDR.
Die Volksbewegung gegen das politische System der DDR war im Herbst 1989
zunächst nicht regionalspezifisch geprägt. Sie erfasste die gesamte DDR gleichermaßen. Die früheren Länder spielten dabei zunächst keine wirkliche Rolle. Die
politischen Forderungen waren in Berlin, Erfurt, Rostock, Magdeburg oder
Frankfurt an der Oder keine anderen als in Leipzig, Karl-Marx-Stadt oder Dresden. Sie lauteten Reisefreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftliche Reformen. Die entscheidenden Kampfziele, die die Machtverhältnisse
verändern sollten, waren der Rücktritt von Politbüro und Zentralkomitee der
SED, die Aufgabe der führenden Rolle der marxistisch-leninistischen Partei in
Staat und Gesellschaft sowie die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit
und seiner Nachfolgeorganisation. Die Macht verschob sich von der SED-Führung zunächst zur Modrow-Regierung, dann kam es zu einer Teilung der Macht
zwischen Regierung und Zentralem Runden Tisch in Ostberlin, wobei keiner die
Machtfrage wirklich stellte.11 Schließlich ging sie auf die im März 1990 gewählte
Volkskammer und die Regierung de Maizière über, in den Folgemonaten dann
196 Bernd Kunzmann
11 UWE THAYSEN, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk. Der Weg der DDR in die
Demokratie, Opladen 1990, S. 77-82.
aber zunehmend, insbesondere ab der Herstellung der Währungsunion am 1. Juli
1990, auf die Bundesregierung in Bonn. Verfassungsrechtlich wurde dies durch das
Verfassungsgrundsätzegesetz der Volkskammer, durch eine ganze Reihe weiterer
„Verfassungsgesetze“, den ersten deutsch-deutschen Staatsvertrag und schließlich
den Einigungsvertrag abgesichert.
Die Forderungen nach Wiedereinführung der Länder standen bei diesem Prozess einige Zeit im Hintergrund. Sie tauchten zwar hinter den zentralen politischen Forderungen nach Reisefreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaftsreformen schon Ende 1989 erstmals auf, doch erst im Frühjahr 1990 setzte
in der DDR eine politische Bewegung zur Wiederbildung der Länder ein.
Die Organe der Staatsmacht hatten nicht nur in den Bezirken, Kreisen, Städten,
Stadtbezirken, Gemeinden und Gemeindeverbänden erkennbar nicht mehr die
Legitimität, von der Artikel 81 der Verfassung der DDR ausging. Zuallererst
stellte sich die Frage der Legitimität auf der Republikebene. Der Runde Tisch in
Ostberlin vereinbarte Wahlen, die erstmals in der Geschichte der DDR nicht nur
allgemein und gleich, sondern wie in Artikel 51 der Verfassung bereits vorgesehen,
aber in der politischen Realität nicht beachtet, erstmals auch frei und geheim sein
sollten. Diese Wahlen zur Volkskammer fanden am 18. März 1990 statt. Zugleich
waren erneute Kommunalwahlen zu den Gemeinde- und Kreisvertretungen,
deren Legitimität durch das gefälschte Wahlergebnis vom 7. Mai 1989 hinfällig
war, für den 6. Mai 1990 angesetzt worden. Mit der Erneuerung der staatlichen
Vertretungen auf der Republik- und der Kommunalebene gewann die Frage
schlagartig an Bedeutung, was auf der Zwischenebene geschehen sollte. Dort existierten die Bezirkstage und die Räte der Bezirke weiter, wie sie nach den Einheitslisten der Nationalen Front Jahre zuvor gebildet worden waren. Die Bezirke
aber waren die Substitute der Länder. Von daher wurde eine Entscheidung zur
Frage der Länder ab März 1990 von Tag zu Tag dringender.
Der Machtkampf um die Länderbildung
Im November 1989 kam das gesamte politische System der DDR ins Rutschen.
Die Rücktritte überschlugen sich. „Die Macht liegt auf der Straße. Das heißt: Keiner hat sie. Es gibt keine demokratische Partei oder Bewegung, die die Legitimation hätte, sie zu ergreifen.“12 So beschrieb Rainer Eppelmann die Situation, als ein
neues Institut zur Krisenbewältigung etabliert wurde: Der „Runde Tisch“. Am
7. Dezember 1989 trat im Gemeindesaal der Brüdergemeine des Dietrich-Bonhoeffer-Hauses in Berlin erstmals der Zentrale Runde Tisch der DDR zusammen,
an dem sich Vertreter alter und neuer Parteien, politischer Gruppierungen und
Organisationen versammelten. Dazu hatte das Sekretariat des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in Abstimmung mit dem Sekretariat der Berliner
Z BoÏej pomocu 197
12 Junge Welt, 9. Dezember 1989; zit. nach HANNES BAHRMANN/CHRISTOPH LINKS,
Chronik der Wende, Berlin 1994, S. 182.
Bischofskonferenz und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen eingeladen.13 Schon die Zusammensetzung des Runden Tisches widerspiegelte den sich
entwickelnden politischen Machtkampf.14
Neben dem Zentralen Runden Tisch entstanden etwa zeitgleich oder kurz
danach regionale und lokale Runde Tische auf Bezirks- und Kreisebene.15 Zunächst spielten an allen Runden Tischen die Fragen der Auflösung des MfS sowie
die Untersuchungen von Amts- und Machtmissbrauch eine erhebliche, zum Teil
dominierende Rolle. Dazu trat das Selbstverständnis der Teilnehmer als Mitglieder
von Beratungs- und vor allem Kontrollgremien gegenüber den legislativen und
exekutiven Organen des Staates,16 deren Tätigkeitsfelder sehr schnell nahezu das
gesamte politische Themenspektrum erfassten.17
Die Arbeit der Runden Tische wurde auf der jeweiligen Ebene durch die freien
Wahlen beendet. Während der Zentrale Runde Tisch kurz vor der Volkskammerwahl am 12. März 1990 seine letzte Sitzung abhielt und die Runden Tische in den
Kreisen nach den Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 ihre Tätigkeit einstellten, bestanden die Runden Tische in den Bezirken am längsten. Auf dieser Ebene fanden
bis zum Ende der DDR am 3. Oktober 1990 keine Wahlen statt. Umso entschiedener wurde auf dieser Ebene der Machtkampf über die Runden Tische ausgetragen,
der schließlich in eine Auseinandersetzung um die Einstellung ihrer Arbeit mündete. Die Volkskammer der DDR hatte beschlossen, dass sich die Runden Tische
in den Bezirken zum 31. Mai 1990 auflösen sollten, nachdem der Ministerrat der
DDR am 2. Mai einen Beschluss über einen „Vorschlag zur Sicherung der Regierungsfähigkeit in den Bezirken bis zur Bildung funktionsfähiger Länder“ gefasst
hatte.18
In den Bezirken ging es an den Runden Tischen ab dem Februar 1990 verstärkt
auch um die Länderbildung. Eine besondere Situation entwickelte sich am Runden
Tisch des Bezirkes Dresden. Hier überlagerte sich die eigenständige Entwicklung
in der Stadt Dresden mit der des Bezirkes. Wie in Berlin und in den Kreisstädten
beeinflusste das politische Geschehen vor Ort sehr stark den Inhalt des jeweiligen
Runden Tisches, obgleich dieser in Anspruch nahm, für eine ganze Region (Kreis,
Bezirk, gesamte DDR) zu arbeiten. Dem regionalen Gesamtanspruch wurde aber
in seiner personellen Zusammensetzung kaum einer der überörtlichen Runden
Tische gerecht.19
198 Bernd Kunzmann
13 ANDRÉ HAHN, Der Runde Tisch. Das Volk und die Macht – Politische Kultur im
letzten Jahr der DDR, Berlin 1998, S. 58-60.
14 THAYSEN, Der Runde Tisch (wie Anm. 11), S. 39-49.
15 HAHN, Der Runde Tisch (wie Anm. 13), S. 45-49.
16 Ebd., S. 45.
17 Ebd., S. 122-126.
18 ERICH ILTGEN, Vom Runden Tisch zum ersten frei gewählten Landtag nach der friedlichen Revolution, in: Zehn Jahre Sächsischer Landtag. Bilanz und Ausblick, hrsg. vom Präsidenten des Sächsischen Landtages, Dresden 2000, S. 23 f.
19 Vgl. dazu THAYSEN, Der Runde Tisch (wie Anm. 11), S. 197; HAHN, Der Runde Tisch
(wie Anm. 13), S. 46 f. und 72 f.
Der Runde Tisch des Bezirkes Dresden, der nach einer Vorbesprechung mit
dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung eigentlich erst Anfang Januar 1990 gebildet werden sollte, wurde aufgrund der politischen Entwicklung dann aber doch
schon früher, nämlich erstmals für den 15. Dezember 1989 einberufen.20 Im Januar
1990 sah er die Frage der Länderbildung noch als eine Aufgabe der Volkskammer
der DDR an.21 Ab März 1990 jedoch erkannte er die Notwendigkeit, diesbezüglich auf der Ebene der Bezirke initiativ zu werden. Auf seiner Beratung am 1. März
1990 stimmte der Runde Tisch des Bezirkes Dresden der Bildung einer „Initiativgruppe für die Koordinierung der Aktivitäten des Runden Tisches und der Räte
der Bezirke zur Bildung des Landes Sachsen“ zu.22 Ab März 1990 entwickelte sich
zwischen dem Runden Tisch und den Räten der Bezirke Dresden, Leipzig und
Karl-Marx-Stadt eine machtpolitische Auseinandersetzung, wer hinsichtlich der
Länderbildung das Initiativrecht haben und damit das Heft des Handelns in seine
Hand bekommen sollte. Während die Runden Tische in Leipzig und Karl-MarxStadt die inhaltlichen Vorbereitungen zur Länderbildung weitgehend den Bezirkstagen überlassen hatten, beschloss der Runde Tisch des Bezirkes Dresden am
29. März 1990, seinerseits die Initiative zu ergreifen.23
Bis Ende März waren, vom Runden Tisch des Bezirkes Dresden zunächst
wenig wahrgenommen, bereits zwei Initiativen entstanden, die sich ihrerseits der
Länderbildung gewidmet hatten. Auf Veranlassung des Präsidenten des Bezirkstages hatte der Bezirkstag Dresden eine parlamentarische Arbeitsgruppe aus vier
Bezirkstagsabgeordneten und dem Direktor des Staatsarchivs Dresden gebildet,
die zwischen dem 2. und dem 16. März 1990 im Verlaufe von nur drei „mehrstündigen“ Sitzungen einen Verfassungsentwurf für das Land Sachsen erarbeitet
hatte.24 Dieser Entwurf war gedacht, anlässlich der von den Räten der Bezirke
Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt für den 18. April 1990 geplanten Konstituierung eines „Kuratoriums Land Sachsen“ auf der Albrechtsburg in Meißen der
Öffentlichkeit vorgestellt zu werden. Parallel dazu war von der Arbeitsgruppe
Recht der Dresdner „Gruppe der Zwanzig“ bei einem Besuch in Stuttgart vom 12.
bis 17. Januar 1990 auf Einladung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth25 die Bildung einer Gemischten Kommission Sachsen/
Baden-Württemberg vereinbart worden, die u. a. auch eine Fachgruppe Verfassungs- und Verwaltungsreform vorsah. Die vorgeschlagenen sächsischen MitglieZ BoÏej pomocu 199
20 ILTGEN, Vom Runden Tisch (wie Anm. 18), S. 14 f.
21 Ebd., S. 17.
22 Ebd., S. 18.
23 Ebd., S. 19 f.
24 Bericht der Parlamentarischen Arbeitsgruppe des Bezirkstages Dresden zur Ausarbeitung des 1. Arbeitsentwurfs der Verfassung des Landes Sachsen vom 19. März 1990,
abgedruckt in: Entwurf der Verfassung des Landes Sachsen, hrsg. vom Rat des Bezirkes
Dresden/Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt/Rat des Bezirkes Leipzig, April 1990.
25 Einladung von Ende Dezember 1989; vgl. MARKUS SCHUBERT, Der Koordinierungsausschuss zur Bildung des Landes Sachsen, unveröffentlichte Magisterarbeit Universität
Tübingen 1994, S. 157.
der dieser Fachgruppe haben am 27. März 1990 erstmalig im Gebäude des Rates
des Bezirkes Dresden getagt und drei Unterarbeitsgruppen zu den Bereichen Landesverfassung, Verwaltungsstruktur und Kommunal- und Kreisverfassung gebildet.26 Um einen Gegenentwurf zu dem Verfassungsentwurf des Bezirkstages
Dresden zu präsentieren, hatte Arnold Vaatz namens der Gruppe der Zwanzig
bereits am 29./30. März 1990 einen Verfassungsentwurf in der CDU-nahen Tageszeitung „Die Union“ publiziert.27
Die Fachgruppe Verfassungs- und Verwaltungsreform hat sich am 4. April 1990
auf der dritten Sitzung der Gemischten Kommission in der Katholischen Akademie Hohenheim in Stuttgart konstituiert. Am 26./27. April begann sie ihre Arbeit
am Entwurf einer Landesverfassung im Kurort Gohrisch in der Sächsischen
Schweiz. Dort stand der Fachgruppe als Tagungsort ein Gästehaus des Rates des
Bezirkes Dresden zur Verfügung.
Um die von den Räten der Bezirke geplante Konstituierung des Kuratoriums
Land Sachsen entwickelte sich eine heftige Auseinandersetzung. Am Runden
Tisch des Bezirks Dresden wurde am 29. März 1990 das Vorhaben zur Konstituierung des Kuratoriums heftig kritisiert. Am 3. April fasste das Präsidium des Bezirkstages Dresden einen Beschluss, nach dem „die Konstituierung des Kuratoriums zur Bildung des Landes Sachsen in der angedachten Form am 18. April 1990
in Meißen nicht durchzuführen“ sei.28 Endgültig wurde diese Konstituierung aber
erst am 17. April, am Vortag der geplanten Veranstaltung, abgesagt.29
Die Vorarbeiten für eine Landesverfassung und die vorläufigen Landesstrukturen
Mit dem Scheitern der Konstituierung eines Kuratoriums zur Bildung des Landes
Sachsen in Meißen war der Weg frei für Neuanläufe bei der Ausarbeitung eines
Verfassungsentwurfes für das in Aussicht stehende Land Sachsen und die organisatorischen Vorbereitungen seiner Wiedergründung.
Die Arbeitsgruppe Recht bei der Gruppe der Zwanzig, die sich Anfang des
Jahres 1990 noch mit dem Projekt einer neuen Verfassung für die DDR beschäftigt
hatte, begann sich ab Mitte April angesichts des absehbaren Scheiterns einer neuen
DDR-Verfassung, deren Entwurf der Zentrale Runde Tisch in Ost-Berlin der
Volkskammer vorlegte,30 innerhalb der Fachgruppe Verfassungs- und Verwaltungsreform der Gemischten Kommission auf die Arbeit an einer Landesverfassung zu konzentrieren. Die Unterarbeitsgruppe „Länderbildung/Landesverfassung“ der Gemischten Kommission tagte abwechselnd in Gohrisch (26./27. April,
14./15. Juni, 25.–28. Juli), im Bezirkskirchenamt Dresden-Blasewitz (28. Mai,
200 Bernd Kunzmann
26 Protokoll Gemischte Kommission, Fachgruppe 11, vom 30. März 1990; Privatarchiv
Kunzmann (unveröffentlicht).
27 Die Union, 29. März 1990, S. 3; ebd., 30. März 1990, S. 3.
28 SCHUBERT, Der Koordinierungsausschuss (wie Anm. 25), S. 55.
29 ILTGEN, Vom Runden Tisch (wie Anm. 18), S. 20.
30 THAYSEN, Der Runde Tisch (wie Anm. 11), S. 143-149.
10. Juli) und zwischendurch zu einem Kolloquium auch in der Zionskirche Dresden (15./16. Juni). Ihr Verfassungsentwurf wurde am 5. August 1990 der Öffentlichkeit als „Gohrischer Entwurf“ vorgelegt. Er lehnt sich stark an die Verfassung
des Landes Baden-Württemberg an, nimmt aber auch einige Elemente anderer
westdeutscher Landesverfassungen und des Verfassungsentwurfs des Zentralen
Runden Tisches der DDR auf. Vor allem legt er Wert auf die Passfähigkeit zum
Grundgesetz, will eine Vollverfassung sein mit klar definierten Staatszielen und
einem davon deutlich geschiedenen eigenständigen Grundrechtskatalog, und
möchte „Forderungen und Tendenzen der revolutionären Bewegung des Jahres
1989 sichtbar werden lassen“.31
Eine neue Situation trat am 2. Mai 1990 ein, als der DDR-Ministerrat einen
Beschluss zur „Sicherung der Regierungsfähigkeit in den Bezirken bis zur Bildung
funktionsfähiger Länder“ fasste. Er erklärte die Verwaltungsorgane auf Bezirksebene zur „Auftragsverwaltung“, die jetzt einem „Regierungsbevollmächtigten“
des Bezirkes (auch „Regierungsbeauftragter“ genannt) unterstanden.32 Mit den
drei von der DDR-Regierung bestimmten Regierungsbeauftragten der Bezirke
Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig Siegfried Ballschuh, Albrecht Buttolo und
Rudolf Krause betraten weitere Akteure das politische Spielfeld der Landesbildung. Am 17. Mai erklärte die Volkskammer die Bezirkstage für aufgelöst.33 Auch
die Runden Tische sollten nach Auffassung der DDR-Regierung ihre Arbeit einstellen.34
Der Runde Tisch des Bezirkes Dresden widersetzte sich auf seiner Beratung am
17. Mai 1990 dem Auflösungsbeschluss der Volkskammer.35 Er tagte auch nach
dem 31. Mai noch viermal. Am 12. Juli kam er zum letzten Mal zusammen und
beschloss, seine Arbeit als „Sächsisches Forum“ fortzusetzen.36 Als solches wurden fünf Informations- und Diskussionsveranstaltungen über die „zukünftigen
Strukturen des Landes und seine Verfassung“ bezeichnet, die im August und September 1990 in Chemnitz, Dresden und Leipzig stattfanden.37 Das Sächsische
Forum präsentierte als Landesverfassung den Gohrischer Entwurf, während die
künftigen Strukturen des Landes Gegenstand von Überlegungen eines „Koordinierungsausschusses“ waren, den der Runde Tisch des Bezirkes Dresden auf
Antrag von Arnold Vaatz am 3. Mai 1990 ins Leben gerufen hatte. Dieser Koordinierungsausschuss sollte neben einem „Vorparlamentarischen Ausschuss“ arbeiten. Während sich der Vorparlamentarische Ausschuss „paritätisch aus 120 Vertretern der sächsischen Bezirke“ in ehrenamtlicher Tätigkeit zusammensetzen sollte,
Z BoÏej pomocu 201
31 Gohrischer Entwurf vom 5. August 1990: STEFFEN HEITMANN/ARNOLD VAATZ, Verfassung des Landes Sachsen, hrsg. vom Koordinierungsausschuss für die Bildung des Landes Sachsen, Dresden 1990, S. 53 f.
32 SCHUBERT, Der Koordinierungsausschuss (wie Anm. 28), S. 74 f.
33 Ebd., S. 95.
34 RICHTER, Die Bildung des Freistaates Sachsen (wie Anm. 4), S. 343.
35 ILTGEN, Vom Runden Tisch (wie Anm. 18), S. 23.
36 Ebd., S. 27.
37 Ebd., S. 26.
aber mangels praktikabler Aufgaben und klarer Kompetenzen nie gebildet wurde,
wurden Mitglieder des Koordinierungsausschusses, der eigentlich ein Arbeitsorgan des Vorparlamentarischen Ausschusses sein sollte, sehr wohl benannt und
„bis auf weiteres beim Rat des Bezirkes angestellt“. Neben Arnold Vaatz, der sich
selbst als „vorläufig amtierenden Leiter“ vorgeschlagen hatte, wurden als Mitglieder u. a. Steffen Heitmann (Verfassung), Helmut Münch (Wirtschaft), Horst Metz
(Umwelt), Matthias Rößler (Wissenschaft und Bildung) und Erich Iltgen (Parlamentarische Arbeit) vorgeschlagen. Weitere Ressortleiter im Ausschuss waren
Hermann Henke (Gebäudeplanung) und Klaus Schumann (Verwaltungsstruktur).38
Zu klären waren hinsichtlich der Landesbildung nach Auflösung der Bezirkstage und der Einsetzung der Regierungsbeauftragten der Bezirke vor allem zwei
Machtfragen. Einerseits ging es um das Verhältnis des vom Runden Tisch des Bezirkes Dresden eingesetzten Koordinierungsausschusses zu den Regierungsbeauftragten, zum anderen um das Verhältnis der Vertreter der drei Bezirke zueinander.
Am 14. Juni 1990 akzeptierte der von der DDR-Regierung eingesetzte Regierungsbeauftragte des Bezirkes Dresden Siegfried Ballschuh den Koordinierungsausschuss als seinem Amt unterstellt und ernannte den „vorläufig amtierenden
Leiter“ des Koordinierungsausschusses Vaatz zu seinem Stellvertreter. Anfang Juli
1990 nahm der Koordinierungsausschuss seine Arbeit auf.39 Schließlich gab der
Runde Tisch des Bezirkes, der eigentlich seine Arbeit bis zur Bildung des Vorparlamentarischen Ausschusses (auch Regionalausschuss genannt) fortsetzen wollte,
dem Drängen des Regierungsbeauftragten nach und beendete seine Arbeit am
12. Juli 1990.
Auf dem Gebiet der Verfassungsgebung gingen die Arbeiten weiter. Während
das Sächsische Forum mit der Präsentation des Gohrischer Entwurfes befasst war,
bildete sich an der Karl-Marx-Universität Leipzig eine Gruppe von zwölf Hochschullehrern (Juristen, Historiker, Theologen, Ökonomen), die mit dem Gohrischer Entwurf unzufrieden waren.40 Sie erarbeiteten im August 1990 einen
Gegenentwurf. Darin ließen sie sich leiten vom Verfassungsentwurf des Zentralen
Runden Tisches der DDR und der reformierten Verfassung Schleswig-Holsteins.41 Die Verfasser stellten als Unterschiede zum Gohrischer Entwurf heraus,
dass sie Wert legen auf Rechte der Bürgerinnen und Bürger sowie Bürgerinitiativen auf Verfahrensbeteiligung, niedrigere Quoren im Bereich der Volksgesetzgebung, Bürgerantrag, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf kommunaler
Ebene, Bürgerrechte für Ausländer und Staatenlose, Verbot der Aussperrung, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, Zutrittsrechte der Gewerk202 Bernd Kunzmann
38 SCHUBERT, Der Koordinierungsausschuss (wie Anm. 28), S. 88.
39 ILTGEN, Vom Runden Tisch (wie Anm. 18), S. 24 f.
40 KARL BÖNNINGER, Verfassungsdiskussion in den ostdeutschen Bundesländern. Beispiel Sachsen, in: Demokratie und Recht 19 (1991), S. 394-403, hier S. 394.
41 THOMAS MAYER, Die neue Verfassung für das Land Sachsen, Entwurf sächsischer
Hochschullehrer, Vorbemerkung, Köln/Bonn 1990, S. 1.
schaften zu den Betrieben, soziale Grundrechte als einklagbare Ansprüche des
Bürgers, ein „Landesforum“ als Organ der Bürgerbewegungen und Verbände mit
Gesetzesinitiativ-, Anhörungs- und Kontrollrechten, Verbot von Sperrklauseln im
Wahlrecht und schließlich eine Volksabstimmung über die Verfassung.42
Kurz nach der Wahl des Landtages, aber noch vor dessen Konstituierung, veröffentlichte am 23. Oktober 1990 der Koordinierungsausschuss einen überarbeiteten Gohrischer Entwurf. Er verstand sich als die Weiterentwicklung des
Gohrischer Entwurfes nach der Arbeit des Sächsischen Forums.43
Der Koordinierungsausschuss und der Landessprecher –
zwei pränatale Landesorgane
Je näher im Spätsommer 1990 der von der Volkskammer revidierte Termin der
Länderbildung rückte, umso dringender wurden Schritte zur Vorbereitung der
Landesstrukturen. Um das Nebeneinander der in den Bezirken arbeitenden Behörden zu beenden, erließ die Regierung der DDR am 17. September einen Beschluss über die Einsetzung von Landessprechern. Die drei Regierungsbevollmächtigten sollten sich auf einen Landessprecher aus ihrer Mitte einigen. Falls
diese Einigung nicht gelingen würde, hätte die Regierung einen Landessprecher
bestimmt. In Sachsen gelang die Einigung. Der Regierungsbevollmächtigte von
Leipzig Rudolf Krause wurde Landessprecher. Er war damit bis zum 3. Oktober
gegenüber der DDR-Regierung für alle mit der Landesbildung zusammenhängenden Aufgaben verantwortlich.44 Die Landessprecher hatten direkten Zugriff
auf die Bezirksverwaltungsbehörden. Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 wurden die Landessprecher die
Repräsentanten der mit diesem Tage entstandenen Länder und nahmen bereits für
diese Aufgaben wahr, die sich aus der Kompetenzordnung des Grundgesetzes für
die Länder ergaben. Sie unterstanden von diesem Tage an der Bundesregierung.
Das Bundesinnenministerium richtete zu diesem Zweck eine „Clearing-Stelle“
mit eigenen Verwaltungsbeamten ein, die u. a. die Clearing-Stäbe in den Landeshauptstädten koordinierte.45 Über diese Clearing-Stelle wirkten auch die alten
Bundesländer mit. Im Falle Sachsens waren somit neben dem Clearing-Stab des
Bundesinnenministeriums unter Leitung von Günter Ermisch auch noch die
Koordinierungsbüros Baden-Württembergs (Leitung Thomas Hirschle) und
Bayerns (Manfred Kolbe) im Dresdner Clearing-Stab vertreten.
Z BoÏej pomocu 203
42 EKKEHARD LIEBERAM, Bürgerdemokratie und soziale Grundrechte, in: Mayer, Die
neue Verfassung (wie Anm. 41), S. 32.
43 Überarbeitete Fassung des Gohrischer Entwurfs vom 23. Oktober 1990: STEFFEN
HEITMANN/ARNOLD VAATZ, Verfassung des Landes Sachsen. Überarbeitete Fassung,
Dresden 1990, S. 45-51.
44 SCHUBERT, Der Koordinierungsausschuss (wie Anm. 28), S. 132.
45 Ebd., S. 152.
Zwei Verfassungsentwürfe für den Landtag
Außer dem Gohrischer Entwurf und dem Entwurf der Leipziger Hochschullehrer
entstanden noch weitere Verfassungsentwürfe für das künftige Land Sachsen. Sie
erlangten aber nicht die politische Bedeutung dieser beiden genannten. Neben
dem bereits erwähnten Entwurf der Gruppe der Zwanzig und dem Entwurf des
Bezirkstages erarbeitete eine Arbeitsgruppe des Vereins für vogtländische Geschichte, Volks- und Landeskunde zu Plauen e. V. einen Verfassungsentwurf, den
sie im Herbst 1990 selbst publizierte und an den Sächsischen Landtag sandte. Im
April 1990 bildete sich am Runden Tisch im Bezirk Karl-Marx-Stadt eine Arbeitsgruppe Verfassung. In Leipzig erstellte eine Arbeitsgruppe der CDU ebenfalls
einen Verfassungsentwurf, an dem die späteren Landtagsabgeordneten Volker
Schimpff und Herbert Goliasch mitgewirkt hatten.46 Ersterer arbeitete ab Juni
1990 am Gohrischer Entwurf mit.
All diesen Entwürfen war gemein, dass ihre Autoren mit viel Enthusiasmus und
Eifer an die Aufgabe gingen. Aber ihnen allen fehlte letztlich die politische Legitimation, als Verfassungsgeber tätig zu werden. Diese Legitimation konnte nur aus
einer Wahl zu einer verfassungsgebenden Landesversammlung erwachsen.
Mit dem Ländereinführungsgesetz der Volkskammer vom 22. Juli 1990 war die
gesetzliche Grundlage für die Bildung der fünf neuen Länder geschaffen.47 Den
dafür zu wählenden Landtagen oblag zugleich die Aufgabe, als verfassungsgebende Landesversammlung tätig zu werden (§ 23 Abs. 2 Ländereinführungsgesetz). Nach der Landtagswahl begann die letzte Etappe der Landesbildung. Von
den erarbeiteten Verfassungsentwürfen für Sachsen schafften es zwei, in die engere
Wahl zu kommen: eben der Gohrischer Entwurf und der Entwurf der Leipziger
Hochschullehrer.
2. Die verfassungslose Zeit unter dem „Vorschaltgesetz“
Die Landtagswahl 1990 und die Bildung der ersten Landesregierung
Am 14. Oktober 1990 fanden die Landtagswahlen statt. Das war etwas spät, denn
die Bildung der Länder war durch die Volkskammer bereits auf den Tag des
Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, den 3. Oktober 1990,
vorgezogen worden. Bis sich der neu gewählte Landtag konstituieren konnte, war
fast der erste Monat der Existenz des neuen Landes Sachsen verstrichen. Am
27. Oktober 1990 konstituierte sich der Landtag. Fast drei Fünftel der
Abgeordneten gehörten der CDU an.48
204 Bernd Kunzmann
46 RICHTER, Die Bildung des Freistaates Sachsen (wie Anm. 4), S. 585-587.
47 GBl. I, S. 955.
48 Von den 160 Abgeordneten stellte die CDU 92, die SPD 32, die Linke Liste/PDS 17,
die Fraktion Bündnis90/Grüne zehn und die FDP neun.
Als der neu gewählte sächsische Landtag am 27. Oktober 1990 mangels eigenem
Versammlungssaal in der Dresdner Dreikönigskirche erstmals zusammentrat,
stand er staatsrechtlich vor einer schwierigen Aufgabe. Der rechtliche Rahmen seiner Tätigkeit war dürftig. Er musste seine eigene Tätigkeit normieren und dem
Gebot von § 23 Abs. 2 Satz 2 Ländereinführungsgesetz nachkommen, spätestens
am 20. Tag nach seinem Zusammentritt eine Landesregierung zu bilden. Er musste
also Staatsorganisation leisten, für die es keine Normen gab.
Zeitgleich war er Verfassungsgeber. Als solcher musste er Normen aufstellen,
nach denen eigentlich der Staat organisiert werden sollte. Dafür brauchte er Zeit.
Diese Zeit hatte er nicht. Bevor ihm klar werden konnte, wie die Staatsorganisation aussehen sollte, musste er den Staat bereits organisiert haben.
Einer der ersten Schritte zur Staatsorganisation war die Wahl eines Ministerpräsidenten. Bis zur Wahl des Ministerpräsidenten handelte an dessen Stelle gemäß
Artikel 43 des Einigungsvertrages der Landesbevollmächtigte. Das Grundgesetz
lässt den Ländern bei der Staatsorganisation weitgehende Freiheit. Die Staatsorganisation muss lediglich dem Homogenitätsgebot von Art. 28 Abs. 1 GG entsprechen. Daher standen die im Oktober 1990 konstituierten Landtage in den fünf
neuen Bundesländern vor der zwingenden Aufgabe, zusammen mit der Wahl des
Ministerpräsidenten eine – zumindest vorläufige – Staatsorganisation zu beschließen. Diese Aufgabe traf die allermeisten der neu gewählten Abgeordneten zunächst gänzlich unvorbereitet.
Die vorkonstitutionelle Staatsorganisation
Der Sächsische Landtag verabschiedete gleich zu Beginn seiner konstituierenden
Sitzung, sofort nach der Verabschiedung der vorläufigen Geschäftsordnung und
noch vor der Wahl des Ministerpräsidenten, das „Gesetz zur Herstellung der
Arbeitsfähigkeit des Sächsischen Landtages und der Sächsischen Landesregierung
(Vorschaltgesetz)“.49 Es wurde am gleichen Tag unmittelbar nach seiner Verabschiedung vom Landtagspräsidenten verkündet und trat auch sofort in Kraft. Mit
diesem Gesetz wurden geregelt:
1. Die Landtagsfunktionen (§ 1 Abs. 1)
2. Das Gesetzesinitiativrecht (§ 1 Abs. 2)
3. Die Ermächtigung zum Rechtsverordnungserlass (§ 1 Abs. 3)
4. Der Erlass einer Landtagsgeschäftsordnung (§ 1 Abs. 4)
5. Das freie Mandat (§ 2 Abs. 1)
6. Die Indemnität der Abgeordneten (§ 2 Abs. 2)
7. Grundsätze der Abgeordnetenentschädigung (§ 3 Abs. 1)
8. Die Rechte und Aufgaben des Landtagspräsidenten (§ 4 Abs. 1)
9. Die Zusammensetzung der Staatsregierung (§ 5 Abs. 1 Satz 1)
Z BoÏej pomocu 205
49 Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1990, S. 1.
10. Die Zuständigkeit zur Einstellung und Entlassung der Regierungsmitarbeiter (§ 5 Abs. 1 Satz 2)
11. Die Wahl des Ministerpräsidenten (§ 5 Abs. 2)
12. Das Verfahren zur Ernennung und Entlassung der Minister (§ 5 Abs. 3)
13. Der Amtseid der Regierung (§ 5 Abs. 4)
14. Das Verfahren bei Rücktritt und Amtsbeendigung der Regierung (§ 5 Abs. 5)
15. Das konstruktive Misstrauensvotum (§ 5 Abs. 6)
16. Die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten (§ 6 Abs. 1)
17. Die Vertretung des Landes und der Abschluss von Staatsverträgen (§ 6
Abs. 2)
18. Der Erlass einer Regierungsgeschäftsordnung (§ 6 Abs. 3)
19. Die Grundsätze der Haushaltswirtschaft (§ 7)
20. Das Recht zur Ausfertigung und Verkündung von Gesetzen und Rechtsverordnungen (§ 8)
21. Der Erlass von Verfassungsgesetzen (§ 9)
22. Das In- und Außerkrafttreten des Vorschaltgesetzes (§ 10)
Damit war eine vorläufige Verfassung, gewissermaßen eine Notverfassung, verabschiedet, bei der es sich mit der Normierung der Ausübung staatlicher Gewalt
materiell um bedeutsame Normen des Verfassungsrechts handelte, ohne dass eine
klare Übereinkunft über die Fristen, die Wege und die Modalitäten der eigentlichen, noch zu realisierenden Verfassungsgebung bestanden hätte. Dieser unüberlegte Schritt erwies sich denn auch als weitreichend und verhängnisvoll zugleich,
denn wie sich später zeigte, blieb das sächsische Vorschaltgesetz, das viele verfassungsrechtliche Grundfragen offenließ, mehr als anderthalb Jahre in Kraft.
