Vorbemerkung: Der nachfolgende Text bezieht sich auf die Zeit zwischen 1943 und 2008. "Amüsanter" ist der erste Teil (Jugend: 1943-1975). Im zweiten Teil wird der Unibetrieb kritisch beleuchtet und meine eigene wissenschaftliche Arbeit beschrieben. Intellektuell am fruchtbarsten war die letzte Phase meines Lebens ab 2008. Die Gedanken ab 2008 sind in meinem Blog zu finden.
Bearbeiten

Eudaimonie: 68 Jahre Reflexion über glückbringende Strukturen.

Bearbeiten

Pädagogik, Didaktik, Anthropologie und Zeitgeschichte

Bearbeiten

Ich möchte mich bei Walter Böhme bedanken, der meine Aktivitäten kritisch-konstruktiv seit mehr als zehn Jahren unterstützt.

Erster Teil: Das Sein bestimmt das Bewusstsein

Bearbeiten

Ein blonder und blauäugiger, guterzogener Junge

Bearbeiten

Geboren wurde ich 1943, also noch während des Krieges. Meine Eltern stammten aus dem gehobenem Mittelstand mit entsprechendem Bewusstsein: "Wir sind was Besseres". Leider war es nach dem Krieg nicht mehr möglich, nur aufgrund eines seit einigen Generationen angesammelten Kapitals gut zu leben, so dass die materielle Basis für das Bewusstsein, wir seien "etwas Besseres", meinen Eltern entzogen wurde. Wir waren zwar finanziell nicht mehr was Besseres, aber das Bewusstsein blieb. Das Terrain für rechtes Gedankengut war somit geliefert. Als die Botschaft aus Deutschland kam, dass Germania ganz Europa von den Juden und den Kommunisten befreien würde, fanden meine Verwandten, dass es eine gute Idee war. Dann könnten "echte" Franzosen wieder zu ihrem früheren Status, der durch die jüdischen Bankiers und sonstige Vaterlandlosen ruiniert war, zurückkehren. Schließlich waren sie Franzosen und ihnen gehörte das Land. All diese Vorstellungen wurden noch genährt durch die romantischen Lektüren meiner Mutter und ihre Präferenz für große, blonde Männer. Entsprechend dieser Ideale wurde ich liebevoll, aber streng erzogen: bereits als ich 3 Jahre war führten winzige Übertretungen von Gesetzen, die ich nicht kannte, zum Nachtischentzug: "privé de dessert". Es gab keine Schläge, kein Geschrei, aber eben Nachtischentzug. Diese Maßnahme wurde eingesetzt, bis ich mit 10 Jahren ins Gymnasium kam und dort Mittag aß, inklusive Dessert. 1945 erhielt mein Vater eine Stellung bei den Behörden, die am Bodensee die alten Zeppelin-Fabriken nach Frankreich transportierten, während die Deutschen über den Marshallplan nagelneue Anlagen erhielten. Mein Vater, den ich als monarchistischen Anarchisten bezeichnen muss und der es in der französischen Armee aufgrund dieser Gesinnung nie weiter als zum Gefreiten gebracht hatte, erhielt für diese Gelegenheit die Uniform eines Majors, weil es sich in seinem Job in Deutschland gegenüber der dortigen Bevölkerung besser machen würde. Die Uniform trug er nie korrekt, sondern immer seltsam vermischt mit Elementen aus seiner privaten Garderobe. Auf jeden Fall war meine Mutter, die selbst sehr mit ihrer Schönheit beschäftigt war, stolz auf mich. Ich war blond und blauäugig, also durchaus germanisch, dazu sehr höflich, und alle fanden mich sehr nett: "Ce qu'il est bien élevé, ce petit Jean-Pol, et ce qu'il est gentil".

Die ersten Sorgen

Bearbeiten

In Frankreich herrscht - auch heute noch - das System der "Grandes Ecoles", also der Elite-Hochschulen. Diese wurden von Napoléon gegründet, um eine leistungsfähige, moderne Führungsschicht zu bilden. Ursprünglich handelte es sich um Ingenieursschulen, wie Polytechnique, L'Ecole Centrale, Les Mines und l'Ecole Navale. Im Laufe der Zeit nahmen diese Ingenieure alle wichtigen Stellungen im Staat ein, und wer nicht aus einer Grande Ecole stammte, hatte keine Aussicht auf eine höhere Position, sei es im Staatsapparat, sei es in der Privatwirtschaft. Die Situation hat sich kaum verändert, nur dass ein paar weitere "Grandes Ecoles" dazu gekommen sind für den Bereich der Wirtschaft, der Verwaltung und der Politik. Prinzipiell gelten Naturwissenschaften, vor allem Mathematik sehr viel, und die Geisteswissenschaften gar nichts. Wer in Mathematik nicht gut ist, hat in Frankreich praktisch verloren. Und ich war sehr schlecht in Mathematik. Andererseits war ich vom Ehrgeiz meiner Mutter infiziert, hatte wie jedes französische Kind auch die Klassiker gelesen, die Ruhm als das höchste Gut im Leben darstellten, und wollte ja glücklich werden. Ich hatte einen Film gesehen "Le grand pavois", der auf einen Marineoffizier fokussierte. Dieser trug eine tolle Uniform und eroberte mühelos die Heldin. Von diesem Tag an antwortete ich auf die Frage, was ich später werden wollte: "Marineoffizier". Das freute meine Mutter. Ich war erst zehn Jahre alt, aber ich wusste schon, dass man, um Marineoffizier zu werden, sehr gut in Mathe sein muss. Was nun?

Marineoffizier, Marinearzt, Deutschlehrer: es gibt keinen Halt nach unten

Bearbeiten

Da halfen kein Ächzen und Würgen, keine Nachhilfestunden, ich war schlecht in Mathe. Als ich 12 Jahre alt war, kamen noch Chemie und Physik dazu, und auch in diesen Fächern war ich schlecht. Das will nicht heißen, dass ich in Französisch, Latein und Geschichte eine Kanone gewesen wäre. Da war ich "passable". Allmählich stiegen meine Schulkameraden in die Pubertät ein. Ich war etwas jünger und beneidete sie wegen ihrer Muskeln. Sie waren auch stark gewachsen, ich nicht und auf den Gruppenfotos saß ich ganz vorne, in der ersten Reihe, in kurzen Hosen und neben dem Lehrer. Meine Ziele zu diesem Zeitpunkt waren keine schulischen: ich wollte a) zehn Zentimeter größer sein, b) eine lange Hose bekommen und c) wie die coolen Typen in der Klasse rote Socken mit schwarzen Mokassins tragen. Meine besten Freunde gingen zu Partys, nahmen mich nicht mit und ich beschloss, mich kontrapunktisch zu positionieren: nur noch Milch trinken und jeden Tag vor Schulbeginn eine Stunde auf dem Sportplatz zu verbringen. Das war nicht sexy, aber ich sah keinen anderen Weg. Schulisch hatte ich mich zu einer absoluten Niete entwickelt und dabei Jacques Rappoport erreicht, der ebenfalls leistungsmäßig ganz unten auf der Skala stand. Es war immer ein tolles Gefühl, wenn der Physiklehrer mit angeekeltem Ausdruck mich in einem Atemzug mit Jacques nannte "vierzigster und einundvierzigster: Martin und Rappoport". Wir waren 41 Schüler und bei der Rückgabe der Schulaufgaben wurde nach Rangliste verfahren. Heute ist Jacques Rappoport, mit Künstlername Jacques Livchine, die Ikone des französischen Straßentheaters (siehe z.B. Theater für Hunde, 1982). Allmählich war das Ziel, Marineoffizier zu werden, nur noch eine poetische Konstruktion, die innerfamiliär aufrechterhalten wurde. In der Oberstufe wechselte ich von der A-Klasse (Mathematik) zur B-Klasse (Biologie), denn ich sah die Möglichkeit, wenn schon nicht richtiger Marineoffizier, doch Marinearzt zu werden (mit roten Epauletten). Nach dem mit Verzögerung bestandenen Abitur studierte ich tatsächlich Medizin in Brest, der Vorstufe zur eigentlichen Hochschule für Marineoffiziere, die sich in Bordeaux befand und in die man über einen Wettbewerb gelangte. Das Studium in Brest war sehr hart. Von etwa 60 Leuten schafften nach unendlicher Plackerei gerade 9 die Abschlussprüfungen, was im Bereich französischer Elitestudiengänge normal ist. Natürlich gehörte ich nicht zu diesen 9, denn im Laufe der Jahre war ich in Mathe, Physik und Chemie nicht besser geworden, und es sind nun einmal Fächer, die zu Beginn des Medizinstudiums im Zentrum stehen. Da ich aber unbedingt in diese Ecole Santé Navale in Bordeaux wollte, verlegte ich meinen Studienort von Brest nach Bordeaux, wo ich mich an der Medizinischen Fakultät einschrieb. "Einschrieb" ist der richtige Begriff, denn viel mehr tat ich nicht. In den Vorlesungssälen saß ich neben den Leuten, die die Prüfung in Brest bestanden hatten und beim Eintrittwettbewerb in die Militärakademie erfolgreich gewesen waren. Ich blickte neidisch auf ihre Uniformen, teilweise auch mit Kennerblick, denn ich arbeitete, um etwas Geld zu verdienen, in einer Wäscherei, die just die Hemden dieser Eleven reinigte. Ein bisschen bitter war es schon!

