Zweiter Teil: Das Bewusstsein bestimmt das Sein, das das Bewusstsein bestimmt

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1968 habe ich meine politische Gesinnung radikal verändert und gelang von einer stramm rechten Weltsicht zu einer stramm linken. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich gewisse Abstriche gemacht, aber fundamental bin ich in der 1968er Tradition geblieben.

Fleißig studieren, und dann das! - Daniel Cohn-Bendit

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Ab Januar 1968 besuchte ich sehr pflichtbewusst die vorgeschriebenen Kurse. Es war meine letzte Chance und ich wollte mir nichts zuschulden kommen lassen. Auf dem Programm standen u.a. Fichtes Reden an die Deutsche Nation, Faust, Nietzsche. Nation und Elite, das passte ganz gut in meine Gedankenwelt. Wir behandelten auch Brecht und die Expressionistischen Dichter, auch das war in Ordnung. Ich wollte gute Noten bekommen und meine Prüfungen bestehen. Und gute Noten bekam ich auch. Schrittweise baute ich mein Selbstbewusstsein wieder auf, das in den vorangehenden Jahren so sehr gelitten hatte. Eines Tages, es war Mitte März, stieg ich in der Früh aus dem Bus, der uns von Paris nach Nanterre brachte, als ich zu meinem Entsetzen festellte, dass die schön weiß gestrichenen Wände der Eingangshalle mit schwarzen Grafitis versprüht waren. Es waren teilweise anarchistische Sprüche, teilsweise ging es um den Vietnamkrieg, den die Amerikaner in Asien durchführten und den man stoppen sollte. Wir waren damals an Grafitis in öffentlichen Gebäuden, zumal einer Universität, gar nicht gewöhnt! Eine Gruppe von Studenten, mit einem kleinen Rothaarigen an der Spitze, verteilte Flugblätter. Sofort sprach ich sie an und fragte, warum sie soviel Unruhe verursachten. Es würde mich stören. Ich wolle studieren, meine Prüfungen bestehen und der Vietnamkrieg sei mir schnurzegal. Einige Studenten kamen dazu und bestätigten meine Position. Wenn die Störer nicht mit der Uni zufrieden seien, sollten sie woanders gehen, aber die Fleißigen nicht am Studieren hindern. Am Tag darauf kam die Presse (Le Monde, France-Soir) und das Fernsehen. Cohn-Bendit, so hieß der kleine Rothaarige, wurde interviewt, und ich wurde als Gegenpart ebenfalls gefragt und gefilmt. Im Anschluss erschienen umfangreiche Artikel über den Vorfall, naturgemäß war Cohn-Bendit stark aufgebaut, aber ich wurde auch zitiert. Mich wunderte allerdings, dass ich als Vertreter der Fleißigen, die ihre Prüfung anstrebten und von Politik nichts wissen wollten, immer allein gegenüber Cohn-Bendit und seinen Freunden stand. Das hatte den enormen Vorteil, dass ich auch bei Interviews einbezogen wurde, wenn man nach einem Gegenspieler suchte. So kamen meine Bilder im Umlauf, und ich wurde - wenn auch nur kurzfristig - beachtet. Allerdings war meine Argumentationslinie sehr schlicht und redundant. Ich behauptete, dass Cohn-Bendit (Dany) und seine Gruppe gar nicht repräsentativ seien und ich 10.000 Studenten hinter mir hätte. Nur die 10.000 sah man nie. Dany und seine Freunde dagegen lieferten politische Analysen, wälzten ganz neue Ideen, waren spannend, eigentlich revolutionär. Peu à peu wurde mir klar, dass die 10.000 Studenten, die bisher jeden Tag nach Nanterre gekommen waren und auf einmal, nur wegen einer winzigen Gruppe von Störern, zu Hause blieben, durch irgendwas gelähmt waren. Wieso verteidigten sie nicht den Ort, an dem sie jeden Tag ihrer Arbeit nachgingen? Womöglich war ihnen diese Arbeit tatsächlich egal. Eine ganze Jugend völlig apathisch. Ich wurde immer offener für Cohn-Bendits Argumente und nach ein paar Tagen war ich Maoist. Wir mussten gegen eine Gesellschaft ankämpfen, die ihre Jugend so verdummte. Schuld war natürlich der Kapitalismus, aber auch der Kommunismus sowjetischer Prägung. Basisdemokratie, das war die Rettung.