Entscheidender Mangel des Vorschaltgesetzes war, dass es sich nur mit der
„Arbeitsfähigkeit“ des Landtages und der Landesregierung, nicht aber mit der
Arbeitsfähigkeit der Rechtsprechung befasste. Insofern ist es fraglich, ob es überhaupt dem Homogenitätsgebot von Art. 28 GG genügte. Zwar sieht das Grundgesetz (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 dritte Alternative) eine subsidiäre Zuständigkeit des
Bundesverfassungsgerichts auch für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten innerhalb
eines Landes vor, allerdings hätte der Landesgesetzgeber in der besonderen Aufbausituation staatlicher Gewalt zumindest in seiner Eigenschaft als verfassungsgebende Landesversammlung den Artikel 99 des Grundgesetzes nicht unbeachtet
lassen dürfen. Die Unterlassung, sich als Landesverfassungsgeber mehr als anderthalb Jahre überhaupt keine Gedanken um eine handlungsfähige Landesverfassungsgerichtsbarkeit gemacht zu haben, zeigt, dass sich der Landtag seiner verfassungspolitischen Aufgabe nicht im notwendigen Maße bewusst war. Die sehr
bald eingetretenen zahlreichen Streitigkeiten mit Verfassungscharakter, die dem
Bundesverfassungsgericht vorgelegt, dort aber nur mit großer zeitlicher Verzöge206 Bernd Kunzmann
rung bearbeitet und zumeist hinsichtlich ihrer Begründetheit gar nicht entschieden
wurden, belegen dieses Versagen.50
Ein zweiter, verfassungsrechtlich nicht ganz so gravierender, aber politisch
schädlicher Mangel des Vorschaltgesetzes war die nicht eindeutige Regelung des
Verfahrens zur Verabschiedung der Landesverfassung. Sie blieb fortan Anlass
ständiger Auseinandersetzungen, die mit einer überlegten und einvernehmlichen
Regelung im Vorschaltgesetz hätten vermieden werden können.
Der sächsische Landtag als verfassungsgebende Landesversammlung
Der Landtag hatte neben der Landesorganisation eine zweite wichtige Aufgabe.
Parallel zu seiner laufenden Tätigkeit als Landesparlament war er zugleich die verfassungsgebende Landesversammlung. Diese ihm von der Volkskammer übertragene Parallelfunktion war ein zwangsläufiges Ergebnis der Geschwindigkeit,
mit der die Abwicklung der DDR und ihr Übergang in die föderale Bundesrepublik 1990 voranschritt. Schon auf der 3. Sitzung des Sächsischen Landtages am
15. November 1990 wurden von den Fraktionen der CDU und F.D.P., der Linken
Liste/PDS und von der Fraktion Bündnis90/Grüne drei Verfassungsentwürfe in
erster Lesung in den Landtag eingebracht. Es ist mehr als fraglich, ob sich die einreichenden Fraktionen in der kurzen Zeit zwischen der Konstituierung des Landtages und dem Einreichen der Verfassungsentwürfe wirklich inhaltlich mit den
Entwürfen vertraut und sich mit ihnen politisch auseinandergesetzt haben.
Die Fraktionen der CDU und der F.D.P. reichten gemeinsam den Gohrischer
Entwurf ein.51 Die einreichenden Fraktionen wiesen darauf hin, sie gäben „mit der
Einbringung des Gohrischer Verfassungsentwurfs nicht ihre politischen Vorstellungen auf, die die künftige Verfassung des Freistaates Sachsen haben sollte. Sie
behalten sich daher das Recht vor, im Laufe der parlamentarischen Beratungen
jeweils eigene Zusatz- oder Änderungsanträge nach Maßgabe ihrer aus dem Beratungsgang gewonnenen Überzeugungen zu stellen“. In der Tat stellten sowohl die
Vertreter der CDU als auch der F.D.P. im Verlaufe der Beratungen im Verfassungsund Rechtsausschuss zahlreiche Änderungsanträge zu dem von ihnen eingebrachten Verfassungsentwurf, der dann kurioserweise gelegentlich von Vertretern anderer Fraktionen gegen die Einbringer verteidigt wurde. Das alles spricht dafür, dass
der Entwurf sehr übereilt dem Landtag vorgelegt worden ist.
Die Entwürfe der Fraktion Linke Liste/PDS52 und der Fraktion Bündnis 90/
Grüne53 basieren beide auf dem Leipziger Hochschullehrerentwurf und unterscheiden sich von diesem jeweils nur durch wenige Modifikationen.
Z BoÏej pomocu 207
50 Der erste Streit entstand bereits auf der konstituierenden Sitzung; dazu: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. März 1992, veröffentlicht in: Landes- und Kommunalverwaltung (im Folgenden: LKV) 1992, S. 235.
51 Sächsischer Landtag, Drucksache 1/25.
52 Ebd. 1/26.
53 Ebd. 1/29.
Das Plenum überwies die Verfassungsentwürfe federführend an den Verfassungs- und Rechtsausschuss und an alle anderen Ausschüsse zur Mitberatung. Es
begann ein anderthalbjähriger Beratungsmarathon. Die Befürchtungen, die „Väter
des Gohrischer Entwurfs“ seien darauf aus, „relativ schnell nach der Bildung des
Landes die Verfassung durch den Landtag beschließen zu lassen“,54 erwiesen sich
in der Praxis zumindest als unbegründet.
Der Verfassungs- und Rechtsausschuss hat auf seiner ersten Sitzung am
20. November 1990 einen Arbeitsplan diskutiert und ihn auf seiner zweiten Sitzung am 30. November beschlossen. Dieser sah zwei Arbeitsetappen vor, zwischen denen eine Sachverständigenanhörung und eine öffentliche Diskussion des
Ausschussentwurfs einschließlich der noch strittigen Punkte stattfinden sollte.
Hinsichtlich des Verfahrens zur Annahme der Verfassung konnte keine Einigung
erzielt werden. Zuvor gestellte Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Grüne
auf Zusendung des Entwurfs an alle Haushalte, öffentliche Behandlung der Entwürfe im Ausschuss, Anhörungsrechte für Volksinitiativen, auf das Recht, Alternativentwürfe durch Volksbegehren einzuspeisen und auf Verabschiedung der
Verfassung durch Volksentscheid fanden keine Mehrheit im Ausschuss.
Die Fraktion Bündnis 90/Grüne und die SPD-Fraktion brachten im November
1990 jeweils einen Gesetzentwurf zur Ausarbeitung und Annahme der sächsischen Verfassung in den Landtag ein. Das im Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis
90/Grüne vorgeschlagene Verfahren55 sah einen vom Landtag bis zum 31. Januar
1991 zu erarbeitenden Entwurf vor, der mit Mehrheits- und Minderheitsvoten
allen Haushalten in Sachsen zugestellt werden sollte. Nach Anhörungen sollten
der Landtag und seine Ausschüsse die Beratungen in öffentlichen Sitzungen fortsetzen und dabei Vorschläge aus der Bevölkerung, die von mehr als 5.000 Stimmberechtigten unterstützt werden, zu behandeln verpflichtet sein. Des Weiteren sah
der Entwurf vor, dass der Landtag die Verfassung mit der Mehrheit von mindestens zwei Drittel seiner Mitglieder annimmt. Anschließend wird die Verfassung
durch einen Volksentscheid in Kraft gesetzt. Bei diesem Volksentscheid sollte über
die vom Landtag angenommene Verfassung und über Alternativentwürfe oder
Änderungsanträge abgestimmt werden, die zuvor von mindestens 50.000 Stimmberechtigten durch Volksbegehren eingebracht wurden. Der Gesetzentwurf der
SPD-Fraktion56 sah eine vom Landtag mit einer Mehrheit von mindestens zwei
Drittel seiner Mitglieder zu verabschiedende Verfassung vor, die durch einen
Volksentscheid in Kraft gesetzt werden sollte. Beide Gesetzentwürfe fanden in
zweiter Lesung im Landtag keine Mehrheit. Mit dieser Ablehnung blieb das Verfahren zur Verfassungsgebung bis auf die spärlichen Vorgaben in § 10 Absatz 2
Satz 2 des Vorschaltgesetzes bis zum Schluss ungeregelt.
208 Bernd Kunzmann
54 So KARL BÖNNINGER, Verfassungsdiskussion im Lande Sachsen, in: LKV 1991, S. 9-
12, hier S. 12.
55 Sächsischer Landtag, Drucksache 1/30.
56 Ebd. 1/31.
Schwierig war auch die Mitwirkung von Sachverständigen. Nach einer kontroversen Debatte um die Zuziehung von Beratern entschied der Verfassungs- und
Rechtsausschuss auf seiner zweiten Sitzung am 30. November 1990 mit der Mehrheit der CDU-Mitglieder, keine Fraktionsberater zuzulassen. Stattdessen beschloss der Ausschuss, unbeschadet des Rechtes des Justizministers auf Hinzuziehung von Beratern seiner Wahl, zwei Ausschussberater zu bestellen, von denen
einer von der CDU-Fraktion, ein zweiter von den übrigen Fraktionen zu
benennen war. In Ausführung dieses Beschlusses wurden als Berater des Verfassungs- und Rechtsausschusses Prof. Dr. Hans von Mangoldt, Universität Tübingen, und Prof. Dr. Hans-Peter Schneider, Universität Hannover, benannt. Sämtliche Berater hatten das gleiche Rederecht wie die Mitglieder des Ausschusses und
der Justizminister.
Die Beratungen zur Erarbeitung der Landesverfassung im Verfassungs- und
Rechtsausschuss dauerten anderthalb Jahre. Am 5. April 1992 stimmten am
Schluss der 9. Klausurtagung des Verfassungs- und Rechtsausschusses neun Ausschussmitglieder für den Verfassungsentwurf, ein Mitglied dagegen und zwei enthielten sich der Stimme. Auf seiner 24. und 25. Sitzung am 6. Mai bzw. 13. Mai
1992 nahm der Ausschuss noch je eine Änderung am Verfassungstext zur Beschlussempfehlung vor.57 Die notwendige erneute Schlussabstimmung über den
Entwurf ergab elf Stimmen für den Entwurf und eine Stimme dagegen bei zwei
Stimmenthaltungen.
Am 26. Mai 1992 fand im Plenum des Landtages die Schlussabstimmung über
die Sächsische Verfassung statt. Von den 151 anwesenden Abgeordneten stimmten
132 für die Verfassung, 15 dagegen und vier enthielten sich der Stimme. Bis auf
zwei Abgeordnete stimmten alle übrigen Mitglieder der CDU für die Verfassung,
des Weiteren sämtliche Mitglieder der SPD-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion
sowie sechs der acht anwesenden Mitglieder der Faktion Bündnis90/Grüne.
Gegen die Verfassung stimmten ein Mitglied der CDU und vierzehn Mitglieder
der Fraktion Linke Liste/PDS. Ein Mitglied der CDU, zwei Mitglieder von Bündnis90/Grüne und ein Mitglied der Fraktion Linke Liste/PDS übten Stimmenthaltung.58 Die Landesverfassung hatte damit deutlich mehr als zwei Drittel der
Stimmen der Mitglieder erhalten (107 wären erforderlich gewesen). Sie wurde vom
Landtagspräsidenten am 27. Mai ausgefertigt und vom Ministerpräsidenten am
5. Juni im Gesetz- und Verordnungsblatt des Freistaates Sachsen verkündet. Die
vierte sächsische Verfassung in der Geschichte des Landes trat am 6. Juni 1992 in
Kraft.
Z BoÏej pomocu 209
57 Diese betrafen Art. 10 Abs. 2 Satz 2 und Art. 44 Abs. 3 Satz 2.
58 Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 1/46, S. 3108 f.
II. Die unbeachtete Verfassung des Freistaates Sachsen
Obgleich mit dem Inkrafttreten der sächsischen Verfassung am 6. Juni 1992 eigentlich die vorkonstitutionelle Phase im politischen Leben des neu gegründeten Freistaates Sachsen zu Ende gegangen sein sollte, hatte dieses Inkrafttreten im politischen Alltag zunächst keine unmittelbare Wirkung. Die im weitgehend
verfassungsfreien Raum entstandenen Strukturen und Geschäftsabläufe im Landtag, in der Landesregierung und in den nachgeordneten Behörden gingen nahezu
unverändert weiter. Ernst genommen wurde die Verfassung noch lange nicht. Es
war, als wäre mit der Verabschiedung der Verfassung nur ein weiteres Gesetz in
einer ununterbrochenen Reihe von vielen anderen erlassenen Gesetzen verabschiedet worden, adressiert an Dritte, nicht aber die Landesorgane selbst. Der
Stolz, der die führenden Repräsentanten des Landes ob der Tatsache, dass in Sachsen als erstem der neuen Länder eine Verfassung in Kraft trat, erfasste, war nur
äußerlich dieser symbolischen Tatsache geschuldet. So gut wie keiner von ihnen
schien sich die Frage zu stellen, ob mit dem Inkrafttreten der Verfassung vielleicht
auch grundlegende Kompetenzverschiebungen eingetreten und staatliches Handeln neuen Normen unterworfen sein könnte.
Eine Änderung der Ignoranz hinsichtlich des materiell-rechtlichen Gehalts der
Landesverfassung trat erst ein, als Konflikte verfassungsrechtlicher Art zum Ausbruch kamen und streitig entschieden werden mussten. Das aber war real erst
möglich, nachdem das Landesverfassungsgericht seine Arbeit aufgenommen hatte,
also nicht vor Beginn des Jahres 1994.
Der Landtag hat zunächst acht Monate gebraucht, um nach der Verfassung das
Gesetz über den Sächsischen Verfassungsgerichtshof zu verabschieden. Wie bei
anderen Gesetzen auch wartete die Mehrheit des Landtages auf den entsprechenden Gesetzentwurf der Staatsregierung. Deren Entwurf wurde nahezu unverändert im Januar 1993 vom Landtag angenommen. Lediglich in der Frage des Sitzes
des Verfassungsgerichtshofes gab es eine politische Auseinandersetzung, in der
sich der Justizminister nicht mit seiner Vorstellung durchsetzen konnte, den Verfassungsgerichsthof nach Meißen zu verlegen. Als seinen Sitz bestimmte der
Landtag mit Mehrheit Leipzig.
Bevor der Verfassungsgerichtshof seine Tätigkeit beginnen konnte, musste der
Landtag dessen Mitglieder mit Zwei-Drittel-Mehrheit wählen. Die Wahl erfolgte
im Juni 1993. Am 15. Juli 1993 wurden die ersten Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes und ihre Stellvertreter im Sächsischen Landtag vereidigt und traten
am selben Tag zu ihrer ersten Beratung zusammen. Die ersten Urteile konnte der
Gerichtshof nicht vor Ende 1993 fällen. In der politischen Realität ging darum erst
im Jahre 1994 die vorkonstitutionelle Phase wirklich zu Ende.
210 Bernd Kunzmann
III. Sachsen auf der Suche nach sich selbst
Die Wiedergründung des sächsischen Staates im Jahre 1990 und sein Ausbau in
den Jahren danach wirft automatisch die Frage auf, inwieweit sich diese Wiedergründung auf sächsische Traditionen stützte und, wenn es solche gibt, wie weit sie
in die neuen Strukturen hineinwirkten.
Nur wenn man die Augen vor den Realitäten verschließt, kann man den Traditionsbruch übersehen, mit dem sich die Bildung des Landes Sachsen 1990 vollzog.
Der „Freistaat Sachsen“ von 1990 hat kaum etwas zu tun mit dem „Freistaat Sachsen“ von 1919, schon gar nichts mit dem Königreich Sachsen von 1831 und nur
sehr wenig mit dem Land Sachsen von 1947. Er ist staatlich wie politisch eine Neuschöpfung. Er sollte aber paradoxerweise im Selbstverständnis seiner maßgeblichen politischen Akteure des Jahres 1990 keine Neuschöpfung sein. Ihr Handeln
und ihre Beschlüsse jedoch offenbaren, dass sie den Traditionsbruch selbst verinnerlicht hatten. Möglicherweise waren sie sich dessen aber nicht wirklich
bewusst.
Schon die Organisation der ersten sächsischen Regierung macht deutlich, dass
es nicht verwunderlich ist, dass der Freistaat Sachsen, der am 3. Oktober 1990 wieder gegründet wurde, wenig mit seinen Vorgängern, dem Land Sachsen von 1946,
dem Freistaat Sachsen von 1919 oder gar dem Königreich Sachsen von 1815 zu tun
hat. Beispielhaft kann man das an einer ganzen Reihe von wesentlichen Sachentscheidungen illustrieren. Dabei zeigt sich, dass es nicht allein die personelle
Zusammensetzung der Regierung war, die den Traditionsbruch in Sachsen herbeiführte. Vielmehr war die personelle Zusammensetzung der Regierung selbst
Ergebnis der Irrelevanz genuiner sächsischer Traditionen in der Gesellschaft.
An der Spitze der ersten drei sächsischen Regierungen stand Kurt Biedenkopf.
In einem Interview im September 1990 sagte er, angesprochen auf seine Beziehung
zu Sachsen: „Ich bin jetzt Sachse, und ich habe auch die Absicht, genau das zu
leben. Sonst hat die Sache doch gar keinen Sinn.“59 Sein Bestreben war es, in den
Schlüsselpositionen der Regierung Vertraute aus Nordrhein-Westfalen zu installieren.60 Sein erster Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten war
Günter Ermisch, vorher „Clearingbeauftragter des Bundes für Sachsen“. Er war
im September 1990 in der genannten Clearingstelle der Bundesregierung, die die
Verwaltung der neuen Länder ab dem Beitritt der DDR übernahm, der ranghöchste Beamte. Daher konnte er sich das Land für seinen Einsatz auswählen.
Seine Familie stammte teilweise aus Sachsen, so entschied er sich für Dresden.61
Ähnlich „tief“ verwurzelt in der sächsischen Tradition waren weitere wichtige
Regierungsmitglieder. In der ersten Regierung Biedenkopf kam in jedem Ministerium entweder der Minister oder der Amtschef aus den westlichen Bundesländern,
Z BoÏej pomocu 211
59 taz, 19. September 1990, zitiert nach RICHTER, Die Bildung des Freistaates Sachsen
(wie Anm. 4), S. 824.
60 RICHTER, Die Bildung des Freistaates Sachsen (wie Anm. 4), S. 886.
61 Ebd., S. 781.
zumeist aus Nordrhein-Westfalen (Letzteres in der Staatskanzlei und den Ministerien für Finanzen, Wirtschaft und Arbeit, Bildung, Landwirtschaft). Die Strukturbeauftragten des Koordinierungsausschusses kamen für den Ministerpräsidenten
kaum in Frage.62 Der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche
Johannes Hempel intervenierte beim Ministerpräsidenten wegen des für ein protestantisches Land ungewöhnlich hohen Anteils von Katholiken an der Spitze der
Regierung.63 Von besonderer Bedeutung wurde in den ersten Regierungsjahren
die „Regierungskommune“ in der Dresdner Schevenstraße, wo in einem ehemaligen Gästehaus des MfS der Regierungschef, zahlreiche Minister und Staatssekretäre sowie weitere Regierungsmitarbeiter aus den westlichen Bundesländern zusammen wohnten. Hier wurden zahlreiche politische Entscheidungen vorbereitet,
in die die aus Sachsen stammenden Regierungsmitglieder anfangs gar nicht eingebunden waren.64
1. Die Bezeichnung der Landesorgane
Schon der Landesname „Freistaat Sachsen“ ist geeignet, Missverständnisse auszulösen. Er gleicht zwar der Staatsbezeichnung von 1919, für die Bezeichnungen
„Staatsregierung“, „Staatsministerium“ und „Staatsminister“ gibt es in Sachsen
jedoch keine historischen Vorbilder.
Historisch geht der Begriff „Freistaat“ auf die nach der Novemberrevolution
1918 von mehreren deutschen Ländern (z. B. Bayern, Preußen, Sachsen) gewählte
deutsche Bezeichnung für die republikanische Staatsform zurück. Die von der
Sächsischen Volkskammer im Vorläufigen Grundgesetz vom 28. Februar 1919 gewählte und in der Sächsischen Verfassung vom 1. November 1920 bekräftigte Bezeichnung „Freistaat Sachsen“ hatte eine zusätzliche Bedeutung dadurch, dass sie
zur Abgrenzung des selbstständigen Landes Sachsen von der preußischen „Provinz Sachsen“ diente, die von Preußen nach dem erheblichen Territorialgewinn
auch von ehemals sächsischen Gebieten als Ergebnis des Wiener Kongresses von
1815 eingerichtet wurde. Letztere ist heute Teil des Landes Sachsen-Anhalt.
Der Begriff und die Bezeichnung „Freistaat“ ist 1990 in Sachsen Gegenstand
vieler (wenn auch nicht immer substanzieller) Diskussionen gewesen. So wurde
bereits in der Volkskammer der DDR der Antrag gestellt, bei der Ländereinführung Sachsen als „Freistaat“ zu bezeichnen. Die Volkskammer entschied aber
mit Mehrheit, diese Frage dem Landesverfassungsgeber zu überlassen.
Auf seiner konstituierenden Sitzung am 27. Oktober 1990 beschloss der Sächsische Landtag auf Antrag der CDU-Fraktion,65 für das von der Volkskammer der
DDR durch das Ländereinführungsgesetz wieder errichtete Land Sachsen die
212 Bernd Kunzmann
62 Ebd., S. 871-877; neben Vaatz ist aus dem Kreis der Strukturbeauftragten lediglich
Steffen Heitmann zum Minister berufen worden.
63 Ebd., S. 924 f.
64 Ebd., S. 883 f.
65 Sächsischer Landtag, Drucksache 1/9.
Staatsbezeichnung „Freistaat Sachsen“ zu wählen. Irrig ist die Vermutung, dass
damit eine Anknüpfung an die sächsische Tradition beabsichtigt gewesen sei. Eine
solche Anknüpfung war nur der äußeren Form nach geschehen. Inhaltlich war
überhaupt nicht beabsichtigt, etwa an den revolutionären Freistaatsbegriff anzuknüpfen, wie er in der Ausrufung Sachsens als „Freistaat“ durch den Vereinigten
Revolutionären Arbeiter- und Soldatenrat am 9. November 1918 zum Ausdruck
gekommen war. Deutlich wird das durch die im selben Landtagsbeschluss vom
27. Oktober 1990 vorgenommene Einführung der Bezeichnung der Landesregierung als „Staatsregierung“. Die kollektive Landesregierung wurde im Königreich
Sachsen wie ab 1919 im Freistaat Sachsen „Gesamtministerium“ genannt. Die Verfassung von 1947 spricht einfach von „Regierung“. Vielmehr war mit dem Landtagsbeschluss 1990 eine Referenz an die bayerische Terminologie beabsichtigt.66
2. Die Landeszugehörigkeit
Die Länderbildung in der DDR erfolgte 1990 nicht unter Anknüpfung an den
Status quo der Weimarer Republik, sondern unter Anknüpfung an die Anfänge
der DDR. Obgleich niemand zugab, an die ersten Jahre der DDR oder die Jahre
der Besatzungszeit nach 1945 anknüpfen zu wollen, wurden dennoch genau jene
Länder gebildet, die die DDR 1952 durch eine „Verwaltungsreform“, die eigentlich eine grundlegende Verfassungsänderung war, faktisch aufgelöst hatte. Die
Länder entstanden 1990 nicht in den Grenzen von 1947, sondern in den Kreisgrenzen, die erst durch die Verwaltungsreform 1952 eingeführt worden waren.
Von der Möglichkeit einer späteren Grenzkorrektur nach Ländereinführungsgesetz wurde nur in den wenigsten Fälle Gebrauch gemacht, sodass die Verwaltungseinheiten, die in der DDR geschaffen worden waren, sich schließlich als
dauerhafter erwiesen als jene, auf deren Tradition man im Jahre 1990 verbal Bezug
nahm.
Sachsens alte und neue Grenzen
Die Grenzen des Freistaates Sachsen von 1990 unterscheiden sich signifikant von
denen all seiner Vorgänger. Zwar gehören ihm bis auf wenige Gemeinden an der
Schwarzen Elster all jene Gebiete an, die von 1815 bis 1918 dem Königreich Sachsen und anschließend dem mit ihm territorial identischen Freistaat Sachsen angehörten, im Übrigen aber gehören ihm jetzt Regionen an, die lange Zeit nicht zum
obersächsischen Staat gehörten. Auch das Land Sachsen von 1946 bis 1952 umfasste weitgehend das Gebiet des Königreichs Sachsen, ausgenommen den durch
das Potsdamer Abkommen abgetrennten östlichen Teil des einstigen Landkreises
Zittau um die Stadt Reichenau (Bogatynia), der jetzt zu Polen gehört. Dem Land
Z BoÏej pomocu 213
66 BERND KUNZMANN, in: Harald Baumann-Hasske/Bernd Kunzmann, Die Verfassung
des Freistaates Sachsen, Kommentar, Berlin 32011, Art. 1 Rn. 3.
Sachsen wurden jedoch von der sowjetischen Besatzungsmacht 1946 auch die
linksneißischen Gebiete der preußischen Provinz Niederschlesien zugeschlagen,
die in der Sowjetischen Besatzungszone lagen. Von diesem Gebiet sind die Kreise
Hoyerswerda und Weißwasser auch jetzt wieder Teil Sachsens, wenn auch mit veränderten Kreisgrenzen und somit veränderter Zugehörigkeit der umliegenden Gemeinden. Der südliche Teil des Kreises Senftenberg, der 1946 ebenfalls Sachsen zugeschlagen wurde, gehört aber jetzt zum Land Brandenburg.67 Im Norden sind
Gebiete der DDR-Kreise Torgau, Delitzsch und Eilenburg hinzugekommen, die
1946 dem Land Sachsen-Anhalt und davor der preußischen Provinz Sachsen angehört hatten. Gewisse Veränderungen der Gemeindezugehörigkeit hat es auch im
Raum Altenburg gegeben. Generell sind mit Ausnahme weniger Gemeinden als
Grenzen des Freistaates Sachsen von 1990 die Grenzen der DDR-Kreise bestimmend, nicht die Grenzen der früheren sächsischen Staaten. Der Hauptgrund dafür
ist die Länderbildung durch die Volkskammer 1990. Der Freistaat Sachsen ist
ebenso wenig eine Schöpfung des in ihm lebenden Volkes wie die anderen vier
neuen Länder. Sie sind vielmehr nach der politischen Einschätzung der letzten
DDR-Regierung das in kurzer Zeit, d. h. innerhalb weniger Wochen, politisch
Machbare gewesen. Der konkrete Mehrheitswille der unmittelbar im Grenzbereich lebenden Bevölkerung spielte bei den Entscheidungen keine ausschlaggebende Rolle.68
Die „Allianz für Sachsen“
In den südlichen Kreisen des DDR-Bezirkes Cottbus war im Sommer 1990 die
künftige Landeszugehörigkeit ein wichtiges, kontrovers diskutiertes Thema.69
Während sich in den Kreisen Weißwasser und Hoyerswerda die Abstimmungsergebnisse bei Bürgerbefragungen und diejenigen des Kreistages deckten, entschieden sich die Kreistage der Kreise Senftenberg und Bad Liebenwerda entgegen
den Ergebnissen der Bürgerbefragungen für eine Zugehörigkeit zum Land Brandenburg. Das löste dort heftige Diskussionen aus und führte zum Versuch einzelner Gemeinden vor allem südlich der Schwarzen Elster, beispielsweise von Ortrand, sich dennoch Sachsen anzuschließen. Die Gemeinden schlossen sich in einer
„Allianz für Sachsen“ zusammen und protestierten mit öffentlichkeitswirksamen
Aktionen bis hin zu Autobahnblockaden gegen die Entscheidungen ihrer Kreistage. Letztendlich wurden aber doch die gesamten Kreise Senftenberg und Bad
Liebenwerda dem Land Brandenburg zugeschlagen. Der Provinz bzw. dem Land
Brandenburg hatte der Kreis Bad Liebenwerda nie angehört, sondern gehörte vielmehr zum Kurkreis Sachsen-Wittenberg und fiel 1815 der preußischen Provinz
Sachsen zu. Trotzdem endete die Auseinandersetzung im Kreis im Jahr 1990
214 Bernd Kunzmann
67 Vgl. RICHTER, Die Bildung des Freistaates Sachsen (wie Anm. 4), S. 434-453.
68 Ebd., S. 397-401.
69 Ebd., S. 403-425.
schließlich mit einer Zugehörigkeit zum Land Brandenburg. Die Strukturen der
DDR hatten über historische Gegebenheiten obsiegt.
3. Die Landessymbole
Der neu gegründete Freistaat Sachsen benötigte staatliche Symbole. Waren die
sächsischen Landesfarben Weiß und Grün noch relativ unumstritten, so stellte die
Festlegung auf das Landenswappen bereits ein Problem dar, das anschaulich die
Geburtswehen des Freistaates Sachsen von 1990 wiederspiegelt. Eine seltsame
Diskussion gab es schließich um regionale Farben und Wappen.
Das kleine und das „große“ Wappen des Freistaates Sachsen
Der Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtages hat 1991 eine
Änderung an dem von der Staatsregierung vorgeschlagenen Wappengesetz vorgenommen, durch die neben dem traditionellen Landeswappen (dem schrägrechten
grünen Rautenkranz im neunmal von Schwarz und Gold geteilten Feld, wie er
auch in Art. 2 Abs. 3 der Sächsischen Verfassung beschrieben wird) zusätzlich ein
„großes Wappen des Freistaates Sachsen“ definiert werden sollte. Der von der
CDU-Mehrheit im Jahre 1991 eingefügte § 1 Abs. 2 des Entwurfs zum Sächsischen Wappengesetz bestimmte:70 „Das große Wappen des Freistaates Sachsen
besteht aus einem gevierten Schild mit einem Herzschild. Der Herzschild trägt das
kleine Wappen. Der gevierte Schild zeigt die historischen Wappen der Mark Meißen, des Vogtlandes, der Oberlausitz und Niederschlesiens. Der Schild wird von
zwei widerstehenden goldenen Löwen mit roter Zunge gehalten. Auf dem Schild
ruht eine goldene Volkskrone.“ Woher kommt diese Inspiration? Eine Assoziation mag aufkeimen, wenn man die Beschreibung des bayerischen Wappens liest:71
„Das große Staatswappen des Freistaates Bayern zeigt im Mittelschild das seit
Jahrhunderten gebräuchliche Wappen Bayerns in Silber-Blau (zu 21 Plätzen
schräg gerautet), links oben den goldenen pfälzischen Löwen auf schwarzem
Grund, rechts oben den fränkischen Rechen auf rotem Grund, links unten den
niederbayerischen blauen Panther auf weißem Grund und rechts unten die drei
schwäbischen schwarzen Leoparden auf goldenem Grund; den oberen Rand ziert
eine Volkskrone; rechts und links halten rot bewehrte goldene Löwen das
Wappen.“
Was hat das bayerische Wappen mit dem sächsischen zu tun? Historisch
gesehen gar nichts. In der von den Fachleuten erarbeiteten Vorlage der Staatsregierung hatte es noch geheißen: „Die Vorlage hat sich dagegen entschieden, ein großes
und ein kleines Wappen für den Freistaat Sachsen vorzusehen; sie geht von einem
einheitlichen Wappen des Freistaates aus. In Baden-Württemberg und in Bayern
Z BoÏej pomocu 215
70 Sächsischer Landtag, Drucksache 1/805 vom 10. September 1991.
71 RUDOLF SCHUSTER, Die Verfassungen aller deutschen Länder, München 1994, S. 59.
gibt es sogenannte große Wappen, in welche die Wappen einzelner Regionen dieser Bundesländer einbezogen sind. Dabei wird in Baden-Württemberg und in
Bayern auf historische Bezüge, nicht auf aktuelle Verwaltungsgliederungen
zurückgegriffen. Von einem Rückgriff auf historische Bezüge in Form von ‚Unterwappen‘ einzelner Regionen sollte im Freistaat Sachsen abgesehen werden. Er
würde die Integration der einzelnen Regionen des Freistaates nicht fördern,
sondern eher hemmen. Auch wäre eine gleichrangige Berücksichtigung der einzelnen Landesteile nicht möglich, weil nicht für alle Landesteile gleichermaßen
berücksichtigungsfähige ‚Unterwappen‘ zur Verfügung stünden.“72
Zunächst fällt auf, dass auch die Staatsregierung unbedingt einen Vergleich mit
Baden-Württemberg und Bayern ziehen zu müssen meinte. Andere Wappen (die
sächsischen eingeschlossen!) kommen als Vergleich wohl von vornherein nicht in
Frage. Deutlich wird jedoch der entscheidende Unterschied zu Baden-Württemberg und Bayern herausgestellt: Letztere sind Länder in historischen Grenzen,
Sachsen ist es nicht. Sachsen besteht aus Regionen, die erst „integriert“ werden
müssen! Dem wäre die bayerische Blaupause nicht förderlich. In der Tat: Warum
kommen nur die Mark Meißen, das Vogtland, die Oberlausitz und Niederschlesien zum Zug? Was ist mit dem Osterland und dem Pleißenland? Was ist mit der
Burggrafschaft Dohna? Was ist mit den einstigen Bistümern Meißen, Merseburg
und Naumburg? Was ist mit den Schönburgischen Landen? Warum kommt die
bayerische Blaupause aber überhaupt ins Gespräch, ja beinahe sogar als geltendes
Recht ins Sächsische Gesetz- und Verordnungsblatt?73 Auch dieser Vorgang belegt, dass bei den politischen Entscheidungen in den Jahren nach 1990 der Blick
eher in die Ferne, vorwiegend nach Süddeutschland, denn auf die sächsische
Tradition und Geschichte gerichtet war.