Erste, kleine Metareflexion
Bearbeiten
Was macht ein junger Mensch, der ehrgeizig ist, aber seine Lebensgier nicht über den von der Gesellschaft vorgezeichneten Weg - erfolgreiches Studium - stillen kann? Meine Lebensgier konzentrierte sich sehr stark darauf, eine gute Figur auf eleganten Partys zu machen, wie man es in den Romanen von Balzac (Eugène Rastignac in Le père Goriot) lesen kann und Mädchen zu "erobern". In den Kreisen, in denen ich mich in Paris und in Bordeaux bewegte, war es sehr wichtig, lustig zu sein, gut angezogen, interessante Leute zu kennen und perfekt zu tanzen. Und zwar in dieser Reihenfolge. Dieses Modell stammte aus der Pariser Salonkultur des 18. Jahrhunderts, auch wenn dieser historische Bezug uns natürlich nicht bewusst war. Sich gut anzuziehen und perfekt zu tanzen ist eine mechanische Angelegenheit. Man kann es lernen. Aber wie wird man lustig? Ich hatte einen Onkel, der sehr gut aussah, toll angezogen und sehr lustig war und bei den Frauen super ankam. Er war mein Lehrmeister. Heute noch zeige ich Gesichtsausdrücke oder Körperhaltungen, die ich mit 16 Jahren von ihm abgeguckt und internalisiert habe. Er nahm mich überall mit und schenkte mir abgetragene Mäntel, Schuhe, Hemden, Strümpfe, die zwei Größen über meinem Wachstumsstand lagen, die ich aber mit Stolz trug, weil es von ihm stammte. Seinen Humor sog ich ein. Seinen Zynismus zum Teil auch. Im Unterricht bemühte ich mich wie in allen anderen Lebensbereichen auch um Anerkennung. Diese erlangte ich - allerdings immer nur punktuell - durch besonders ausgesuchten Unsinn. Ich erinnere mich, wie ich mich gefesselt in einen Schrank im Klassenzimmer einsperren ließ, um während der Stunde durch großen Lärm auf den Schrank, also auf mich die Aufmerksamkeit zu lenken. Das amüsierte meine Mitschüler sehr, aber leider nur kurzfristig. Ich musste mir immer wieder was Neues und Aufregenderes einfallen lassen, wie z.B. einen lebenden Kakadu aus der Biologiesammlung zu entwenden und im Klassenzimmer loszulassen, weil unser Philosophielehrer sehr ängstlich war und den Flug-Attacken des Vogels mit sorgenvollem Gesicht, hilflos gegenüberstand. Der Weg war also gezeichnet: wenn es mir nicht gelang, über positive Handlungen (Weg der Tugend) Erfolg zu haben, dann war ich gezwungen, es mit "bösen" zu versuchen. All das natürlich unbewusst. Das Sein bestimmte, wie immer, das Bewusstsein.
Bordeaux
Bearbeiten

Ich komme zurück zu meinem Leben in Bordeaux und schildere, wie ich unter die Schwulen kam.

(Ich habe bereits eine ganze Reihe von Rückmeldungen erhalten und sehe, dass ich mit meinen Schilderungen schon jetzt tiefere Schichten menschlicher Lebensbewältigung berühre. Die Deskription meiner Eltern beispielsweise regt mir nahestehende Leser zum Nachdenken an und zur Reflexion über die eigene Biographie. Daher ist es angebracht, dass ich vorsichtiger voranschreite und - zumindest für dieses Buch - Abstand von der Losung "no risk, no fun" nehme. Schließlich geht es hier nicht nur um mich als Gegenstand der Beschreibung (im Sinne der Aktionsforschung), sondern auch um andere Menschen, die ich fast ausnahmslos "liebe". Auch wenn ich sie nicht lieben würde, müsste ich behutsam vorgehen.)

Was Bordeaux angeht, so mache ich es kurz. In Bordeaux war ich anfänglich recht einsam, denn ich kannte kaum Menschen. Im Gegensatz zur Situation am Gymnasium wäre es im Hörsaal der Anatomie in Bordeaux nicht zielführend gewesen, Kakadus loszulassen. Ich legte meine Strategie ganz darauf an, durch mein Aussehen und meine Kleidung positiv aufzufallen. Ich hatte ein paar Studenten ausgemacht, die ebenfalls durch elegantes Auftreten hervorstachen und hoffte, durch lässiges Hin- und Herschlendern, Wohlgefallen zu erregen. Besonders konzentrierte sich mein Begehren auf einen Studenten mit Glenschecksakko, Flanellhose und vor allem auf seine Begleiterin, die wie Michèle Morgan aussah, also tiefblaue Augen besaß und einsetzte. Ich selbst trug die roten Schuhe meines Großvaters und das zu weite, abgetragene aber sehr teure karierte Sakko eines reichen Bekannten meines Onkels. Insgesamt eine distinguierte Erscheinung. Dummerweise hatte ich auch eine Sonnenbrille aufgesetzt und erfuhr später, als ich mit den beiden befreundet war, dass sie sich immer wieder über diesen Faux-Pas lustig gemacht hatten. Aber so weit sind wir nicht. Ich sitze also im Hörsaal und überlege, wie ich andocken kann. Der Vorgang dauerte etwa acht Monate, von Oktober bis Juli. Bald hatte ich nämlich eingesehen, dass die Stunden, die ich im Lehrsaal verbrachte, verloren waren. Die beiden Schönen waren mit dem Stoff beschäftigt, und ich selbst konnte mich auf die Vorlesungen in Biochemie und Histologie nicht ausreichend konzentrieren. Also setze ich mich ins Café direkt vor dem Eingang der Medizinischen Fakultät und las Le Monde, Art, Les Cahiers du Cinéma und Jazz-Hot. Die Bügelfalte meiner Hose war perfekt, meine Schlipse und Hemden waren exakt auf die Farbe des Sakkos abgestimmt. Ich wartete auf Mädchen, die mir als hübsch aufgefallen waren, und wenn sie aus dem Hörsaal herauskamen, sorgte ich dafür, dass mein Profil, Le Monde, meine Socken und meine Schuhe ein überzeugendes Gesamtbild ablieferten. Einmal lächelte mich tatsächlich eine kleine Blondine an und setzte sich neben mich. Die Beziehung dauerte nicht sehr lange. Die Tage und die Monate vergingen. Ich hatte Le Clézio (blond und blauäugig) gelesen und fing an, ihn zu imitieren. Le Clézios Stil, damals "nouveau roman", war unglaublich langweilig. Vor kurzem hat er den Nobelpreis erhalten. Immerhin gelang es mir also, mit meinen 20 Jahren den Eindruck nach außen zu vermitteln, eines schönen, gelangweilten Intellektuellen, der bereits alles im Leben gekostet hatte und den Tod herbeisehnt. Und den Tod sehnte ich mir tatsächlich mittlerweile herbei. Ich wollte mich umbringen, und dieser Wunsch begleitete mich mehr oder minder intensiv bis zu meinem 24. Lebensjahr.

Flashback: zwischen 15 und 20

Bearbeiten

Um das zu verstehen, muss ich einen kleinen Flashback einfügen. Meine Erzählung habe ich zwar linear angelegt, aber Biographien verlaufen nicht einstrangig und ich muss rückblickend schildern, was ich, neben den permanenten Misserfolgen in Schule und Studium, zwischen dem 15. und dem 20. Lebensjahr sonst erlebt hatte.

Pause wegen Frankreichtour mit Schülern und Studenten bis zum 8.06. - Wir werden zwei Nächte in der Jugendherberge in Bordeaux verbringen

Bearbeiten

Ich bin zurück von meiner Frankreichtour und möchte einen weiteren Exkurs einflechten. Auf diese Weise gewinnt mein Text eine seltsame Kontur. Literaturwissenschaftlich könnte man von einem Palimpseste sprechen.

Bearbeiten

Treffen mit Jean-François Arnaud in Bordeaux

Bearbeiten

Da ich meine Biographie verfasse, hatte ich, als ich im Bus am Mikro über mein Leben in Bordeaux erzählte, meinen Text noch ganz im Kopf und ich habe ihn fast wörtlich den Schülern, Studenten und dem Fahrer vorgetragen. Insbesondere die Tatsache, dass ich in dem Café vor der Medizinischen Fakultät saß, mit roten Schuhen und Superanzug, auf eventuelle Ansprachen wartend. Bisher habe ich nicht erwähnt, dass ich zwar sehr einsam in Bordeaux war, aber einen Freund hatte, mit dem ich mich jeden Tag traf. Das war Jean-François Arnaud. Jean-François kam zu dieser Zeit bei den Damen nicht so super an, aber er war sehr intelligent und sehr gebildet. Und da in dieser Zeit noch in der Folge des Existentialismus im Kino die Nouvelle Vague herrschte, die das Modell des sehr intelligenten, sehr verzweifelten und menschenverachtenden Schönlings transportierte, war es naheliegend, dass Jean-François, wenn auch nicht schön, trotzdem aufgrund seiner Intelligenz alle anderen verachtete und für sich selbst den Schritt in den Tod, oder zumindest in die Schizophrenie ins Auge gefasst hatte. Diesen Weg hatte er mir auch empfohlen und er versorgte mich mit entsprechenden Lektüretipps, beispielsweise von Kierkegaards "Le traité du désespoir". Über mich hatte er ein paar hübschere Mädchen kennengelernt, aber er hatte sie durch Taxierung ihrer Gehirnmasse unmöglich gemacht, auch in meinen Augen. Auf diese Weise hatte er sowohl meinen Hang zum Intellektuellen verstärkt, aber auch meine Vereinsamung gefördert sowie meinen selbstmörderischen Absichten ein theoretisches Fundament geliefert. Später hat sich Jean-François mitnichten umgebracht, sondern er hat eine ansehnliche Arztkarriere verfolgt. Jedes Mal, wenn meine Frankreichtour mich über Bordeaux führt, treffe ich mich mit ihm. Auch dieses Mal. Er hat mich in ein sehr teures Restaurant eingeladen. Ich habe ihm erzählt, dass ich eine Biographie verfasse und er hat sich sehr interessiert gezeigt. Er hat mir ein paar Details in Erinnerung gebracht und möchte durch einen kleinen Beitrag diese Biographie anreichern. Ich werde seinen Text in den Anhang einfügen, denn als großer Egozentriker wird er nur über sich sprechen und das Thema leicht verfehlen, denn hier geht es über mich. Auf Jean-François Arnaud werde ich ohnehin später öfter zurückkommen.