Vom Führermodell zur Basisdemokratie

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Ich habe bereits beschrieben, dass meine Entwicklungsaufgaben im Januar 1968 darin bestanden, a) meine Klaureflexe definitiv durch Respekt-vor-Eigentum-Reflexe zu ersetzen, b) mein Jäger- und Sammlertrieb bezüglich Frauen durch Konzentrier-dich-auf-deine-Freundin-Reflexe auszutauschen und c) meine Wie-kann-ich-endlich-beruflich-vorankommen-Fragen zu beantworten. Ich hatte aufgehört zu klauen, ich hatte an der Uni eine Struktur gefunden, bei der ich konzentriert auf ein Ziel hin arbeiten konnte, und was Frauen angeht, war eher Flaute zu verzeichnen, ich nahm einfach was kam, und es kam wenig. Eine Entwicklungsaufgabe habe ich nicht genannt: ich musste mein mittelalterliches Weltbild (Führerprinzip) ablegen und ein modernes aufbauen. Allerdings war die alte Ideologie in der ganzen Gesellschaft fest verankert. Der Maréchal Pétain, der Held meiner Familie, hatte die Losung geprägt: "Travail, Famille, Patrie" (Arbeit, Familie, Vaterland). De Gaulle hatte dieses Muster übernommen und im Adenauer-Deutschland war "K.K.K." (Kinder, Küche und Kirche) Orientierungsmarke. Cohn-Bendit und seine Freunde, angeleitet durch kluge und ehrgeizige Soziologie-Professoren, wie beispielsweise Alain Touraine, und motiviert durch die Ereignisse in Deutschland (APO), in den USA, in Japan und in vielen anderen Ländern, weckten Frankreich auf, das die weltweite Agitation noch nicht registriert hatte. Cohn-Bendit selbst war nicht der große Theoretiker, damals war er auch sehr jung, aber er war dynamisch, rhetorisch begabt und amüsant. Es machte Spaß, ihm zu folgen. Wo er war, war was los! Er wurde von vielen kopiert, nicht zuletzt auch von mir. Nach den Ereignissen in Nanterre wurde überall Tag und Nacht diskutiert, zunächst in Unis und Schulen, dann in fast allen offziellen Gebäuden, die besetzt wurden, auf den Straßen sowieso. Es wurden viele Rednerbegabungen entdeckt, und ich konnte mich damals gut positionieren. Die Party dauerte drei Monate, von März bis Juni. In dieser Zeit konnten junge Leute wie ich alle wichtigen Fragen des Lebens und der Politik erkennen und angehen. Es war ein Sturm, der alle gefestigten Wertvorstellungen und Denkstrukturen durcheinanderwirbelte und zur Konstruktion einer neuen Welt zwang. So war es zumindest bei mir.

Für mich persönlich hatte es folgendes gebracht:

Ich hatte im Rahmen der allgemeinen Redefreudigkeit festgestellt, dass die Leute mir gerne zuhörten, unabhängig vom Inhalt meiner Ansprachen und Beiträgen, die sich eher auf einer Vorstufe vertiefter Reflexion bewegten.

Ich hatte erkannt, dass das hierarchische Modell, bei dem man durch die Gene für Führungspositionen vs. Sklavenpositionen vorbestimmt sei, nichts taugte. Es wurde beispielsweise klar, dass die Studenten, die die besten Noten in unseren Kursen erzielt hatten, bei allen diesen aufregenden Aktionen völlig grau blieben und inhaltlich nichts zu melden hatten. Sie waren bereichsspezifisch intelligent, aber diese Bereiche waren lächerlich eng. Offensichtlich hatten alle Menschen Ressourcen, die im bestehenden System nicht abgerufen wurden. Bezogen auf die Schule war der Frontalunterricht die Materialisierung des hierarchischen Prinzips. Schon damals war uns klar: wir müssen die Energien und Intelligenzen der Schüler im Unterricht viel stärker mobilisieren. In Frankreich hieß es "pédagogie active". Auf die politischen Strukturen übertragen war es die Basisdemokratie.