Regionale Farben und Wappen
Artikel 2 Absatz 4 der Sächsischen Verfassung ist ein Kuriosum. Er widmet sich
der Frage, ob es neben den Landesfarben und dem Landeswappen in Sachsen
weitere, regional in Gebrauch befindliche Farben und Wappen geben soll. In den
216 Bernd Kunzmann
72 Sächsischer Landtag, Drucksache 1/277, S. 3 f.
73 Umstritten war der Vorschlag der Staatsregierung bereits bei der ersten Lesung (Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 1/17, S. 946-949). Bei der zweiten Lesung wurde kurz vor
der Schlussabstimmung im Plenum das Wappengesetz auf Antrag der SPD-Fraktion in den
Verfassungs- und Rechtsausschuss zurückverwiesen (ebd. 1/27, S. 1703-1710), wo bei einer
erneuten Behandlung des Gesetzes eine Anhörung zum Thema vereinbart und das „große
Staatswappen“ schließlich mit einer Kann-Bestimmung im Wappengesetz abgespeist wurde
– die sächsische Form der Beerdigung erster Klasse – vgl. Richterwahlausschüsse in Art. 79
Abs. 3 Sächsische Verfassung. Das große Staatswappen wie die Richterwahlausschüsse
führen noch immer als Kann-Bestimmungen ein folgenloses Scheinleben im Sächsischen
Gesetz- und Verordnungsblatt.
ersten Entwürfen der Landesverfassung findet man dazu noch kein Wort.74 Art. 2
Abs. 4 wirft die Frage nach den konstitutiven Regionen Sachsens auf. Der Absatz
der Verfassung geht davon aus, dass zumindest zwei besondere Regionen Sachsens
bestehen sollen: das Siedlungsgebiet der Sorben und ein „schlesischer Teil“ des
Landes.
Das sorbische Siedlungsgebiet erstreckt sich zwischen Pulsnitz und Lausitzer
Neiße zu beiden Seiten der Spree von der Linie Bischofswerda-Löbau-Niesky im
Süden bis zur Linie Lübben-Guben im Norden. Es umfasst damit die mittlere und
nördliche Oberlausitz in Sachsen (vgl. auch § 3 und Anlage Sächsisches Sorbengesetz) und die Niederlausitz im Land Brandenburg. Der „schlesische Teil des
Landes“ meint das Gebiet des Freistaates Sachsen, das von 1815 bis 1934 nicht zu
Sachsen gehörte und durch den Befehl Nr. 5 der SMAD vom 9. Juli 1945 als linksneißischer Teil der ehemaligen preußischen Provinz Niederschlesien dem Land
Sachsen angegliedert wurde.
Hinter der Entstehung von Art. 2 Abs. 4 steckt offenbar wenig historischer
Sachverstand. Die Farben der Sorben sind Blau-Rot-Weiß, aber ein Wappen der
Sorben existiert nicht. Ob das Emblem der Domowina, das einen dreiblättrigen
Baum mit drei Wurzeln zeigt, als Wappen im Sinne von Abs. 4 gelten kann, ist
mehr als zweifelhaft. Die Domowina kann auch als nationale Organisation der
Sorben nicht ohne Weiteres für das Volk der Sorben stehen. Gegen die Existenz
eines Wappens der Sorben spricht aber grundsätzlich, dass ein Wappen zwar Herrschaften, Städte und Personen besaßen, nicht aber Völker. Insofern ist die Formulierung des Absatzes 4 bezüglich des Wappens der Sorben unglücklich und muss
ins Leere laufen. Die Farben Niederschlesiens sind Weiß und Gelb. Das Wappen
Niederschlesiens ist im goldenen Schild ein schwarzer, goldbewehrter, rotbezungter, mit Herzogskrone gekrönter Adler, auf seiner Brust ein silberner Halbmond
und ein silbernes Kreuz (der schlesische Adler).
Die beiden besonderen Regionen Sachsens in Art. 2 Abs. 4 überzeugen nicht.
Im Grunde geht es bei beiden um die Oberlausitz. Dass ein Teil von ihr „schlesisch“ sein soll, perpetuiert ein historisches Ereignis in die Gegenwart und verschafft ihm ein Gewicht, das ihm in seiner wirklichen geschichtlichen Bedeutung
gar nicht zukommt: die Landesteilung der wettinischen Länder auf dem Wiener
Kongress 1815 und die Angliederung des nördlichen und nordöstlichen Teiles an
Preußen. Preußen war Siegermacht, das Königreich Sachsen stand als Verbündeter
Napoleons auf der Verliererseite. Eigentlich sollte nach dem Willen Preußens ganz
Sachsen von der politischen Landkarte verschwinden, wie Jahre zuvor schon
Polen, das mehr als 60 Jahre lang Könige aus dem Hause Wettin gehabt hatte, und
Jahre später deutsche Staaten wie das Königreich Hannover, das Kurfürstentum
Hessen oder das Herzogtum Nassau. Die verwaltungsseitige Neugliederung der
Z BoÏej pomocu 217
74 Im zweiten (im Oktober 1990 überarbeiteten) Gohrischer Entwurf werden erstmals
„die Farben und das Wappen der Sorben“ sowie „die Farben und das Wappen Niederschlesiens“ erwähnt; vgl. KUNZMANN, Die Verfassung des Freistaates Sachsen (wie Anm. 66),
Art. 2 Rn. 4.
einstmals wettinischen Gebiete innerhalb des preußischen Staates, die mit der
Unterscheidung der „sächsischen Oberlausitz“ von der „schlesischen Oberlausitz“ übernommen wird, stellt diese Teilung über den kulturgeschichtlichen Zusammenhang der gesamten Oberlausitz, die mit dem Sechs-Städte-Bund fast 500
Jahre lang ein solides Fundament inneren Zusammenhalts hatte, lange Zeit insgesamt ein Land der böhmischen Krone war und erst 1635 in ihrer Gesamtheit unter
die Herrschaft der Wettiner gekommen war. Mit dem gleichen Recht könnte man
fragen, warum nicht auch beispielsweise das Vogtland, das erst 1569 endgültig an
das albertinische Sachsen gefallen war, die Herrschaft Wildenfels oder mehr noch
die Schönburgischen Herrschaften, deren staatsrechtliche Sonderstellung faktisch
im 19. Jahrhundert und rechtlich definitiv erst mit der Verfassung von 1920 beseitigt wurden,75 in vergleichbarer Weise Berücksichtigung finden. Mit der Auflösung des Landes Preußen 1947 hat die preußische Herrschaft über die „schlesische
Oberlausitz“ jedenfalls ihr definitives Ende gefunden.
Eine überzeugende Rechtfertigung für Art. 4 Abs. 2 ergibt sich auch nicht aus
dem bi-ethnischen Charakter der Oberlausitz. Dass hier im Unterschied zu anderen ursprünglich auch von Sorben besiedelten Regionen Sachsens76 ein sorbischdeutscher Siedlungsraum entstehen konnte, ist ein Ergebnis der besonderen
Geschichte der gesamten Oberlausitz. Dem wäre mit den kulturpolitischen Normen von Art. 5 und 6 der Sächsischen Verfassung bereits hinreichend entsprochen
worden. Besonderer regionaler Symbole bedurfte es dazu nicht, zumal solcher, die
gar nicht existieren. Offenbar ging es bei der Erwähnung der sorbischen Symbole
eher um eine Camouflage der im selben Atemzug mit genannten Symbole Niederschlesiens, die aus den genannten historischen Gründen ebenso deplatziert sind.
4. Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Landesregierung
Nicht nur hinsichtlich der Bezeichnungen der Landesorgane und der Landeszugehörigkeit bestand bei der Wiedergründung des Freistaates Sachsen 1990 nicht die
Absicht, an die Vorgängerstaaten anzuknüpfen. Auch die Stellung des Landtages
im Hinblick auf seine Kontrollbefugnisse und Kontrollinstrumente gegenüber der
Landesregierung unterscheidet sich signifikant von seinen Vorgängern.77 Waren
die Mitglieder der Landesregierung im Freistaat Sachsen bis 1933 dem Landtag
sowohl kollektiv wie individuell verantwortlich, obliegt seit 1990 die Bildung der
Landesregierung allein dem Ministerpräsidenten. Er kann die Minister auch ohne
Zutun, gar ohne Zustimmung des Landtages ernennen und entlassen. Ein Äquivalent zu Art. 27 der Sächsischen Verfassung von 1920 kennt die Verfassung von
218 Bernd Kunzmann
75 Vgl. Art. 51 der Verfassung des Freistaates Sachsen vom 1. November 1920.
76 Dazu KARLHEINZ BLASCHKE, Geschichte Sachsens im Mittelalter, Berlin 1990.
77 Vgl. dazu ERICH REICHELT, Das Staatsleben unter der sächsischen Verfassung vom
1. November 1920 (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, H. 32), S. 101-106, Leipzig
1928.
1992 nicht.78 Die erste Fassung des Gohrischer Entwurfs der Sächsischen Verfassung sah noch eine kollektive und individuelle parlamentarische Verantwortung
vor.79 Nach der letztlich beschlossenen Verfassung kann der Landtag eine Regierung nur dadurch ablösen, dass er einen neuen Ministerpräsidenten wählt (konstruktives Misstrauensvotum). Das einfache Aussprechen des Misstrauens gegenüber einem Minister, gegenüber dem Ministerpräsidenten oder gar gegenüber der
gesamten Landesregierung ist nach der jetzigen Verfassung rechtlich ohne Folgen.
Wirkung kann ein Misstrauensvotum jetzt bestenfalls durch öffentlichen politischen Druck entfalten. Auch ein Mitspracherecht bei Zahl und Bezeichnung der
Ministerien – wie in der Sächsischen Verfassung von 1920 vorgesehen – kennt die
jetzige Verfassung nicht.80 Auch kennt sie im Unterschied zu 1920 keine Norm,
die die Regierung an Beschlüsse des Landtages binden würde.81 Insgesamt kann
also die sächsische Regierung nun viel mehr vom Landtag losgelöst operieren, als
dies im Freistaat Sachsen von 1920 bis 1933 möglich war. Insbesondere ist die
Stellung des Ministerpräsidenten jetzt unvergleichlich stärker als 1920.
5. Die Gemeindeordnung
Die Sächsische Gemeindeordnung von 1993 hat nichts mehr mit der Gemeindeordnung des Freistaates Sachsen von 1923 zu tun. Es herrscht nunmehr eine völlig
andere Gemeindeverfassung. Die sächsische Gemeindeordnung von 1923 war eine
Kombination aus unechter Bürgermeisterverfassung, bei der ein Bürgermeister an
der Spitze der Verwaltung stand, nicht aber als Regelfall der Gemeindevertretung
vorstand,82 und in größeren Gemeinden einer Magistratsverfassung.83 Letztere
war typisch für Mittel- und Ostdeutschland (z. B. Preußen).84 Auch die frühere
Revidierte Städteordnung im Königreich Sachsen von 187385 war als Magistratsverfassung angelegt. Die unechte Bürgermeisterverfassung wurde 1990 von der
Z BoÏej pomocu 219
78 Vgl. Art. 27 Abs. 1 und 2 Sächsische Verfassung von 1920: (1) Die Mitglieder des
Gesamtministeriums bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Landtags. (2) Jeder
Minister muß zurücktreten, wenn der Landtag durch ausdrücklichen Beschluß, den die
Mehrheit der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten faßt, ihm das Vertrauen entzieht oder
seinen Rücktritt fordert. Hierauf gerichtete Anträge sind auf die Tagesordnung der nächsten
Sitzung zu setzen. 79 Vgl. Art. 56 Abs. 4 und Art. 69 Gohrischer Entwurf.
80 Vgl. Art. 29 Abs. 2 Sächsische Verfassung von 1920: (2) Zahl und Namen der Ministerien werden durch das Haushaltsgesetz bestimmt. 81 Vgl. Art. 32 Abs. 1 Sächsische Verfassung von 1920: (1) Die zuständigen Ministerien
führen die Gesetze, die Reichsverordnungen und die Beschlüsse des Landtags aus. 82 JÜRGEN HARTMANN (Hg.), Handbuch der deutschen Bundesländer, Bonn 21994,
S. 621.
83 Vgl. CURT OETTICH, Die Rechtsstellung des Bürgermeisters im sächsischen Gemeinderecht (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, H. 58), Leipzig 1930, insbesondere
§ 10 (S. 82-85).
84 OTTO MODEL/CARL CREIFELDS/GUSTAV LICHTENBERGER, Staatsbürger-Taschenbuch, München 271994, § 120.
85 Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1873, S. 295-321.
Volkskammer der DDR wieder als Grundtyp der Gemeindeverfassung für die
fünf neuen Länder eingeführt. Ebenso wie 1923 in Sachsen hatte die Volkskammer
zumindest für die größeren Städte als Option einen Magistrat vorgesehen, während in kleineren Gemeinden die unechte Bürgermeisterverfassung galt.86 Im Mai
1993 hat hingegen der Sächsische Landtag erstmals in der Geschichte Sachsens die
süddeutsche Ratsverfassung implementiert. Eine Alternative zu dieser von den
Ministerialbeamten aus Baden-Württemberg und Bayern konzipierten Kommunalverfassung ist im Landtag nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden.87 Den
Übergang zur süddeutschen Ratsverfassung hatte freilich bereits die Arbeitsgruppe Kommunale Selbstverwaltung der Gemischten Kommission Sachsen/
Baden-Württemberg ins Auge gefasst. Dabei war die Volkswahl des Bürgermeisters als bedeutsames Element unmittelbarer Demokratie ein ausschlaggebender
Gesichtspunkt.88 Auch hier zeigte sich, dass der Freistaat Sachsen von 1990 eine
Neuschöpfung war. Sächsische Tradition hat in ihm keine wirkliche Rolle gespielt.
Selbst terminologisch wurde, etwa im Unterschied zu Thüringen,89 keine Rücksicht auf die in Sachsen früher üblichen Bezeichnungen genommen. Wie in BadenWürttemberg heißt die Volksvertretung nunmehr „Gemeinderat“, während dieser
Begriff in Sachsen von 1923 bis 1935 das Kollegialorgan an der Spitze der Gemeindeverwaltung bezeichnete. Die Volksvertreter hießen stattdessen vor 1935
„Gemeindeverordnete“ bzw. in den Städten „Stadtverordnete“,90 als die sie nach
dem Zweiten Weltkrieg auch in den sächsischen Gemeinden wieder durchgängig –
bis 1993 – bezeichnet wurden.
6. Die Staatskirchenverträge
Der Freistaat Sachsen hat zwischen 1920 und 1933 keine Kirchenverträge abgeschlossen. Zwar gab es Verhandlungen, sie führten aber nicht zu einer Übereinkunft.91 Ganz anders der Freistaat Sachsen nach 1990. Er hat 1994 nicht nur den
ersten Kirchenvertrag der neuen Länder mit den evangelischen Kirchen auf seinem
Territorium abgeschlossen (Evangelischer Kirchenvertrag). Einen Vertrag mit der
Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens abzuschließen, sozusagen mit
220 Bernd Kunzmann
86 Kommunale Schriften für Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Bd. 1, Köln 1990.
87 Die SPD-Fraktion hatte mit einem eigenen Entwurf an die Gemeindeordnung von
1923 anknüpfen wollen (vgl. Sächsischer Landtag, Drucksache 1/1640), fand jedoch bei der
CDU-Mehrheit im Landtag kein Gehör (Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 1/64,
S. 4495-4528).
88 Arbeitsgruppe Kommunale Selbstverwaltung der Gemischten Kommission Sachsen/
Baden-Württemberg, Kommunalgesetze für Sachsen (Entwürfe), Sächsisches Staatsministerium des Innern, Kommunal-Abteilung, Referat Verfassung, Verwaltungsrecht und
Wahlen, Dresden 1990, S. 6.
89 HARTMANN, Handbuch der deutschen Bundesländer (wie Anm. 82), S. 621.
90 Sächsisches Gesetzblatt 1925, Nr. 17, S. 136-169.
91 Vgl. KUNZMANN, Die Verfassung des Freistaates Sachsen (wie Anm. 66), Art. 112
Rn. 6.
seiner Stammkirche, ist für das Kernland der Reformation noch gut zu verstehen.
Vielleicht auch noch, dass dieser Vertrag ebenso die übrigen evangelischen Kirchen
einschließt, die aufgrund seiner Gebietserweiterungen über das Territorium des
Königreiches Sachsen hinaus im Freistaat Sachsen ansässig sind, insbesondere
auch deswegen, weil der Freistaat Preußen einen Kirchenvertrag abgeschlossen
hatte, und einige seiner Gebiete mitsamt den dort tätigen Kirchen nun dem Freistaat Sachsen angehören. Aber der Freistaat Sachsen von 1990 war geradezu
erpicht, auch Vorreiter beim Abschluss weiterer Kirchenverträge zu sein, die dem
Freistaat Sachsen von 1920 nie in den Sinn gekommen wären. Das gilt insbesondere für Verträge mit dem Heiligen Stuhl. Der politische Einfluss, den die
Römisch-Katholische Kirche in der Zeit der Regierungen Biedenkopf von 1990
bis 2002 in Sachsen erlangt hat, geht weit über das Maß hinaus, das sich mit dem
Anteil der Bevölkerung römisch-katholischen Glaubens in Sachsen erklären lässt.
Dieser Anteil liegt bei etwa 4 % der Gesamtbevölkerung.
Dass der heutige Freistaat Sachsen offenbar auch im Staat-Kirche-Verhältnis
nichts mehr mit seinen Vorläufern zu tun haben will, kann man beispielsweise
auch an den von ihm geschaffenen Verhältnissen bei der Auswahl von Lehramtsbewerbern für Theologie und Religionspädagogik sehen. Artikel 111 der
Sächsischen Verfassung sieht zwar vor, dass die Lehrstühle „im Benehmen“ mit
der Kirche besetzt werden, jedoch sollen abweichende Vereinbarungen mit den
Kirchen „unberührt“ bleiben. „Unberührt“ lässt eigentlich eher an bereits bestehende Verträge denken, weniger an solche, die erst nach Inkrafttreten der Verfassung abgeschlossen werden. Während der Vertrag mit den evangelischen Kirchen von 1994 sich im Rahmen des Grundsatzes von Artikel 111 Abs. 1 bewegt,
sind hinsichtlich des Vertrages mit dem Heiligen Stuhl von 1996 (Katholischer
Kirchenvertrag – KKV) wohl doch erhebliche Zweifel daran berechtigt. Der
Katholische Kirchenvertrag weicht in dieser Frage deutlich vom Evangelischen
Kirchenvertrag ab. Dies geht offenbar auf Forderungen der Katholischen Kirche
zurück, die durch kritische Äußerungen von Vertretern theologischer Fakultäten
gegenüber dem Vatikan und dem Papst motiviert waren.92 Die letztlich getroffene
Regelung kommt im Gewand einer Verfahrensregel daher, hinter der sich aber
möglicherweise doch ein Aufgeben des Benehmens-Grundsatzes und ein Akzeptieren eines Einvernehmens-Grundsatzes verbirgt. Der Wortlaut von Art. 5 Abs.
2 KKV besagt zwar nicht explizit, dass der Staat im Falle von Bedenken des Diözesanbischofs in jedem Fall von einer Berufung absieht, sondern nur, dass er mit
seiner Entscheidung auf die Antwort wartet, d. h. die Antwort ist nur scheinbar
eine temporale Voraussetzung, keine konditionale.93 Jedoch war man sich staatZ BoÏej pomocu 221
92 Vgl. ROLF BAUM, Die Verhandlungen zu den Staatskirchenverträgen aus der Sicht des
Freistaates Sachsen, in: Reiner Tillmanns (Hg.), Staatskirchenverträge im Freistaat Sachsen
(Leipziger Juristische Studien, Bd. 8), Leipzig 2001, S. 45-128, hier S. 112.
93 So jedenfalls nach dem Wortlaut der deutschen Fassung; die italienische Formulierung „soltanto se“ – vgl. Gesetz- und Verordnungsblatt vom 12. Februar 1997 – ist nicht
ganz so eindeutig und kann unter Umständen auch anders interpretiert werden.
licherseits wohl darüber im Klaren, dass nach der „hierarchiebetonteren katholischen Vorstellung auch für Forschung und Lehre die Pflicht zur Befolgung der
amtskirchlichen Lehrmeinungen“ besteht, sodass „Lehrpersonen nicht eingestellt
werden dürfen, wenn der Diözesanbischof Bedenken erhebt“ hinsichtlich Lehrmeinung und Lebenswandel.94 Mit anderen Worten: Der Lehramtsbewerber soll
mit Leib (Lebenswandel) wie mit Seele (Lehrmeinung) dem Bischof untertan sein.
Eine für Sachsen, dem Kernland der Reformation, bemerkenswerte Vereinbarung!
Martin Luther schrieb in seiner Streitschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ über die Seele: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding
und niemand untertan“.95 Der auf die Grundrechte Glaubens-, Gewissen- und
Bekenntnisfreiheit (Art. 19) und Freiheit der Kunst und Wissenschaft (Art. 21)
verpflichtete Freistaat Sachsen von 1996 aber gibt mit Art. 5 Abs. 2 Satz 1 KKV
freiwilig und ohne Not in einem Vertrag Positionen den Vorrang, die einer theokratischen Kirchenverfassung entspringen, welche im Gegensatz zum evangelischen Kirchenverständnis, das den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates
durchaus vergleichbar ist, nicht mit den Verfassungsprinzipien des Art. 1 der
Sächsischen Verfassung konform gehen. Dass hier von sächsischer Tradition keine
Rede sein kann, sieht man, wenn man sich vor Augen führt, dass der Vertrag mit
dem Heiligen Stuhl Zustände herbeiführt, die im Grundsatz hinter die durch Kurfürst Johann den Beständigen 1526 für die ernestinischen und Herzog Heinrich
1539 für die albertinischen Länder geschaffenen Verhältnisse zurückgehen, denn
seit dieser Zeit hat in Sachsen kein römisch-katholischer Bischof mehr das letzte
Wort bei Lehrstuhlbesetzungen an sächsischen Hochschulen zuerkannt bekommen.96 Die Begründungspflicht für Ablehnungen von Lehramtsbewerbern in Art.
5 Abs. 2 Satz 2 KKV wirft die Frage auf, für wen sie eigentlich gedacht ist – für den
Lehramtsbewerber, dem ohnehin der Rechtsweg offenstehen sollte, was eine
Begründungspflicht voraussetzt, oder für den Staat. Sie ist vielleicht so zu verstehen, dass der Staat die Regelung in Art. 5 Abs. 2 Satz 1 KKV doch mit einem gewissen Misstrauen sieht, was zumindest auf ein schlechtes Gewissen bei Vertragsabschluss rückschließen lässt. Der Vertrag hat nachträglich gezeigt, wie berechtigt
die oben erwähnte Intervention des Landesbischofs der Evangelisch-Lutherischen
Landeskirche bei Ministerpräsident Biedenkopf im Oktober 1990 wegen der
konfessionellen Zusammensetzung von dessen Regierung war.
222 Bernd Kunzmann
94 BAUM, Verhandlungen (wie Anm. 92), S. 117.
95 Hutten/Müntzer/Luther. Werke in zwei Bänden (Bibliothek deutscher Klassiker),
Weimar 1970, Bd. 2, S. 113.
96 KUNZMANN, Die Verfassung des Freistaates Sachsen (wie Anm. 66), Art. 111 Rn. 8.
IV. Wohin entwickelt sich der Freistaat Sachsen?
Der Freistaat Sachsen der Gegenwart nimmt geografisch den Raum ein, den mehr
oder weniger seine historischen Vorgänger kulturell vorgeprägt haben: das Land
Sachsen von 1946 bis 1952, der Freistaat Sachsen von 1919 bis 1933, das Königreich Sachsen von 1806 bis 1918, das Kurfürsten- bzw. Herzogtum Sachsen von
1423 bis 1806, die Mark Meißen von 929 bis 1423. Seine traditionellen Bindungen
hingegen sind gelöst. Den historischen Raum hat 1990 ein am Reißtisch entworfener neuer sächsischer Staat eingenommen.
Es gibt in der Gegenwart eigentlich wenig Anzeichen dafür, dass Sachsen sich
seinen historischen Vorgängern wieder annähern will. Alle sind sie in der Gegenwart irgendwie nicht gut angesehen. Das Land Sachsen von 1946 bis 1952 gilt
geradezu als suspekt. Sowjetische Besatzungsmacht und zunehmende kommunistische Diktatur haben seinen Alltag geprägt. Aber auch der Freistaat Sachsen von
1919 ist nicht mehr gewollt. Ein Kind der Räterepublik soll nicht die Gegenwart
beeinflussen. Die Novemberrevolution 1918 ist schließlich die Wasserscheide, an
der alle Suche nach verwertbaren Anregungen enden muss. Nicht nur wegen Artikel 28 des Grundgesetzes. Die wettinischen Jahrhunderte in Sachsens Geschichte
sind abgeschlossen.
Von allem Geschichtlichen ist es letztlich doch vor allem das, was in den Jahren
1952 bis 1989 im sächsischen Raum geschah, was den Status quo im Freistaat Sachsen von 2011 prägt. Auch hier ist der Amtsantritt der Regierung Tillich in gewisser
Weise symptomatisch. All die Auseinandersetzungen um die Runden Tische, den
Koordinierungsausschuss und das Kuratorium für das Land Sachsen, die letztlich
in die politische Dominanz von Politikern aus den alten Bundesländern mündeten,
haben damit ihren Abschluss gefunden. Die Regierungspartei CDU hat ihren
Frieden mit ihrem Ost-Kern aus DDR-Zeiten geschlossen,97 insbesondere seit die
letzten Mitglieder des Koordinierungsausschusses Arnold Vaatz und Steffen Heitmann aus der zweiten und dritten Regierung Biedenkopf ausgeschieden sind. Der
Westeinfluss in der Regierung Sachsens ist erst mit dem Ende der Ära BiedenkopfMilbradt auf ein erträgliches Maß zurückgefahren worden.
Wenn mit der ersten Regierung Tillich 2008 auch eine gewisse Normalisierung
der Beziehungen des Freistaates Sachsen zu seiner Geschichte eintrat, so wirkt das
Erbe der Jahre 1990 bis 2008 dennoch fort. Nichts von den Ergebnissen der oben
beschriebenen Traditionsbrüche ist zurückgenommen. Erst allmählich werden die
Ergebnisse der historischen und kulturgeschichtlichen Forschungen jener Jahre
publizistisch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Ihr wirkliches Rezipieren
wird dauern. Für das Verständnis der Gegenwart ist dieses Rezipieren umso wichtiger.
Gleichzeitig stellt sich die Frage, was der Blick nach vorn offenlegt. Vielleicht
hilft orientierend ein historischer Blick in die Nachbarländer. Das westliche und
Z BoÏej pomocu 223
97 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung RICHTER, Die Bildung des Freistaates Sachsen
(wie Anm. 4), S. 612-656.
das nordwestliche Nachbarland Sachsens haben fast die gleiche Geschichte. Auch
ihre Historie ist sehr wettinisch und sehr sächsisch. Sachsen-Anhalt im Nordwesten führt seine sächsische Tradition unübersehbar sogar im Namen und im Wappen. Und all die Mini-Sachsens, die 1920, nachdem sich Sachsen-Coburg Bayern
angeschlossen hatte, im westwärts gelegenen Land Thüringen aufgingen, SachsenWeimar-Eisenach, Sachsen-Gotha, Sachsen-Meiningen und Sachsen-Altenburg,
haben die schwarzburgischen und reußischen Teile in ihrer Nachbarschaft mindestens so beeinflusst wie der Kurkreis Sachsen-Wittenberg das Herzogtum
Anhalt. Gleiches darf man wohl behaupten auch hinsichtlich der ursprünglich
geistlichen, später unter preußische Herrschaft geratenen Teile in ihrer Nachbarschaft, etwa Erfurt oder Magdeburg.
Ein Wunder wäre es vielleicht, wenn in den einstmals wettinischen und
wettinisch beeinflussten Ländern so viele sächsische Kerne überlebt hätten, dass es
eines Tages zu einer Wiedervereinigung der drei obersächsischen Länder käme.
Eine kulturelle Klammer haben sie mit dem Staatsvertrag über den Mitteldeutschen Rundfunk geschlossen. Ihre Vereinigung wäre sozusagen im Sendegebiet
des Mitteldeutschen Rundfunks eine Ausdehnung seines Staatsvertragsgedankens
auf alle Politikfelder.
Dass es einen Bedarf nach leistungsfähigeren Ländern in Deutschland gibt, ist
unübersehbar und auch nahezu unbestritten. Dynastische Teilungen, die in der
sächsischen Geschichte zu den wettinischen Fragmenten führten, aus denen die
heutigen Länder gebildet wurden, müssen in der republikanischen Gegenwart
nicht notwenig auf alle Zeit getrennte Wege weisen. Was steht einer Vereinigung
also im Wege? Der Selbstbehauptungswille der bestehenden Landesorgane? Der
Status dreier Hauptstädte? Das Identitätsgefühl dreier Bevölkerungen?
Das Identitätsgefühl ist erst noch im Werden. Es ist mit dem Untergang der
Weimarer Republik abgerissen, in der DDR lange ausgesetzt gewesen und dann
1990 sehr schnell wieder konstituiert worden. Es ist unfertig. Der Status von
Hauptstädten kann sich ändern. Etwas Neues braucht auch neue Verankerungen.
Die Höfe von Dresden, Weimar und Wittenberg sind Geschichte, keine Konstanten der Ewigkeit. Der Selbstbehauptungswille von Landesorganen ist fraglos ein
gewichtiger Faktor in der Politik. Aber wichtiger als die Zukunft ihrer Organe ist
die Zukunft der Länder selbst.
Woher soll die Kraft zu einem gemeinsamen Neuanfang kommen? Sie wäre
ohne Zweifel ein Wunder. Aber gibt es keine Wunder? Im Kloster Marienstern in
der Oberlausitz glaubte und glaubt man an Wunder: „Z BoÏej pomocu!“ Eigentlich sollte es im 21. Jahrhundert zweit- und drittrangig sein, welcher Bog, welcher
Gott jeweils gemeint ist: der Martin Luthers oder der Georg Agricolas, der Paul
Gerhardts oder der Johann Sebastian Bachs, der Ottos des Großen oder der Friedrichs des Weisen, der Philipp Melanchthons oder der der Zisterzienserinnen des
Klosters Marienstern. Wenn sie alle an dem einen Strang zögen, aus dem sie kommen – wer weiß, was möglich ist: Sachsen-Thüringen-Anhalt? Z BoÏej pomocu!
224 Bernd Kunzmann
--Methodios (Diskussion) 17:57, 26. Jun. 2023 (CEST)
Kosel & Sohn
BearbeitenSieghard Kosel (* 3. Juli 1939 in Bautzen) ist ein deutsch-sorbischer Journalist sowie Politiker (SED, PDS), ehemaliges Mitglied des Sächsischen Landtages und war inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit.
- Leben
Sieghard Kosel besuchte die Grundschule in Guttau und die Sorbische Oberschule in Bautzen. Er studierte zuerst Architektur in Dresden ohne Abschluss, danach bei der w:de:Sektion Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Er schloss 1970 als Diplom-Journalist ab. Außerdem studierte er Politikwissenschaft mit Diplom-Abschluss.
Von 1960 bis 1968 war Kosel Redakteur der Nowa doba. Zwischen 1968 und 1973 war er Mitarbeiter und Abteilungsleiter im Bundesvorstand der w:de:Domowina. Von 1968 bis 1970 war Kosel Sekretär des Arbeitskreises sorbischer Schriftsteller im Deutschen Schriftstellerverband.
Von 1973 bis Dezember 1990 war er Chefredakteur der Nowa doba. Kosel war von 1973 bis 1989 Mitglied im Sekretariat des Bundesvorstandes der Domowina. Zwischen 1970 und 1990 war er Mitglied im Zentralvorstand des Verbandes der Journalisten und im Jahr 1990 dessen stellvertretender Vorsitzender. Außerdem war er Geschäftsführer des Verlages w:de:Serbske Nowiny, Vorsitzender der Bildungsgemeinschaft der Journalisten e. V. und Mitglied der Beschwerdekommission des Sächsischen Zeitungsverlegerverbandes.
Kosel ist konfessionslos, verheiratet und hat zwei Kinder. Der sorbische Landtagsabgeordnete w:de:Heiko Kosel ist sein Sohn.
- Politik
Sieghard Kosel war zwischen 1963 und 1989 Mitglied der SED bzw. seit 1990 der PDS. Er stand aber in dem (heute beeinträchtigten) Ruf, die Interessen der Sorben über die Parteiräson zu stellen.[1] Von 1990 bis 1994 war er Kreisvorsitzender der PDS Bautzen, ab 1993 Mitglied des Landesvorstandes der PDS und ab 1994 Mitglied des Kreistages Bautzen. Im Oktober 1990 wurde Kosel über die Landesliste in den Sächsischen Landtag gewählt, dem er für zwei Wahlperioden angehörte. In der 1. Wahlperiode war er dort im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten und in der 2. Wahlperiode im Ausschuss für Wissenschaft und Hochschule, Kultur und Medien.