Flash-Back (Fortsetzung)

Bearbeiten

In Paris mit 15: Jacques Rappoport

Bearbeiten

Parallel zu meiner missglückten schulischen Laufbahn explorierte ich die Welt, wie sie sich mir anbot. Mein Selbstbild war geprägt durch das Bewusstsein, im 16. arrondissement, dem chicsten Viertel von Paris zu leben. Ich hatte mich mit Hilfe von Jacques Rappoport (später Jacques Livchine) der coolen Gruppe der Klasse ansgeschlossen. Die Eltern von Jacques waren jüdische Industrielle und hatten eine große Wohnung direkt neben unserem Gymnasium. Sie waren sehr großzügig und luden permanent die Freunde ihrer Kinder ein, so dass ich mich dort wie zu Hause fühlte. In der Clique war ich - weil etwas jünger und sehr schüchtern - Mitläufer und graue Maus, und litt sehr darunter. Immerhin durfte ich bei Partys, dank meiner Freundschaft zu Jacques, dabei sein. Ich war auch dabei, als wir in den Cafés neben dem Lycée Lafontaine, dem Mädchengymnasium, Flipper spielten und hübsche Mädchen wie die spätere Catherine Deneuve und ihre früh gestorbene Schwester Françoise Dorléac trafen. Ich war 15. Mit Jacques, der mir seine Jeans und ein Mofa auslieh, fuhren wir ganze Nächte durch Paris durch und landeten oft in zweifelhaften Lokalen, deren Substrat wir nicht durchschauten. Wir wussten nicht genau, warum ältere Herren uns dort hineingelockt hatten. Wir kamen genauso unschuldig heraus, wie wir hineingeraten waren, aber es waren immerhin Erfahrungen. Wir hatten Freunde, die sich von Männern Geschenke machen ließen, oder auch solche, die uns hofierten und bestimmte Lektüren pflegten, wie die Bücher von André Gide und von Roger Peyrefitte. Aber Homoerotik war unsere Sache nicht. Wir waren extrem auf Mädchen fixiert und sie waren Ziel aller unserer Aktivitäten. Das kann man gut verstehen, wenn man bedenkt, dass in den 50er Jahren eine strikte Trennung zwischen Jungen- und Mädchenschulen herrschte. Meine einzige Chance, etwas näher an ein Mädchen heranzukommen, war meine Kusine oder die Schwester von Freunden. Nachdem ich sitzengeblieben war, wurde ich in ein Internat, in Caen, verlegt.

Im Internat in Caen von 16 bis 18

Bearbeiten

Dort baute ich meine Fähigkeiten aus, Aufmerksamkeit über ausgesuchte Streiche zu erlangen. Eingeübt wurde auch die Kunst, perfekt zu lügen, denn ich wurde immer wieder ertappt und musste mich durch redlichen Gesichtsausdruck aus den diversen Affären ziehen. Hier ermahne ich den Leser, sich nicht von mir zu distanzieren, denn Lügen gehören zu den Basics der Alltagsbewältigung, nur dass einige sich geschickter als andere anstellen. Die weniger Geschickten erklären sich dann selbst für zu redlich, um die Unwahrheit glaubhaft zu vertreten. Sie machen aus der Not eine Tugend. Im Internat in Caen also machte ich viele Streiche und war ganz stolz, permanent im Arrest bleiben zu müssen. Es gab, je nach Vergehen, zwei Stufen: Donnerstagsnachmittagsarrest (also ein Nachmittag) und Wochenendarrest (also Freitag Nachmittag, Samstag und Sonntag). Bekanntlich ist in Frankreich Ganztagsschule, aber wir hatten den Donnerstag Nachmittag frei. Bei Arrest natürlich nicht, da musste man im Internat bleiben. Als Internatszöglinge trugen wir graue Kittel. Die Externen, die mit uns am Unterricht teilnahmen, waren normalbürgerlich angezogen. Wir aus dem Internat hatten unsere Kittel an, was uns einen besonderen Status verlieh. Auf dem Ärmel hatten wir die Gewohnheit, ähnlich wie bei Soldaten, Rangabzeichen je nach Zahl und Qualität der Arreste anzubringen: einen geraden blauen Strich für einen Donnerstagsarrest und einen roten, schrägen Strich für die Wochenendstrafen. Ich hatte bei weitem die meisten Striche und fühlte mich wohl dabei. Dennoch konnte ich einer Phase dem Mobbing nicht ausweichen. Ich hatte in meiner anfänglichen Einsamkeit im Internat einem scheinbar Geistesverwandten anvertraut, dass ich, der aus dem 16. Viertel in Paris kam, mich in der eher bäuerlichen Schülerpopulation nicht ganz wohl fühlte. Natürlich seien es nette Kerle, aber die Art und Weise, wie sie angezogen waren, lasse an Klasse und Eleganz fehlen. Er selbst war Sohn eines Notars, für meinen Geschmack trug er chice Kleidung und ich dachte, er würde meine Empfindungen nachvollziehen oder sogar selbst teilen. Ich denke, er hat es den anderen erzählt - ohne Böses zu wollen - und das kam nicht gut an. Da ich ohnehin durch meine vielen Arreste aufgefallen war, nicht nur positiv - einige fanden es lustig, die anderen fanden es nur dumm -, bot ich mich als Mobbingopfer an. Das Mobbing sah so aus, dass ich mich am Tisch als Letzter bedienen durfte und die schlechtesten Stücke erhielt oder beim Nachtisch dann ganz leer ausging. Das hatte ich als Kleinkind schon geübt, als meine Eltern mich zur Ertüchtigung "privé de dessert" deklarierten. Natürlich gab es auch allerlei verbale Demütigungen. Im Schlafsaal musste ich befürchten, immer wieder in der Nacht aus dem Bett geworfen zu werden, wie einige andere Rangniedrige auch. Oder, wenn es schneite, musste ich mich im Pausenhof verstecken, denn ich wurde gerne zur Zielscheibe von Schneeballwürfen. Im Unterricht schließlich wurde ich verspottet, und da ich sehr schüchtern war, lachten meine Kameraden, wenn ich aufgerufen wurde, und sie flüsterten "rot werden, rot werden, rot werden", weil sie wussten, dass ich bei jedem noch so harmlosen Anlass errötete. Das war die Situation, die ich meistern musste. Nun verhält es sich so, dass in den unteren Hierarchierängen in einer Gruppe sehr genau differenziert wird. Für denjenigen, der noch jemanden unter sich hat, gibt es Hoffnung. Er beobachtet präzise, wie der noch Niedrigere behandelt wird und wie mit dem umgegangen wird, der direkt über ihm liegt. Das sind die beiden Orientierungsmarken. Das Wohlbefinden hängt davon ab, dass der Untere deutlich mehr leiden muss als man selbst und dass der direkt über einem gar nicht viel besser behandelt wird als man selbst. Und so arbeitet man sich schrittweise hoch. Man nähert sich dem Ranghöheren, indem man sich mit jemandem gutstellt, der über ihm liegt. Das klingt kompliziert, aber diese Strategien bestimmten meinen Alltag. Um den Qualen des Mittags- und Abendessens zu entgehen, bat ich die Aufsicht, mich an einen anderen Tisch zu versetzen. Und ich hatte das Glück, dass ich an den Tisch der Abschlussklasse gesetzt wurde. Dort konnte ich mich mit einigen Rangniedrigen befreunden, die lagen aber gegenüber meinen früheren Tischgenossen hierarchisch viel höher. So kam ich aus der Mobbingphase heraus, die immerhin ein halbes Jahr gedauert hatte. Inzwischen war ich 17 und es gelang mir, das erste Abitur (damals gab es in Frankreich das Abitur I und das Abitur II) zu schaffen. Da ich in Caen schulisch erfolgreich gewesen war, blieb ich auch das folgende Jahr dort. Allerdings konzentrierten sich meine Aktivitäten darauf, den sozialen Aufstieg, den ich auf den Weg gebracht hatte, auszubauen und zu genießen. Ich wurde mit ein paar anderen zum Verantwortlichen für die Schülerkooperative ernannt, ausgestattet mit einer Reihe von Privilegien, die sich negativ auf den schulischen Einsatz auswirkten. Auch in der Stadt Caen selbst konnte ich Anschluss zu den lustigen Kreisen finden und entsprechend Partys feiern. Ich war gewachsen - ich maß 1.79m -, was mir mädchentechnisch einen Vorsprung gegenüber meinen französischen Kameraden und Konkurrenten (Durchschnitt damals 1,70m) verschaffte. Für mein Selbstbewusstsein war es hervorragend. Am Ende dieses Schuljahres konnte ich nicht an meinen Abitur-I-Erfolg anknüpfen. Abitur-II schrieb ich in einem hellgrauen Anzug, mit einem Schal von Hermes um den Hals, den ich in der Pariser Metro gefunden hatte. Während der Prüfungen freute ich mich sehr auf die anschließende Party, die in einem Landhaus stattfand. Auf jeden Fall fiel ich durch und kam wieder nach Paris zurück, um das Abitur-II noch einmal anzugehen.