Reiseleiter: Rückfall in Machogehabe und Kleingaunerei?

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Wie viele andere hatte ich mich während dieser Monate in Komitees, Rätesitzungen, Besetzungen und Hearings zu allen möglichen Themen gemeldet und wichtig getan. Um mich herum hatte sich eine kleine Gruppe von Anhängerinnen gebildet, die - das gaben sie selbst zu - mehr an mir als Mann als an meinen Ideen interessiert waren. Eine von ihnen jobbte im Sommer als Reiseleiterin und ihre Berichte klangen märchenhaft. Man bereiste ganz Europa in der Luxusklasse, schlief in tollen Hotels und verdiente einen Haufen Geld. Ich hatte einen Kurs absolviert, der mich berechtigte, in Paris als Führer zu arbeiten, so dass ich über eine kleine Qualifikation verfügte. Diese Mitstudentin empfahl mich bei einem Reisebüro, das dreiwöchige Europareisen für Frankokanadier organisierte. Ich kannte zwar die zu bereisenden Länder nicht, war auch noch nie in ein Flugzeug gestiegen, aber war in der Lage, zu improvisieren und im Notfall interessante Geschichten zu erfinden. Natürlich war ich etwas nervös, als ich die Kanadier in Zürich vom Flughafen abholte und zu unserem Reisebus lotste. Aber sie waren sehr nett und fröhlich, denn im Flugzeug war reichlich Alkohol ausgeschenkt worden. Sie tranken überhaupt sehr viel auf der ganzen Reise, worüber ich dankbar war, denn dadurch erhielt ich einen großen Spielraum: meine kulturellen Erläuterungen wurden nicht so genau geprüft, dafür fanden sie meine Witze sehr lustig, sangen viel und stürzten sich in alle Läden, die ich ihnen empfahl. Dass ich auf die gekaufte Ware Prozente erhielt, nahmen sie mir nicht übel. Heute trage ich noch eine Rolex, die ich damals sehr günstig nach einem Ladenbesuch meiner Gruppe in Luzern erstanden habe. Im Laufe der Zeit wurde meine psychologische Führung immer ausgefeilter. In meinen Kulturbeiträgen am Mikro spielten die Prestigeprodukte der jeweiligen Länder eine überdimensionierte Rolle, so z.B. Glasarbeiten in Murano bei Venedig oder Ledertaschen und Schmuck in Florenz. Ich wurde gefragt, ob ich besondere Einkaufstipps hätte, und solche hatte ich immer! Auch dies möchte ich nicht zu ausführlich beschreiben, denn ich war ja in meiner Phase ethischer Rekonstruktion und das "Betrügen" lief mir nicht mehr so leicht von der Hand. Ich beruhigte mich damit, dass die Leute ja viel Freude an ihrer Reise hatten und dass ich einen hohen Anteil daran hatte. Ich organisierte tolle Events, die Leute mochten mich sehr, daher waren ein paar Prozente hier und dort moralisch vertretbar. In allen Gruppen waren hübsche Mädchen dabei, angezogen war ich etwa wie James Bond und ich fühlte mich auch so. Diesen Ferienjob habe ich sechs Jahre lang, bis zu meinem 31. Lebensjahr ausgeübt. Mit zunehmendem Unbehagen, denn ich wurde immer redlicher.

Auf jeden Fall habe ich in diesen Jahren als Reiseleiter sehr viel gelernt für meinen Beruf als Lehrer. Allein wissensmäßig habe ich eine solide Basis erworben, aber vor allem habe ich meine Organisationskunst ausgefeilt und gelernt, wie man in jeder noch so heiklen Situation eine Gruppe im Griff behält. Immer freundlich und immer gut drauf!