- Stasi-Mitarbeit
Sieghard Kosel war 18 Jahre lang w:de:Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Während das MfS in seinen Akten notierte, Sieghard Kosel hätte durch seine Spitzeltätigkeit „bei der Niederhaltung politisch abweichender Strömungen in der Redaktion“ der Nowa doba mitgewirkt, erklärte Kosel, er habe niemandem geschadet.[2] Der Landtag beschloss daher 1998 gemäß Artikel 118 der sächsischen Verfassung ein Mandatsenthebungsverfahren. Der Staatsgerichtshof wies die Klage unter Verweis auf die bevorstehende Landtagswahl ab. Durch die Kürze der restlichen Wahlperiode bestünde kein Rechtsschutzbedürfnis.[3]
- Literatur
- w:de:Klaus-Jürgen Holzapfel (Hrsg.): Sächsischer Landtag: 1. Wahlperiode, 1990–1994; Volkshandbuch. w:de:NDV Neue Darmstädter Verlagsanstalt, Rheinbreitbach 1991, ISBN 3-87576-265-7, S. 41 (Ausschuss: S. 84). (Stand Mai 1991)
- Klaus-Jürgen Holzapfel (Hrsg.): Sächsischer Landtag: 2. Wahlperiode, 1994–1999; Volkshandbuch. w:de:NDV Neue Darmstädter Verlagsanstalt, Rheinbreitbach 1995, ISBN 3-87576-335-1, S. 35 (Ausschuss: S. 68). (Stand Dezember 1994)
SACHSEN
Der Dresdner Landtag will stasibelasteten Abgeordneten das Mandat entziehen - ein in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte einmaliger Vorgang.
15.03.1998, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 12/1998
Die Unterlagen kamen überraschend und waren bei dem Adressaten, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im sächsischen Landtag, hoch willkommen. Das Schreiben, das Karl-Heinz Kunckel Ende Oktober vergangenen Jahres in seiner Post fand, enthielt Belastendes aus Stasi-Akten über einen PDS-Landtagsabgeordneten.
Klaus Bartl, so konnte der SPD-Spitzengenosse dem 30seitigen Schriftstück entnehmen, habe 1988 als Mitglied der SED-Bezirksleitung die Stasi beauftragt, einen Mitarbeiter der Volkssolidarität monatelang zu bespitzeln. Der Mann hatte sich in mehreren Eingaben über die unzureichende Versorgung mit Bananen beschwert.
Das Schreiben dient den Zuständigen im sächsischen Landtag als Argumentationshilfe für einen in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte einmaligen juristischen Vorgang: Die Mandatsenthebung von stasi-belasteten Abgeordneten.
Grundlage des Zwangsakts ist Artikel 118 der sächsischen Verfassung. Danach gilt ein Abgeordneter als »untragbar«, wenn er unter dem dringenden Verdacht steht, für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) gearbeitet oder gegen die »Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit« verstoßen zu haben. Mit Zweidrittelmehrheit kann der Landtag dann gegen Abgeordnete vor dem Leipziger Verfassungsgerichtshof auf Mandatsenthebung klagen.
Anfang März stellte der Geschäftsordnungsausschuß dafür die Weichen im Fall Bartl. Dessen Parteigenossen Jürgen Dürrschmidt und Sieghard Kosel soll Gleiches widerfahren. Alle drei wurden, nach Aktenlage, von der Staatssicherheit als IM geführt. Stimmt das Landtagsplenum in dieser Woche der Klage zu, woran angesichts der Einigkeit von CDU und SPD kaum Zweifel bestehen, wird der Leipziger Verfassungsgerichtshof juristisches Neuland betreten müssen. Für die Richter ein heikles Unterfangen. Sie werden wohl nicht nur entscheiden müssen, ob die Stasi-Verstrickung tief genug ist, um eine Mandatsenthebung zu rechtfertigen. Die Juristen haben dann auch zu prüfen, ob der Artikel 118 der sächsischen Verfassung mit dem Grundgesetz, vor allem mit dessen Artikel 38 vereinbar ist. Der regelt die Unabhängigkeit der Abgeordneten.
Für die PDS gibt es an der Verfassungswidrigkeit der Landesverfassung keinen Zweifel. Die Genossen erinnern an die Praxis anderer Bundesländer, die wie Brandenburg beispielsweise die Aberkennung des Mandats nur bei schwerwiegenden Verstößen (Bereicherung im Amt) während der Abgeordnetentätigkeit kennen.
Die Mandatsenthebung nach sächsischem Recht, so zürnt PDS-Fraktionsgeschäftsführer André Hahn, sei »ein politisch motiviertes und juristisch haltloses Konstrukt«. Und jenseits des freistaatlichen Rechtsraumes, lästert PDS-Obergenosse Lothar Bisky in Anspielung auf die dicke Stasi-Akte des brandenburgischen Ministerpräsidenten, könnte Manfred Stolpe wohl in Sachsen nicht einmal Landtagsabgeordneter sein.
Solche Belehrungen in Sachen Rechtsstaat durch SED-Erben kontert Landtagspräsident Erich Iltgen (CDU): Es sei »den Opfern des SED-Regimes nicht zuzumuten«, ehemalige Stasi-Mitarbeiter unter ihren Interessenvertretern zu haben.
Daß die drei PDS-Abgeordneten eng mit der Horch- und Guck-Truppe zusammengearbeitet haben, ist offenbar hinreichend belegt. Schon in der vorigen Legislaturperiode waren die Genossen Dürrschmidt, Kosel und Bartl bei der Regelüberprüfung durch die Gauck-Behörde aufgefallen und zum freiwilligen Mandatsverzicht aufgefordert worden.
Dürrschmidt wurde von 1977 bis 1981 als IM geführt - als hauptamtlicher FDJ-Funktionär an der TU-Dresden. »Seine Haltung zum MfS« ist laut IM-Akte »gekennzeichnet durch Aufgeschlossenheit, Ehrlichkeit, Verschwiegenheit und Zuverlässigkeit«. Der PDS-Abgeordnete räumte die Stasi-Tätigkeit ein, bestreitet aber Personenberichte angefertigt zu haben.
Fraktionskollege Kosel diente dem Mielke-Ministerium 18 Jahre lang. Als Chefredakteur der sorbischsprachigen Zeitung »Nowa doba« (Neue Zeit) half er nach Ausschußerkenntnis dem MfS »bei der Niederhaltung politisch abweichender Strömungen in der Redaktion«. Auch Kosel beteuert, niemandem geschadet zu haben.
Ein besonderer Fall ist Genosse Bartl. Als Jugendlicher, Ende der sechziger Jahre, wurde er als IM verpflichtet. Nach vier Jahren wurde seine Akte geschlossen. Dann machte der Jurist Karriere. In den achtziger Jahren war er in der SED-Bezirksleitung von Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, als Abteilungsleiter Staat und Recht auch zuständig für das »Zurückdrängen von Ausreiseanträgen«. Die SED-Bezirksleitung, so Bartl kaltschnäuzig, sei eben »kein Kirchenchor« gewesen.
Alle drei, dies macht die Fälle pikant, wurden 1994, als das Volk von den Stasi-Vorwürfen längst wußte, wiedergewählt. Ob es jetzt gelingt, ihnen das passive Wahlrecht zu entziehen, ist mehr als fraglich. Der Leipziger Rechtsexperte Christoph Degenhart glaubt, daß nur eine »schwerwiegende persönliche Schuld« eine Mandatsenthebung rechtfertigen kann.
Das haben die Leipziger Verfassungsrichter der Politik schon einmal ins Stammbuch geschrieben. Die Amtsenthebung des stasibelasteten Bürgermeisters von Königstein bei Dresden, Rudolf Maiwald, verwarf der Verfassungsgerichtshof. Der Beleg für die Stasi-Mitarbeit reiche allein nicht aus, Maiwald das Amt zu verweigern, es müsse auch »die Bewährung unter rechtsstaatlich-demokratischen Verhältnissen« gewürdigt werden.
Den drei PDS-Abgeordneten bescheinigen die Dresdner Stasi-Überprüfer im neuen Deutschland untadeliges Verhalten. »Soweit bekannt« hätten sie sich »keine Verfehlungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung zuschulden kommen lassen«.
- Im sächsischen Landtag.
--Methodios (Diskussion) 17:44, 25. Jun. 2023 (CEST)
DDR
Die Lausitzer Sorben, slawische Minderheit in der DDR, fühlen sich von ihren Mitbürgern und der ostdeutschen Presse verkannt -- als »immerfort trachtentragende, ostereiermalende« Randgruppe.
20.10.1974, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 43/1974
Sieghard Kosel, DDR-Bürger und SED-Mitglied, mochte kein Deutscher sein. Auf der Schreibstube reklamierte der Rekrut der Nationalen Volksarmee die Nationalitätsbezeichnung in seinem Wehrpaß -- mit Erfolg. Seither lautet die Eintragung im Armee-Ausweis des Reservisten korrekt: »Nationalität: Sorbe«.
Kosel, heute Chefredakteur der obersorbischen Tageszeitung »Nowa Doba« (Neue Epoche) gehört jener kleinen slawischen Minderheit zwischen Chosebuz und Drjezdzany, Lubnjow und Budysin* in Deutsch-Ost an, die sich von den Einheitssozialisten bislang nur zögernd vereinnahmen läßt. Der SED-Ableger Domowina, die »Sozialistische nationale Organisation der Lausitzer Sorben«, beharrt darauf, ihre Landsleute seien DDR-Bürger sorbischer Nationalität.
Die Hartnäckigkeit der DDR-Sorben hat zählebige Tradition. Die von ihrer deutschen Umwelt meist Wenden titulierte elbslawische Minderheit, die seit mehr als 1000 Jahren als Bauernvolk an der oberen und mittleren Spree ansässig ist, überdauerte die Mordbrennereien der deutschen Ostlandreiter des Mittelalters ebenso wie den SS-Reichsführer Heinrich Himmler, der die Ur-Lausitzer »als führerloses Arbeitsvolk ... für besondere Arbeitsvorkommen« (Straßen, Steinbrüche, Bauten) eingeplant hatte. Die Sorben übernahmen von den deutschen Oberherren zwar den Glauben, nicht aber deren Kultur. Sie behielten ihre Sprache, dem Polnischen und Tschechischen verwandt, ihre eigenen Sagen, ihre Volkslieder und entwickelten eine eigenständige Literatur.
DDR-Menschen abseits der Lausitz freilich wissen von den Nachfahren der Wenden meist wenig oder nichts. So traf etwa ein sorbisches Autoren-Kollektiv überall in der Republik auf verdutzte Mitbürger, die »verwundert fragen: in welcher Volksrepublik liegt denn das Sorbenland?«
Die Befreier von 1945 wußten es. Sowjet-Marschall Iwan Stepanowitsch Konjew gab nach der Einnahme von Görlitz, Bunzlau und Bautzen seinen Armeen per Tagesbefehl strikte Anweisung, »ein gutes, brüderliches Verhältnis« zu den Lausitzer Sorben zu schaffen. Denn, so Konjew 20 Jahre später: »Das kleine Volk, das auf dem Territorium Deutschlands lebt und im Faschismus soviel erdulden mußte, verdiente es, unterstützt zu werden.«
Zu jener Zeit war es gut, wenn man eine blau-rot-weiße Binde mit den sorbischen Nationalfarben am Arm trug oder in kyrillischen Buchstaben ans Scheunentor schreiben konnte: »Freundschaft. Hier wohnt eine slawische Familie.« Noch bevor es den besiegten Deutschen erlaubt war, wieder Organisationen zu gründen, erhielten die Sorben am 17. Mai 1945 -- neun Tage nach der Kapitulation -- die vorläufige Genehmigung der sowjetischen Militäradministration, ihren Heimatbund Domowina neu zu beleben -- »zur Erhaltung und Förderung des sorbischen Volkstums und seiner Kultur auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens«.
Getreu der Nationalitätenpolitik Stalins, der den Völkern der Sowjet-Union nicht politische, wohl aber eine gewisse kulturelle Autonomie zubilligte, beeilten sich die aus der Ost-Emigration heimgekehrten deutschen Kommunisten, die vom »großen slawischen Brudervolk« (Sorben-Funktionär Hans Nowusch) Befreiten ihrerseits zu umwerben. Die SED rief alle Sorben auf, sich unter ihrer wahren Nationalität registrieren zu lassen. Der sächsische Landtag beschloß auf Antrag der SED-Fraktion im Frühjahr 1948 ein »Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung«, und Altkommunist Wilhelm Koenen, Erster Sekretär der sächsischen Partei-Organisation, erklärte es zur »Ehrenpflicht eines jeden Deutschen«, die »bisher im Schatten gestandene schöne Blume der sorbischen nationalen Kultur in die Sonne zu stellen« -- zur »Verschönerung unseres gemeinsamen Vaterlandes Deutschland«.
Die nationalbewußteren Landsleute unter den Sorben indes tendierten in den ersten Nachkriegsjahren eher zum Anschluß an die Tschechoslowakei.
Vertreter des in Prag wiedergegründeten »Sorbischen Nationalausschusses« (Narodny Wuberk) plädierten auf der Londoner Außenminister-Konferenz 1947 leidenschaftlich, wenn auch vergeblich, für eine weitgehende Autonomie im tschechischen Staatsverband. Da diese Pläne die Chance geboten hätten, das Sudetenland mit einer dritten slawischen Nation zu besiedeln, unterstützten tschechische wie slowakische Bürgerliche und Kommunisten die Forderung.
Auch die Polen zeigten zeitweilig Interesse an der slawischen Minderheit im Westen. So konstituierte sich in Warschau ein Befreiungskomitee« dem zwar kein einziger Sorbe angehörte, das aber gleichwohl den Sorben-Anschluß an Polen forderte und die Oder-Neiße-Linie zuungunsten Ostdeutschlands in eine »Oder-Elster-Linie« verwandeln wollte.
Die Sowjets förderten die separatistischen Tendenzen nicht, zeigten sich gleichwohl aber an einer Re-Slawisierung der Lausitz interessiert. Sie führten sorbische Ortsnamen wieder ein und erklärten das Sorbisch zur Amtssprache in den zweisprachigen Gebieten Sachsens. Zeitungen erschienen ebenso wie Adreß- und Telephonbücher in Sorbisch, und sogar die Bautzener Kinos waren gehalten, ihre Programme in Sorbisch zu annoncieren, obwohl kaum mehr als drei Prozent der Stadtbevölkerung der Sprache mächtig waren. Zeitweilig ließen die Besatzungsbehörden sogar die Übergänge zur CSSR für einen kleinen Grenzverkehr öffnen -- in der Hoffnung, das slawische Bewußtsein in der Lausitz dadurch zu heben.
Die Ur-Lausitzer indes blieben gegenüber derlei Appellen an ihre nichtgermanische Herkunft mißtrauisch. Als 1952 die ersten Gerüchte über ein »sorbisches Aktionsprogramm« der SED umliefen, wonach alle deutschen Familien in die Niederlausitz um Cottbus, alle wendischen in die Oberlausitz um Bautzen umgesiedelt werden sollten, gingen die Sorben auf die Barrikaden.
Bauern prügelten sich mit den Umsiedlungskommissaren, kippten deren Fahrzeuge um, boykottierten das von der SED gesteuerte Blatt »Nowa Doba« und mieden jeglichen Kontakt zu kommunistischen Domowina-Leuten. Beim Aufstand von 1953 war, durchaus nicht zufällig, eines der Widerstandszentren die sorbische Hochburg Niesky. Und als die SED die Lage wieder unter Kontrolle hatte, mußten einige Domowina-Mitglieder, die schon von den Nazis verfolgt worden waren, wieder ins republikweit bekannte Zuchthaus des heimatlichen Bautzen einrücken.
Dabei hatte sich gerade der von den Kommunisten umgemodelte Sorben-Bund als besonders tauglich für die von den Sowjets verordnete Slawisierungs-Kampagne erwiesen. Während sich noch 1928 kaum 25 000 Lausitzer zum Wendentum bekannt hatten, präsentierte die Domowina schon kurz nach Kriegsende eine halbe Million angeblich waschechter Sorben.
Um diese -- häufig genug freilich nur auf dem Papier existente -- Sammlungsbewegung nicht zusätzlich zu stören, tolerierte die SED sogar den starken Einfluß der katholischen Kirche unter den Obersorben -- etwa im Kreis Kamenz, wo noch heute Parteifunktionäre wie selbstverständlich am geschlossenen Kirchgang des Dorfes teilnehmen. Domowina-Funktionär Nowusch weiß, daß derlei Anpassungsfähigkeit auch heute noch längst nicht jeden älteren Sorben überzeugt hat: »Für manche sind und bleiben wir eben die rote Dornowina -- da kann man nichts machen.«
Journalist Kosel gibt sich optimistischer. In der preußischen Niederlausitz, so sagt er, sei schon den Sorben-Kindern von ihren deutschen Lehrern beigebracht worden: »Rede deutsch, als Wende kommst du nicht weit.« Kosel: »Und sie kamen nicht weit; allenfalls wenn sie Mädchen waren und den entsprechenden Busen hatten -- als wendische Ammen an den Königshof nach Berlin.« Heute sei das Verhältnis zu den Herrschenden jedoch ganz anders: Sorbische Abgeordnete säßen in der DDR-Volkskammer, über 2000 Vertreter repräsentierten die slawische Minderheit in anderen Volksvertretungen, und 119 Sorben versähen gar ein Bürgermeisteramt.
Zu detaillierterer Auskunft über den tatsächlichen Einfluß der SED-gelenkten Domowina ist jedoch auch Kosel nicht bereit. So hütet die Domowina beispielsweise ihre Mitgliederzahlen wie ein Staatsgeheimnis. Kosel: »Die erfahren auch DDR-Journalisten nicht.« Auch die Auflage seines Blattes mag der »Nowa Doba«-Chefredakteur nicht preisgeben: »Es ist doch noch zuwenig.« Selbst die Gesamtstärke der Kosel-Landsleute ist unbekannt. Domowina- Funktionäre sprechen lediglich vage von mehr als 100 000.
Kenner der sorbischen Minderheits-Situation in der DDR vermuten, daß kaum mehr als 5000 von ihnen in der Domowina sind -- und daß es eher weniger als mehr werden. Selbst Jan Kosk, Leiter der Sektion sorbische Kultur im DDR-Kulturministerium, räumt ein, »daß es noch einen nennenswerten Prozentsatz von Sorben gibt, die keine Domowina-Mitglieder sind«.
Die Sorben-Sorgen der SED könnten sich indes in absehbarer Zeit von selbst erledigen. Denn die slawische Minderheit in den zehn zweisprachigen DDR-Kreisen -- sieben im Bezirk Cottbus, drei im Bezirk Dresden -- scheint der Diaspora müde zu werden. Immer mehr Sorben assimilieren sich ihrer sozialistisch-deutschen Einheitsgesellschaft. Denn sie wissen, daß man -- trotz des in der DDR-Verfassung verankerten Minderheitenschutzes -- auch im SED-Staat zuerst einmal Deutscher sein muß, um voranzukommen.
Immer mehr Sorben fühlen sich zudem zum folkloristischen Zierat der Ost-Republik degradiert. Sorbische Lieder, sorbische Bräuche, sorbischer Volkstanz -- all das wird vom sozialistischen Neupreußen subventioniert und gefördert. Und was immer die DDR-Presse über die Sorben vermeidet, allemal sind es »bunte Röcke, weiße Hauben, ornamentbestickte Bänder und Volksbräuche wie Osterwasserschöpfen« ("Neues Deutschland") oder »Tänze in farbenfrohen Trachten« (Ost-»Berliner Zeitung").
Sorben-Funktionäre empfinden die Festlegung als Ärgernis. »Wir führen einen ständigen Kampf«, so Detlev Kobela, Musikdramaturg des »Staatlichen Ensembles für sorbische Volkskultur«, »das klischeehafte Folklore-Bild der Sorben abzutragen« Und: »Wir müssen herunter vom Image der immerfort trachtentragenden, ostereiermalenden Minderheit.«
»Sorbisch«, bekennt denn auch ein junger Maurer aus Bautzen freimütig. »das wäre nichts für mich« -- allenfalls noch etwas für seine Schwester, die im sorbischen Ensemble tanzt und singt, denn »die kommt natürlich ganz schön rum«. Und der Schriftsteller Jurij Koch ahnt bereits: »Unser Ende ist absehbar geworden.«
- Sorbische Ortsbezeichnungen für Cottbus, Dresden, Lübbenau und Bautzen
--Methodios (Diskussion) 17:41, 25. Jun. 2023 (CEST)
Anklage gegen Stasi- belastete Abgeordnete
taz 15, Nov. 1997
Dresden (dpa) – Als erster wird der Sächsische Landtag eine Abgeordnetenanklage gegen Stasi-belastete PDS-Parlamentarier einleiten. Drei entsprechende Anträge sollten gestern in erster Lesung beraten werden. Die Fraktionen von CDU und SPD hatten am Donnerstag abend in einer nichtöffentlichen Sitzung dem Bericht des Bewertungsausschusses zugestimmt. Darin wird empfohlen, die drei PDS-Abgeordneten Klaus Bartl, Jürgen Dürrschmidt und Sieghard Kosel vor dem Landesverfassungsgericht anzuklagen.
--Methodios (Diskussion) 17:48, 25. Jun. 2023 (CEST)
Dresden: Klage gegen PDS-Abgeordnete
Die Welt - Veröffentlicht am 21.03.1998
Bundesweit einmaliger Vorgang - Drei Parlamentariern droht die Aberkennung ihres Mandats wegen früherer Stasi-Tätigkeit
Von MARKUS LESCH
Dresden - Der sächsische Landtag wird gegen drei Abgeordnete der PDS-Fraktion vor dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates in Leipzig Anklage erheben. Den drei Parlamentariern Klaus Bartl, Jürgen Dürrschmidt und Sieghard Kosel wird eine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR vorgeworfen. Erstmals in der deutschen Parlamentsgeschichte droht damit gewählten Abgeordneten wegen früherer Stasi-Mitarbeit die Aberkennung ihres Mandats. Der Freistaat Sachsen ist das einzige Bundesland, dessen Verfassung in Artikel 118 ausdrücklich eine Klage gegen Abgeordnete des Landtags vorsieht, die "für das frühere Ministerium für Staatssicherheit / Amt für Nationale Sicherheit der DDR tätig waren" oder gegen die "Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit" verstoßen haben. Die Beurteilung der Stasi-Tätigkeit überläßt die Verfassung dem Landtag, der dafür einen eigenen Bewertungsausschuß eingerichtet hat. Der Maßstab zur Erhebung der Anklage nach Artikel 118 wird streng angelegt. Für den Gang vor den Verfassungsgerichtshof ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Diese Mehrheit wurde in den drei Fällen erreicht, weil die CDU, die über 77 Sitze verfügt, und die SPD, die 21 Mandate hält, gemeinsam votierten. Von 111 abgegebenen Stimmen waren 88 für die Anklage, drei enthielten sich. Nur 20 - bei Dürrschmidt und Kosel 21 Abgeordnete - sprachen sich gegen die Anklageerhebung aus. Die Abstimmung erfolgte gegen den Widerstand der PDS namentlich. Der Fraktionszwang war aufgehoben. Der Abstimmung war am Donnerstag abend eine harte Debatte im Parlament vorausgegangen. Vor allem der PDS-Abgeordnete Bartl, der in der vergangenen Legislaturperiode Chef der PDS-Fraktion war, verteidigte seine DDR-Biographie offensiv. Er war von 1985 bis 1989 Abteilungsleiter Staat und Recht der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz). "Sie wollen beweisen, daß sie die Macht haben, Menschen mit Überzeugung in die Knie zu zwingen", warf Bartl CDU und SPD vor. Das Parlament treffe eine Richtungsentscheidung, ob das freie Mandat unantastbar bleibe. Die PDS stellte sich hinter ihre drei Parlamentarier. Ihr Bundesvorsitzender Lothar Bisky bezeichnete das Verfahren als verfassungswidrig und zutiefst undemokratisch. CDU und SPD wollten mit der Aberkennung der Mandate nachträglich das Wahlergebnis kontrollieren, erklärte er. Die drei Abgeordneten überlegen derzeit, ob sie vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Der SPD-Abgeordnete Peter Adler wies die Vorwürfe der PDS zurück. Das Verfahren sei rechtsstaatlich, erklärte Adler. Er hob die Unabhängigkeit des Leipziger Verfassungsgerichtshofes hervor. Für die CDU sagte deren Fraktionsvorsitzender Fritz Hähle, der Landtag habe nicht nur das Recht, sondern sogar die Verpflichtung, das Verfahren einzuleiten.
--Methodios (Diskussion) 17:52, 25. Jun. 2023 (CEST)
Politik
Wurde Bautzen II bisher "fehlbewertet“?
PDS-Fraktion in Sachsen will politische Gefangene der DDR historisch „einordnen“
Von MARCEL BRAUMANN, Dresden
ND 08.06.1995
Bautzen, die Stadt in der Oberlausitz, wurde geradezu zum Synonym für politische Strafjustiz und Menschenrechtsverletzungen in der DDR. Nun will auf Initiative der sächsischen PDS-Landtagsfraktion eine „Projektgruppe Sonderhaftanstalt Bautzen II“ vermeintlichen „einseitigen politischen und populistischen Sichtweisen“ auf das ehemalige Gefängnis entgegentreten. So formuliert es jedenfalls Michael Friedrich, innenpolitischer Sprecher der Fraktion.
Die Initiatoren, die laut Friedrich die Gründung eines Vereins anstreben, wollen bis Jahresende einen Zwischenbericht erstellen. Zu diesem Zweck hat sich eine Gruppe zusammengefunden, die offen für weitere interessierte Zeitzeugen ist. Ihr gehören ehemalige Vollzugsbedienstete, Strafgefangene, Angehörige der einstigen Staatssicherheit sowie Historiker und Sachkundige an. Sie sollen, so Friedrich gegenüber ND, „herausarbeiten, was von Normalität über Exzeß bis Verbrechen in Bautzen II geschehen ist.“
Konsens der Projektgruppe ist einer Pressemitteilung der PDS-Fraktion zufolge die Ablehnung der gängigen These, Bautzen II sei gewissermaßen Beispiel für den „Unrechtsstaat DDR“ Der Bautzner PDS-Abgeordnete Sieghard Kosel sieht bisher gar eine „frevelhafte Fehlbewertung“ der Anstalt als „Stasiknast“ am Werk. Das Arbeitsprogramm der Gruppe, das ND vorliegt, orientiert daher auch auf die „Anzahl der Delikte, wo nachweislich Order vom oder Durchführung durch das MfS gegeben ist“
Vorbereitet wurde die Arbeit mit vier kleinen Anfragen zu Bautzen II an die Staatsregierung. In der Antwort zeigte sich Justizminister Steffen
Fällen zu einer Strafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden ist. Das alles nicht so schlimm gewesen sei, möchte Friedrich damit nicht gesagt haben. Die eigenbetriebene Aufklärung über Bautzen diene vielmehr der Erneuerung der PDS. Das Projekt könnte schnell zwischen allen Stühlen landen: Die Kooperationsbereitschaft ehemaliger MfS-Mitarbeiter ist bisher gering, räumt Friedrich ein.
Friedrich will keine Gegnerschaft zum Bautzen-Komitee, sondern „Wettbewerb der Perspektiven“ auf Bautzen II. Wer dort im berüchtigten „Tigerkäfig“ bei Hungerration und in Isolation dahinvegetierte, wird natürlich trotz aller historischen Erörterungen seine persönliche Sichtweise behalten.
--Methodios (Diskussion) 18:05, 25. Jun. 2023 (CEST)
Vf. 18-IX-98
DER VERFASSUNGSGERICHTSHOF DES FREISTAATES SACHSEN
Im Namen des Volkes
Beschluß
In dem Verfahren auf Aberkennung des Mandats
auf Antrag
des Sächsischen Landtages, vertreten durch den Präsidenten
- Vertreter der Anklage: 1.) Der Präsident des Sächsischen Landtages, Erich Iltgen, Holländische Straße 2, 01067 Dresden
2.) Ministerialdirigent Dr. R.
gegen
Herrn Sieghard Kosel, MdL
- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt L.
hat der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen durch den Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes
Thomas Pfeiffer und die Richter Klaus Budewig, Ulrich Hagenloch, Alfred Graf von Keyserlingk, Hans Dietrich Knoth, Hans v.Mangoldt, Siegfried Reich, Hans-Peter Schneider und Hans-Heinrich Trute
am 6. November 1998
beschlossen:
Der Antrag wird verworfen.
Der Freistaat Sachsen hat dem Angeklagten die notwendigen Auslagen einschließlich der Kosten der Verteidigung zu erstatten.
G r ü n d e:
A
I.
Der Sächsische Landtag beschloß am 19. März 1998, Anklage gegen den am 3. Juli 1939 in Bautzen geborenen Angeklagten zu erheben mit dem Ziel festzustellen, daß dessen fortdauernde Innehabung des Mandats aus Gründen des Art. 118 Abs. 1 Nrn 1 und 2 SächsVerf als untragbar erscheint. Damit nahm der Sächsische Landtag die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten (DS 2/8216) an.
Auf dieser Grundlage fertigte der Landtagspräsident die Anklage vom 30. März 1998, die beim Verfassungsgerichtshof am gleichen Tage einging. Die Anklage wirft dem Angeklagten vor, er habe in der in DS 2/5413 dargestellten Art und Weise für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet (1962/63 IM-Vorlauf mit Schweigeverpflichtung; von 1969 bis 1987 Inoffizieller Mitarbeiter [Kategorie GMS - Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit]). Dies verstoße im Sinne des Art. 118 Abs. 1 Nr. 1 SächsVerf gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit, insbesondere gegen Menschenrechte des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte - Art. 17 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1 und Art. 26 IPBPR - und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte - Art. 12 und 19 AEMR - und sei zugleich im Sinne des Art. 118 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf Tätigkeit für das frühere Ministerium für Staatssicherheit der DDR.
II.
Der Angeklagte wurde über die Landesliste der Linken Liste/PDS in den 2. Sächsischen Landtag gewählt und gehört diesem seit dem 6. Oktober 1994 an. Er war bereits während der gesamten Legislaturperiode Mitglied des 1. Sächsischen Landtages.
1. Auf Grund der vom Angeklagten gemäß § 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Sächsischen Landtages (Abgeordnetengesetz) i.d.F. d. Bekanntmachung vom 2. Mai 1994 (SächsGVBl. 2) / § 44 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über die Wahlen zum Sächsischen Landtag (Sächsisches Wahlgesetz) vom 5. August 1993 (SächsGVBl. 723 - i.d.Fass. d. 2. ÄnderungsG vom 17.3.1994, SächsGVBl. 461) mitgeteilten personenbezogenen Daten erhielt der gemäß § 1 Abs. 3 AbgG / § 44 Abs. 3 SächsWahlG gebildete Bewertungsausschuß des 2. Sächsischen Landtages vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) Auskunft über den Angeklagten (DS 2/5413, Mitteilungen vom 11.12.1995, Anlagen 1 und 2).
a) Nach der von dort mitgeteilten Aktenlage wurde mit Beschluß vom 9. November 1962 von der Hauptabteilung I/Kommando Grenze eine IM-Vorlaufakte zum Angeklagten angelegt. Er habe während seines Grundwehrdienstes bei der NVA "zur Absicherung der Schreibstube" und "zur operativen Bearbeitung" einer Person für die inoffizielle Zusammenarbeit gewonnen werden sollen. Belegt sind zwei Kontaktgespräche am 9. und 26. November 1962. In der Anlage der Mitteilung wurden eine Schweigeverpflichtung sowie ein handschriftlicher Bericht des Angeklagten vom 9. November 1962 über Verstöße gegen die "Wachsamkeit im Stab" übersandt. Von seiner Werbung sei laut Aussage des Staatssicherheitsdienstes im Beschluß zum Einstellen des Vorgangs vom 4. Januar 1963 Abstand genommen und die Vorlaufakte, bestehend aus einem Band mit 13 Blatt, archiviert worden, da verstärkt parteilose inoffizielle Mitarbeiter geworben werden sollten und der Angeklagte Mitglied der SED war. Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefuFerner wurde vom BStU nach der dortigen Aktenlage mitgeteilt, der Angeklagte sei nach einer Kontaktphase seit dem 10. September 1968 vom 2. Juni 1969 bis zum 3. März 1987 als Inoffizieller Mitarbeiter (Kategorie GMS [Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit], das entspreche einer Kategorie Inoffizieller Mitarbeiter im Staatssicherheitsdienst - der Begriff sei seit 1968 verwendet worden) mit Decknamen bei der Bezirksverwaltung D. des MfS, Kreisdienststelle B., geführt worden. Ein Vorlauf des IM-Vorgangs sei nicht angelegt worden. Die Akte umfasse nach BStU-Zählung 96 Seiten.
Laut "Vorschlag zur Registrierung eines GMS" vom 28. Mai 1969 habe der Angeklagte zur ständigen Information über die Probleme unter den sorbischen Schriftstellern und Schauspielern geworben werden und über politisch-ideologisch labile Personen berichten sollen. Er sei gemäß diesem Ziel, ferner zu "gesellschaftlichen und kulturellen Höhepunkten" (z.B. Parteitage der SED, Kongreß der Domowina), zur Betreuung "bevorrechteter" Personen und zur "Absicherung" der sorbischen Intelligenz und der Redaktion "N. " eingesetzt worden. Er habe ein Blumenpräsent in Höhe von 15,00 M (zur Auszeichnung der Redaktion "N. " mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Silber im Oktober 1974) erhalten. Auslagenerstattungen und Auszeichnungen durch den Staatssicherheitsdienst seien nicht ersichtlich, Vergütungen habe er nicht erhalten.
Die Tätigkeit für das MfS sei laut "Abschlußbericht" vom 3. März 1987 beendet worden, da der Angeklagte aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als "offizielle Kontaktperson" genutzt werden sollte.
Die Akte enthalte acht Treffberichte der Führungsoffiziere, zwei Berichte des Führungsoffiziers nach mündlichen Informationen des Angeklagten, einen handschriftlicher Bericht ohne Unterschrift, einen maschinenschriftlichen Bericht mit Klarnamen des Angeklagten und sechs Blatt Treffnachweis über 87 durchgeführte Treffen. Die Berichte gäben Informationen über Mitglieder des Arbeitskreises Junger Autoren, über die Situation in der Redaktion "N. " und über Treffen mit ausländischen Korrespondenten. Laut Aussage in den "Treffnachweisen" habe der Angeklagte außerdem zu Mitgliedern und Kandidaten des sorbischen Schriftstellerkreises und über die Situation unter sorbischen Schauspielern sowie über kulturelle Veranstaltungen informiert, ferner Einschätzungen zu Schriftstellern gegeben.