Wieder in Paris mit 18 und 19

Bearbeiten

In Caen hatte ich in den zwei Jahren einige Kompetenzen aufgebaut, die mir in Paris sehr nützlich sein sollten. Zum einen hatte ich durch die regelmäßigen Störungen des Unterrichts und die anschließenden Beteuerungen, ich hätte absolut nichts getan, meine Verstellungskunst perfektioniert. Zwar war ich nicht konstant erfolgreich, aber es gelang mir immer besser, Ehrlichkeit und Empörung über die falschen Verdächtigungen in meinem Gesicht abzubilden. Auch Krankheiten konnte ich den Schwestern in der Krankenstation immer geschickter vortäuschen. Ich musste zwar einige Tabletten oder Brech-Durchfall-Pulver schlucken, aber das tat nicht so weh wie eine 6 in einem Erdkunde-Extemporale. Zum erfolgreichen Lügen musste man nur fest an den vorgespielten Sachverhalt glauben. Daran hielt ich mich immer, auch als ich mit 26 aus gegebenem Anlass eine Ärztekommission davon überzeugen musste, ich sei schwul. Aber zurück zu den Qualitäten, die ich während des Aufenthaltes in Caen gewonnen hatte. Ich war noch weiter gewachsen und erreichte nun 1,82 m. Meinem sportlichen Ehrgeiz hatte ich in Caen Nahrung liefern können und ich hatte mich auch figürlich zu einem ansehnlichen Jungen entwickelt. Ich hatte endlich die muskulöse Beschaffenheit, die ich mir als Fünfzehnjähriger so sehr gewünscht hatte. Ferner hatte ich in Caen einen Judokurs besucht, bei dem ich zwar nie weiter als bis zum gelben Gürtel gelangte, weil es für einen Internatsschüler schwer war, die Tatami-Sitzungen zu besuchen, der mir aber einen gewissen Vorsprung bei körperlichen Auseinandersetzungen verlieh. Ich war das geworden, was Franzosen und vor allem Französinnen "beau gosse" nennen. Schließlich, und vielleicht auch erstaunlich: in Caen hatte ich im Internat von Mitschülern das Tanzen gelernt (was man damals bop nannte, eine Art vercoolter Rock'n Roll). Und so stieg ich im September 1961 in das Schuljahr ein, das mir rückblickend als das schönste meiner Jugendzeit erscheint.

Moralvorstellungen in den 60er Jahren
Bearbeiten

Damit jüngere Leser besser begreifen, was ich nun schildern werde, muss ich unbedingt auf die moralischen Vorstellungen im Frankreich der 50er und 60er Jahre ausführlich eingehen. Ich habe bereits beschrieben, dass in der Gesellschaft dieser Zeit eine scharfe räumliche Trennung zwischen den Geschlechtern bestand. Das kann man durchaus vergleichen mit der heutigen Situation in islamischen Ländern. Die Koedukation in den Schulen gab es nicht, und von der Grundschule bis zum Abitur hatten Jungen und Mädchen kaum Möglichkeiten, im Alltag zusammenzukommen. Daher hatten die relativ seltenen Partys einen sehr hohen Stellenwert. Von der Sexualmoral abgeleitet war die Jungfräulichkeit der Mädchen ein kostbares Gut. Diese Einstellung war besonders streng in den katholischen Ländern wie Frankreich, vor allem auch in Italien und Spanien, um nur von Europa zu sprechen. In den protestantischen Ländern dagegen wie in Skandinavien und in Deutschland war die Sexualmoral etwas lockerer. Reisen in diese Länder waren für uns junge Franzosen sehr verlockend. Auf jeden Fall galten Mädchen, die sich zum Beischlaf überreden ließen, als "Nutten". Ihre Namen wurden herumgereicht und jeder versuchte auf Partys, bei ihnen zum Zuge zu kommen. Entsprechend wurde die Beziehung zwischen den Geschlechtern als Kampf begriffen: für einen Jungen galt es, so viele Mädchen wie möglich herumzukriegen, wobei ein Kuss bereits als Sieg gefeiert wurde. Die Freundin, mit der ich später, also zwischen 19 und 21 zusammen war, verteidigte sich erfolgreich gegen alle meine Angriffe, obwohl ich eine breite Palette von Taktiken, Techniken, Überraschungsattacken, Austricksereien und romantischen Lügen einsetzte. Als wir uns trennten, war sie noch Jungfrau (zumindest glaube ich das). Allerdings stammte sie aus einem Topmilieu. Ihre Familie gehörte in Paris, also in ganz Frankreich zum Allerbesten. Sie wohnte Boulevard St.Germain! Mädchen aus diesen hohen Kreisen hatten mehr kulturelles Kapital, um ihre Jungfräulichkeit zu verteidigen. Für sie stand ohnehin mehr auf dem Spiel als für - sagen wir - Verkäuferinnen. Da es damals die Pille nicht gab, hätten sie, bei missglücktem coitus-interruptus, ein Kind bekommen und wären definitiv aus dem Brautangebot der höheren Gesellschaft ausgeschieden. Verkäuferinnen dagegen blieben für Männer ihrer Schicht auch mit Kind akzeptabel. Daher waren Verkäuferinnen für uns junge Bourgeois eine begehrte Chance, die lästige Unschuld loszuwerden.

In diesem Zusammenhang möchte ich kurz berichten, wie dieses lange ersehnte Ereignis bei mir eintrat. Es war noch in Caen, in der Abitur-II-Phase, also nachdem ich mich aus dem Mobbing befreit und in die Führungsgruppe hinaufgearbeitet hatte. Zu dieser Gruppe gehörte ein Junge, der während seiner Ausgänge am Donnerstag oder am Wochenende auf Dorfbällen unglaublich viele Mädchen aufriss. Es waren ganz einfache Wesen, Hilfsmägde, Unterverkäuferinnen, Nebenhausmädchen. Dieser Junge war eher vulgär und für sein Alter etwas verbraucht, aber an sich sehr nett (bis darauf, dass er Mädchen sehr schlecht behandelte, im Sinne der Liaisons dangereuses) und mich hatte er, aus welchem Grund auch immer, ins Herz geschlossen. Er wusste, dass ich meiner Unschuld ein Ende setzen wollte und beschloss, mir zu helfen. Er mietete ein Hotelzimmer, verabredete sich mit einem dieser Mädchen und vertauschte im letzten Augenblick mich mit ihm. Sie war überrascht, aber ließ, etwas verwirrt, diese neue Situation über sich ergehen. Selten traf ich später auf jemanden, der wie dieser Junge so uneigennützig handelte!

Politische Situation im September 1961
Bearbeiten

Im September 1961 war ich 18. Meine Mutter musste angesichts meiner miserablen Zeugnisse viel herumsuchen, bis sie ein Gymnasium fand, das bereit war, mich in die Abitur-II-Klasse aufzunehmen. Es traf sich sehr gut, dass es das Gymnasium Jean-Baptiste Say war, das direkt neben unserer Wohnung lag. Mitten in Auteuil, also milieumäßig top! Politisch war meine Familie, das habe ich bereits erwähnt, ganz rechts. Sie waren während der Besatzung glühende Anhänger des Maréchal Pétain gewesen. Meine Mutter, die immer eine passionierte Frau war, hatte sogar den Deutschen zugejubelt, als sie nach der Rückeroberung der Stadt Paris durch die Alliierten in Lastwagen als Gefangene einsteigen mussten. Die neben ihr stehenden Franzosen hatten sie nicht einmal belangt, so verrückt war es, in dieser Situation deutschen Soldaten zu applaudieren. Nach der Befreiung wurde mein Vater wegen Kollaboration gesucht, aber seine Rolle war vergleichsweise bescheiden geblieben, so dass er nicht nachhaltig verfolgt wurde. Auf jeden Fall waren sie ihren Vorstellungen treu geblieben und als General de Gaulle 1958 versprach, Algerien Frankreich zu erhalten und an die Macht gepusht wurde, standen sie hinter ihm. Aus heutiger Sicht klingt das nicht so toll, aber im Wertesystem dieser Zeit waren meine Eltern das, was man Idealisten nennt. Sie wollten ein sauberes, gut regiertes, von bösen Menschen (z.B. Kommunisten) gereinigtes Land. Materielles bedeutete ihnen wenig. Mein Vater war mit vielen Begabungen gesegnet, insbesondere künstlerischen, etwas "rêveur", mit großem Interesse an philosophischen Fragen, durchaus Anarchist und ohne jeden Sinn für finanzielle Vorteile. Er kaufte meiner Mutter, die er bedingungslos liebte, immer wieder Schmuckstücke, ohne Rücksicht auf die Haushaltskasse. Das Tricksen zum beruflichen Fortkommen war seine Sache nicht. Er war undiplomatisch, sagte die Wahrheit. Ein guter Mensch. Und dennoch hatten meine Eltern die Juden und Kommunisten als Gegenpopanz aufgebaut, allesamt Vaterlandsverräter, Menschen, die keine Heimat hatten und das Verderben Frankreichs einleiten würden. Algerien sollte französisch bleiben, aber die Algerier sollten in Algerien leben. Nun aber hatte sich bereits 1959 gezeigt, dass de Gaulle seine Politik gegenüber Algerien änderte. Als Pragmatiker fing er an, die Unabhängigkeit dieses Landes in den Blick zu nehmen. Auch er war zum Verräter an Frankreich geworden. Im April 1961 hatten ein paar Generäle in Algier die Macht ergriffen und gegen die Regierung in Paris rebelliert. Für meine Familie und mich waren es die Guten.