Oktober 1968 in München: Angela

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Am Ende des Sommers 1968 hatte ich durch die Tätigkeit als Reiseleiter ein schönes Sümmchen zusammengespart und meine Garderobe war entsprechend. Was meine Identität anging, so hatte ich das Produkt "Reiseleiter mit James Bond Profil", und das Produkt "Revoluzzer am Fabriktor" im Angebot. Die Ereignisse hatten den geregelten Unibetrieb in Nanterre durcheinandergebracht, und im September konnten die Vorlesungen noch nicht anfangen. Eine Mitstudentin gab mir den Tipp, zur Überbrückung bis zum Vorlesungsbeginn mit nach München zu fahren. Dort könne man über den "Schnelldienst" des Studentenwerkes sofort einen Job finden, auch für ein paar Wochen. Das kannte ich von Paris nicht, wo jeder Ferienjob sehr hart erkämpft werden musste. Ich fuhr also mit und entdeckte eine sehr coole Welt. Das Studentenleben, das für uns Franzosen als Fron und Kampf empfunden wurde, war in Deutschland, zumal in München sehr positiv konnotiert. Die Leute waren relativ alt und mussten, im Gegensatz zu uns nicht jeden Tag mindestens zehn Stunden büffeln, wenn sie nur eine kleine Aussicht auf Erfolg haben wollten. Es war alles sehr easy. Auch ich fand sofort eine Arbeit in der Kaufhalle in der Kaufingerstraße. Zum Übernachten war ich im Kolpinghaus untergebracht. In der Kaufhalle durfte ich Hühnchen grillen und verkaufen. Einmal aufspreizen, einen Riesenlöffel Paprikapulver hinein, dann auf den Grill legen. Am Verkaufsstand für Damenunterwäsche stand ein hübsches Mädchen, das ich in der Pause ansprach. Auch sie kam vom Schnelldienst und wollte vor Studienbeginn ein bisschen Geld verdienen. Am Abend nach der Arbeit tranken wir ein Bier zusammen und zu meiner Überraschung war das Mädchen nett. Einfach nett. Sie stellte keine Forderungen, machte kein Riesentheater, erwartete nicht, dass ich den Zampano spiele. Das kannte ich nicht. Das war in Frankreich nicht üblich. Sie schien mich zu mögen, so wie ich war. Ich musste nicht erzählen, dass ich auf dem Weg zum Admiral und wegen Plattfüßen vorübergehend zurückgestellt war. Und diese Haltung, die sie heute noch zeigt, entlastete mich vom riesigen Leistungsdruck, den alle Frauen, angefangen mit meiner Mutter, immer auf mich und meine Mitmänner in Frankreich ausgeübt hatten. Und paradoxerweise hat gerade diese Haltung des Akzeptierens mich zur Höchstleistung angespornt, seitdem ich sie kenne.

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Nachdem ich in Coulommiers meine Stelle als Aushilfsleher für Deutsch gekündigt und sechs Monate in Nanterre studiert hatte - meine Prüfungen hatte ich bestanden -, wollte ich nicht länger meinen Eltern zu Last fallen, ich war inzwischen fünfundzwanzig, und hatte mich erneut für eine Deutschlehrerstelle beworben. Als ich noch in München war, erreichte mich ein Anruf: ich sollte am folgenden Montag am Gymnasium in Pontoise anfangen. Ich fuhr nach Paris zurück und trat meine Stelle an. Ich war definitiv willens, ein guter Lehrer zu sein und auf dem Hintergrund der intensiven Diskussionen der letzten Monate hatte ich auch eine dezidiert linke politische Position bezogen. Solidarität mit Menschen, die benachteiligt waren oder litten, als Lehrer sollte man nicht nur die "Guten" fördern, sondern allen gleiche Chancen anbieten und besonders diejenigen unterstützen, die es nötig hatten. Ich versuchte auch, eine "pédagogie active" zu praktizieren. Leider hatte diese noch nicht den nötigen Reifegrad erreicht und die von mir gestaltete Gruppenarbeit hatte nicht den Drive, den ich später durch klare Aufträge und deutlich artikulierte Forderungen an die Schüler realisierte. Am Ende des Schuljahres hatte auch ein Schüler festgestellt, er habe durch meine "pädagogie active" weniger gelernt als durch den Frontalunterricht der vorangehenden Lehrerin. Natürlich hatte es mich getroffen. Parallel zu meiner Tätigkeit als Lehrer in Pontoise studierte ich weiter in Nanterre und wollte meine Licence (erstes Staatsexamen) am Ende des Studienjahres ablegen. Das tat ich dann mit Erfolg. Besonders wichtig war auch, dass ich mit dem Mädchen aus der Kaufhalle, das Angela hieß und später meine Frau wurde, eine stabile (Brief-)beziehung führte.