In der Anlage der Mitteilung wurden übersandt:
- die Berufung (persönliche Verpflichtung) des Angeklagten mit Unterschrift vom 2. Juni 1969,
- eine Aufzeichnung über eine erste Aussprache eines MfS-Mitarbeiters mit dem Angeklagten, bei der er zur Situation und zu Personen im Arbeitskreis sorbischer Schriftsteller berichtet haben und bei der abschließend vereinbart worden sein soll, in Zukunft regelmäßig Verbindung zu halten, die Gespräche vertraulich und die Verbindung weitgehend konspirativ zu behandeln,
- eine Aufzeichnung im Zusammenhang zweier weiterer Treffen im Februar und im April 1969, bei denen der Angeklagte bereits Aufträge übernommen und die vorgenannten Einschätzungen zu Mitgliedern und Kandidaten des sorbischen Schriftstellerkreises gegeben haben soll,
- die vorgenannten Informationen über Mitglieder des Arbeitskreises Junger Autoren,
- ein Vorschlag zur Übergabe eines GMS ... vom 7. Februar 1974,
- ein Treffbericht mit der vorgenannten Information über die Situation in der Redaktion "N. " (Anlage 2.7),
- ein Bericht vom 31. Mai 1976,
- die vorgenannten Berichte über Treffen mit ausländischen Korrespondenten,
- ein Auszug aus einem Treffnachweis mit den vorgenannten Einschätzungen zu Schriftstellern,
- ein Beschluß über das Anlegen einer GMS-Akte vom 12. November 1980, der die Registrierung des GMS mit Decknamen enthalten soll,
- ein Abschlußbericht vom 3. März 1987.
In seinen abschließenden Bemerkungen zu dieser Mitteilung stellte der BStU fest, der Angeklagte sei am 2. Juni 1969 durch Berufung zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet worden. Obwohl er bereits seit diesem Zeitpunkt als GMS bezeichnet worden sei, habe die Registrierung als GMS mit dem Decknamen erst mit Beschluß vom 12. November 1980 stattgefunden. Aus dem vorliegenden Aktenmaterial sei nicht ersichtlich, ob der Angeklagte von diesem Decknamen Kenntnis hatte.
Nach der Berufung habe sich nach Aussagen der MfSMitarbeiter und laut Treffnachweis eine kontinuierliche Zusammenarbeit entwickelt. Der Angeklagte habe danach überwiegend mündlich berichtet, jedoch auch schriftliche Berichte gefertigt. Seine Informationen hätten Eingang in OPV (operativer Personenvorgang), OV (operativer Vorgang) und in EB (Ermittlungsbericht) gefunden. Die Treffen der Führungsoffiziere mit dem Angeklagten hätten meist im Dienstzimmer der Redaktion, ab Anfang 1986 auch in einer KW (Konspirative Wohnung) stattgefunden.
Die in den beiden Mitteilungen des BStU bezeichneten und teilweise in Bezug genommenen Anlagen wurden dem Plenum des Sächsischen Landtages mit Beschlußempfehlung und Bericht des Bewertungsausschusses in DS 2/5413 nicht vorgelegt, anders als diese Mitteilungen selbst.
Durch diese, mit den Stimmen seiner vier Mitglieder einstimmig angenommene, Beschlußempfehlung des Bewertungsausschusses, als Landtagsdrucksache ausgegeben am 9. April 1997, empfahl er auf Grund der Auswertung aller ihm vom BStU zugesandten Unterlagen und nach Gewährung der Möglichkeit von Einsicht- und Stellungnahme durch den Angeklagten, "den Antrag auf Erhebung der Anklage vor dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen mit dem Ziel der Aberkennung des Mandats zu empfehlen". Dazu bemerkte der Ausschuß, er habe sich in seiner Bewertung "von dem Prinzip leiten lassen, ob die Zusammenarbeit mit dem MfS für andere Personen von Schaden hätte sein können, die dessen (richtig wohl: deren) Lebensbedingungen in der DDR nachhaltig negativ beeinflußt haben oder hätten". Sodann stellte der Bewertungsausschuß zur Begründung fest:
"Herr Kosel hat 1962 sowie von 1969 bis 1987 intensiv und aktiv für das MfS gearbeitet und auch
Personenberichte geliefert, die dem Bewertungsausschuß vorliegen. Herr Kosel hat sich freiwillig und bereitwillig dem MfS zur Verfügung gestellt, wenn auch die Intensität der Zusammenarbeit sehr unterschiedlich war.
Die Zusammenarbeit mit dem MfS wurde beendet "auf Grund seiner Tätigkeit als Chefredakteur und damit verbundener Nutzbarkeit als offizielle Kontaktperson" (Abschlußbericht des MfS vom 03.03.1987; Anlage 2.12)."
b) Auf der Grundlage dieses Berichts des Bewertungsausschusses beantragten die CDU- und die SPD-Fraktion,
der Landtag möge beschließen, den Angeklagten aufzufordern, sein Mandat niederzulegen (DS 2/6752). Dieser
Antrag wie die Beschlußempfehlung des Bewertungsausschusses waren Gegenstände der Tagesordnung des
nichtöffentlichen Teils der 62. Sitzung des 2. Sächsischen Landtages vom 11. September 1997. Nach gesonderter
Debatte zu dem erstgenannten Beschlußantrag und Annahme des Antrages mit 87 zu 16 Stimmen bei 8
Stimmenthaltungen wurden Beratung und Beschlußfassung über die Beschlußempfehlung des
Bewertungsausschusses auf Antrag der CDU-Fraktion vertagt. Der Angeklagte legte das Mandat nicht nieder.
Darauf stimmte der 2. Sächsische Landtag im nichtöffentlichen Teil seiner 66. Plenarsitzung am 13. November 1997 der Beschlußempfehlung des Bewertungsausschusses (DS 2/5413) mit Mehrheit zu. c) Am 14. November 1997 beantragten die vier Mitglieder des Bewertungsausschusses und 69 weitere Abgeordnete des 2. Sächsischen Landtages mit DS 2/7381, Anklage gegen den Angeklagten mit dem Ziel der Aberkennung des Mandats zu erheben. Zur Begründung verwiesen sie auf das in der Beschlußempfehlung beschriebene Verhalten des Angeklagten und stellen unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 94, 351 [368]) fest, daß das Vertrauen in den Landtag "in besonderer Weise gestört wäre, wenn ihm Repräsentanten angehören, bei denen der Verdacht besteht, daß sie in der beschriebenen Weise (sc. für das MfS durch Bespitzelung der Bevölkerung tätig werdend) eine Diktatur unterstützt und Freiheitsrechte der Bürger verletzt haben". Eine Überprüfung hinsichtlich des Angeklagten habe nicht nur einen Verdacht der Zusammenarbeit mit dem MfS, sondern zur Überzeugung des Landtages die entsprechende Gewißheit erbracht. Die fortdauernde Innehabung des Mandats durch den Angeklagten erscheine angesichts der Schwere seines Verhaltens und des Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefuhohen Ranges der Vertrauenswürdigkeit des Landtages untragbar.
Der Antrag wurde vom Landtag in erster Beratung am 14. November 1997 in öffentlicher Sitzung behandelt und an den Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten überwiesen (Plenarprot. 2/67, S. 4881 ff.).
Der Ausschuß beschloß am 1. Dezember 1997 nach Beratung und Beschlußfassung über das weitere Verfahren, den Angeklagten am 6. Januar 1998 zu hören. Dies sowie die Möglichkeit, zur Anhörung eine Person seines Vertrauens mitzubringen, wurde dem Angeklagten durch Schreiben des Ausschußvorsitzenden vom 2. Dezember 1997, zugegangen am 4. Dezember 1997, mitgeteilt.
Zur Anhörung am 6. Januar 1998, die in Anwesenheit von zwei Mitgliedern des Bewertungsausschusses stattfand, erschien der Angeklagte allein und stellte fest, daß er zum Sachverhalt, der dem Ausschuß zur Bewertung vorlag, im wesentlichen nichts hinzuzufügen habe. "Wie bereits bei der öffentlichen Erörterung dieser Problematik im Jahre 1991 (sc. im 1. Sächsischen Landtag) und jetzt neuerlich im Verfahrensgang der Behandlung der Beschlußempfehlung des Bewertungsausschusses", bekräftige er die Fakten, "die sich aus dem Auskunftsbericht" des BStU ergeben, soweit er - der Angeklagte - sie selbst habe prüfen können, "im Grundsätzlichen, nicht immer im Einzelnen". Auf Nachfrage fügte er hinzu: Er habe "Kontakte zur Staatssicherheit" gehabt, jedoch habe er in seiner gerade gemachten Äußerung "die Kontakte nicht qualifiziert und nicht im einzelnen bestimmt". Zur eigenen Bewertung der Vorgänge bezog er sich auf das von ihm bereits öffentlich vor dem 1. Sächsischen Landtag 1991 (unten 3.) und vor dem Wähler 1990 und 1994 Ausgeführte. Ferner berief er sich darauf, vom Wähler im Wahlkreis auf der Liste für die PDS bei Offenliegen des ihm angelasteten Sachverhalts mehr Stimmen erhalten zu haben, als für die Landesliste im Durchschnitt abgegeben wurden. "Vor diesen Wählerinnen und Wählern" habe er "Bestärkung und (seine) Berechtigung gesehen". Er stelle sich der Sache, habe sich bei öffentlichen Lesungen aus seiner Stasiakte , auch Diskussionen, z. B. unlängst vor Schriftstellerinnen und Schriftstellern, gemeinsam mit dem Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit, offen erklärt und seinen Beitrag zur historischen Aufarbeitung der Angelegenheit zu leisten versucht. Und er habe sich von Anfang an dazu entschieden, dies aus journalistischer, publizistischer, literarischer und historiographischer Sicht auch zu betreiben.
Der Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten beriet am 3. März 1998 über die Beschlußempfehlung des Bewertungsausschusses und das Ergebnis der Anhörung des Angeklagten und empfahl mit 8 zu 2 Stimmen ohne Stimmenthaltung dem Landtag, den Antrag auf Erhebung der Abgeordnetenanklage - DS 7381 - anzunehmen (DS 2/8215).
d) In Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten (DS 2/8215, S. 2 ff.) heißt es:
"....
Bei Herrn Kosel, MdL, ist der dringende Verdacht einer Tätigkeit nach Art. 118 Abs. 1 Nr. 1 und 2. SächsVerf. gegeben:
a) Herr Kosel, MdL, hat in der in der DS 2/5413 dargestellten Art und Weise für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR gearbeitet (1962/63 IM-Vorlauf mit Schweigeverpflichtung; von 1969 bis 1987 Inoffizieller Mitarbeiter [Kategorie GMS - Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit]). Diesen Sachverhalt hat Herr Kosel, MdL, auch gegenüber dem Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten eingeräumt. Seine in der Anhörung angedeutete Kritik an Details der diesbezüglichen Auskunft des BStU an den Bewertungsausschuß des Sächsischen Landtages hat Herr Kosel, MdL, nicht substantiiert und dazu ausdrücklich bemerkt, diese Dinge hätten nichts mit dem vorliegenden Verfahren zu tun. Der Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten konnte dieser Kritik daher nicht weiter nachgehen.
Danach bleibt festzuhalten, daß Herr Kosel, MdL, zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS - jedenfalls
im Jahre 1969 - schriftlich berufen wurde und daraufhin (einmal auch schon 1962) schriftlich und mündlich
zahlreiche Berichte, auch zu den konkreten Verhältnissen natürlicher Personen, abgeliefert hat (s. dazu im
einzelnen die dem Bewertungsausschuß zugegangenen Unterlagen des BStU zu Herrn Kosel, MdL, s. DS
2/5413). Daß Herr Kosel, MdL, bei alledem aus freien Stücken gehandelt hat, ergibt sich aus der Art, dem
Inhalt und der Intensität der von ihm abgelieferten Berichte sowie der Tatsache, daß die inoffizielle
Zusammenarbeit mit ihm 1987 allein deshalb beendet wurde, weil er aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit
(Chefredakteur der sorbischen Zeitung 'N.') als 'offizielle Kontaktperson' genutzt werden sollte (s. auch dazu
die Auskunft des BStU in DS 2/5413).
b) Durch dieses Verhalten war Herr Kosel, MdL, im Sinne des Art. 118 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf. für das
frühere Ministerium für Staatssicherheit der DDR tätig.
Zugleich hat er dadurch im Sinne des Art. 118 Abs. 1 Nr. 1 SächsVerf. gegen die Grundsätze der
Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen, insbesondere die im Internationalen Pakt über bürgerliche
und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPbR) und in der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (UN-AMR) enthaltenen Grundrechte verletzt. Denn mit seinen
zahlreichen personenbezogenen Berichten (BStU: 'kontinuierliche Zusammenarbeit' mit dem MfS)
insbesondere über sorbische Schriftsteller und Mitarbeiter der Redaktion der 'N.' und deren persönliche
Verhältnisse, politische Denkungsweisen und Umgang mit anderen Menschen an den staatlichen
Geheimdienst der DDR zum Zwecke der politischen Überwachung und Niederhaltung der Betroffenen (s. zu
alledem im einzelnen die vom BStU an den Bewertungsausschuß übermittelten Unterlagen) hat er die
Betroffenen - ohne deren Wissen - insbesondere verletzt in ihren Grundrechten
- aus Art. 12 UN-AMR, der lautet: 'Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, sein Heim oder seinen Briefwechsel noch Angriffen auf seine Ehre und seinen Beruf ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen derartige Eingriffe oder Anschläge.';
- aus Art. 19 UN-AMR, der lautet: 'Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfaßt die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.';
- aus Art. 17 Abs. 1 IPbR, der lautet: 'Niemand darf willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden.';
- aus Art. 19 Abs. 1 IPbR, der lautet: 'Jedermann hat das Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit.', und
- aus Art. 26 IPbR, der lautet: 'Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.'
Auf die Frage, ob und inwieweit diese Aktivitäten den betroffenen Bürgern - unmittelbar oder mittelbar - noch weitergehend zum Schaden gereicht haben, kommt es bei alledem nicht an. Denn diese Frage lag außerhalb des Einwirkungsbereichs des Inoffiziellen Mitarbeiters. Dieser mußte wissen - und nahm mithin durch sein Handeln billigend in Kauf - daß er schon durch seine Berichterstattung als solche Grundrechte der Betroffenen verletzte und daß er dem MfS dadurch zugleich Gelegenheit gab, im Bedarfsfall weitere Grundrechtsverletzungen, insbesondere durch noch gezieltere Überwachungsmaßnahmen oder offene Repressalien, ins Werk zu setzen. Im übrigen ist dem Bericht des BStU zu entnehmen, daß die Auskünfte des Herrn Kosel, MdL, Eingang in OPV (operativer Personenvorgang), OV (operativer Vorgang) und in EB (Ermittlungsbericht) gefunden haben.
Angesichts dieses Lebenssachverhalts erscheint die fortdauernde Innehabung des Landtagsmandats durch Herrn Kosel, MdL, als untragbar im Sinne des Art. 118 Abs. 1, 2.Halbsatz SächsVerf.
Ausgangspunkt ist dabei - wie schon im Antrag DS 2/7381 zutreffend hervorgehoben wird -, was das Bundesverfassungsgericht zur Frage der früheren Zusammenarbeit eines Mitglieds des Deutschen Bundestages mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR ausgeführt hat:
'Das Ministerium für Staatssicherheit war ein zentraler Bestandteil des totalitären Machtapparates der DDR. Es fungierte als Instrument der politischen Kontrolle und Unterdrückung der gesamten Bevölkerung und diente insbesondere dazu, politisch Andersdenkende oder Ausreisewillige zu überwachen, abzuschrecken und auszuschalten. Diese Tätigkeit des Sicherheitsorgans der DDR zielte auf eine Verletzung der Freiheitsrechte, die für eine Demokratie konstituierend sind. Die Bespitzelung der Bevölkerung war ihrer Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefuNatur nach darauf angelegt, die Tätigkeit der handelnden Personen geheimzuhalten und zu verschleiern. Sind Abgeordnete in den Deutschen Bundestag gewählt worden, bei denen im Sinne des § 44 b Abs. 2 AbgG besondere Verdachtsmomente einer Tätigkeit für das MfS/AfNS aufgetaucht sind, so kann der Bundestag ein öffentliches Untersuchungsinteresse annehmen und davon ausgehen, daß das Vertrauen in das Repräsentationsorgan in besonderer Weise gestört wäre, wenn ihm Repräsentanten angehörten, bei denen der Verdacht besteht, daß sie in der beschriebenen Weise eine Diktatur unterstützt und Freiheitsrechte der Bürger verletzt haben.' (BVerfGE 94, 351 [368]).
Diese Erwägungen gelten uneingeschränkt auch für die Mitgliedschaft im Sächsischen Landtag.
Zwar kann im Lichte der nach Art. 118 SächsVerf. herbeizuführenden schwerwiegenden Rechtsfolge - der verfassungsgerichtlichen Mandatsaberkennung - nicht jede Tätigkeit im Sinne des Art. 118 Abs. 1 Nr. 1 und/oder Nr. 2 SächsVerf. automatisch zur Annahme der Unzumutbarkeit der Mandatsfortführung ausreichen und damit eine Abgeordnetenanklage rechtfertigen. Vielmehr bedarf es auch hier einer einzelfallbezogenen Abwägung, in die auch das Verhalten des betreffenden Abgeordneten seit der friedlichen Revolution einzustellen ist. Dennoch ist angesichts des hohen Ranges der Vertrauenswürdigkeit des Sächsischen Landtages als des Parlaments eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates ein strenger Maßstab anzulegen, und zwar - nicht nur politisch, sondern auch im Rechtssinne - ein strengerer als im öffentlichen Dienst. Dies entspricht auch dem Willen des Verfassungsgebers (vgl. Schimpff/Rühmann, Die Protokolle des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Entstehung der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, 5. Klausurtagung S. 28 f. [29]) und steht im Einklang mit der in der Präambel niedergelegten Absicht der Sächsischen Verfassung, die Lehren aus den leidvollen Erfahrungen der nationalsozialistischen und kommunistischen Gewaltherrschaft zu ziehen. Denn der einzelne Abgeordnete ist nicht ein mehr oder weniger kleines Rad im Getriebe des öffentlichen Dienstes, welcher allemal - durch die Ministerverantwortlichkeit - der parlamentarischen Kontrolle unterliegt (vgl. Art. 39 Abs. 2 SächsVerf.), sondern er ist Teil dieses überwachenden Organs, des Landtages, selbst und als solcher unmittelbar vom Volk berufen (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 SächsVerf.).
Dieser Landtag und seine Mitglieder müssen mithin den höchsten politisch-moralischen Ansprüchen genügen, soll ihr Wirken auch denjenigen Bürgern des Freistaates Sachsen zugemutet werden, die in der DDR Opfer politischer Willkür waren oder die einen für das MfS tätig gewesenen bzw. in Menschenrechtsverletzungen verstrickt gewesenen heutigen Landtagsabgeordneten auch aus diesen Gründen als besondere Belastung empfinden müssen. Denn nur auf diese Weise wird sichergestellt, daß - auch in den Augen dieser besonders von den leidvollen Erfahrungen der kommunistischen Gewaltherrschaft betroffenen Bevölkerungskreise - die Integrität aller Abgeordneten sowie deren innere Bereitschaft, jederzeit die Bürgerrechte zu respektieren und sich den rechtsstaatlichen Regeln zu unterwerfen, glaubwürdig ist.
Demgegenüber greift der Hinweis nicht durch, daß Herr Kosel, MdL, sein Mandat -wie alle Mitglieder des Sächsischen Landtages - in einer demokratischen Wahl erlangt hat, vor der er - wie er selbst vorträgt - seine Wähler über seine Verstrikung mit dem MfS aufgeklärt habe. Denn es geht hier um die Vertrauenswürdigkeit des Parlamentes als Ganzem (s. die oben zitierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts), über die zu disponieren weder der Wählermehrheit in einem Wahlkreis (für die Bestimmung des Wahlkreisabgeordneten) noch demjenigen Wähleranteil zukommt, der seine Stimme für eine Landesliste gibt, auf der - wie bei der Landtagswahl 1994 auf derjenigen der PDS - auch stasi-belastete Kandidaten zu finden waren. Vielmehr betrifft diese Frage das (Wahl-)Volk des Freistaates Sachsen als Ganzes, also gerade auch seine Mehrheit, die im vorliegenden Fall weder Herrn Kosel, MdL, als Direktkandidaten im Wahlkreis noch der Landesliste der PDS ihre Stimme gegeben hat.
Gemessen an diesen Maßstäben erscheint die fortdauernde Innehabung des Landtagsmandats durch Herrn
Kosel, MdL, als untragbar im Sinne des Art. 118 Abs. 1 SächsVerf. Zwar hat sich Herr Kosel, MdL, in der Zeit
seiner Zugehörigkeit zum Sächsischen Landtag ab Oktober 1990 dort sowie - soweit bekannt - auch
außerhalb des Parlaments keine Verfehlungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung
zuschulden kommen lassen. Insbesondere kann ihm nicht zum Nachteil gereichen, daß er sich in engagierter
Weise unter Nutzung der verfassungsrechtlichen, gesetzlichen und geschäftsordnungsmäßigen
Möglichkeiten für seine und seiner Partei und Fraktion politische Ziele eingesetzt hat und einsetzt, auch
soweit diese Ziele auf eine Veränderung der derzeitigen verfassungsmäßigen Ordnung mit den erlaubten
Mitteln einer parlamentarischen Demokratie ausgerichtet sind. Denn dieses Verhalten ist - wie auch bei
jedem anderen Mitglied des Landtages seine rechtmäßige Mandatswahrnehmung - von seinem freien
Mandat (Art. 38 Abs. 3 Satz 2 SächsVerf.) gedeckt.
Jedoch hat sich Herr Kosel, MdL, wie oben gezeigt, in über Jahrzehnte fortgesetzter Weise und unter
Lieferung detaillierter personenbezogener Berichte zum Handlanger des MfS gegen die von ihm selbst
geleitete Redaktion und gegen die Berufs- und Volksgruppe, der er selbst angehörte, nämlich gegen die
sorbischen Schriftsteller (sowie Schauspieler), gemacht, ja sogar das MfS für seine Ziele gegen Mitglieder
dieser Berufs- und Volksgruppe selbst eingespannt. Damit hat er nicht nur den betroffenen Einzelnen,
sondern auch dieser Minderheit selbst nachhaltig Schaden zugefügt. Auch wenn die Kontakte von Herrn
Kosel, MdL, mit dem MfS überwiegend - aber nicht nur, der Auskunftsbericht des BStU spricht auch von der
Nutzung einer konspirativen Wohnung - in den Diensträumen der Redaktion 'N.' geschehen sein mögen,
handelte es sich dabei keinesfalls nur um unvermeidliche Kontakte dienstlicher Natur. Bezeichnend hierfür ist
etwa die Anlage 2.7 zum Auskunftsbericht des BStU, wo der Führungsoffizier im Jahre 1975 festhält:
'Genosse Kosel bat gemeinsam zu überlegen, wie man der Situation in der Redaktion am besten Herr
werden könne. Er nimmt gern alle guten Hinweise und Vorschläge an.'
Eine solche Bitte um Unterstützung durch das MfS bei der Niederhaltung politisch abweichender Strömungen in der von ihm selbst geleiteten Redaktion hat nicht das mindeste mit einer abgerungenen Verpflichtung zur dienstlichen Zusammenarbeit eines staatlichen oder gesellschaftlichen Funktionsträgers mit dem MfS zu tun.
Gleiches gilt auch für den Inhalt der personenbezogenen Berichte selbst, die Herr Kosel, MdL, erstattet hat. Diese Berichte gingen weit über eine etwa erzwungene, aber zurückhaltende Charakterisierung mit dem Ziel, Schaden für die Betroffenen zu verhüten, hinaus, sondern waren von demselben Geist und Inhalt geprägt, wie er in dem vorstehenden Zitat zum Ausdruck gelangte.
In alledem hat sich Herr Kosel, MdL, fortgesetzt als aktiver Unterstützer des totalitären SED-Zwangsregimes
betätigt. Denn gerade auch die früheren MfS-Mitarbeiter stellten eine tragende Stütze des repressiven
Regimes der DDR dar und bedienten sich bei ihrer Tätigkeit menschenverachtender Methoden. Dies hat sich
im Fall von Herrn Kosel, MdL, durch umfassende Prüfung bestätigt.
Entlastendes ergibt sich auch nicht aus der Art und Weise, wie sich Herr Kosel, MdL, zu seinem Verhalten als Inoffizieller Mitarbeiter gegenüber dem Sächsischen Landtag und seinen Gremien eingelassen hat. Danach kann bis heute von Reue oder auch nur einem nachträglichen Abrücken von dieser Tätigkeit durch Herrn Kosel, MdL, keine Rede sein (vgl. Plenarprotokoll 2/62, nichtöffentlicher Teil, vom 11. September 1997, S. 7 - 9; Plenarprotokoll 2/67 vom 14. November 1997, S. 4883 f.; stenographisches Protokoll des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten, 7. Sitzung vom 6. Januar 1998, APr. 2/11/7, S. 13 - 16).
Insbesondere müssen nach dem Inhalt seiner übrigen Ausführungen die Darlegungen von Herrn Kosel, MdL, in der 1. Beratung des vorliegenden Antrages ('Der Vorwurf, Kontakte zur Staatssicherheit gehabt zu haben, ist berechtigt. Das werfe ich mir aus heutiger Sicht selbst vor. Hätte ich vorher gewußt, was ich später wußte, ich hätte anders gehandelt.' - Plenarprotokoll 2/67, S. 4883) als bloßes substanzloses Lippenbekenntnis gewertet werden.
Angesichts dessen würde es die Vertrauenswürdigkeit des Sächsischen Landtages als Ganzem weiterhin unzumutbar belasten, wenn ihm Herr Kosel, MdL, auch in Zukunft angehören würde. Die Erhebung der Abgeordnetenanklage gegen Herrn Kosel, MdL, mit dem Ziel der Mandatsaberkennung ist daher gerechtfertigt und erforderlich.
..."
2. Die Anklageschrift des Landtagspräsidenten faßt zum Lebenssachverhalt die in den Beschlußempfehlungen des Bewertungsausschusses und des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten getroffenen Feststellungen zusammen und übernimmt auch die dort getroffenen Wertungen des Verhaltens des Angeklagten vor und nach der friedlichen Revolution.
3. Der Angeklagte hatte bereits als Mitglied des 1. Sächsischen Landtages in öffentlicher Sitzung zum Vorwurf Stellung genommen, für das MfS tätig gewesen zu sein, und sich dazu am 24. Oktober 1991 in der 29. Plenarsitzung wie folgt geäußert (Plenarprotokoll 1/29, TOP 11, S. 1867 f.):
"Die Akten, die beim Ministerium für Staatssicherheit unter meinem Namen liefen, wollen mich belasten...
Die Akte weist aus - so habe ich mir sagen lassen müssen, ohne selbst Einsicht nehmen zu können -, daß
mich das Ministerium für Staatssicherheit als Gesellschaftlichen Mitarbeiter für Sicherheit geführt hat. Mein eigenes Verständnis zu Kontakten mit dem MfS besagte und besagt, daß ich das nicht war. Doch was hilft es? - Es wäre eher eine offizielle Quelle gewesen. Denn als Leiter einer brisanten Redaktion gleich anderen Leitenden in ähnlicher Verantwortung war ich ohnehin zu Auskünften verpflichtet.
Noch vor dem Abitur versuchte man mich für die Laufbahn im MfS zu gewinnen. Ich lehnte kategorisch ab, und dies nicht aus politischen Gründen. Für mich war die DDR eine Alternative in der deutschen Entwicklung, und ich war darin bestärkt, alles, was ich für richtig und vertretbar hielt, für diesen Staat zu tun. Dies tat ich aus kritischer Distanz. Und so geschah es denn, was bei meiner Herkunft unlogisch schien, daß ich nicht Offizier der Staatssicherheit oder der Armee und nicht mit jüngsten Jahren Mitglied der SED wurde.
Der zweite Versuch der Anwerbung erfolgte Anfang der 60er Jahre. Der dritte Versuch erfolgte unterschwellig im Jahre 1968. Als Mitglied eines Gremiums, dem die Abfassung von zwei Berichten auferlegt wurde, brachte ich den gemeinschaftlich formulierten Text in die Maschine und unterschrieb diesen, als er abgeholt und der fehlenden Unterschrift wegen bemängelt wurde. Es war weder Geltungssucht noch blindes Vertrauen, es war politische Dummheit, die mich dazu führte. Eine beigelegte Erklärung unterschrieb ich mit.
Als nach einem kurzen Zeitraum Nachforderungen an mich herangetragen wurden, dachte ich nach und gelangte schließlich zum persönlichen Widerruf. Die drei Schriftstücke, die beiden Berichte und der Widerruf, haben mich als Warnung und Belastung all die Jahre begleitet. Es war ein belastendes, ein bedrückendes Papier.
Ich unterlag dem Irrtum, den man aber zu verstehen versuchen sollte, man könne sich aus den Fängen der Sicherheit davonstehlen.
Meine zunehmend kritische Sicht auf die Entwicklung in der DDR war verbunden mit dem Versuch, mich gedanklich an jene anzunähern, die mir bei der Suche nach Wahrheit helfen könnten. Ich wollte die DDR, ja. Doch wollte ich sie nicht so, wie sie war oder zu werden drohte. Ob mit Künstlern, Wissenschaftlern, Journalisten, gleich welcher Länder, Diplomaten, mit all jenen, die mich in meiner kritischen Sicht bestärkten, begab ich mich ins Gespräch. Ich war auf politischer Partnersuche, und nie wäre mir in den Sinn gekommen, auch nur eine Zeile über all diese offenen, so umfangreichen Gespräche zu schreiben. Die vertraute ich nur meinem stillen Begleiter, meinem Tagebuch an. Und es wird schon die Zeit kommen, da ich dies publizieren werde.
Auskünfte gab ich als Dienstperson im Dienstraum. So glaubte ich. Und man wußte dies in der Redaktion, weil ich aus all dem, was ich tat, kein Geheimnis machte. Ich habe es bereits vor Monaten in den Medien gesagt: Was ich eigentlich zu schreiben hatte, schrieb ich in der Zeitung. Zum Berichteschreiber taugte ich so sehr nicht. Das lag - dies sei nochmals gesagt - nicht so sehr an meiner politischen Einstellung, wie sich diese auch gewandelt haben mag. Ich wandelte mich vom Dogmatiker zum Reformer. Ein weiter, ein qualvoller Weg. Ich war ein Mann der Transparenz von gesellschaftlichen Ereignissen vom Anfang meiner Verantwortung für die Zeitung an und wollte keine Figur der Nachrichtensammlung abgeben. Und dennoch bin ich belastet. 25 Situationsberichte, 12 Personenbeschreibungen sind über diese Gespräche in meinen Diensträumen entstanden.
...
... Da wäre der Fall des Künstlers B, eines begnadeten unbequemen Menschen, eines Mannes von schonungsloser Offenheit. Wo auch immer sein Name fiel, er versetzte Kulturverantwortliche, Sicherheitsleute, Apparatschiks in Schrecken. Als der tägliche Terror all das erträgliche Maß überschritt - Brandschatzung in seinem Haus betrieben, Verunglimpfung im Umfeld forciert wurde -, fand sich keiner, der ihm beistand, nur einer: Ja, das war der Kosel! Ich verwahrte mich gegen dieses Kulturbanausentum. Wir sind über all die Jahre befreundet mit ihm. In meiner Wohnung hängen Bilder von ihm. Wir sind auch nach der Wende im Gespräch. Und nun, welch ein Irrwitz, kann auch dieses Gespräch über den Künstler B. mich belasten.
Oder da wäre der eigene Fall. Als ich Mitte der 80er Jahre, nachdem ich ins Maß genommen wurde, dahinter
kam, daß die eigene Redaktion bespitzelt wurde, begab ich mich mit einem Mitarbeiter der Redaktion in die
Dienststelle der Staatssicherheit, um kategorisch gegen dreierlei zu protestieren: Gegen die Bespitzelung der
Redaktion, einschließlich der eigenen Person, gegen die Arroganz der Mitarbeiter des MfS und gegen den
Versuch, kritische Wertungen zur Situation nicht wahrhaben zu wollen. Ich wußte wohl, wohin ich mich da
begab, und war mir über mögliche Konsequenzen klar..."
Dazu bemerkte der Abgeordnete Hahn (CDU) für die Bewertungskommission des 1. Sächsischen Landtages
(Plenarprotokoll 1/29, S. 1869, 1870):
"Herr Kosel. Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit - Decknamen haben Sie sich selbst gewählt; das geht aus diesen Aktenlagen hervor. Die Kreisdienststelle haben Sie gesagt, die Anzahl Ihrer Berichte haben Sie genannt, brauche ich nichts mehr zu ergänzen. Tatsache ist aber, daß Sie in unserem Protokoll am 15. Juli erst einmal das Überprüfungsergebnis der Gauck-Behörde anerkannt haben. In Ihrer persönlichen Erklärung schreiben Sie, Sie hatten die IM-Tätigkeit von 1957 bis 1968, und tatsächlich liegt eine Gesamtdauer von 6/69 bis 3/87 vor. Letzter Personenbericht zur Sachlage - nicht zur Sachlage, sondern exakt zur Charaktereinschätzung von Personen vom März 1987; sie liegt uns auch als Kopie vor. Grund der Beendigung Ihrer Tätigkeit - von der Staatssicherheit richtig erkannt: Als Chefredakteur konnten Sie als offizieller Kontakt weiter benutzt werden."
III.