Ergattern einiger Klappsitze in der höheren Gesellschaft: G.
Bearbeiten

Das war die Situation im September 1961, als ich meinen erneuten Anlauf zum Abitur-II startete. Ich war fest entschlossen, mich in diesem Schuljahr richtig einzusetzen, um die Abschlussprüfung zu schaffen. Ferner wollte ich meine körperlich-sportliche Fitness ausbauen und den damit verbundenen optischen Eindruck optimieren. Mädchenmäßig hatte ich nicht zu klagen, denn während der Ferien mit meinen Eltern in Italien war ich gut angekommen und in Paris schien sich die Serie fortzusetzen. Vor allem gesellschaftlich tat sich was: bei meiner Geburt hatte mir meine Mutter eine gute Freundin als Patin ausgesucht. Diese Freundin - bzw. ihr Mann - war im Modebereich sehr hoch positioniert, was in Paris viel bedeutet. Nun war die Tochter meiner Patin 18 Jahre, sie war sehr gut gebaut, hochelegant, und hatte in der Pariser Ballwelt debütiert. Sie verkehrte in sogenannten "Rallyes mondains", das waren Empfänge, die sehr reiche und hochsituierte Familien organisierten, um gute Partien für ihre Kinder zu finden. Und diese Tochter hatte mich als Tanzpartner gewünscht, um sie auf diesen Empfängen zu begleiten. Das war zwar milieumäßig ein paar Schuhe zu groß für mich, aber optisch passte ich wunderbar in diese Landschaft. Ich fiel sogar auf unter den zahlreichen Jünglingen, die zwar milieumäßig top waren, aber körperlich ein bisschen schwach auf der Brust, oder allzu pickelgeplagt dasaßen, oder nicht den richtigen Dreh beim Bop-Tanzen draufhatten. Schnell löste ich mich von meiner Patintochter, die nicht sehr anregend war, und sprang auf eine lustigere Hochtochter, die aus ebenfalls brilliantem Kreis stammte, aber sich pikanter, koketter verhielt, auch wenn sie nicht ganz dem entsprach, was mich hätte nachhaltig fesseln können. Immerhin, das habe ich bereits erwähnt, blieben wir dann drei Jahre befreundet.

Damals hatte ich bereits einen Sinn für Vernetzungen und wusste, dass, wenn man sich in einem Milieu positionieren will, eine einzige Connection nicht ausreicht. Es genügte also nicht, wenn ich nur über meine damalige Freundin G. als Andockstation für höhere Kreise verfügte. Ich musste in der Lage sein, G. über Menschen zu berichten, die in ihrer Sphäre verkehrten, die ich aber nicht über sie kennengelernt hatte. Da meine Mutter gesellschaftlich sehr ehrgeizig war und eine ganze Reihe hochsituierter Bekannter hatte, mit denen sie seit ihrer Kindheit Kontakt pflegte, konnte ich über sie die Schwestern P. näher kennenlernen. Auch diese Familie war finanziell deutlich abgerutscht, aber sie war aus ihrer Tradition heraus noch fest etabliert in den Rallye-mondains-Kreise und ich wurde zum Danseur der Schwestern P. Insgesamt waren es fünf, vom Alter her kamen drei in Frage, die mich regelmäßig auf Bälle mitnahmen. Und das alles verdankte ich meinem Aussehen, meiner Kleidung und meiner Tanzkunst. Ergänzend dazu war ich der Tochter des Feinbäckers in der rue d'Auteuil, M.M., nähergekommen, und diese lud mich jeden Sonntag Nachmittag zu einem festen Partytermin bei einer Freundin ein. Insofern war ich Samstag Abend, Sonntag Nachmittag und Donnerstag Nachmittag (bei meinem Nachbarn M.P.) fest gebucht und gesellschaftlich unterwegs. Ich konnte also in jeder Untergruppe davon berichten, was ich alles sonst an Einladungen hatte und was ich dort erlebte. Wenn man in Paris gesellschaftlich ein bisschen herumkommt, lernt man bald auch Leute kennen, die einen bekannten Namen tragen, und man kann davon erzählen. So begegnete ich beispielsweise dem Sohn von Charles Lindbergh oder Just Jaeckin, dem Regisseur von Emmanuelle. Auf das Anschleppen von Prominenten waren besonders die Schwestern P. spezialisiert.

Vorbereitungsübungen zum Fallschirmjäger - Jacques Rappoport
Bearbeiten

Wer nach dem Abitur seinen Wehrdienst als Offizier ableisten wollte, durfte mit 18 Jahren einen Vorbereitungskurs am Sonntag Vormittag absolvieren. Man konnte jede Waffengattung auswählen, besonders prestigeträchtig waren die Fallschirmjäger. Dieser Begriff evozierte Mut und Gefahr. Man musste besonders sportlich sein, das Training galt als schwer, und politisch schadete eine rechte Gesinnung nicht. Natürlich meldete ich mich bei diesem Kurs an. Für mich war damals wichtig, dass ich aktiv war. Ich wollte flächendeckend intensiv beschäftigt sein, insbesondere auch sportlich. Mir schwebte ein Modell vor, das seltsamerweise aus amerikanischen Krimis entnommen war. Der Held, permanent im Einsatz, auch körperlich, schlägt sich beispielsweise eine ganze Nacht durch, auch wortwörtlich, kommt nach Hause und legt sich in die Badewanne. Da entspannt er sich, die kleinen Wunden, die er sich bei Kämpfen zugezogen hat, tun ihm zwar ein bisschen weh, aber insgesamt regeneriert er sich, bevor er erneut in den Kampf zieht. Ähnliches vollzog ich: Samstag Abend und Nacht tanzte ich auf Partys und Rallyes, ins Bett ging ich um vier Uhr früh und musste bereits um sechs wieder aufstehen, um zur Fallschirmjägerausbildung zu fahren. Zurück kam ich um 14 Uhr, legte mich in die Badewanne, wechselte meine Kleider vom Kampfanzug zum Tanzanzug und segelte wieder zur Sonntagsnachmittagsparty mit der Feinbäckertochter. Am Montag früh war wieder Schule.

An der Wehrdienstvorbereitung (Préparation militaire parachutiste, also PM-Para) nahm auch mein Freund Jacques Rappoport (später Jacques Livchine) teil. Er war eigentlich ganz gegen die Armee und stand politisch absolut links, ein Kommunist. Das waren auch seine Geschwister. Alle hatten sich damit gegen den Vater gestellt, der als jüdischer Russe in den 30er Jahren nach Paris gekommen war, eine Fabrik gegründet hatte - Zulieferer für Citroen - und sich aus Sicht seiner Kinder wie ein übler Kapitalist verhielt. Natürlich liebten sie ihren Vater, der sich extrem generös zu ihnen verhielt, aber das Spielchen als kommunistische Fabrikbesitzerkinder konnten sie nicht lassen. Sie attackierten ihren Vater permanent und er amüsierte sich köstlich, vor allem, wenn sie ihn um Geld angingen. Wie dem auch sei, Jacques, der sehr sportlich war und sich gerne auf Abenteuer einließ, machte mit bei der PM-Para. Politisch hatte sich ergeben, dass die Generäle, die in Algier die Macht ergriffen hatten und gegen De Gaulle rebellierten, eine geheime Armee gegründet hatten, die OAS (=Organisation Armee Secrète) die Attentate verübte, nicht nur in Algerien, sondern auch in Frankreich, bevorzugt in Paris. Es herrschte eine größere Anspannung, man sprach auch von Bürgerkrieg. Meine ganze Familie, ich inklusiv, stand hinter den Rebellen. Immer wieder kursierten Flugblätter von der OAS, die zum Widerstand aufriefen, und natürlich war ich stolz, wenn ich welche in meiner Tasche mittrug. Diese Lage dauerte an bis April 1962, als De Gaulle definitiv gegen die Rebellion vorging und die Generäle verhaftet wurden. In dieser Zeit wurden auch die Fallschirmjägervorbereitungskurse geschlossen, in denen aktive Anhänger der OAS vermutet wurden. Immerhin hatte ich einmal aus einem Flugzeug springen dürfen, (fast) Hand in Hand mit meinem Freund.

Welches Sein bestimmt welches Bewusstsein?
Bearbeiten

Aus welchen Bausteinen setzten sich meine Wertorientierungen im Jahr 1962 zusammen? Die Grundstruktur war, wie für viele meiner Zeitgenossen, mittelalterlich und romantisch. Das Bild eines körperlich starken Helden, der Mut zeigt, Gefahren mit physischer Gewalt trotzt und ansonsten seine Belohnung in der Hingabe eines sehr hübschen Mädchen findet. Die Frauen selbst werden in zwei Gruppen eingeteilt: die bereits erwähnte "fille facile" zum Vergnügen nach dem Kampf, mit der zynisch umgegangen wird, und die Schwester, Mutter oder künftige Frau, Verkörperungen der Reinheit. Dieser Held ahnt, dass es "höhere" Ziele im Leben gibt, weiß aber nicht welche oder reduziert diese auf die Wahrung der Reinheit von Schwester, Mutter und Frau. Das nennt er seine Ehre. Roland, der Neffe von Karl dem Großen ist so einer, Westernhelden sind ebenfalls so gestrickt, Hauptfiguren von amerikanischen Krimis entsprechen diesem Muster, und tapfere Fallschirmjägeroffiziere ebenfalls (dass sie gekonnt folterten, wusste ich damals nicht, und das hätte mich wahrscheinlich nicht weiter gestört). Extrem einfache Sinnsysteme für extrem einfache Geister. Absolute Machos. Das war die Grundstruktur meines theoretischen Lebensansatzes damals. Aber nicht nur, und das macht die Sache komplizierter. Wie viele andere, vielleicht sogar mehr als andere, hatte ich mit fünfzehn angefangen, viel zu lesen, auch klassische und moderne Romane und Philosophen. Ich hatte mich in endlosen Gesprächen mit meinem Freund über seine jüdischen Wurzeln vertieft, mit meinem Vater redete ich über seine politischen Aktivitäten in der Jugend. Ich las auch umfangreiche Essays über Geschichte, Psychologie und Soziologie. All das war aber noch nicht virulent genug, um sich an der Oberfläche zu zeigen und sich auf der Ebene meiner Werte richtig durchzusetzen. Das war in tieferen Schichten abgelagert, es inkubierte und es sollten noch fast zehn Jahre vergehen, bis dieses Substrat aufgrund günstiger Umstände sich Bahn verschaffen und endgültig durchsetzen konnte. Bis dahin war es allerdings noch ein langer Weg.