Natürlich war die Vorstellung dessen, was "links" sei, damals eine ganz andere als heute. Aus der Sicht der konservativen Kommunisten in Nanterre waren beispielsweise die DDR und Kuba Musterstaaten. Links von den Kommunisten hatten sich aber die Gauchistes positioniert, wie eben Cohn-Bendit und die meisten Studenten aus diesem Spektrum, und dazu zählte ich mich auch. Sie waren gegen den Zentralistischen Sozialismus, für die Basisdemokratie. Die Denker, an denen man sich orientierte, waren Herbert Marcuse und die sog. Freudomarxisten, insbesondere Wilhelm Reich. Die neue Bewegung richtete sich gegen alle repressiven Maßnahmen der Gesellschaft, und die Sexualmoral der Nachkriegszeit war für sie das beste Beispiel für ideologisch gesteuerte Repression. Für uns Linke bestand die Hauptaufgabe darin, die Unterdrückungsmechanismen aufzudecken und zu bekämpfen. Wir gingen soweit zu behaupten, dass die Erziehung zur Reinlichkeit typisches Beispiel für Repression sei. Das Kind habe das Bedürfnis, mit seinen Fäkalien kreaktiv zu spielen, und die Gesellschaft würde dies von Anfang an unterbinden, was schädlich sei. Auch ich vertrat diese Position vehement. In diesem Zuge wurden weitere extreme Haltungen eingenommen, insbesondere was die kindliche Sexualität angeht: wenn es der Wunsch von Kindern sei, mit Erwachsenen sexuelle Handlungen durchzuführen, sollte man diesen Wunsch nicht unterbinden. Rückblickend bin ich froh, dass ich dies nicht verkündete. Es ist ein glücklicher Zufall, dass das Thema kindliche Sexualität mich nicht beschäftigte. Cohn-Bendit hatte ähnliche Gedanken aufgeschrieben, und er wird bei jeder Gelegenheit von politischen Gegnern mit seinen damaligen Texten konfrontiert.

Wie dem auch sei. Von dieser Zeit ist mir der dringende Wunsch geblieben, meine Schüler und Studenten zu entnaivisieren. Das spielt in meinem Leben und meinem Wirken auch heute noch eine zentrale Rolle. Auch der Text, den ich jetzt als meine Biographie verfasse, folgt diesem Ziel. Unter entnaivisieren verstehe ich auch, dass manipulative Verhaltensweisen, die von den Verursachern selbst nicht erkannt werden, aufzudecken sind. Viele Politiker und sonstige Machthaber, die grundegoistische Ziele verfolgen, merken es selbst nicht und glauben, sie würden sich tatsächlich für die Partei oder das Volk aufopfern. Und das verkünden sie auch wahlwirksam. Das sollen meine Kinder, meine Schüler und meine Studenten durchschauen.

1969, Strukturen, Selbstbild, Einflüsse: Dieter Zahn

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Im Juni 1969 bestand ich meine Prüfung, die Licence. Ich war also fertiger Germanist, wenn auch nicht der höchsten Kategorie. Wollte ich in Frankreich Deutschlehrer werden, was an sich nicht so toll ist, musste ich den harten Wettbewerb CAPES bestehen. Auf den CAPES konnte ich mich auch in Deutschland per Fernstudium vorbereiten. Es gab die Möglichkeit, in Deutschland an einem Gymnasium als Fremdsprachenassistent ein Jahr lang zu arbeiten, und ich bewarb mich auf eine solche Stelle. Das gelang mir, und ich kam nach Nürnberg, aufgeteilt auf das Sigena-Gymnasium und auf das Scharrer-Gymnasium. In den Ferien hatte ich wieder als Reiseleiter gearbeitet und auch diesmal viel verdient, so dass ich mir einen 2CV kaufen konnte. Alle diese Bedingungen waren sehr günstig, um die von mir angestrebte Nachhaltigkeit im Angela-Projekt zu erreichen. Angela wohnte in München, wo sie Pädagogik studierte, relativ locker, wie vieles, was sie tat. Die Strukturen waren gut: stabile Beziehung, stabiler Job und klares Ziel, nämlich der CAPES-Wettbewerb. Mein Selbstbild war beherrscht durch das Label "Linker", und allmählich kam auch die Komponente "Lehrer" dazu, aber noch nicht sehr prägnant. Im Sommer lebte während meiner Reiseleitertätigkeit das Label "James Bond" ganz mächtig auf. Grundsätzlich muss ich sagen, dass ich immer viel gearbeitet habe, auch wenn das in den jüngeren Jahren nicht zu sichtbaren Erfolgen geführt hatte. Insofern war ich berechtigt, auch das Label "harter Arbeiter" als Identitätsmerkmal mitzuführen.