1. Der Angeklagte beantragt, den Antrag auf Durchführung eines Verfahrens mit dem Ziel der Aberkennung des Mandats zurückzuweisen und die Anklage zur Hauptverhandlung nicht zuzulassen. Zur Begründung führt er aus:
Die Abgeordnetenanklage greife in die Souveränität des Repräsentativorgans ein und schwäche die parlamentarische Demokratie. Art. 118 Abs. 1 SächsVerf sehe seinem Wortlaut nach vor, daß der Sächsische Landtag die Durchführung eines Verfahrens zur Aberkennung des Mandats beantragen müsse. Das räume dem Verfassungsgerichtshof eine eigenständige Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens ein. Die Regelung des Verfahrens, insbes der §§ 37 SächsVerfGHG, lasse den strafprozessualen Einschlag des Verfahrens erkennen. In Anlehnung an § 201 Abs. 1 StPO erhebt der Angeklagte deshalb Einwendungen gegen die Durchführung des Verfahrens.
Art. 118 Abs. 1 SächsVerf verstoße gegen höherrangiges Verfassungsrecht des Freistaates Sachsen, insbesondere Wahlrechtsgrundsätze, das freie Mandat gemäß Art. 39 Abs. 3 SächsVerf, den repräsentativen Status des Abgeordneten, Oppositionsrechte aus Art. 40 SächsVerf, das Behinderungsverbot des Art. 42 Abs. 2 SächsVerf und Art. 18 Abs. 1 SächsVerf; ferner verstoße die Durchführung eines Verfahrens gemäß Art. 118 Abs. 2 SächsVerf gegen die Volkssouveränität und das Demokratieprinzip, welche die nachträgliche Korrektur "plebiszitärer Elektorate" verbiete, ferner gegen Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 SächsVerf. Auch sei Art. 118 SächsVerf unvereinbar mit Art. 28 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. Der Wähler habe in Kenntnis der verfahrensgegenständlichen Vorwürfe seine Wahl getroffen. Dies dürfe nicht korrigiert werden. Der 1. Sächsische Landtag habe als Verfassungsgebende Landesversammlung auch nicht über die verfassunggebende Gewalt verfügt und sei deshalb nicht befugt gewesen, von dem bereits vorgefundenen Grundbestand verfassungsrechtlicher Vorschriften im Freistaat Sachsen abzuweichen. Die Wirksamkeit des Art. 118 SächsVerf könne auch nicht auf das Prinzip der praktischen Konkordanz gestützt werden, da es der Grundrechtsdogmatik entstamme und Grundrechte des Angeklagten hier nicht berührt seien.
Das Verfahren zur Herbeiführung der Anklage habe Statusrechte des Angeklagten als Mitglied des Landtages verletzt. Es sei nicht zulässig, das Verfahren auf Geschäftsordnungsrecht zu stützen, erforderlich seien durchweg formelle Gesetze. Auch entbehre das Verfahren nach § 73 GeschO LT der notwendigen inhaltlichen Bestimmungen, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 94, 351 [369 ff.]) ergäben. Im Verfahren sei gegen zwingende prozessuale Bestimmungen verstoßen worden. Die Begründung des Bewertungsausschusses für seine Beschlußempfehlung genüge nicht den Anforderungen des § 1 Abs. 7 Satz 2 AbgG. Außerdem habe der Landtag gegen § 1 Abs. 3 Satz 5 AbgG verstoßen, der vorsehe, daß der Landtag über die Erhebung der Anklage in nichtöffentlicher Sitzung entscheide. Fehlerfolge beider Verstöße sei die Unwirksamkeit des Landtagsbeschlusses über die Erhebung der Abgeordnetenanklage. Auch sei die Anklageerhebung unzulässig, weil der Bewertungsausschuß entgegen Art. 52 Abs. 1 SächsVerf und § 9 Abs. 2 GeschO LT nicht nach Proporz, sondern paritätisch besetzt gewesen sei und entgegen § 1 Abs. 3 Satz 3 AbgG die ausschließlich ihm zugewiesene Bewertung der dem Verfahren zu Grunde liegenden Tatsachen nicht vorgenommen habe.
Im übrigen seien die Voraussetzungen des Art. 118 Abs. 1 SächsVerf für eine Aberkennung des Mandats nicht gegeben. Zwar gehe der Angeklagte davon aus, daß der objektive Tatbestand des Art. 118 Abs. 1 Nr. 2 SächsVerf erfüllt sei, in seiner Tätigkeit liege jedoch keine Verletzung des Tatbestandes der Nr. 1. Ausreichend sei nur eine erhebliche Zuwiderhandlung gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit. Dafür sei nichts vorgetragen. Im übrigen sei eine Untragbarkeit der fortdauernden Innehabung des Mandats durch den Angeklagten nicht festzustellen.
2. Der Landtagspräsident hat zum Vorbringen des Angeklagten Stellung genommen.
B
I.
Die Anklage ist unzulässig. Da der Verfassungsgerichtshof zu dieser Entscheidung einstimmig gelangt ist, konnte er die Anklage ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß nach § 10 SächsVerfGHG i.V.m. § 24 BVerfGG verwerfen.
Die Verwerfung a limine ist im Anklageverfahren der §§ 37 ff. SächsVerfGHG möglich. Nach § 10 Abs. 1 SächsVerfGHG sind, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, auf das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof die für das Bundesverfassungsgericht geltenden allgemeinen Verfahrensbestimmungen entsprechend anzuwenden. Zu diesen Bestimmungen gehört § 24 BVerfGG, dessen Anwendbarkeit durch eine besondere Bestimmung der §§ 11 - 16 SächsVerfGHG weder ausgeschlossen noch modifiziert wird.
Die in § 24 BVerfGG geregelte Verwerfungsmöglichkeit wird vom Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf Wortlaut, Sinn und Zweck auf alle Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht angewandt (vgl. BVerfGE 9, 334 [336 f.]). Jedenfalls für das Anklageverfahren ist dem im Rahmen des § 10 Abs. 1 SächsVerfGHG zu folgen. § 42 Abs. 1 SächsVerfGHG steht dem nicht entgegen.
II.
1. Der Verfassungsgerichtshof entscheidet nach Art. 118 SächsVerf i.V.m. § 7 Nr. 9 SächsVerfGHG über Anträge, Mitgliedern des Landtages das Mandat abzuerkennen. Der Rechtsweg ist nach Art. 118 Abs. 1 SächsVerf eröffnet, wenn dringender Tatverdacht, d.h. die große Wahrscheinlichkeit besteht, daß ein Mitglied des Landtages den Tatbestand der Nr. 1, bzw. der Nr. 2, dieser Vorschrift erfüllt hat, und wenn dem Landtag deshalb die fortdauernde Innehabung des Mandates durch dieses Mitglied als untragbar erscheint.
2. Weiter ist für die Zulässigkeit des Antrages nach Art. 118 Abs. 2 SächsVerf erforderlich, daß der Beschluß, die Anklage zu erheben, bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages eine Zweidrittelmehrheit gefunden hat, die jedoch mehr als die Hälfte der Mitglieder betragen muß.
a) Hierdurch wird auch der Anklagegegenstand bestimmt. Landtagsmaterialien werden nur dadurch Bestandteil des in der Anklage bezeichneten Sachverhalts, daß sie an alle Mitglieder des Landtages ausgegeben werden. Allein die Möglichkeit der Einsichtnahme in Ausschußunterlagen genügt hier nicht. Dies folgt aus dem Zusammenhang der Absätze 1 und 2 des Art. 118 SächsVerf. Nach Abs. 1 ist der Landtag selbst Antragsteller eines Antrages, der nach Abs. 2 nur auf die Anklage lauten kann. Nicht etwa ist Antragsteller der Landtagspräsident, der nach § 37 Abs. 1 SächsVerfGHG aufgrund des Landtagsbeschlusses die Anklageschrift fertigt. Schon nach der Verfassung obliegt es damit dem Landtag selbst, durch die genaue Bezeichnung des Lebenssachverhaltes, auf dem die Anklage beruht, den Gegenstand der Urteilsfindung abzugrenzen. Denn eine Anklage ohne Bezeichnung der dem Angeklagten zur Last gelegten Handlung oder Unterlassung kann es nicht geben, weil es sonst dem Verfassungsgerichtshof unter Durchbrechung des im Hauptsacheverfahren auch für ihn maßgeblichen Antragsprinzips zukäme, selbst den Entscheidungsgegenstand abzugrenzen. Die verfassungsrechtlich dem Landtag zugewiesene Herrschaft über das Anklageverfahren und die Abgrenzung des Entscheidungsgegenstandes spiegelt sich in den §§ 37 ff. SächsVerfGHG. Die aufgrund des Beschlusses des Landtages auf Erhebung der Anklage nach § 37 Abs. 1 SächsVerfGHG zu fertigende Anklageschrift muß nach § 37 Abs. 2 SächsVerfGHG die Handlung oder Unterlassung bezeichnen, auf der die Anklage beruht, und steckt damit die Grenzen des Sachverhalts ab, der dem Verfassungsgerichtshof zur Entscheidung unterbreitet ist (§ 43 Abs. 1 SächsVerfGHG). Gegenstand der Urteilsfindung ist danach nicht der in der Anklageschrift, sondern der in der Anklage bezeichnete Sachverhalt. Dies entspricht der Bindung des Landtagspräsidenten an den Beschluß gemäß Art. 118 SächsVerf, aufgrund dessen er die Anklageschrift zu fertigen und die Handlung oder Unterlassung zu bezeichnen hat, auf der die Anklage beruht. "Anklage" meint hier nicht etwa einen gegenüber dem Beschluß des Landtages verselbständigten Vorgang in der Hand des Landtagspräsidenten. Das wäre unvereinbar mit der Bestimmung, daß er die Anklageschrift aufgrund des Landtagsbeschlusses, also in Bindung an diesen fertigt. Dagegen spricht auch die Abgrenzung des Entscheidungsgegenstandes durch § 43 Abs. 1 SächsVerfGHG sowie der Umstand, daß allein dem Landtag die Befugnis zur Zurücknahme der Anklage eingeräumt ist (§ 39 SächsVerfGHG).
b) Diese verfassungsrechtlich dem Landtag zugewiesene Kompetenz zur Abgrenzung des Entscheidungsgegenstandes hindert eine Orientierung am strafprozessualen Tatbegriff. Der in der Anklage bezeichnete Sachverhalt im Sinne des § 43 Abs. 1 i.V.m. § 37 Abs. 2 SächsVerfGHG und der prozessuale Begriff der Tat im Sinne der §§ 200 und 264 StPO haben nicht denselben Gehalt, obwohl beide Begriffe in diesen Vorschriften übereinstimmend die Funktion erfüllen, den Gegenstand der Urteilsfindung und die Grenzen der Kognitionspflicht des Gerichts abzustecken. "Tat" im Sinne der genannten Vorschriften bezeichnet den "geschichtlichen Vorgang,
auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluß hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll" (vgl. BVerfGE 45, 434 [435]). Davon umfaßt werden auch Handlungen, die als Bestandteil des einheitlichen geschichtlichen Vorganges angesehen werden müssen, von denen Ankläger wie Gericht zunächst aber keine klaren oder überhaupt keine Vorstellungen haben, wie die (bisher) unbekannt gebliebenen Einzelhandlungen einer fortgesetzten Handlung (vgl. BVerfGE 56, 22 [31 ff., 35 f.]). Demgegenüber können im Landtagsbeschluß über die Anklageerhebung nicht klar abgegrenzte und bezeichnete oder sogar überhaupt nicht bezeichnete Sachverhaltselemente nach Art. 118 Abs. 2 SächsVerf nicht Gegenstand der Urteilsfindung im Sinne des § 43 Abs. 1 SächsVerfGH sein, weil sie schon nicht Gegenstand der Anklageschrift sein dürfen. Sonst würde insoweit auch die ebenfalls im Anklageverfahren maßgebliche Begründungsobliegenheit gemäß § 10 SächsVerfGHG i.V.m. § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG leer laufen; denn die Begründung des dringenden Verdachts einer nach Art. 118 Abs. 1 SächsVerf tatbestandsmäßigen Handlung ist ohne klar abgegrenzte Bezeichnung des entsprechenden Lebenssachverhaltes nicht denkbar; gleiches gilt für das Begründungserfordernis im Hinblick auf die Untragbarkeit fortdauernder Mandatsinnehabung.
3. Unzulässig ist die Anklage nach § 38 Abs. 1 SächsVerfGHG, wenn sie nicht binnen eines Jahres erhoben wurde,
seit der ihr zugrundeliegende Sachverhalt dem Landtag bekanntgeworden ist. Zugrundeliegender Sachverhalt im
Sinne dieser Vorschrift ist derjenige Sachverhalt, welcher nach den vorstehenden Bemerkungen zulässig zum
Gegenstand der Urteilsfindung sowohl hinsichtlich der Frage der Tatbestandsmäßigkeit gemäß Art. 118 Abs. 1 Nrn.
1, 2 SächsVerf als auch hinsichtlich der Feststellung gemacht wurde, ob die fortdauernde Innehabung des
Mandates als untragbar erscheint. Auszugehen ist danach vom Inbegriff derjenigen Sachverhaltselemente, die
Grundlage der Beschlußfassung im Landtag waren und jedenfalls im Beschlußwortlaut selbst, oder in der
Beschlußempfehlung, wie sie Gegenstand der Abstimmung war, oder in beiden zusammengenommen ihren
Niederschlag gefunden haben.
Im Sinne des § 38 Abs. 1 SächsVerfGHG bekannt geworden ist der maßgebliche Sachverhalt nicht erst, wenn dem
Landtag als Ganzem Erkenntnisquellen und Lebenssachverhalt förmlich zur Kenntnis gebracht wurden. Sonst wäre
die Ausschlußfrist manipulierbar (übereinstimmend zu § 50 BVerfGG für die Präsidentenanklage Herzog, in:
Maunz/Dürig, Art. 61 GG Rn 45). Vielmehr genügt es, daß der Sachverhalt "in der Öffentlichkeit ist", daß die Fakten
zutage liegen, so daß der Sachverhalt den Mitgliedern des Landtages jederzeit zugänglich ist und es nur an ihnen
liegt, wenn sie davon keine Kenntnis nehmen (ebenso Geiger, Anm. 3 zu § 50 BVerfGG, S. 178 f.; Herzog, in:
Maunz/Dürig, a.a.O.). Die Ausschlußfrist soll verhindern, daß Anklagen verschleppt werden. Dies gebietet der
Schutz der Unabhängigkeit des Mandates. Die Abgeordnetenanklage ist ein schwerwiegendes Instrument, dessen
Handhabung Ansehen und Status des einzelnen Abgeordneten, aber auch die Stellung des Landtages, sein
Ansehen, seine Repräsentationsfähigkeit und damit seine Funktionsfähigkeit erheblich berührt (vgl. auch BVerfGE
94, 351 [369 ff.]; BVerfG, Urteil vom 20.7.1998, 2 BvE 2/98, EuGRZ 1998, 452 [455 f.] = NJW 1998, 3042 [3043]).
Ebenso dient die Fristregelung des § 38 Abs. 1 SächsVerfGHG dem Zweck des Art. 118 SächsVerf, ein
freiheitliches Erscheinungsbild des Landtages zu sichern und dauerhaftes Vertrauen der Bevölkerung in die
Tätigkeit des Staates zu stärken, ganz besonders auch derjenigen Bürger, die Opfer politischer Willkür waren oder
aus anderen Gründen für das MfS tätig gewesene Abgeordnete als besondere Belastung empfinden müssen
(SächsVerfGH, Beschluß vom 20.2.1997, 25-IV-96, S. 17 ff. - SächsVBl. 1997, 115). Gerade vor dem Hintergrund
der im 3. Präambelabsatz hervorgehobenen leidvollen Erfahrungen kommunistischer Gewaltherrschaft muß ein für
nötig erachtetes Verfahren nach Art. 118 SächsVerf auch unverzüglich eingeleitet werden. Die Ziele des Art. 118
SächsVerf werden umso weniger erreichbar, je länger das Mandat bereits besteht; nicht nur, weil damit ein Mitglied
des Landtages, dessen fortdauernde Mandatsinnehabung als untragbar erscheint, gleichwohl dem Bürger
zugemutet und dadurch Vertrauenswürdigkeit des Landtages möglicherweise nachhaltig gestört wird; sondern
auch, weil die Aberkennung des Mandats materiell-verfassungsrechtlich unter dem Gesichtspunkt der Auslegung
des Merkmals "untragbar" umso problematischer werden könnte, je länger das Mandat bereits besteht (vgl. die
Regierungsbegründung zu § 38 Abs. 2 SächsVerfGHG, DS 1/2486, S. 54).
4. Die vorliegende Anklage genügt diesen Voraussetzungen der Anklagefrist nicht. Der der Anklage zugrundeliegende Sachverhalt ist in der 29. Plenarsitzung des 1. Sächsischen Landtages Gegenstand öffentlicher Erörterung gewesen und in dem Protokoll dieser Sitzung öffentlich dokumentiert worden (Plenarprotokoll 1/29, TOP 11, S. 1867 f., 1869, 1870). Der Sachverhalt war dadurch "in der Öffentlichkeit" und auch dem 2. Sächsischen Landtag ohne weiteres zugänglich. Ihm ist deshalb der Sachverhalt im Sinne des § 38 Abs. 1 SächsVerf bereits am Tage seiner konstituierenden Sitzung, dem 6. Oktober 1994, bekanntgeworden. Die Ausschlußfrist war damit für den 2. Sächsischen Landtag am Tage der Anklageerhebung (§ 37 Abs. 1 Satz 2 SächsVerfGHG), dem 30. März 1998, abgelaufen.
Der der Anklage zugrundegelegte Lebenssachverhalt ist im Anklagesatz dahingehend zusammengefaßt, daß der Angeklagte in der in DS 2/5413 dargestellten Art und Weise für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet habe (1962/63 IM-Vorlauf mit Schweigeverpflichtung; von 1969 bis 1987 Inoffizieller Mitarbeiter [Kategorie GMS - Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit]). Damit ist das aus der Sicht der Anklage Wesentliche des Sachverhaltes bezeichnet. In gleicher Weise faßt die Beschlußempfehlung des Bewertungsausschusses den für die Anklageempfehlung maßgeblichen Sachverhalt dahingehend zusammen, der Angeklagte habe 1962 sowie von 1969 bis 1987 freiwillig, intensiv und aktiv für das MfS gearbeitet, wenn auch die Intensität der Zusammenarbeit sehr unterschiedlich gewesen sei. Auch der Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten, dessen Beschlußvorlage den Sachverhalt zusammenfaßt, welcher der Abstimmung über die Anklageerhebung im Landtag zugrunde gelegen hat, stützt sich auf diese Feststellungen der Beschlußempfehlung des Bewertungsausschusses. Der Angeklagte habe schriftlich und mündlich zahlreiche Berichte, auch zu den konkreten Verhältnissen natürlicher Personen, abgeliefert. Er habe aus freien Stücken gehandelt. Es habe sich nicht nur um unvermeidliche Kontakte dienstlicher Natur gehandelt. Konkrete Vorgänge, insbesondere einzelne Personenberichte, ihre möglicherweise denunziatorische, für den Betroffenen eher schädliche Tendenz oder aber das in ihnen deutlich werdende Bemühen, einer möglicherweise als unentrinnbar empfundenen Verstrikung wenigstens durch eher entlastende Auskünfte oder Berichte auszuweichen, sind nicht zum Gegenstand der Anklage gemacht. Auch nicht dadurch, daß z.B. Beschlußempfehlung und Bericht des Bewertungsausschusses (DS 2/5413) in den Anlagen in pauschaler Form oder die Begründung des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten (DS 2/8215) auf einzelne Aspekte der Tätigkeit für das MfS verweisen. Denn damit ist der spezifische Gehalt des jeweiligen Vorgangs dem Plenum des Landtages noch nicht offengelegt oder zugänglich gemacht und konnte deshalb auch nicht zur Grundlage der Abstimmung über die Anklageerhebung werden. In seiner vornehmlich abstrakten, den konkreten Fall weitestgehend aussparenden Fassung ist der der Anklage zugrundegelegte Sachverhalt durch den Angeklagten selbst und durch die anschließenden, für die Bewertungskommission des 1. Sächsischen Landtages getroffenen Feststellungen bereits am 24. Oktober 1991 in öffentlicher Plenarsitzung des Landtages offengelegt worden. Besonders deutlich wird das mit der zusammenfassenden, für die Bewertungskommission getroffenen Abschlußfeststellung:
"Herr Kosel. Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit - Decknamen haben Sie sich selbst gewählt; das geht aus diesen Aktenlagen hervor. Die Kreisdienststelle haben Sie gesagt, die Anzahl Ihrer Berichte haben Sie genannt, brauche ich nichts mehr zu ergänzen. Tatsache ist aber, daß Sie in unserem Protokoll am 15. Juli erst einmal das Überprüfungsergebnis der Gauck-Behörde anerkannt haben. In Ihrer persönlichen
Erklärung schreiben Sie, Sie hatten die IM-Tätigkeit von 1957 bis 1968, und tatsächlich liegt eine
Gesamtdauer von 6/69 bis 3/87 vor. Letzter Personenbericht zur Sachlage - nicht zur Sachlage, sondern
exakt zur Charaktereinschätzung von Personen vom März 1987; sie liegt uns auch als Kopie vor. Grund der
Beendigung Ihrer Tätigkeit - von der Staatssicherheit richtig erkannt: Als Chefredakteur konnten Sie als
offizieller Kontakt weiter benutzt werden."
Daß die hier festgestellten Erkenntnisse in einzelnen Teilaspekten, etwa der bloßen Anzahl bekanntgewordener Auskünfte oder Berichte, divergieren, ohne daß dadurch ihr, etwa zahlenmäßiges, Gesamtgewicht berührt würde, muß angesichts der Übereinstimmung des angeklagten mit dem 1991 festgestellten Lebenssachverhalt im Grundsätzlichen außer Betracht bleiben. Die Anklage war danach verfristet.
III.
Angesichts der Unzulässigkeit der Anklage und der schon daraus für den Verfassungsgerichtshof folgenden Unzugänglichkeit inhaltlicher Prüfung der in der Anklage erhobenen Vorwürfe am Maßstab des Art. 118 SächsVerf und der dagegen vom Angeklagten erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken kann dahingestellt bleiben, ob sich aus dem Verfahren auf dem Weg zur Erhebung der Anklage weitere Gründe für die Unzulässigkeit der Anklage ergeben könnten oder ob das Verhalten des Angeklagten den Tatbestand des Art 118 Abs. 1 Nr. 1, bzw. Nr. 2, SächsVerf erfüllt und die fortdauernde Innehabung des Mandats durch den Angeklagten als untragbar erscheinen läßt. Ebenso bleibt offen, ob und inwieweit damit die Anklagevorwürfe für die Zukunft verbraucht sind.
C
Die Kostenentscheidung beruht auf § 16 Abs. 1 und 4 SächsVerfGHG.
gez. Pfeiffer gez. Budewig gez. Hagenloch
gez. Graf von Keyserlingk gez. Knoth gez. v.Mangoldt
gez. Reich gez. Schneider gez. Trute
https://www.justiz.sachsen.de/esaver/internet/1998_018_IX/1998_018_IX.pdf
--Methodios (Diskussion) 18:27, 25. Jun. 2023 (CEST)
Vorstand berief
redaktionellen Beirat
In seiner Beratung am 1. Dezember bestätigte der Vorstand den redaktionellen Beirat unter Vorsitz von Dr. Klaus Steiniger.
Ihm gehören an:
Rolf Berthold, Vorsitzender des Fördervereins,
Prof. Dr. Götz Dieckmann, stellvertretender Vereinsvorsitzender,
Dr. Hans-Jürgen Audehm, (Schwerin),
Sieghard Kosel (Bautzen),
Dr. Hans-Dieter Krüger Dr. Hans-Dieter Krüger (Halle), (Halle),
Dr. Walter Lambrecht (Rostock),
Wolfgang Metzger Wolfgang Metzger (Berlin), (Berlin),
Dr. Udo Stegemann (Potsdam)
ROTFUCHS / Januar 2008 - s. 13
Die Regionalgruppe
Bautzen-Oberlausitz lädt für den
21. Januar um 18 Uhr zu einer zu einer
Mitgliederversammlung auch Leser
und Sympathisanten in die Begegnungsstätte Große Brüdergasse ein.
Als Thema wurde gewählt:
Linke Presse
frei nach
Marx
Der im Februar 1998 gegründete „RotFuchs“
ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift für Politik
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RotFuchs / Mai 2014
Was Kosels Enkel wissen will
Der Chefredakteur der seinerzeitigen sorbischen Tageszeitung „Nowa Doba“ Sieghard Kosel gehört dem Vorstand unseres RF-Fördervereins an. Auf dessen Mitgliederversammlung im Oktober sprach er vom Bemühen um interessante, Aufmerksamkeit hervorrufende Veranstaltungen. Er kam dabei auch auf seinen Enkel zu sprechen, der immer wieder von ihm fordere: „Opa, erzähl mir mal etwas.“ Auf die Frage, was er denn hören wolle, folge stets der Wunsch: „Opa, erzähl mir etwas, was ich noch nicht weiß.“ Da sind dem Gesprächsstoff keine Grenzen gesetzt! Die bürgerlichen Medien berichten erstaunlich viel, was wir tatsächlich noch nicht wußten. Lesens-, Hörens- oder Sehenswertes, das sich mit einiger Mühe aus den Müllbergen täglicher Massenverdummung ausgraben läßt! Da werden Finanzspekulationen bloßgelegt und eigene Geheimdienste mit gehöriger Skepsis betrachtet.
Mosaiksteine sind greifbar und müßten „nur noch“ zu einem Bild zusammengefügt werden. Um mit Marx zu sprechen: Es gilt, „die Sache an der Wurzel zu fassen“. Was natürlich nicht bedeutet, daß wir den von bürgerlichen Leitmedien vorgegebenen Themen hinterherhecheln sollten. Das macht deren Meute zur Genüge selbst. Doch die Suppe aus Geplapper, Sensationen und Skandalen ist zu dünn, um uns zu sättigen. Da gilt es, Gehaltvolleres anzurichten, beispielsweise aus der marxistischen Küche. „Etwas, was ich noch nicht weiß“, will Kosels Enkel in Erfahrung bringen. Gehören dazu nicht auch die gedankliche Schlüssigkeit und das bewundernswerte Vermögen von Karl Marx, Zusammenhänge zu erfassen? Wir sollten ihn wieder selbst zu Wort kommen lassen, um weithin Unbekanntes zu vermitteln. Denn seit einem Jünglingslebensalter gibt es hierzulande, sieht man von Ausnahmen ab, zu denen
unser Bemühen zählt, keine systematische Bildungsarbeit mehr. Ja, laßt uns modern sein, ohne nach der Mode zu gehen. Was gestern richtig war, mag heute vielleicht falsch sein. Was heute stimmt, müssen wir möglicherweise morgen korrigieren. Aber auch das schon oft Gesagte sollte man wiederholen, denn Brecht irrt nicht, wenn er feststellt: „Das Gedächtnis der Menschheit für Vergangenes ist erstaunlich kurz.“ Kosels und viele andere Enkel wollen natürlich auch Antwort auf neue Fragen: Trägt uns die Mutter Erde noch in 20 Jahren? Welche Länder wird der Klimawandel unbewohnbar machen? Entwickelt sich das Internet vom Instrument der Aufklärung zur geistigen Einbahnstraße? Versuchen wir die jungen Fragesteller ernst zu nehmen. Denn vielleicht bringen sie uns weiter als unsere häufigen Antworten auf gar nicht gestellte Fragen.
Bernd Gutte
RotFuchs / Mai 2014 S. 9
--Methodios (Diskussion) 21:37, 25. Jun. 2023 (CEST)
Sollte man mit der Überprüfung von Mandatsträgern auf eine frühere Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR nicht langsam aufhören? Diese oftmals gestellte Frage war in Hinsicht auf den Kreistag des Landkreises Bautzen zumeist nur theoretischer Natur – ganz einfach, weil diese Überprüfungen in aller Regel nichts Belastendes über die gewählten Abgeordneten an den Tag brachten. Lediglich 1997 gab es entsprechende Diskussionen um den Linken- (damals PDS-) Abgeordneten Sieghard Kosel, die allerdings nicht in einer Aufforderung zum Mandatsverzicht mündeten.
Lausitzer Rundschau
Von: UOKG-Wochenrückblick Datum: 04.02.2011
http://opk-akte-verfasser.com/?page_id=1424
--Methodios (Diskussion) 21:53, 25. Jun. 2023 (CEST)
Sorben-Zeitung in deutsch
Bautzen (ADN). Nowa doba, die Tageszeitung der Sorben, erscheint jetzt sonnabends auch in deutscher Sprache. „Je mehr unser deutscher Nachbar über uns weiß, desto größer wird auch sein Interesse für Leben und Zukunft der Sorben sein", schreibt Chefredakteur Sieghard Kosel in der ersten deutschsprachigen Ausgabe .
Ausgabe vom 12.04.1990
https://www.nd-archiv.de/ausgabe/1990-04-12
--Methodios (Diskussion) 21:53, 25. Jun. 2023 (CEST)
Sieghard. Kosel (SRK Bautzen). (Sprachrettungsklub Bautzen e.V.)
Wohnung
BearbeitenNoch nach dem Beitritt gab es bis 1991 die "staatliche Wohnraumlenkung" und deren Nachfolger.
So, und wenn sich das Folgende wie eine "Räuberpistole" anhört, so ist sie wahr, die Akten dazu liegen im Stadtarchiv Dresden und ich habe vom größten Teil Kopien mir aufbewahrt: Der zuständige Leiter der "Wohnraumlenkung" im Rat der Stadt (Name ist bekannt) verschob zu DDR-Zeiten fröhlich Wohnungen, als SED-Mitglied natürlich an Genossen, und natürlich an Bekannte und Geld nahm er auch. Im Frühsommer 1989 flog sein System auf: Noch vor den Herbstereignissen strengten damals LDPD und NDPD Untersuchungen an, weil Wohnungen z.B. an "VdN" ("Verfolgte des Naziregimes") vergeben wurden, die nachweisbar keine waren (ein Geburtsdatum des Mieters nach 1945 ist ja wohl eindeutig, dass die Kennzeichnung "VdN" gefälscht wurde). Das betraf den bis dahin fertiggestellten Teil des "Quartiers C" des damaligen Neubaugebietes "Prager Straße Nord", und zwar nordöstlich des Rundkinos, die letzten Plattenbauten in der Dresdner Innenstadt (Konkret die heutigen Hausnummern St. Petersburger Str. 18 - 22a). Sommer 1989 war eine ausreichend explosive Situation, die SED-Stadtleitung konnte und wollte das Problem nicht ignorieren, versuchte aber die Blockparteien dadurch "mundtot" zu machen, indem nun plötzlich Wohnungsanträge von deren Parteifreunden mit Wohnungszuweisungen ebenfalls in diesen Block beantwortet wurden. Beruhigung schaffte das nur vorübergehend.
November 1989 kippte das mit der Grenzöffnung. Anfang 1990 war nunmehr der Teil der Plattenbauten längs der Straßenbahntrasse, also St. Petersburger Str. 10 - 14 fertiggestellt: Derselbe Herr verschob nunmehr die dort fertiggestellten Wohnungen an "Wessis": "Westgeld gegen Zuzugsgenehmigung". Und weil aber nun der "Runde Tisch" (dem ich angehörte, und dem das bekannt wurde) "Druck machte", erließ im April 1990 der Rat der Stadt diesen, dreißig Jahre später seltsam anmutenden "Zuzugsstopp": Man wollte die kriminellen Machenschaften dieses Herrn "in den Griff kriegen".
Ende 1990 war alles vorbei, dieser Herr nahm sich das Leben, OB Herbert Wagner verfügte die Einstellung der Untersuchungen, die Unterlagen dazu gingen ans Stadtarchiv Dresden (damals noch auf der Marienallee), ich hab' mir einiges aufbewahrt, veröffentlicht wurde davon nichts: Warum auch - da gab es Kriminalität in ganz anderem Stil.
--Methodios (Diskussion) 17:13, 26. Jun. 2023 (CEST)
Rudolf Krause & Co.
BearbeitenRudolf Krause (Politiker, 1939)
Krause, Rudolf
19.2.1939
Regierungsbevollmächtigter für den Bezirk Leipzig, Minister des Innern des Freistaats Sachsen
Biographische Angaben aus dem Handbuch "Wer war wer in der DDR?":
Geb. in Poditau (Krs. Glatz, Schles. / Podtynie, Polen); EOS, Abitur; 1962 Studium der Math. an der Univ. Leipzig, 1962 Staatsexamen, Prom.; 1962 CDU; 1962 / 63 Lehrer an der OS Großdalzig (Krs. Leipzig), ab 1963 an der OS in Markkleeberg-West (Krs. Leipzig), 1979 – 87 an der EOS »Rudolf Hildebrand«; 1987 – 90 stellv. Dir. an einer Spezialschule mit math., naturwiss.-techn. Ausrichtung in Leipzig (heute Wilhelm-Ostwald-Gymn.); 1989 / 90 CDU-Vertreter am Zentralen Runden Tisch; 1989 / 90 Mitgl. des CDU-Bezirksvorst. Leipzig u. stellv. Vors. des CDU-Parteivorst.; 1989/ 90 Abg. im Kreistag u. Bezirkstag Leipzig; Juni – Okt. 1990 Reg.-Bevollmächtigter für den Bez. Leipzig, Sept. / Okt. 1990 als Landesbevollmächtigter Sachsen zuständig für die Vorbereitung der Gründung des Freistaats. 1990 – 94 MdL Sachsen; Nov. 1990 – Sept. 1991 Minister des Innern u. stellv. Ministerpräs. des Freistaats Sachsen.