Verstellungskunst: der letzte Schliff - XX, die hübsche Angeheiratete
Bearbeiten

Ich habe bereits beschrieben, dass ich wirklich attraktiv geworden war, ohne mir 100%ig darüber sicher zu sein. Das Schuljahr 1961/1962 war in jeder Hinsicht super gelaufen, sogar auch schulisch, denn ich hatte das Abitur-II bestanden. Nun gab es im engsten Familienkreis eine sehr hübsche, angeheiratete Frau, kaum älter als ich. Das daraus entstehende Verhältnis schmeichelte mir ungemein, zwang mich aber dazu, mich in allerlei Familiensituationen permanent und langfristig zu verstellen. Auch der Umgang mit dem schlechten Gewissen wurde eingeübt und routinisiert. Diese Liaison benutzte ich, um mich bei meinen Freunden interessanter zu machen und das war derartig wirksam, dass heute noch, wenn ich Freunde aus der damaligen Zeit treffe, sie mich als erstes darauf ansprechen. Vor kurzem sagte mir Jean-François Arnaud erneut, dass diese Affäre mein Ansehen während meiner Bordeaux-Zeit in Höhen getragen habe, die ich mit anderen Mitteln kaum hätte erreichen können. Die Tatsache, dass ich aus dem 16. Viertel kam, dass meine Kleidung - wenn auch aus zweiter Hand - mir den Status eines Modepapst verliehen hatte, und vor allem die Affäre mit der angeheirateten Schönen hatten mich in diesen Kreisen zu einer Art Star werden lassen, auch wenn dies mir damals keineswegs bewusst war. Dabei waren sie alle Medizinstudenten und zwar erfolgreiche, ganz im Gegensatz zu mir.

Letzte Erfolge - Jacques Rappoport
Bearbeiten

Am Ende dieses Schuljahres, also im Juni, hatte ich nicht nur das Abitur geschafft, sondern ich hatte mich auch einem Wettbewerb unterzogen, um als Schüler der Ecole de Santé Navale, der Militärakademie für angehende Marineärzte, in Bordeaux zu studieren. Hätte ich diese Prüfung bestanden, so wäre ich gleich nach Bordeaux gekommen und hätte als Kadett, mit Uniform die Uni besucht. Nun war ich zwar nicht bei diesem harten Wettbewerb erfolgreich gewesen, aber ich hatte durch meine guten Ergebnisse die Möglichkeit erhalten, mich in Brest einzuschreiben, an einer ebenfalls militärischen Medizinschule, die auf den Einzug in Santé Navale in Bordeaux vorbereitete. Das waren für mich erfreuliche Perspektiven. Ferner war ich mit meinem Freund Jacques im Juli nach Schottland getrampt und hatte, wie es bei dieser Art von Reise fast immer der Fall ist, viele Abenteuer erlebt, nicht zuletzt auch in Sachen Mädchen. Um meine gewaltige Zuneigung zu Jacques zu begreifen, muss man wissen, dass er immer schon schräg, extrem großzügig, sehr lustig, aber auf bizarre Weise, durch und durch unbürgerlich, sehr kreativ und gänzlich unaggressiv war. In Frankreich wurde bis in die höheren Klassen hinein der "Prix de camaraderie" ausgeboten, also der kameradschaftlichste Junge gewählt. Und den Preis erhielt von der fünften Klasse an Jacques Rappoport. Sein Humor war dergestalt, dass er sich nie über andere lustig machte. Er zauberte umwerfend komische Situationen herbei und brauchte keine Opfer, um das Lachen auszulösen. Von ihm habe ich viel abgeguckt und zahlreiche Aktionen, mit denen ich als Didaktiker die Szene perturbiert habe, sind auf seinen Einfluss zurückzuführen. Eine Spezialität von ihm war, dass er überall versuchte, ohne zu bezahlen, an Veranstaltungen teilzunehmen, beispielsweise bei Konzerten, Fußballspielen oder sonstigen öffentlichen Anlässen. Das war ohnehin im Trend, aber er war diesbezüglich besonders geschickt. Andererseits war er sehr strickt was das "Klauen" betrifft. Nie habe ich erlebt, dass er einen Gegenstand oder eine Geldsumme entwendet hätte. In unserem Schülermilieu war diese Haltung keine Selbstverständlichkeit.

Schließlich, um die Aufzählung der Punkte zu beenden, die ich als Erfolge wertete, hatte ich im August im Crédit Lyonnais gearbeitet und eine schöne Geldsumme verdient. Mit diesem Hintergrund bereitete ich mich darauf vor, nach Brest zu fahren und in der Ecole Annexe de Médecine Navale zu studieren. Natürlich war diese Trennung von Paris für meine gesellschaftlichen Aktivitäten verheerend. Ich hatte mich schrittweise in die höchsten Gesellschaftskreisen hinaufgetanzt, war fest mit G. liiert und hatte durch sie sogar das Angebot bekommen, als Mitglied des höchstexklusiven Rallye du Pin aufgenommen zu werden (allerdings wäre noch eine Prüfung der finanziellen Verhältnisse meiner Eltern fällig gewesen, und die hätte ich bestimmt nicht bestanden). Durch den Abgang nach Brest wurde diese Aufbauarbeit zerstört. Als stabile Verankerung blieb, über meine (historisch bedingt platonische) Liaison mit G. hinaus, das Verhältnis mit der schönen Angeheirateten. Diese Basis erweiterte ich durch ein - der Moral dieser zeit entsprechend harmloses - Techtelmechtel mit ihrer Schwester.

In Brest mit 19 und 20: James Bond

Bearbeiten

Brest ist eine traurige Stadt. Eingeweihte sprechen von diesem Ort als "Nachttopf Frankreichs", weil es dort mehr regnet als irgendwo anders im Land. Brest, der wichtigste französische Kriegshafen am Atlantik, wurde während des zweiten Weltkrieges völlig zerstört. Danach wurde die Stadt wiederaufgebaut in einem Stil, der an Stalin erinnert, wenn auch nicht so monumental. Es sind große, breite Straßen, mit grauen, mittelgroßen Hochhäusern an beiden Seiten. Unten im Hafen liegen unzählige Kriegsschiffe vor Anker, von allen Nationalitäten, aber alle grau. Da permanenter Sprühregen die Stadt überzieht, bewegt man sich das ganze Jahr in einer Art Camaieu aus Grautönen, vom Hellgrau der Häuser zum Dunkelgrau des Asphalts. Die Straßen und Cafés waren vor allem mit Matrosen bevölkert, nicht selten betrunken.

Die Ecole Annexe verlangte einen enormen Einsatz. In diesem Jahr musste der Stoff von vier Semestern in zwei Semestern bewältigt werden, man hatte die Idee gehabt, das Physikum mit den beiden ersten Medizinsemestern zu vermengen. In meinem Zimmer hatte ich eine Graphik an die Wand genagelt mit einer Kurve, die mein tägliches Stundenpensum außerhalb der Vorlesungszeit erfasste. Die Kurse dauerten von 8.00 bis 18.00 Uhr. Und ich bemühte mich, noch fünf Stunden zusätzlich zu lernen. Jeden Tag, auch am Wochenende. Das taten die anderen auch. Jeden Donnerstag wurde ich bei Verwandten meiner Großmutter zum Mittagessen eingeladen, einer Admiralsfamilie. Die beiden waren um die 80, es war extrem steif und ich konnte meine Kompetenz im "qu'il est gentil le petit Jean-Pol" festigen. Ab und zu schaute eine hübsche 16-jährige Enkelin vorbei, aber die Hoffnung, sie würde mich bitten, sie als Danseur auf einen Ball zu begleiten, blieb unerfüllt. Am Samstag ging ich mit ein paar Freunden in eine Disko, sonst wurde nur gearbeitet. Viele gaben nach ein paar Monaten auf. Ich selbst wurde bei den Abschlussprüfungen nicht erfolgreich, aber ich hatte fleißig gelernt und verdanke heute noch nützliche Erkenntnisse in Anatomie, Histologie, Physiologie und vor allem in Neurologie meinem damaligen Einsatz. Dort begegnete ich auch einem Mitstudenten, der aus der Guadeloupe stammte, begabter war als ich, und mit dem ich mich anfreundete. Er war ein guter Schlagzeuger, kannte sich perfekt in modern Jazz aus und weckte mein Interesse für diese Art von Musik. Ferner kaufte ich komplizierte Bücher über Kino, von intellektuellen Cineasten verfasst. Peu à peu entwickelte ich also eine stabile Wissensbasis, gerichtet auf Jazz und Kino, eine Kombination, die in den 60er Jahren in der Folge der Nouvelle Vague in Mode gekommen war. Roger, so war der Name meines Freundes, war wiederum mit Jean-François Arnaud bekannt. Bereits in Brest signalisierte Jean-François, dass er niemanden intellektuell als ebenbürtig ansah. Mich nahm er nicht richtig wahr, obwohl ich bereits damals Les Cahier du Cinéma kaufte und überall mitführte. Im Juli fanden die Prüfungen statt, und ich bestand sie nicht. Ich fuhr zurück nach Paris und beschloss zusammen mit meinen Eltern, dass ich nach Bordeaux ziehen sollte, um dort das Medizinstudium erneut aufzunehmen. Ich wollte nach diesem Jahr wieder mein Glück beim Wettbewerb um die Aufnahme in die Ecole de Santé Navale versuchen.