--Methodios (Diskussion) 17:48, 26. Jun. 2023 (CEST)
"Ich habe immer Rückgrat gehabt"
Sachsens CDU-Innenminister Rudolf Krause: vom FDJ-Funktionär zum "aufrechten Demokraten"
taz 6.9.91
https://taz.de/quotIch-habe-immer-Rueckgrat-gehabtquot/!1703458/
--Methodios (Diskussion) 17:48, 26. Jun. 2023 (CEST)
PORTRAIT
Ein Stasi-Opfer wird neuer sächsischer Innenminister
Sachsens Innenminister Krause (CDU) wirft das Handtuch/ Der Zittauer Landrat Heinz Eggert rückt an Biedenkopfs Seite
Dresden (taz) — Der Druck wurde zu groß: Am Wochenende gab Sachsens Innenminister Rudolf Krause (CDU) seinen Rücktritt bekannt. Hintergrund ist die seit diesem Sommer schwelende Auseinandersetzung um seine Kontakte zur Stasi. Zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik geriet Krause, der seit 1962 der CDU angehört und für die Blockpartei im FDJ-Zentralrat saß, durch sein zögernden Verhalten während der Ausschreitungen in Hoyerswerda. Ministerpräsident Biedenkopf, der sich noch bis vor kurzem öffentlich hinter seinen Innenminister gestellt hatte, ernannte den ehemaligen Zittauer Landrat und designierten Chef des Landesamtes für Verfassungschutz, Heinz Eggert (CDU), zu seinem Nachfolger. Der Alte: Eine Altlast der CDU Krauses Rücktritt ist nicht eigentlich überraschend. Er kam damit seiner Entlassung zuvor. Bei der für die nächste Zeit anvisierten Kabinettsumbildung sollte der Wende-Kader Krause aufgrund seiner Blockflöten-Vergangenheit und Führungsrolle bei der FDJ nicht mehr für einen Ministerposten nominiert werden. Seine Kritiker — auch Mitglieder des Reformflügels der sächsischen CDU — monierten, daß er als Chef des Innenressorts auch für den Aufbau der sächsischen öffentlichen Dienstes verantwortlich sei, was sich mit seiner früheren Funktionärstätigkeit nicht vertrage. Anlaß für seine sofortige Entlassung ist nun eine Empfehlung des Landtags-Sonderausschusses zur Überprüfung der Stasi-Vergangenheit, der, laut Information aus Landtagskreisen, eine aktive Tätigkeit Krauses für das MfS feststellen konnte. Krause, der zu den Vertrauten de Maizières gehört und als Landesbevollmächtigter des zu bildenden Landes Sachsens die Landtagswahl im Oktober 1990 vorbereitet hatte, bestreitet nach wie vor, Stasi-Informant gewesen zu sein. Wie alle anderen Regierungsmitglieder unterschrieb er eine Erklärung, nicht für das MfS gearbeitet zu haben. Krause leugnete in einer von ihm selbst initiierten Kampagne vor einigen Wochen jedoch nicht, Kontakte zur Stasi gehabt zu haben. Aufgrund seiner Position als Mathematiklehrer in einer Leipziger Oberschule sei er in den siebziger Jahren wiederholt „zitiert“ worden. Eine Anwerbung als Inoffizieller Mitarbeiter sei jedoch 1972 gescheitert. Ministerpräsident Biedenkopf bezeichnete Krause noch Anfang Juli als „unbelastet“ und erklärte, anderslautende Zeitungsartikel seien „wider besseren Wissens“ entstanden.
Zu Fall brachte Krause neben seiner Verstrickung in das alte System auch seine Haltung während der jüngsten Ausschreitungen gegen Ausländerheime. Die SPD-Fraktion im Dresdner Landtag warf im vor, das rechtsradikale Potential unterschätzt und ein zu kleines Polizeiaufgebot geschickt zu haben. Bündnis '90/Grüne warfen ihm vor, als Antwort auf die zunehmende Ausländerfeindlichkeit nur die Stacheldrahteinzäunung der Heime parat zu haben.
Der Neue: Aus der Opposition zur CDU Krauses Nachfolger Heinz Eggert zählt hingegen zu denjenigen Politikern, die sich einer weißen Weste rühmen können und für einen gnadenlosen Umgang mit der Altlast DDR stehen. Im April hatte Rudolf Krause den Zittauer Landrat Heinz Eggert als seinen Mann für den Aufbau des sächsischen Verfassungsschutzes vorgestellt. Das sächsische Innenministerium wollte mit dem einstigen Pfarrer aus dem ostsächsischen Grenzzipfel Oybin Zeichen setzen für einen „transparenten und demokratischen Verfassungsschutz“. Eggert war selbst 16 Jahre lang bevorzugtes Spitzelobjekt der Stasi und schien wohl für den umstrittenen Geheimdienstaufbau im Freistaat die geeignete Integrationsfigur zu sein. Schon als Studentenpfarrer war er in der DDR-Opposition engagiert. Nach dem 89er-Herbst stand er an der Spitze des BürgerInnen-Komitees zur Stasi-Auflösung. Bald fand der bis dahin Parteilose zur CDU, um ihr, wie er sagte, den Rücken zu stärken. Der Spitzenkandidat seiner Partei zog nach den Kommunalwahlen als erster Mann ins Zittauer Landratsamt. Dort sagen ihm die Fraktionen eine konzentrierte kommunalpolitische Arbeit nach. Heinz Eggert war federführend an der Erarbeitung des Konzeptes für die Europa-Region Dreiländereck beteiligt. Als das Dresdner Innenministerium den Zittauer Landrat mit dem Aufbau des Landesamtes für Verfassungsschutz beauftragte, quittierten das die politischen Freunde aus Oppositionszeiten einerseits mit Kopfschütteln, andere knüpften daran aber auch Hoffnungen: „Gut, daß es Heinz Eggert macht, dann kommt wenigstens keiner aus Baden- Württemberg.“
Daß Kurt Biedenkopf als Nachfolger der Blockflöte Krause diesen aus der BürgerInnenbewegung in die CDU gekommenen Politiker nominierte, kann wohl als deutliches Zeichen für eine Erneuerung der krisengeschüttelten Partei verstanden werden. Eggert gehörte neben dem ebenfalls aus der Opposition ins Kabinett aufgerückten Arnold Vaatz zu den Unterzeichnern des Reformer-Briefes an CDU-General Rühe.
NANA BRINK/DETLEF KRELL
taz 1.10.1991
29.01.2016 SZ
Justizminister Sebastian Gemkow spricht nach dem Angriff auf seine Privatwohnung über seine Familie. Einmauern kommt nicht infrage.
Von Sven Heitkamp, Leipzig
Sebastian Gemkow kommt allein. Keine unauffälligen Männer mit Trenchcoat und dunklen Sonnenbrillen, keine gepanzerte Limousine, einfach nur einen Milchkaffee trinken am Rande der Leipziger Innenstadt. Der sächsische Justizminister mag keinen großen Sicherheitsapparat, wenn es nicht sein muss. „Ich möchte“, sagt der junge CDU-Politiker, „auch meine persönliche Freiheit schützen.“ Er ist gerade mal 37. Doch er hätte allen Grund, vorsichtig zu sein.
In der Nacht zum 24. November vorigen Jahres warfen vermummte Männer Granitsteine groß wie Handbälle durch die Scheiben seiner Privatwohnung. Die Geschosse durchschlugen die Schutzfolien der Fenster im Hochparterre. Sie verfehlten nur knapp das Schlafzimmer, wo auch Gemkows Frau und die beiden kleinen Kinder schliefen. Es war der erste Anschlag auf ein Privatquartier eines sächsischen Regierungsmitglieds. Es haben nur wenige Zentimeter gefehlt, dann wäre womöglich jemand getroffen und schwer verletzt worden. Die Familie zog noch in der Nacht aus der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung aus und kam seither nicht mehr zurück. „Durch den Gestank der Buttersäure ist die Wohnung bis heute nicht mehr nutzbar“, sagt Gemkow. Jetzt lebt die Familie in einem anderen Leipziger Stadtteil, mehrere Etagen höher als zuvor.
Vorfahr Hans Oster als Vorbild
Die Täter sind bisher nicht gefunden. Der Minister hat daher viel darüber nachgedacht, warum der Anschlag gerade ihm gegolten hat, in jener Nacht gegen 2 Uhr. Wenige Stunden zuvor waren Hunderte Anhänger des rechtspopulistischen Bündnisses Legida durch die Stadt marschiert, begleitet von massiven Protesten der linken Szene. Aber lag es daran? Oder lag es an seinem Engagement im Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge? Gemkow hat dem Leipziger Künstler Michael Fischer-Art gerade geholfen, das Grab seines Großvaters zu finden, der in Rumänien Arzt der Wehrmacht war. Hatte es mit der Einrichtung des politischen Sonderdezernats bei der Integrierten Ermittlungseinheit „Ines“ zu tun, das seit Oktober rechts- und linksextremistische Straftäter verfolgt? „Ich weiß es nicht. Und ich will auch keinen Verfolgungseifer entwickeln“, sagt der Jurist. „Hass gibt es schon zu viel.“
Tatsächlich gilt Gemkow selbst in anderen Parteien als ausgesprochen freundlicher, umgänglicher, offener Zeitgenosse – ohne Star-Allüren und bisher eher unauffällig. 2006 hatte er sich zunächst als Rechtsanwalt in Leipzig niedergelassen. 2009 wurde er zum ersten Mal Landtagsabgeordneter – mit einem der schwächsten Direktwahlergebnisse und nur 300 Stimmen mehr als der Direktkandidat der Linken, Volker Külow. Doch im Sommer 2014 wurde er Honorarkonsul der Republik Estland, im November 2014 machte ihn Regierungschef Stanislaw Tillich (CDU) zum Justizminister.
Die Wahrung einer gewissen Distanz zu den Vorfällen, das Sich-nicht-hineinsteigern-Wollen – es hat wohl auch etwas mit der Familie zu tun, die seit Generationen schlimme Erfahrungen gemacht hat mit politischer Gewalt. Gemkows Vater Hans-Eberhard, ebenfalls CDU-Mitglied, war seit August 1990 in Leipzig Beigeordneter für Recht, Ordnung und Sicherheit. Er hatte 1989 den elfjährigen Sohn auf den Schultern mit zu den Montagsdemos genommen, nun schlug er sich mit Auseinandersetzungen um Asylbewerberheime und mit Straßenschlachten in Connewitz herum: zerstochene Reifen und eine durchschnittene Bremsleitung am Auto inklusive. „Ich habe schon als Zwölfjähriger Morddrohungen am Telefon miterlebt“, erzählt Sebastian Gemkow. Im Mai 1994 starb sein Vater mit 39 Jahren an Krebs.
Als Vorbild über der Familie thront ebenso Hans Oster, ein Großonkel des Vaters und einer der führenden Hitler-Gegner vom 20. Juli, die noch im April 1945 im KZ Flossenbürg hingerichtet wurden. Auch wenn der gebürtige Dresdner ein Generalmajor der Wehrmacht war, so habe er als konservativer Patriot doch schon in den 1930er-Jahren offensiv gegen die Nazis gearbeitet und immer wieder Informationen an ausländische Regierungen durchgestochen. „Hans Oster prägt die Familie bis heute“, sagt Gemkow.
Es ist unklar, ob dies auch für seinen Großonkel Rudolf Krause gilt, der 1990 unter Kurt Biedenkopf Sachsens erster Innenminister wurde. Wenige Tage nach den Ausschreitungen von Hoyerswerda im September 1991 trat Krause zurück. Ihm war eine langjährige Stasi-Spitzelei als IMS „Ries“ nachgewiesen worden. Ein wechselhafter Stammbaum. „Eine Erkenntnis für mich ist, dass ich für mein Handeln in jeder Hinsicht Verantwortung trage“, sagt Gemkow. Er habe daher für sich Grundsätze abgeleitet, vor allem Menschlichkeit, Friedfertigkeit, Gewaltlosigkeit. Es ist nicht gerade das, was er in Leipzig seit Monaten erlebt. „Aber wenn die friedlichen Menschen verstummen, gewinnen die gewaltbereiten die Oberhand“, sagt Gemkow.
Aber er wäre wohl nicht CDU-Minister in Sachsen, wenn er nicht auch eine repressive Antwort auf die Ausschreitungen in Leipzig geben würde: „Das Gewaltmonopol des Staates darf nicht unterspült werden“, sagt er. „Wir müssen unsere Rechtsordnung schützen.“ Ansonsten würden sich Menschen in Bürgerwehren organisieren oder versuchen, sich als „Reichsbürger“ in rechtsfreie Räume zurückzuziehen. Die Aggressivität der Gesellschaft nehme zu, und es sei nur eine Frage der Zeit, bis dabei jemand umkommt, fürchtet Gemkow. Auf diese Hassspirale müsse der Freistaat auch personell reagieren, wenn sich die Lage weiter zuspitzt. „Der Rechtsstaat muss sich selbst verteidigen können“, sagt der Justizminister. Noch so ein Leitsatz. Aber auch einer an die Adresse des Finanzministers.
--Methodios (Diskussion) 17:48, 26. Jun. 2023 (CEST)
IM SCHATTEN DER MACHT: KENNT IHR NOCH SACHSENS STELLVERTRETENDE MINISTERPRÄSIDENTEN?
TAG24 vom 25. Juni 2023
Von Markus Griese
Rudolf Krause (*1939)
Rudolf Krause (*1939) arbeitete als Lehrer. © picture-alliance/ZB/Elke Schöps
Kurz vor Kriegsbeginn in Schlesien geboren, wuchs Krause im Bezirk Leipzig auf, wo er auch sein Abitur machte und ein Mathematik-Studium abschloss.
Fortan arbeitete er als Lehrer, war aber seit 1962 auch Mitglied der Ost-CDU.
1989/90 war Rudolf Krause Mitglied des Bezirksvorstandes in Leipzig und saß auch mit am Runden Tisch.
Im ersten Kabinett Biedenkopf war Krause Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident, ehe er wegen einer früheren Stasi-Tätigkeit (zwischen 1973 und 1982) im Herbst 1991 alle Ämter niederlegte.
--Methodios (Diskussion) 17:48, 26. Jun. 2023 (CEST)
Sachsens Ex-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf stirbt mit 91 Jahren
Von Lucas Böhme
13. August 2021 Leipziger Zeitung
Kurt Biedenkopf ist tot. Der CDU-Politiker und frühere Ministerpräsident Sachsens verstarb nach Mitteilung der Sächsischen Staatskanzlei am Donnerstagabend in Dresden. Er wurde 91 Jahre alt.
Kurt Hans Biedenkopf, geboren am 28. Januar 1930 in Ludwigshafen, wurde vor allem als erster Ministerpräsident des Freistaats Sachsen nach der Deutschen Wiedervereinigung bekannt, er führte dieses Amt von Herbst 1990 bis Frühjahr 2002. Von 1991 bis 1995 war er auch CDU-Landesvorsitzender.
Bei der ersten Landtagswahl in Sachsen nach der Einheit erzielte die CDU am 14. Oktober 1990 ein Rekord-Ergebnis von 53,8 % – und eröffnete dem als innerparteilichem Querkopf bekannten Mann, der nach seiner Karriere in Nordrhein-Westfalen schon auf dem politischen Abstellgleis schien, unverhofft eine Zukunft im Osten. Das geschah gegen den Widerstand von Bundeskanzler Helmut Kohl, der nie einen Hehl daraus machte, mit dem ehemaligen Generalsekretär seiner Partei und einstigem Vertrauten, mit dem er sich dann überwarf, nichts anfangen zu können.
Biedenkopfs fast zwölfjährige Regierungszeit in Sachsen mit zweimaliger Wiederwahl 1994 und 1999 war geprägt von den Verwerfungen nach 1989/90. Trotz wirtschaftlicher Erfolge, wie etwa größeren Konzernansiedlungen in Leipzig, Dresden oder Zwickau, und seines Einsatzes für die Wissenschaft blieb Biedenkopf wegen seines autokratischen Regierungsstils gleichzeitig umstritten.
Verharmlosungs-Vorwürfe an Biedenkopf
Zudem wurde ihm immer wieder eine Verharmlosung rechtsextremistischer Gefahren und die Hofierung rechter Kräfte in den eigenen Reihen vorgeworfen. So hatte sein Innenminister Rudolf Krause nach einem Neonazi-Aufmarsch in Dresden im Sommer 1991 die Untätigkeit der Polizei verteidigt und die Medien als Problem benannt, die das Geschehen hochspielen würden. Der Landesvater widersprach dem nicht.
Vielmehr schien Biedenkopf diese Haltung zu teilen, wenn er rassistische Gewalt wie 1991 in Hoyerswerda zwar nicht rechtfertigte, sie in seiner Erklärung aber doch als bedauerlicher Auswuchs der schwierigen Transformationszeit erschien. Damals hatten Neonazis in Hoyerswerda Jagd auf frühere DDR-Vertragsarbeiter gemacht, die aus Vietnam oder Mosambik stammten.
Machtkampf und Rabatt-Affäre
Am Ende musste „König Kurt“, wie er ironisch genannt wurde, nach einem internen Machtkampf im April 2002 seinem Finanzminister Georg Milbradt Platz für die Nachfolge machen. Unrühmliche Affären wie der Spezialrabatt bei IKEA für Biedenkopf und seine Gattin Ingrid hatten das Ende seiner Zeit an der Spitze wohl noch beschleunigt.
Später publizierte Biedenkopf eigene Schriften, war wieder als Anwalt tätig und blieb für die Presse ein gefragter Ansprechpartner, wenn es etwa um die AfD und die Pegida-Bewegung ging. Von seiner Haltung, die Medien bauschten das Problem Rechtsextremismus auf, wollte er auch dann nie abrücken. Im Aufstieg der AfD und der Neuen Rechten sah er eine Belebung des politischen Diskurses. Vor den letzten Landtagswahlen in Sachsen vor zwei Jahren grenzte er sich jedoch deutlich von der AfD ab und warnte offen davor, ihr die Stimme zu geben.
Erst im April 2021 hatte Biedenkopf die Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig erhalten. „Ein großartiger Mensch ist von uns gegangen“, twitterte Sachens heutiger Ministerpräsident Michael Kretschmer (46) am Freitag.
Auch diejenigen, mit denen er am wenigsten gemein hatte, äußerten sich zu Biedenkopfs Tod: „Politisch wie persönlich verband uns wenig mit dem ersten sächsischen Nachwende-Regierungschef – aber auch wir erkennen an, dass er als konservativer Intellektueller den Freistaat Sachsen nach 1990 wie wohl kein anderer Mensch geprägt hat”, so Rico Gebhardt (58), Fraktionsvorsitzender der Linken im Sächsischen Landtag.
Bösartige Krebsgeflechte in der sächsischen CDU
BearbeitenDer folgende Text aus dem Jahre 2008 diente insbesondere dazu, Mitgliedern des CDU-Bundesvorstandes, denen die Verhältnisse und Zusammenhänge in Ostdeutschland nicht vertraut sind, verständlicher darzustellen. Eindrucksvolle Konsequenzen ergaben sich inzwischen u.a. aus dem Engagement von Dr. Matthias Rößler zur Bildung in Hamburg und den Positionierungen von Stanislaw Tillich zu Baden-Württemberg.
Ausführlichere Informationen kann man den gedruckten und Internet-Publikationen von Jürgen Roth, Karl Nolle und Uwe Müller/Grit Hartmann entnehmen.
Bösartige Krebsgeflechte in der sächsischen CDU
Als Markstein für die offizielle Neuausrichtung verfassungsfeindlicher Strukturen der ehemaligen DDR kann der 16.11.1993 angesehen werden, als der ehemalige Abteilungsleiter der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, der PDS-Abgeordnete Klaus Bartl, einem Ausschuß des Sächsischen Landtages eine Kopie einer „Ordnung über die wichtigsten Aufgaben des Kreissekretariats der CDU Leipzig-Land im Verteidigungszustand“ nebst Namenslisten, die geschwärzt wurden, übergab. Seither will sich niemand der Beteiligten daran erinnern und auch keiner mehr davon gewußt haben. Dieser Fingerzeig seitens der PDS reichte aus, um zu bedeuten, daß im Bedarfsfall die Kader der ehemaligen Block-CDU im Sächsischen Landtag und in anderen Ämtern und Positionen jederzeit auffliegen können, wenn sie sich nicht „aufgeschlossen“ zeigen bzw. Mandatsträger der PDS aus dem Sächsischen Landtag drängen wollen.
Der ehemalige politische Mitarbeiter und DDR-Staatsanwalt Klaus Bartl hielt sich an die tschekistischen Prinzipien, wonach die Beteiligten nur so viel zu wissen haben, wie sie zu ihrem Auftrag benötigen. Das heißt, es mußten nicht einmal weitere Unterlagen hervorgezogen werden wie Einschätzungen aus den SED-Sicherheitsbereichen von B-Kadern der CDU, Listen über entsprechende Anleitungen und Weiterbildungen, Verpflichtungserklärungen oder andere Kaderunterlagen von Block-CDU-Mitgliedern, die nicht unter Stasi-Akten zugeordnet bzw. vorsorglich „gesichert“ wurden.
Um noch einmal ganz deutlich zu formulieren, was in den westdeutschen Landesverbänden der CDU bisher nicht verstanden wurde: Sie gingen und gehen meist immer noch davon aus, daß nach der Aufnahme der ostdeutschen Christlich-Demokratischen Union (CDU) und der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) in die CDU Deutschlands eine demokratische Entwicklung in den ostdeutschen Landesverbänden gewährleistet war.
Unter dieser Annahme (einer freiheitlich-demokratischen Parteiarbeit) blieben viele Warnungen, Hinweise, Beschwerden und Informationen auf Bundesebene unbeachtet, weil sie an ostdeutsche Landesverbände zurückverwiesen wurden. Diese Annahme ist falsch. Die DDR verfügte über eines der weltweit strukturell ausgefeiltesten Spitzelsysteme, deren fester Bestandteil auch die Ost-CDU und die Kirchen waren. Und zur Machtsicherung und zum Machterhalt des Sozialismus waren Block-CDU-Kader immer bereit, gleich ob der im Jahre 1945 geborene und im Jahre der Sprengung der Leipziger Paulinerkirche 1968 in die CDU eingetretene Horst Metz, oder der 20 Jahre später eingetretene, 1963 geborene Hermann Winkler. Legt man einmal nicht das für die Stasi durchaus legitime Anwerbealter von 17 Jahren, sondern von 20 Jahren zugrunde, so scheiden diese Kader erst im Jahre 2036 aus den für sie noch in der Perspektive befindlichen Positionen.
Sofern die Block-CDU-Kader nach 1989 nicht insgeheim von selbst ihre Geisteshaltung zum Sieg des Sozialismus weiter verfolgten, konnten sie somit sehr leicht wieder „auf Linie“ gebracht werden. Allein der ehemalige sächsische Innenminister Heinz Eggert, der nach außen vehement gegen die DDR-Diktatur auftrat, stellte 362 Stasi-Spitzel und 161 hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter ein, von den versteckten ganz zu schweigen.(1)
Dabei ging es nicht nur um das finanzielle Auskommen der DDR-Altlasten, sondern um die qualitative und quantitative Neuformierung der unter dem Einfluß von SED, Stasi und KGB stehenden Kaderchargen. Das Auftreten von Klaus Bartl am 16.11.1993 stellt insofern einen Wendepunkt dar, da obgleich im Juni 1994 der umfassende Abschlußbericht des 2. Untersuchungsausschusses des Sächsischen Landtages(2) vorlag, außer großspurigen Leerfloskeln und abgehobenen Sonntagsreden keinerlei personalpolitische Konsequenzen mehr folgten.
Selbst die Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Innenministeriums zur Prüfung ins Beamtenverhältnis vom 21.06.2004, die überhaupt erstmalig nach 1989 (!) die Thematik von B-Kadern aufnahm, kann nur als Alibiaktion betrachtet werden, da sie bereits am 29.12.2006 wieder auslief und bereits nach der „Wende“ die entsprechende Klientel sich wechselseitig fest in die Staatsapparate lancierte, wie der Aufbau des sächsischen Innenministeriums unter Dr. Rudolf Krause belegte. Denn zum Machterhalt nach 1989 traten größtenteils noch unabhängig voneinander alle DDR-Kader gleichzeitig an: SED, Blockparteien, Vertreter der DDR-Massenorganisationen, inoffizielle und hauptamtliche Kader des MfS, des KGB etc.
Ab 1993/4 konnte dieser Prozeß zur Re- und Neuorganisation von Strukturen gefahrlos und gezielt ausgebaut werden, weil nun aus staatlichen Stellen heraus ungestört die von der Führung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR auch weiterhin ausdrücklich erklärte Konspiration und Spitzeltätigkeit („Wir halten zusammen!“) in Anknüpfung an „sozialistische Ideale“ betrieben werden konnte. Zwar gingen alte Führungsschichten in Rente – ggf. waren einige enttarnt –, aber die Abhängigkeitsverhältnisse, das Know-how und die ideologische Retardierung blieben und wurden auf jüngere übertragen, gleich, ob sie als ehemalige Mitarbeiter der HV A jetzt für die Linkspartei tätig sind wie Volker Külow im Sächsischen Landtag oder z.B. als legendierte „Philosophen“ in diversen Ministerien (bis hin zum persönlichen Referenten des Bundestagsvizepräsidenten Dr. Wolfgang Thierse).
Alle genannten Kaderchargen halten sich nicht nur an ihre Schweigeverpflichtungen. Sie fühlen sich weiter daran gebunden und richten ihr Verhalten danach aus. Das heißt, hier geht es nicht um irgendwelche „Geschäftle“, wie mancher aus den westdeutschen Bundesländern vermeint, sondern um die Weiterführung von Methoden des MfS bei gleichzeitigem Partizipieren an Machtstellungen. Sie schlachteten und schlachten im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung alles aus, nur um jederzeit bzw. zum gegebenen Zeitpunkt auf Anforderung, Befehl oder im vorauseilenden Gehorsam wieder umschwenken zu können. D.h. ihnen liegt in keinem Fall an der freiheitlich-demokratischen Ausgestaltung des Rechtsstaates, sondern eben nur, diesen weitmöglichst auszunehmen.
Während die ehemalige SED bzw. PDS/Linkspartei ihre Rolle taktisch anlegte und als Opposition die Entwicklungen vorübergehend „nur beobachtet“, da sie die Stimmungslage in der Bevölkerung kannte, profilierten sich Blockparteienmitglieder in maßgeblicher Zahl, indem sie sich möglichst allen Aktionen ihrer Westpartner anschlossen, um sich in Vertrauenspositionen einzuschleichen – analog vieler ehemaliger DDR-Betriebe, wo Leitungskader der SED ihren Partnern zur Seite gestellt wurden. Innerhalb kurzer Zeit brachten sie sich somit bei ihrem „Klassenfeind“ wieder in Stellung, nicht selten in den alten Bundesländern.
Der kleine Pferdefuß ist eben nur – wie das Gutachten über die Stasi in der BStU verdeutlichte(3) –, daß die entsprechenden Kader – gleich, ob CDU oder SED – über „mehrere Loyalitäten verfügen“. Das jeweilig offizielle Rollenspiel erfordert einerseits notfalls den entsprechenden Kadavergehorsam, während man sich andererseits der „innere Machtstrukturen“ bemächtigt bei gleichzeitiger Positionierung und Unverzichtbarmachung in der Partei. Mit Letzterem schließt sich wieder der Kreis, da hieraus wieder „rechte“ Positionierungen erstehen, die wiederum „links“ bedienen, um wieder ausgehebelt werden können. Hierunter zählen solche Pauschalierungen wie von Angelika Barbe, Arnold Vaatz oder aktuell von Hermann Winkler, der mit dem Einschmelzen des „Marxreliefs“ (4) (d.h. politischer „Bilderstürmerei“) wieder Wasser auf die Mühlen der „Linkspartei“ leitet und problembewußte Bürger verschreckt.
Mit den Mitteln der Polarisierung geht es nicht nur um die jeweils eigene Positionierung, sondern gleichzeitig um die Erweiterung der Klientel- und Machtmöglichkeiten. Denn in Sachsen unterwanderten SED- und verdeckt arbeitende Kader alle Parteien einschließlich der NPD, und zersetzen damit jede demokratische Arbeitsweise. Das bedeutet, es geht hier nicht um Einzelfälle, sondern um den Einsatz des in der DDR vom MfS ausgefeilten und umfassend angewandten System des „Politisch-operativen Zusammenwirkens“ (POZW) zwischen Staats- und Parteiorganen. Die neuen Geflechte wurden eingefädelt, indem ursprünglich gemäß ihren tschekistischen Aufgaben zu DDR-Zeiten teils streng voneinander getrennte Strukturen verbunden bzw. reaktiviert wurden (insbesondere kaum aufgeklärte Strukturen wie B-Kader, HV A, SWR) und von ihren mittlerweile hauptamtlichen Posten in sächsischen Ministerien, Parlamenten, Staatsapparaten, regionalen Medien, Kultur oder alten und neuen Parteigefügen aus agieren.
Für den „außenstehenden Bürger“ wirkt es daher absonderlich, wenn sich vermeintliche KGB- und NPD-Kader im Sächsischen Landtag „streiten“, verdeckte Stasi-Leute gegen den von ihnen angestachelten Rechtsextremismus „kämpfen“, Stasi-Argumente in sächsischen Ministerien verlautbart werden, totale Intransparenz in der sächsischen CDU herrscht (wie bei der „Waldschlösschenbrücke“ und beim notwendigen Wiederaufbau der Leipziger Paulinerkirche), ein politisch motivierter Sumpf in der CDU-SPD-Regierung in Abrede gestellt wird, der einschließlich Morden (von Barbara Beer über Walter Bullinger bis zu Oberkirchenrat Roland Adolph) alles an Abscheulichkeiten beinhaltet, was sich der Bürger nie zu denken gewagt hätte und wo im „Kuhhandel“ zwecks Leinenführigkeit der CDU seitens der Linkspartei nur noch von „Korruptionsaffäre“ gesprochen wird etc. pp.
Besonders besorgniserregend ist dabei das wie beim „politisch-operativen Zusammenwirken“ koordinierte Vorgehen im „Sachsensumpf“, wo Rechtsstaatlichkeit pervertiert wurde, indem mit teilweise unverhältnismäßig hohen öffentlichen Ressourcen und Geldern rechtsstaatliche „Fehlerkorrekturen“ unterbunden wurden und werden.
Parallel dazu werden militante Strukturen in Bereitschaft gehalten, die gleich ob über Wach- und Sicherheitsdienste, Schützenvereine oder verdeckte Gruppierungen (u.a. aus der ehemaligen NVA, Stasi oder SWR) jederzeit in der Lage sind, Befehle und komplexere und größere Operationen auszuführen. Die Gefahren, die die Block-CDU-Mitglieder für die CDU Deutschlands heraufbeschwören, hat Volker Rühe bereits frühzeitig erkannt, ohne daß er damals allerdings Gehör fand. Die bösartigen Wucherungen, die gewaltige gesellschaftliche Ressourcen zum Niederhalten demokratischer Entwicklungen binden bei gleichzeitiger Züchtung von inkompetentem Gehorsam haben indes in Sachsen bereits Milliardenschäden verursacht und einen rasanten Sympathieschwund für die CDU Sachsens. Die Führung der sächsischen CDU hat so dafür gesorgt, daß die NPD in den Landtag einziehen konnte. Dies geht einher mit weiterer Politikverdrossenheit und einem zusätzlichen Vertrauensverlust in den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.
Vor dem Hintergrund, daß es bei der Vielzahl von Affären und strafrechtlich relevanten Tatbeständen, die sich bei der sächsischen CDU-Regierungsdauer angesammelt haben, teilweise um verfassungsfeindliche Tätigkeit o.g. Strukturkader geht, die mit einem „Kohlschen Aussitzen“ nur den Abwärtstrend der CDU Deutschlands verstärken, erhöhen sich die Gefahren akut. Denn die Zahl ungesühnter Verbrechen wächst damit ständig bei gleichzeitig wachsender Abscheu bei einem immer größer werdenden Teil der Bevölkerung.
Die mittlerweile im DDR-Stil als „Nationale Front“ bezeichnete Politik in Sachsen, bei der die SMWK-Ministerin Dr. Stange für die SPD als ehemaliger SED-Kader schwer belastete Täter schützt und ebenso Geschichte klittert, und bei der die CDU-Führungsebene von der Linkspartei erpreßbar ist, führt den freiheitlich-demokratische Rechtsstaat mehr und mehr ad absurdum.
D.h. Willkürentscheidungen „bösartiger Krebsgeflechte“ wie in den beiden Fällen der Dresdner „Waldschlösschenbrücke“ und der Leipziger Paulinerkirche bedürfen umgehender politischer und juristischer Korrektur, wenn man diesen gefährlichen Prozeß umkehren will! Das ständige Herausschieben und Lavieren um einen krampfhaften Machterhalt schadet zusätzlich der bereits arg in Gefahr geratenen politischen Kultur in Deutschland. Das Desinteresse und das Schweigen der Führung der CDU Deutschlands bei der Aufklärung, Diagnose und Ursachenbeseitigung der ausufernden Krankheitsherde bereiten den Nährboden für das Wiedererstarken der Geisteshaltungen von SED und Stasi. Denn ein Großteil von deren Kadern hat das Scheitern der zweiten deutschen Diktatur bis heute nicht verwunden und setzt mit allen (!) zur Verfügung stehenden und angelernten Mitteln auf das folgerichtige Abdriften nach „links“ in eine dritte deutsche Diktatur, wenn es den freiheitlich-demokratischen Parteien nicht gelingt, verfassungsfeindliche wie kriminelle Entwicklungen und Strukturen aus ihren eigenen Gefügen zu eliminieren und im Sinne des Grundgesetzes den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ständig mit freier Selbstbestimmung, beherzter Zivilcourage und dem Sinn für das Gemeinwohl zu beleben und zu erneuern.
Wieland Zumpe Leipzig, den 20. Februar 2008
www.paulinerkirche.org Namen und Gräber Gesamtübersicht zur Planung
Anschrift: Wieland Zumpe, Philipp-Rosenthal-Straße 21, 04103 Leipzig
„Die Gleichgültigkeit und der Mangel an Wachsamkeit haben mich frappiert und irritiert.“ Werner Stiller
Anmerkungen
(1) siehe auch 5. Tätigkeitsbericht des Sächsischen Datenschutzbeauftragten Drucksache 2/6035, 2. Wahlperiode, Schutz des Persönlichkeitsrechts im öffentlichen Bereich. Dem Sächsischen Landtag vorgelegt zum 31. März 1997 gemäß § 27 des Sächsischen Datenschutzgesetzes Darin schreibt der Sächsische Datenschutzbeauftragte, Dr. Thomas Giesen: „…Obwohl das Stasiunterlagengesetz die Mitarbeiter des Arbeitsgebietes 1 der DDR-Kriminalpolizei den Mitarbeitern der Stasi ausdrücklich gleichstellt, stehen mehr als 300 von ihnen in sächsischem Polizeidienst.“ Da analog dazu auch bei anderen Ämtern und staatlichen Einrichtungen mit der entsprechenden Klientel verfahren wurde, ist zu konstatieren, daß es sich in Sachsen nicht um Einzelfälle handelt, sondern von einer generellen Unterwanderung des Landes durch verfassungsfeindliche Netzwerke der ehemaligen DDR auszugehen ist.
(2) Berichte der Untersuchungs- und Sonderausschüsse des Sächsischen Landtages, Juli 1994, Drucksache 1/4900, Abschlußbericht des 2. Untersuchungsausschusses des Sächsischen Landtages „Personalüberprüfung durch die Staatsregierung“
(3) Gutachten über die Beschäftigung ehemaliger MfS-Angehöriger bei der BStU von Prof. Dr. Hans H. Klein, Prof. Dr. Klaus Schroeder, unter Mitarbeit von Dr. Steffen Alisch, Berlin, Mai 2007
(4) „Marxrelief“ – die Bezeichnung ist fälschlich, da die Konzeptionsbezeichnung eigentlich „Leninismus – der Marxismus unserer Epoche“ heißt. Ebenso hat die damit betriebene Marx-Exegese der zweiten deutschen Diktatur kaum etwas mit den historischen Vorlagen gemein. Der 33-Tonnen-Bronzeguß wurde an die Stelle der Rossbachschen Fassade der 1968 gesprengten Universitätskirche St. Pauli gesetzt mit dem politisch-ideologischen Ziel, den weltweiten Sieg des Sozialismus-Kommunismus darzustellen. Während für die Restaurierung der eigentlichen Kunstwerke wie Epitaphien und Kanzel kein Cent bereitsteht, soll das Machwerk mit 300.000 Euro Steuergeldern einen neuen repräsentativen Standort erhalten (wo es sicherlich nach kurzer Zeit als Ziel von Sprayern einer Faschingsparade ähneln würde). Foto mit Slogan des Stura vom 5.11.2005
Begriffe
Bei den Kader- bzw. Tätergruppen handelt es sich aufgrund ihrer Bindungen, Schulungen, Instruktionen etc. um recht heterogene Strukturen, deren Verhaltensmuster stark differieren. Während B-Kader noch am wenigsten in ihrem Auftreten nach außen angeleitet wurden, ließ man den HV A-Kadern umfassende Verhaltenstrainings angedeihen, damit sie stets freundlich, höflich und zuvorkommend auftreten. Zudem sollte man sich auch bei Biographien nicht irritieren lassen. Frühzeitiger SED-Austritt kann auch Vorbereitung einer HV A-Karriere bedeuten. Eine Wehrdienstverweigerung bzw. „kürzerer“ Gefängnisaufenthalt wurden vom MfS oft dazu genutzt, diese Klientel „umzupolen“. Zudem sind bestimmte Lebenswege nach 1989 dadurch gekennzeichnet, daß deren Initiativen erst nach Bereinigung von Akten oder unter Hinzuziehung dieser als Druckmittel einsetzten.
B-Struktur – gemäß Direktive 1/67 des MfS für den Verteidigungsfall in Bereitschaft zu haltende, besonders ausgewählte Führungskader, die über die Sicherheitsbereiche der SED gesondert angeleitet wurden. Im Unterschied zur Partei- und Staatsführung der DDR mit der führenden Rolle der SED, rekrutierte man für diese taktische „Auswechselbank“ explizit Kader, die nicht als SED-Mitglieder oder als IM zugeordnet, sondern in Blockparteien, Massenorganisationen oder fachlichen Gremien angesiedelt wurden. Sie wurden als Geheimnisträger registriert und unter operativer Kontrolle gehalten.
HV A – Hauptabteilung Aufklärung, Auslandsspionage des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR
IM – Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit
POZW („Politisch-operativen Zusammenwirkens“) – Hierbei ging es darum, den Zugriff und die „Herrschaft“ über jeden Bürger zu haben, indem im Bedarfsfall sein gesamtes Umfeld gegen ihn ausgerichtet wurde (nicht nur MfS, über Parteileitungen und das Ministerium für Inneres oder der Rat der Stadt, sondern auch über auch jeweilige Betriebsleitung, Wohnungsverwaltung, Nachbarn, Freundeskreis, Sparkasse, behandelnden Arzt etc.) bis hin zur gezielten Zersetzung (siehe „Die Notwendigkeit sowie Mittel und Methoden der offensiven Bekämpfung von Erscheinungsformen des politischen Klerikalismus der evangelischen Kirche unter kirchlich gebundenen Jugendlichen und Jungerwachsenen im Verantwortungsbereich, Diplomarbeit von Hauptmann Klaus Conrad, BV Leipzig, Abt. XX vom 25.6.1980, VVS JHS 001-279/80, 93, 95).
SWR – russischer Auslandsgeheimdienst ((Службавнешней разведки - СВР), Neuformierung ab 1991 u. a. der ehemals für die Auslandsaufklärung des KGB zuständigen Ersten Hauptabteilung. Es ist kaum anzunehmen, daß die gerade in der Glasnost-Phase (insbesondere zu Putins Dresdner Zeit) reichlich angeworbenen Jungkader, die mit den Zuständen in der DDR nicht zufrieden waren, nach den Umstrukturierungen des ehemaligen KGB von ihren Pflichten entbunden wurden.
Genannte Personen
Adolph, Roland geb. 1946 in Dohna, Dresdner Oberlandeskirchenrat, mehrere Pfarrstellen von 1977-1988, ab 1988 Rektor und Vorsteher am Diakonenhaus in Moritzburg, 1995 Wahl in die Synode der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD), erschossen mit seiner Frau Petra am 5.02.1996 bei Moritzburg, befaßte sich ab 1989 mit der Sichtung von Stasi-Unterlagen. Der Fall wurde trotz einer Verurteilung und der Beteuerung der Unschuld eines Angeklagten bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Barbe, Angelika, geb. 26.11.1951 in Brandenburg an der Havel, lückenhafter Lebenslauf, ab 1986 in mehreren oppositionellen Arbeitskreisen tätig, Gründungsmitglied der SDP, dann SPD, derzeit CDU
Bartl, Klaus, geb. 23.09.1950 in Oberwiesenthal, 1979-1989 SED-Bezirksleitung, seit 1990 Rechtsanwalt und Mitglied des Sächsischen Landtages für LL/PDS/Linke, Seit 1990 Mitglied des Sächsischen Landtages.
Beer, Barbara, geb. Degen, geb. am 14.08.1946, Justizsekretärin am Amtsgericht Leipzig, vermutlich ermordet am 24. Juli 1996. Erst im Jahre 1999 wurden Teile des Schädel und des Skeletts in der Elsteraue gefunden. Angeblich war die Justizangestellte illegalen Immobiliengeschäften in Leipzig auf die Spur gekommen. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.
Bullinger, Walter, geb. 1951 in Stuttgart, Bankdirektor, seit 1991 in Leipzig, war für die Depfa-Bank und die Allgemeine Hypotheken Bank für Sachsen und Thüringen tätig, seit 1995 für die CDU im Leipziger Stadtrat, Schatzmeister der CDU in Leipzig. Er wurde am 13.10.1999 in seiner Innenstadtwohnung Petersstraße 12, zu der mehrere CDU-Mitglieder einen Schlüssel hatten, unter mysteriösen Umständen erschossen aufgefunden. Walter Bullinger war für Immobilienangelegenheiten zuständig, die auch im Arbeitsbereich des damaligen sächsischen Finanzministers, Prof. Georg Milbradt, lagen. Die Umstände des Todes und der Verbleib fehlender Unterlagen wurden bis heute nicht aufgeklärt.
Eggert, Heinz, geb. am 06.05.1946 in Rostock, Theologiestudium in Rostock, Fahrdienstleiter Deutsche Reichsbahn; Gemeindepfarrer in Oybin und Studentenpfarrer in Zittau; Landtagsabgeordneter ab 1994, Sächsischer Staatsminister des Innern vom 30.09.1991 bis 19. Juni 1995 (Beurlaubung auf eigenen Wunsch nach Vorwürfen sexueller Belästigung von männlichen Mitarbeitern).
Krause, Dr. Rudolf, geb. 19.02.1939 in Poditau (Kreis Glatz), studierte Mathematik an der Karl-Marx-Universität Leipzig, seit 1962 Mitglied der CDU, Mitglied des FDJ-Zentralrates, lückenhafte Biographie,richtete nach IM „Einsiedel“ (und vor Walter Christian Steinbach s.u.) im Juli 1990 die Bezirksverwaltungsbehörde Leipzig ein, vom 8. November 1990 bis zum Bekanntwerden diverser Dokumente am 28. September 1991 erster Innenminister des Freistaates Sachsen.
Külow, Dr. Volker, 12.11.1960 in Leipzig, Diplomlehrer Marxismus-Leninismus, IM „Ostap“ und IM „Bernau“, promovierte an der Karl-Marx-Universität Leipzig 1988 zum Dr. phil. und arbeitete von 1988 bis 1992 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, Mitglied des Sächsischen Landtages seit Oktober 2004
Metz, Dr. Horst, geb. 6.07.1945 in Groß Laasch, ab 1968 CDU-Mitglied, seit 1987 Abteilungsleiter der Wasserversorgung und Abwasserbehandlung Dresden, seit 1990 Mitglied des Sächsischen Landtages, vom 2.05.2002-30.09.2007 Sächsischer Staatsminister der Finanzen.
Stange, Dr. Eva-Maria, geb. 15. 03.1957 in Mainz, 1958 Übersiedlung der Familie in die DDR. SED-Mitglied, seit 14.09.2006 Sächsische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, derzeit SPD.
Steinbach, Walter Christian, geb. 1944 in Zwenkau, studierte Mathematik, Physik, Theologie an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leitungsfunktionen an Leipziger Ingenieur- und Fachschulen, dann als Pfarrer im Südraum Leipzig beim Aufbau von Friedens- und Umweltgruppen eingesetzt, Nachfolger von Dr. Rudolf Krause als Regierungspräsident in Leipzig („Wir können alles“, Singener Wochenblatt 29.12.2003), erst Eintritt in die SPD, derzeit CDU.
Vaatz, Arnold, geb. 9.08.1955 in Weida, ab 1987 Gruppenleiter im Bereich Computertechnik beim VEB Komplette Chemieanlagen Dresden bis 1990, 1990 bis 1991 Chef der Sächsischen Staatskanzlei; 1992 bis 1998 Staatsminister für Umwelt und Landesentwicklung im Freistaat Sachsen, Mitglied des Bundestages seit 1998; seit 2002 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion.
Winkler, Hermann, geb. 22.04.1963 in Grimma, ab 1988 CDU-Mitglied und Entwicklungsingenieur im VEB Kombinat Chemieanlagenbau Leipzig-Grimma (der Betrieb stellte u.a. Anlagen zur Verarbeitung von Rauschgift her, die nach Südamerika geliefert wurden), seit 1990 Mitglied des Sächsischen Landtages, vom 11.11.2004 bis November 2007 Staatsminister und Chef der Sächsischen Staatskanzlei, derzeit Chef der CDU in Leipzig.
Am 28. Januar 2003 faßte die Sächsische Staatsregierung einstimmig den Kabinettsbeschluß zum originalgetreuen Wiederaufbau der Leipziger Universitätskirche St. Pauli. Drei Tage später war davon keine Rede mehr. Dem damaligen Kabinett gehörten an: Ministerpräsident Prof. Dr. Georg Milbradt, Staatskanzlei Stanislaw Tillich, Inneres Horst Rasch, Finanzen Dr. Horst Metz, Justiz Dr. Thomas de Maizière, Wirtschaft und Arbeit Martin Gillo, Soziales Christine Weber, Umwelt und Landwirtschaft Steffen Flath, Kultus Prof. Dr. Karl Mannsfeld, Wissenschaft und Kunst Matthias Rößler.
https://www.paulinerkirche.org/archiv/ethik/k2/cdukrebs2.html
KOZ Leipzig
BearbeitenWie die Leipziger Stasi ein „KOZ“ verhinderte ■ Durch indirekten Einfluß über IMs und über direkten Einfluß auf die Kirchenleitung verhinderte die Staatssicherheit eine Leipziger „Umweltbibliothek“
Für die Bekämpfung des Versuch, in Leipzig ein „Kommunikationszentrum“ (KOZ) ähnlich der Berliner Umweltbibliothek einzurichten, hatte die Staatssicherheit noch im März 1989 eine gesonderte „Bearbeitungskonzeption“ entwickelt. Der Fall KOZ ist exemplarisch für das Ineinandergreifen von kircheninternen Konflikten und Stasi-Strategie. Im Deutsch des Maßnahmeplanes der Staatssicherheit: „Ziel: Vorbeugende Verhinderung der angestrebten Schaffung eines Kommunikationszentrums für kirchliche Zusammenschlüsse im Stadtgebiet Leipzig durch zielstrebige Bearbeitung der Organisatoren/Inspiratoren“. Vier IMs und ein „IM der HVA“ sollten schwerpunktmäßig eingesetzt werden. Der Trägerkreis des Kommunikationszentrums hatte im November eine Zustimmung zur Nutzung von Räumen in der Kirche Heilig Kreuz „durch den zuständigen Pfarrer Erler (erfaßt für KD Leipzig-Stadt)“. Pfarrer Erler hat „massiv gegen uns gearbeitet“, erinnert sich Brigitte Moritz vom Trägerkreis des KOZ heute. Die Stasi hat sie als „OV Julia“ im Visier. In einer Art, die ganz typisch für die Stasi-Strategie ist, habe Erler die Bemühungen des Trägerkreises verzögert: Zwei Monate lang ließ er im Winter 1988/89 den Trägerkreis in den irrigen Glauben, es gebe eine Zustimmung für die Heilig-Geist-Kirche. Auch der Superintendent Magirius hat „auf Zeit gespielt“ und die Absage nicht weitergegeben, meint Brigitte Moritz. Magirius ist frei von dem Verdacht, als IM funktioniert zu haben, Pfarrer Erler aber steht als „IM-Vorlauf“ bei der Abteilung XX/2 in der Stasi-Kartei. Deckname: „Amos“.
Bei Heilig Geist abgeblitzt bemühen sich der Trägerkreis um Räume bei der Markusgemeinde des Pfarrer Turek. Einer aus Oppositionskreisen sitzt dort im Kirchenvorstand, weiß die Stasi, und unterhält zu Pfarrer Turek „ein enges persönliches Verhältnis“. Der Leiter der Kreisdienststelle der Staatssicherheit, Schmidt, notiert die Operativinformation 78/89: „Durch Amos wurde mitgeteilt, daß Turek zum Landeskirchenamt der ev. luth. Landeskirche Sachsena nach Dresden vorgeladen wurde. Dort sei Turek heftig wegen der Verletzung der Aufsichtspflicht hinsichtlich der Herstellung von Flugblättern für die Demonstration am 15.Januar 1989 in Leipzig kritisiert worden...Das Gespräch im LKA sei durch von Oberlandeskirchenrat Auerbach geführt worden.“ Pfarrer Erler alias Amos ist über die innerkirchlichen Details sehr gut informiert. Er berichtet der Staatssicherheit von weiterem Druck auf Turek. Schließlich kam er zur Sache: „Amos schätzt ein“, schreibt Oberst Schmidt auf, „daß es T. nicht möglich ist, in seiner Gemeinde ein KOZ einzurichten. Dazu fehlen T. die Zustimmung seines Kirchenvorstandes (KV) und die geeigneten Räumlichkeiten. Zum KV wird eingeschätzt, daß dort Personen verankert sind, welche eine aktive kirchliche Arbeit betreiben und auch berufliche Stellungen nicht leichtfertig verspielen wollen. Amos erklärte sich bereit, ein offensives Gespräch mit Pfarrer T. ...zu führen.“
Der Stasi-Informant spielt eine Doppelrolle. Er spricht von Pfarrerkollege zu Pfarrerkollege, und steckt der Staatssicherheit „operativ“ interessante Informationen. Etwa die: „Amos schätzt ein, daß Turek durch den operativ bekannten Pfarrer Wonneberger in seinen Aktivitäten beeinflußt wird“. (Wonneberger war jahrelang einer der Köpfe der kirchlichen Opposition in Leipzig.) Der Stasi-Kreischef: Amos „wird offensiv zur Beeinflussung des Pfarrers T. und des KV der Markusgemeinde eingesetzt.“ Pfarrer Erler fürchtet um sein Vertrauensverhältnis, deshalb wird angeordnet: „Bei Auswertung der Information ist auf unbedingten Quellenschutz zu achten.“
Der Trägerkreis des KOZ wollte aus taktischen Gründen erstmal eine „Gemeindebibliothek“ in der Markusgemeinde einrichten. Das Vorhaben klingt so harmlos, daß eigentlich niemand etwas dagegen haben kann. Die Staatssicherheit gibt aber nicht auf. „Durch zielgerichteten Einsatz der ...inoffiziellen Quellen ist... zu sichern, ...daß die Mitglieder der Trägerkreises sich vordergründig mit innerkirchlichen und theologischen Problemen auseinandersetzen. Dazu sind operativ bedeutsame Informationen zu bestehenden Differenzen und zu widersprüchlichen Standpunkten der Mitarbeiter zielgerichtet auszunutzen und zu verstärken sowie weitergehende politisch- operative Maßnahmen zur Zersetzung, Verunsicherung und Isolierung dieser feindlich-negativen Kräfte durchzuführen...“ Die Markusgemeinde soll ausspioniert werden, unter anderem durch „Einsatz der IM der Abteilung 26“, zu deutsch: durch Telefonüberwachung und Wanzen. „Weiterhin sind Personen mit operativ-bedeutsamen Merkmalen herauszuarbeiten und deren operative Nutzbarkeit zu überprüfen.“ Jede Einzelinformation, wie harmlos sie den „Inoffiziellen“ auch erschien, wird da in ein Raster eingebaut und genutzt: „Über den Sektor Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes ...ist disziplinierend auf der Grundlage offiziell verwertbarer Informationen auf kirchliche Amtsträger wie die Superintendenten Magirius und Richter sowie den zuständigen Gemeindepfarrer Turek und den Kirchenvorstand Einfluß zu nehmen...“.
Im Quartalsbericht vom 28. März 1989 kann die Stasi Erfolg konstatieren: Turek ist vorsichtiger geworden, „Differenzen“ zum Trägerkreis sind aufgetreten. Der Trägerkreis will sich zu Säuberungsarbeiten in der Markusgemeinde verpflichten, um den Kirchenvorstand von seiner Wohlanständigkeit zu überzeugen.
Ein paar Wochen später gibt es einen neuen Lagebericht. Aufgrund von Gesprächen „zuständiger Organe mit kirchenleitenden Persönlichkeiten“ über andere Konflikte „und durch den Einsatz von IM mit Einflußmöglichkeiten wurden innerkirchliche Auseinandersetzungen ausgelöst, in deren Ergebnis sich der zuständige Superintendent Magirius (erfaßt KD Leipzig-Stadt) gegen den Trägerkreis und gegen die Installierung eines KOZ aussprach“, notiert Stasi-Major Strenger am 3.Juli 1989 den Erfolg. Der Superintendent rief bei Pfarrer Turek an. Die Staatssicherheit überwacht, wie der Superintendent funktioniert: „Entsprechend vorliegenden, streng internen Informationen hat der zuständige Superintendent dem Turek zu verstehen gegeben, daß der Trägerkreis des KOZ kein von der Kirche gewolltes Gremium ist“. Der Trägerkreis sei demzufolge „gegenüber dem Kirchenvorstand der Markusgemeinde nicht antragsberechtigt“. Ein unsinniges Argument, es diente aber zur Einschüchterung: Turek „wurde veranlaßt, die Zusammenarbeit einzustellen“. Turek erinnert sich genau an den Ukas des Superintendenten. Rückblickend sagt er heute: „Ich glaube, daß Magirius sich dem Druck sehr schnell gebeugt hat.“
Das Interesse der kirchlichen Oppositionskreise an ihrem Kommunikationszentrum wurde im Herbst 1989 von der Geschichte überholt.
taz 25.2.91
https://taz.de/Wie-die-Leipziger-Stasi-ein-KOZ-verhinderte/!1730706/
Kirche und Stasi
BearbeitenWer ist wer? — Decknamen und Klarnamen von acht Leipziger Theologen
■ Der Kirchenleitungen weichen dem Problem ihrer Verstrickung in die Stasi-Strategie aus/ taz veröffentlicht die von der Stasi als IM geführten Theologen
taz 25. Februar 1991
Die Arbeit mit „Inoffiziellen Mitarbeitern“ unter kirchlichen Hauptamtlichen war für die Stasi ein heikles Kapitel. Es dürfe „keinesfalls die mühsam hergestellten Vertrauensverhältnisse zu progressiven sowie loyalen kirchlichen Amtsträgern leichtfertig auf's Spiel gesetzt“ warnt die Schulungsbroschüre für Stasi-Hochschulkader. Bei einer Anwerbungen im kirchlichen Bereich muß vorsichtig vorsichtig die „Genehmigung vom Leiter der Abteilung XX“ eingeholt werden. Mit den „Informellen Mitarbeiten“ soll Einfluß genommen werden „besonders in den kirchlichen Gremien der mittleren und unteren Ebene, in den kirchlichen Einrichtungen und Werken, unter Laien und der kirchlichen Jugend“. „Positiven Einfluß auf die kirchlichen Amtsträger“ auszuüben ist eine Aufgabe der verdeckten Stasi-Mitarbeiter. Bündnispartner des MfS sind ausdrücklich das Staatssekretariat für Kirchenfragen, das Innenministerium, als „wesentliche Partner“ sollen der Friedensrat der DDR, die CDU, und befreundete Massenorganisationen „beachtet werden“. Ziel: „In der DDR ist vor allem durch Einsatz der tschekistischen Kräfte, Mittel und Methoden die Sammlung und Zusammenführung der verschiedenenartigsten oppositionellen beziehungsweise feindlich-negativen Kräfte... zu verhindern.“ Dazu gehört „in Abstimmung mit der Abteilung XX die Aufnahme einer theologischen Ausbildung“, um in Kreisen hauptamtlicher Kirchenleute „als Gleicher unter Gleichen“ angesehen zu werden. Die Stasi-Problematik ist ein heikles Kapitel für die Kirche, die meisten Kirchenvertreter würden am liebsten die Akten geschlossen sehen und das Thema aus der Öffentlichkeit verbannt. Jedenfalls was die Kirche betrifft. Da für Leipzig unter vorgehaltener Hand Namen genannt werden, hat das Landeskirchenamt Dresden die Gauck-Behörde um Überprüfung gegeben.
Freiwillig gestellt und offenbart hat sich keiner
Freiwillig gestellt und gesagt, was er gemacht hat, hat sich keiner. Der Assistent an der Karl-Marx-Universität, der Theologe Dr. Peter Zimmermann hat sich erklärt, nachdem Akten über ihn kursierten und „weil ich, bevor Freunde, Kollegen von mir von Gerüchten und Verdächtigungen überflutet werden, dann lieber selber sagen wollte: Ich bin's, ich habe seit Jahren mit Vertretern des Ministeriums der Statssicherheit Gespräche gehabt, also zusammengearbeitet.“ Man spürt, wie schwer das Geständnis fällt. Alle Stasi-Informanten haben ehrenwerte Motive: „Mein Motiv — ich denke wirklich — war, ein stückweit Politik mitzugestalten“, sagt Zimmermann, „die diese Gesellschaft zu einer lohnenswerten lebenswerten gemacht hat.“ Zimmermann gibt sich übers Ohr gehauen: Er habe im Nachhinein „einsehen müssen, daß wohl nichts von dem, was ich wollte, da angekommen ist, sondern daß ich eingesetzt worden bin.“ Die vorgeführte Naivität ist maßlos. Zimmermann macht immer noch glauben, er habe Politik gemacht: „Ich fühle mich schuldig, daß ich eine schlechte Politik gemacht habe und mitgemacht habe.“ Die Stasi-Akte von Zimmermann — Anwerbung 1973 — lobt ihn als „ehrlich“ und „auf Konspiration bedacht“. Er besitze eine „vorbildliche Einsatzbereitschaft“. Er war auf die Sektion Theologie der Universität und auf Kirchenkreise angesetzt. Deckname des IMB: „Karl Erb“.
„Die Dinge sind im Fluß“, mehr will der stellvertretende Dekan der Sektion Theologie an der Uni Leipzig, Petzoldt, nicht sagen. Zimmermann ist beurlaubt, die anderen Hochschulkader mit IM-Akte nicht. Der frühere Dekan der Sektion, Prof. Hans Moritz (Deckname: Martin), ist unangenehm berührt, von der taz auf das heikle Thema angesprochen zu werden. Sein Führungsoffizier lobt seine „hohe Einsatzbereitschaft“, er ist zur „Abschöpfung der Reisekader ins NSA“ zu gebrauchen und für einiges mehr. „Treffdurchführung zuverlässig.“ „Ich bin das nicht gewesen“, sagt er, „mehr möchte ich nicht sagen.“ Er möchte das Thema „lieber literarisch“ bearbeiten. Natürlich hat er als Dekan Treffen gehabt, ach was, „das sind Berührungen gewesen, Treff würde ich nicht sagen“. Haben die Berührungen auch in seiner Wohnung stattgefunden? (Das steht in der Akte.) „Auch in der Wohnung“, sagt der Theologieprofessor. Die Akte vermerkt als Datum der Werbung: 4.Dezember 1959.
Zwanzig Jahre lang „Kaderbeauftragter“ an der Sektion Theologie war Prof. Kurt Meier. Seine Position war für die Staatssicherheit besonders interessant. Der bekannte Kirchengeschichtler mit dem Fachgebiet „Drittes Reich“ wird als „IMS Werner“ geführt. Diverse Funktionen in FDJ, Deutsch-Sowjetischer Freunschaftsgesellschaft (DSF), Friedensrat, FDGB und Nationale Front belegen seine Systemtreue. „Es gelang, den IM zunehmend zur eigenen schriftlichen Berichterstattung zu erziehen“, lobt der Führungsoffizier 1987 seine Arbeit. Das war unüblich bei so ehrenwerten Berufsständen. Die Stasi wollte natürlich alles über die ideologische Ausrichtung der Studenten wissen, um damit auf die Kaderbildung der Kirche Einfluß zu nehmen. Am 19. Juli 1987 hat Prof. Meier für seine dreißigjährige treue Zusammenarbeit mit einer MfS-Urkunde und „einem Sachgeschenk ausgezeichnet“. Die Ehefrau des IM sei „seit längerem in die Zusammenarbeit mit dem MfS informiert“, die Treffs können also ohne Gefahr der Dekonspiration in der Wohnung stattfinden.
Prof. Meier räumt nur „Befragungskontakte qua Amt“ ein. Es sei schließlich darum gegangen, die „Funktionsfähigkeit der Sektion aufrecht zu erhalten“, redet er sich heraus. Vielleicht will er im nächsten Jahr etwas wie einen Lebensbericht schreiben, „über die näheren Einzelheiten kann ich jetzt keine Auskunft geben“, sagt er zur taz.
Dietmar Rostig, ordinierter Pfarrer, lehrte an der KMU. Dort ist er Leiter der Studentenabteilung, also für die Betreuung der Studenten ständig. Für die Stasi kein uninteressanter Posten. Er ist Mitglied in CFK, Nationaler Front, DSF, CDU. Bis 1985 war er im Zentralrat der FDJ. In Leipzig wundert sich niemand darüner, daß er auch bei der Stasi gewesen sein soll. Sein Deckname: „Hagen Trinks“. Seine Akte erwähnt die Kontakte in die Schweiz lobend, dort habe er unter anderem um Herausgeber des 'Evangelischen Pressedienstes‘ einen „stabilen Kontakt“ herstellen können. Angaben über Personen, beschwert sich Führungsoffizier Necker, wollte der Inoffizielle Mitarbeiter Trinks aber nicht machen, die Berichterstattung sei „zurückhaltend“. Und: „Trotz der erfolgreicher Arbeit auf inoffizieller Basis versuchte IM im Sommer 1986, die Verbindungen mit dem MfS einzustellen.“ Diese Überlegungen habe er allerdings dann „nicht mehr angesprochen“, und nach einer Unterbrechung habe es wieder „kontinuierliche Trefftätigkeit“ gegeben.
Seit ein paar Monaten ist er zu einem Forschungsaufenthalt in der Schweiz und mit anderen Dingen als der Stasi-Vergangenheit befaßt. Mit konsterniertem Schweigen reagiert er auf Nachfragen der taz zu seiner Stasi-Tätigkeit und sagt, er werde nicht mehr lange an der Leipziger Uni arbeiten. Die Akte, sein Deckname, seine Stasi-Treffs? „Dazu möchte ich nichts sagen.“ Er dementiert nicht, antwortet auf Nachfragen nicht, er schweigt betreten, legt schließlich auf.
Dr. Heinz Langer, Lehrer an der Fachhochschule für Körperkultur und Sport, war als „IM Hans Georgi“ geführt. Die Akte beweist sein distanziertes Verhältnis zur Firma. Am 9.Februar 1989 hat der der Stasi einen Brief geschrieben, daß er nicht mehr mitmachen will. Das ging also auch.
Auch mit „IM Physiker“ dokumentierte die Stasi intern ihre Unzufriedenheit. Udo Münnich vom Institut für Medizin-Technik, geworben 1982, „gilt als linksradikal“ und ist „teilweise noch berührt von der Detailkritik üblicher Art“. Als Motiv, mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten, steht bei ihm: „Humanistische Gründe. Verhinderung von Konfrontationen im Verhältnis Staat-Kirche“.
Das Landeskirchenamt läßt fünf seiner Theologen überprüfen
Das Landeskirchenamt Dresden weiß von Gerüchten über vier Pfarrer und einem anderen Mitarbeiter. Matthias Berger (IM Carl) ist einer von ihnen. Pfarrer Wolfgang Erler war im „IM-Vorlauf“, Amos sein Deckname. Er verlies seine Gemeinde und ging in den Westen, derzeit ist er im Emsland bei der Landeskirche Hannover angestellt.
Pfarrer Peter Weiß (Deckname „Klaus“) gibt sich, auf seine IM-Akte angesprochen, „völlig verstört“. Jahrelang war er im Hauptvorstand der CDU, die nach der Flöte der SED tanzte. Natürlichen war er „Systemträger“, räumt er ein, hat öffentliche Reden gehalten, halten müssen. Und dann erzählt Pfarrer Weiß, wem er wie hat helfen wollen. „Aus Dummheit“ sei er in die CDU gegangen, allerdings schätzt er sich „nach wie vor als links orientiert“ ein und fühlt sich „nicht schuldig“. Natürlich hat er mit vielen Leuten zu tun gehabt, über deren Echtheit er nun Zweifel habe. Und er habe eine „offenherzige Art zu reden“.
Es ist ein Gemisch von glaubwürdigen Dementis und Vorbereitungen für Ausflüchte. Eine IM-Akte? „Datum der Werbung 1972“ steht darin. „Das haut mich um“, sagt Pfarrer Weiß betroffen zur taz. Das Paßfoto in der Akte? Bei der CDU habe er oft Paßfotos abgeben müssen. Daß er von der Stasi als IM geführt worden sei, höre er zum ersten Mal, versichert er mit betroffenem Ton.
Lügt er? Anruf beim Landeskirchenamt Dresden: Vor Wochen hat Pfarrer Weiß schriftlich mitgeteilt bekommen, daß er wegen der Verdachts der Stasi-Mitarbeit von der Gauck-Behörde überprüft werde.
Pfarrer Walanfried Peuker ist der vierte von der Liste des Landeskirchenamtes, „IM Prager“ sein Deckname. Datum der Anwerbung: 24.April 1975. Die Stasi-Akte dokumentiert, daß er sich weigerte: Wirksamkeit des IM in der CFK „konnte nicht erreicht werden“, das „Informationsaufkommen“ des IM „ist begrenzt“, Feindbekämpfung ist mit ihm „kaum realisierbar“. Nur wenige IMs haben von der Stasi derart ihre Störrigkeit bescheinigt bekommen.
Im Kirchendienst, allerdings nicht als Pfarrer, steht auch „IM Friedrich“, Ernst Otto Drephal. Sein Bruder war Hauptamtlicher. Er scheint überzeugter Gegner der radikaleren kirchlichen Friedensarbeit. Seine Akte vermerkt: „Distanziert sich von der Losung ,Frieden schaffen ohne Waffen' und von den extremen Aktivitäten des sozialen Friedensdienstes“, das heißt der Initiative des Pfarrkollegen Wonneberger. Immerhin stellt der Führungsoffizier fest, er habe einige „subjektiv gefärbte und idealistische Auffassungen“, kein sicherer Kantonist also, Einsatzmöglichkeiten sind nur „bedingt vorhanden“.
--Methodios (Diskussion) 19:04, 26. Jun. 2023 (CEST)
- ↑ Kein Kirchenchor. In: Der Spiegel. Nr. 12, 1998, S. 46
- ↑ Blumen in der Sonne. In: Der Spiegel. Nr. 43, 1974, S. 68–73
- ↑ SED-ERBE – Schluß mit dem Wühlen; in: FOCUS 49/1998