Bilanzierend stelle ich fest, dass ich in Brest durch die intensive Arbeit und den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben einen gewaltigen Rückschritt in meiner sozialen Entwicklung eingeleitet hatte. Ich war etwa auf die Stufe zurück, auf der ich mit fünfzehn stand. Vor allem die Besuche bei den Freunden meiner Großmutters waren bezeichnend. Die Leute fanden mich entzückend. Zu Tisch und sonstwo verhielt ich mich vorbildlich. Das hatten sie auch meiner Großmutter mitgeteilt: "Selten haben wir einen so guterzogenen jungen Mann zu Tisch gehabt". Und ich war 20!!! Auf der Ebene des Wissens dagegen, hatte ich große Fortschritte gemacht: ich hatte mich intensiv mit medizinischen Inhalten befasst und hatte meine Interessenpalette auf Jazz und Kino ausgedehnt. Schließlich, und das ist sehr wichtig: mein Wertesystem wurde durch eine weitere Machokomponente angereichert. Ich hatte noch kurz vor der Abfahrt nach Paris einen Abenteuerfilm der Serie B ("minderwertig") angeschaut und den Helden in meine Identität integriert. Es war "James Bond jagt Dr.No", mit Sean Connery, der erste Film aus der Erfolgsreihe. James Bond, das war für mich ein gutes Modell: super angezogen, witzig, bei den Frauen sehr erfolgreich und von einem Flugzeug zum anderen springend. Flughafenatmosphäre, Aktentasche... Bevor ich selbst in ein Flugzeug steigen sollte, musste ich bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr warten. Und da habe ich mich tatsächlich wie James Bond gefühlt... Zu diesem Zeitpunkt setzte sich meine Persönlichkeit aus folgenden Modellen zusammen, und zwar in der Reihenfolge der Wichtigkeit: 1. James Bond (als Makrozeichen für Machos und Helden, die sich an mittelalterlichen Werten orientierten, dazu gehörte auch mein Onkel), 2.Jean-Luc Godard (als Makrozeichen für Intellektuellen), 3. Jacques Rappoport (als Makrozeichen für Skurriles, Surrealistisches) und 4. Rallye-Tänzer (als Makrozeichen für Gesellschaftslöwen). Arzt war als Modell nicht dabei. Lehrer allerdings auch nicht!

Kleines Abenteuer vor Bordeaux

Bearbeiten

Was ich suchte, war intensives Leben. Brest war aktionsarm gewesen. Nach meiner Rückkehr von Brest und vor dem Studium in Bordeaux trampte ich drei Wochen mit Jacques durch Irland. Im Anschluss fuhr ich vor Semesteranfang ebenfalls per Autostop, drei Wochen lang, aber diesmal ganz allein von Bordeaux nach Gibraltar. Ich hatte sehr wenig Geld dabei, übernachte in Schuppen oder Bedürfnisanstalten, aber auch in Jugendherbergen, wenn ich mir diesen Luxus erlauben wollte. Ich fuhr auch mit dem Zug, es gab ein preiswertes Ticket, mit dem man 3.000 kms fahren konnte. Ich besuchte San Sebastian, Cordoba und landete schließlich in Marbella, das damals ein ganz verschlafenes Fischerdorf war, mit einer fabelhaften Jugendherberge, eigentlich Parador, für Jugendliche Francoanhänger reserviert. Dort traf ich auf zwei Engländer und einen Iren, und wir verbrachten ein paar Tage zusammen. Sie nannten mich "Doc", was mir sehr gut tat. In Marbella hielten wir uns gelegentlich mit einer älteren Frau zusammen auf, die viel trank und ziemlich herumhing. Polizisten fragten uns, was wir mit dieser Frau hätten. Wir hatten gar nichts, erfuhren aber, dass es sich um Sarah Churchill, die Tochter von Winston, handelte. Einmal fuhren wir nach Torremolinos in eine Disco und tanzten nach der Musik einer neuen Gruppe, die sich Beatles nannte. Das Stück hieß "twist and shout". Danach verließ ich die Briten und wollte nach Tetouan, in Marokko, übersetzen. Da ich nur noch über den heutigen Gegenwert von 50 € verfügte, wurde ich zurückgewiesen. Bei der Rückfahrt nach Bordeaux unterbrach ich in Madrid, wo ich in einem Café von einem älteren Herrn angesprochen wurde. Er lud mich zum Essen ein, was ich gut brauchen konnte, denn zum Essen reichte mein Geld nicht mehr, und er zeigte mir Fotos eines riesigen Hauses, das er auf Ibiza besaß. Auf dem Foto sah man einen Jüngling am Steuer eines Jaguars. Der nette Herr meinte, wenn ich nach Ibiza käme, würde er sich sehr freuen, und ich würde es bestimmt nicht bereuen. Ein paar Monate später blickte er mir aus der Zeitschrift Paris-Match entgegen. Er hieß Elmyr de Hory und war einer der größten Bildfälscher aller Zeiten.

Ende des Flash-Backs und Fortsetzung von Bordeaux

Bearbeiten

Ich saß also im Café, während meine Studienkollegen ihre Prüfungen absolvierten. Es war Ende Juni 1964. Mein Gefühl der Einsamkeit war unerträglich geworden, und die vielen Misserfolge im Studium ließen mir den Tod als einen guten Ausweg erscheinen, zumal durch die theoretische Untermauerung, die ich mit Hilfe von Jean-François Arnaud angelegt hatte. Das damals herrschende filmische und literarische Ambiente in der Folge der Nouvelle Vague heroisierte den Selbstmord und ließ ihn sexy erscheinen. Ich sah die Verfilmung des Romans "Feu Follet" von Drieu La Rochelle, einem Schriftsteller der Kollaboration, und fand den Helden, verkörpert durch Maurice Ronet, attraktiv. Drieu La Rochelle hatte sich selbst umgebracht und Maurice Ronet tat es im Film auch. Rückblickend sehe ich als Hauptthema meines Lebens damals die Frage, wie ich an Frauen rankäme. Da die Option des erfolgreichen Marinearztes für mich nicht mehr realisierbar war, gewann die Figur des schönen intellektuellen Selbstmörders an Konturen, denn die meisten der todgeweihten Filmhelden führten vor ihrem Freitod eine mehr oder minder konkretisierte Liebesbeziehung.

Kurze Metareflexion
Bearbeiten

Nun fällt mir auf, dass die intensivere Beschäftigung mit diesem Thema, insbesondere mit der allmählichen Verfestigung untugendhafter Reflexe mir nicht bekommt. Ich werde das alles stark zusammenraffen und die Phase des Übergangs vom Laster zur Tugend zügig ansteuern.

Rettung durch den schwulen Jean-Roger

Bearbeiten

Am Abend bevor ich nach dem Scheitern in Bordeaux nach Paris zurückfahren sollte, fuhr ich mit meinem Solex in die Stadt und wurde von einem jungen Mann angesprochen. Ich hatte ihn gelegentlich in Vorlesungen gesehen, in Begleitung der beiden Eleganten, dem Glenscheck-Sakko Träger und Michèle Morgan an seiner Seite. Nach kurzem small-talk vertraute er mir an, er würde mich seit langer Zeit beobachten, finde mich sehr interessant wiewohl etwas gekünstelt im Gehabe. Ein Kompliment hatte ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört und war zunächst sehr überrascht. Schrittweise stellte sich heraus, dass er schwul war - was mich damals sehr schockte - und am nächsten Tag eine Party organisiere und sich sehr freuen würde, wenn ich dahin käme. Ich sagte, ich sei eher an Frauen interessiert, was ihn gar nicht störte. Als ich am folgenden Tag auf der Party erschien, wurde ich nach Homo-Manier, also sehr fröhlich gefeiert. Der Gastgeber war eigentlich nicht Jean-Roger, sondern der Glenscheck-Träger, der Marc hieß und später einer der angesehensten Ärzte Bordeaux werden sollte. Sofort nahm mich dessen Schwester bei der Hand und alles ging sehr schnell. Die Party dauerte - hier kürze ich natürlich ab - etwa drei Monate. Es war unwahrscheinlich lustig, ich lernte sehr viel über die Szene und freute mich über die Beziehung mit Marcs Schwester, Annie. Vor allem war die permanente Aufmerksamkeit, die ich dort genoß, Ausgleich für die großen Entbehrungen, die ich in meiner langen Einsamkeitsphase in Bordeaux erlitten hatte. Jean-Roger und ein paar andere in seinem Umfeld nahmen es nicht so genau mit dem Konzept des Eigentums. Keiner von uns hatte Geld, aber wir lebten trotzdem sorglos. Ich möchte dieses Thema hier nicht vertiefen, aber ich gewann in dieser Zeit ebenfalls eine lockere Haltung... Das Milieu war prägend, und unbegabt war ich nicht. Das Klauen wurde als Spiel gesehen, je origineller, desto interessanter. Und meine Klauideen waren originell. Meinem Ansehen in der Gruppe kam es zugute.

Zurück nach Paris: Germanistik in Nanterre - Jürgen Schneefuß

Bearbeiten

Im Oktober 1964, nachdem ich mit der Jean-Roger/Marc-Gruppe meine Ferien in Soulac verbracht hatte, fuhr ich nach Paris und schrieb mich in Nanterre an der Faculté des Lettres für das Propädeutikum (Französisch, Deutsch, Latein) ein. Damit hatte ich mich endgültig von der höheren Gesellschaft verabschiedet, denn der Lehrerberuf galt und gilt heute noch in Frankreich als minderwertig. Dennoch fand ich das Studium sehr interessant, und ich vertiefte mich in die Lektüre und Interpretation von Marcel Proust. Bald fand ich einen Job als Surveillant, also Aufpasser im Lycée Henri IV, was mich finanziell unabhängiger machte. Am Ende des Studienjahres bestand ich die Prüfung, was schon lange nicht mehr geschehen war. Im darauffolgenden Jahr wurde ich als Surveillant nach Coulommiers versetzt, 70 km von Paris und 90 km von der Universität Nanterre entfernt. Das war keine gute Voraussetzung für mein Germanistikstudium. In Coulommiers selbst hatte ich ein paar Leute meines Kalibers gefunden, und wir hatten viel Spaß, aber Ethik war nicht unsere Stärke. Dort wurde ich bald Aushilfslehrer für Deutsch. Meine Schüler fanden mich lustig, auch wenn sie sich über die vielen Fehler wunderten, die ich sie im Buch korrigieren ließ. Das lag daran, dass die Formen, die ich verwendete, nicht mit dem übereinstimmten, was im Buch stand. Ich ließ die zahlreichen "Druckfehler" im Buch verbessern. Lustig fanden sie auch, dass ich zwar viele Extemporalien hielt, sie aber immer wieder verlor. Meistens landeten sie unkorrigiert in einer Mülltonne. Die Germanistik-Prüfungen in Nanterre bestand ich in diesem Jahr nicht und auch nicht im darauffolgenden. Ich möchte keine Details mehr liefern, das Schicksal hätte seinen Lauf genommen, wenn nicht Jürgen Schneefuß, der damals in Coulommiers Deutschassistent war, mir seine Sorge mitgeteilt hätte: ich sei gerade dabei, mein Leben zu verschenken, es sei aber nicht zu spät. Für Frankreich sei vierundzwanzig, so alt war ich damals, schon sehr fortgeschritten, um mit einem neuen Studium zu beginnen, aber in Deutschland sei es ganz anders. Ich solle doch meinem Dasein in Coulommiers ein Ende setzen, nach Paris zurückkehren und dort mein Studium fortführen. Diese Botschaft erreichte mich im richtigen Augenblick, das werde ich gleich schildern. Im Dezember kündigte ich in Coulommiers meine Stelle und nahm mein Studium in Nanterre wieder auf. Man schrieb 1967.

Vom Saulus zum Paulus

Bearbeiten

Natürlich war Jürgen Schneefusses Impuls nicht die Ursache, sondern nur ein Auslöser meines Sinneswandels. Immerhin hatte mein Herabrutschen lange Jahre gedauert, und das "Böse" hatte sich nur langsam in meiner Person eingelebt und habitualisiert. Das Böse hatte auch nicht alle Winkel besetzt. Das Böse war nur ein Mittel, die Anerkennung, die ich über das "Gute" nicht erreicht hatte, anders zu erzielen. Meine "Missetaten" fanden meine damaligen Freunde lustig und, um sie zu bedienen, war mein Bestreben, immer originellere, und dadurch auch härtere moralische Übertretungen zu begehen. Damit man sich vorstellen kann, was ich damit meine, nur ein kleines Beispiel: ich war durch ein Plakat auf die Organisation "Student für Europa - Student für Berlin" gestoßen, die deutsch-französische Jugendbegegnungen organisierte. Alles hochgemeinnützig, hochethisch, hochaltruistisch. Als Student verbrachte ich im Sommer 1965 dort drei Wochen als Betreuer. Klaus Fink, der Leiter dieses Camps (ein Student wie ich, der auch nur drei Wochen mitwirkte), war sehr fähig, und das Lager war ein großer Erfolg. Im Jahr darauf ging ich erneut zu einem dieser Ferienlager und traf auf einen Leiter, der ähnlich wie ich zum Bösen neigte. Wir kümmerten uns kaum um die Kinder und meine Kassenführung war - zurückhaltend formuliert - nicht vorbildlich. Wir fanden das sehr amüsant. Während ich das schreibe, erinnere ich mich an Vorbilder, die mir zwar nicht bewusst waren, die ich aber bereits als Kind durch die Lektüre des Comics Pieds Nickelés des Anarchisten Louis Forton verinnerlicht hatte. Die Pieds Nickelés waren drei Gauner, die permanent Reiche ausraubten, Polizisten lächerlich machten und überhaupt jede Autorität in Frage stellten und verspotteten. Nur dass "Student für Europa" kein Verband für Besserverdienende war! Ich habe bewusst dieses unschöne Beispiel gewählt, weil es meine damalige ethische Verfassung gut dokumentiert, aber vor allem weil gerade die Organisation "Student für Europa" mir das richtige Feld bot, als ich im Frühjar 1967 - fast über Nacht - beschloss, es mit dem "Guten" zu versuchen.

Und das kam so. Bei allem nach außen vordergründig getragenen "Lustigsein" plagte mich seit meiner Bordeaux-Zeit eine neurose d'échec, also eine "Versagensneurose". Seit Bordeaux, also immerhin vier Jahre lang, war ich kontinuierlich vom Wunsch verfolgt, mich umzubringen. Halbherzig hatte ich es auch mit Gas versucht, was meine Mutter, die viel Sinn für Humor hat, zur Bemerkung veranlasste, die Gasrechnungen seien in den letzten Zeiten deutlich angestiegen. In dieser Seelenverfassung reiste ich zu Pfingsten 1967 nach Deutschland, um am Vorbereitungstreffen für die bevorstehende Saison bei "Student für Europa" teilzunehmen. Es war der dritte Sommer, in dem ich bei dieser Organisation mitmachte. Man bekam Kost und Logis, ein bisschen Taschengeld, und die Arbeit mit Studenten und Jugendlichen war spaßig. Bisher war ich immer Betreuer gewesen, wollte mich aber diesmal um die Leitung eines Camps bemühen. Da ich Erfahrung mitbrachte, wurde ich auch für diese Aufgabe ausgewählt. Die Vorbereitungstreffen von "Student für Europa" waren hervorragend. Man lernte in einer Art Crash-Kurs wie man drei Wochen lang ein Ferienlager zusammen mit einer Gruppe von sechs Studenten und mit etwa dreißig Jugendlichen zwischen zwölf und sechzehn durchführt. Die Aufgabe des Camp-Leiters war für mich als Vierundzwanzigjährigen anspruchsvoll. Und bei mir entstand plötzlich der Wunsch, diese Situation nicht für Kleingaunereien auszunutzen, sondern zu versuchen, als Leiter einen guten Camp zu gestalten. Und so wurde es auch: das Lager fand im Juli in Aalen bei Stuttgart statt. Ich setzte meine Kreativität diesmal für Gutes ein, stand sehr früh auf, natürlich vor allen anderen, ging sehr spät ins Bett, hatte immer mehr interessante Ideen, mein Team stütze mich, die Kinder hatten Spaß (die Weckmusik war "Sgt. Pepper's Lonly Hearts Club Band"). Ich entdeckte in mir Talente, die ich nie vermutet hätte. Interessant ist, dass ich - der Gary Cooper in "Zwölf Uhr Mittags" als Ich-Ideal reaktiviert hatte - penibel auf law and order achtete. Wo laisser-aller führt, kannte ich ja allzugut. Das Lager wurde ein großer Erfolg und ich nahm mir vor, die neue Linie weiterzuverfolgen. Als ich im September 1967 in Coulommiers als Aushilfslehrer für Deutsch wieder anfing, war ich wie ausgewechselt. Die Schüler erkannten mich nicht mehr. Ich war überstreng, von mir waren sie das nicht gewohnt, und wenn ich Extemporalien hielt, gab ich sie zeitnah korrigiert zurück.

Dennoch stand ich nur am Anfang meiner Rekonstruktion. Von Coulommiers aus, weit von der Uni Nanterre, konnte ich mein Germanistikstudium nicht fortsetzen. Und nur das Studium gab mir die Möglichkeit, ein paar Karrieresprossen hinaufzuklettern. Ohne Fortsetzung des Studiums gab es nur als Perspektive, bis zur Rente als Aushilfslehrer für Deutsch in Coulommiers zu bleiben. Für jemanden, der als Beruf Admiral angestrebt hatte, sich schon mit G. verheiratet im Boulevard St.Germain beheimatet sah, golfspielend, reitend und auf großen Empfängen in Uniform tanzend, war die Stelle in Coulommiers schmerzhaft. Deswegen war die Ermahnung von Jürger Schneefuss, ich sei gerade dabei, mein Leben zu verschenken, so entscheidend. Seiner Empfehlung folgend hatte ich also meine Stelle in Coulommiers zum Dezember 1967 gekündigt und im Januar 1968 studierte ich im dritten Semester Germanistik in Nanterre. Dieser Schritt wurde finanziell und mental von meinen Eltern unterstützt, die sich bei all den vorangehenden Misserfolgen vorbildlich verhalten hatten. Es kamen kaum Vorwürfe, obwohl sie selbst viele Enttäuschungen durch mich erlebt hatten, und sie standen zu mir bei jedem Neuanfang, auch bei diesem.

Meine Entwicklungsaufgaben im Januar 1968

Bearbeiten

Der Weg, den ich vom Gutem zum Schlechten gegangen war, enthielt drei Komponenten: a) die ungünstige Arbeitsstrategie b) der legere Umgang mit dem Geld anderer, c) das gesellschaftlich akzeptierte, aber dennoch verwerfliche Machogebaren gegenüber Frauen. Was das "Klauen" angeht, so hatte ich diese Tendenz bereits ein paar Monate vor der "Student für Europa"-Erleuchtung abgelegt. Ich hatte lustig gefunden, in einer größeren Buchhandlung auf dem Boulevard St.Michel meine Jackentaschen voll mit Büchern zu packen (dabei war auch le "Le rire. Essai sur la signification du comique. Paris: Alcan, 1900" von Henri Bergson, ein hochphilosophisches Werk) und aus der Buchhandlung ganz locker herauszuschlendern. Das tat ich auch und ich wurde nach Verlassen des Ladens vom Hausdetektiv angehalten. Ich musste die Bücher bezahlen und erhielt Hausverbot. Das versetzte mir aber so einen Schock, dass ich ab diesem Zeitpunkt die Korrektheit in Person war. Dieses redliche Verhalten hat sich habitualisiert, wie auch das Unkorrekte sich habitualisiert hatte. Genau wie "Laster" zum Reflex werden kann, genauso geht es auch mit der Tugend. Man kann sich Tugend antrainieren, bis tugendhaftes Verhalten vom Kleinhirn, also unterhalb der Bewusstseinsebene, gesteuert wird. Die zweite Untugend war das ansozialisierte Machoverhalten (mein Onkel hatte mir den Weg gezeigt). Je mehr Frauen, desto besser. Jäger und Sammler. Dieser im Genom fest verankerten Mentalität konnte ich - wenn überhaupt - erst peu à peu Fesseln anlegen, auch wenn mein tatsächliches Verhalten nach meiner Heirat tadellos wurde. Meine ganze Kraft konzentrierte sich also auf die erste und wichtigste Komponente meines Wiederaufbaus, auf die Arbeit.