Politisch sah es in Frankreich so aus: De Gaulle hatte nach dem Mai-Unruhen und dem Generalstreik die Wahlen gewonnen, aber er war angeschlagen und musste nach einem missglückten Referendum seinem Premier Ministre Georges Pompidou die Macht überlassen. In Deutschland war Kiesinger Bundeskanzler. In Frankreich und Deutschland standen also Konservative an der Spitze des Staates. In Nürnberg traf ich auf eine Stimmung, die stark von den 1968er-Ereignissen geprägt war. Natürlich gab es auch viele Rechtsgerichtete, aber eine breite Jung-Lehrer-Gruppe hatte im APO-Kontext studiert und war davon beeinflusst. Auch die Hippie-Welle war noch nicht ganz abgeebbt. Ein Lehrer z.B. wohnte in einer Wohngemeinschaft mit Schülerinnen und heiratete später auch eine. Am Sigena-Gymnasium begegnete ich Dieter Zahn, einem hochgebildeten, sehr intellektuellen Kollegen, der mich auf eine Fülle von bedeutsamen Denkern hinwies, u.a. auf Adorno, Walter Benjamin, Horvath. Er schenkte mir Bücher von Horst-Eberhard Richter, z.B. "Patient-Familie", oder "Eltern, Kind und Neurosen", und wies mich auf Mitscherlich hin. Auch musikalisch förderte er mich, indem er mir beispielsweise Mahler näherbrachte. Pädagogisch war er sehr progressiv, und er ist derjenige, der mir den schlimmen Begriff "Schülermaterial" ausgetrieben hat. Mein Unterrichtsstil zu dieser Zeit war eine Mischung von straffem Frontalunterricht und relativ unstrukturierten offenen Phasen.

Meine letzte dickere Lüge

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Alles war also zum Besten, als mich ein Brief vom französischen Einberufungsamt erreichte. Ich sollte eingezogen werden, um meinen Wehrdienst abzuleisten. Das hätte natürlich mein hart erkämpftes Gleichgewicht sehr gefährdet, denn alle für die Zukunft angelegten Strukturen wären zerstört worden. Ich hätte in irgendeiner Kaserne ein Jahr lang herumsitzen müssen, was meine Angela-Beziehung, meine Vorbereitung auf den CAPES, im Grunde also meine ganze Zukunft aufs Spiel gesetzt hätte. Damals war es sehr schwer, sich dem Wehrdienst zu entziehen, ich wusste, ich musste mir etwas Gutes einfallen lassen. Ich schickte dem Amt einen Brief, in dem ich behauptete, ich sei schwul, von Schuldgefühlen geplagt und suizidär. Als solcher wäre ich für die Armee kein Gewinn. Da in dieser Zeit immer noch die Machomentalität herrschte, kostete es Überwindung, sich als Schwuler auszugeben, vor allem, wenn man es nicht war. Daher wusste ich, dass diese Lüge nur selten von meinen Miteinzuziehenden verwendet wurde. Dennoch war zu befürchten, dass ich allein mit dem Argument, ich sei schwul, nicht durchgekommen wäre. Deshalb musste ich den Fall mit Schuldgefühlen und dem Suizidären garnieren. Ich wurde zu einem Amtsarzt bestellt, vor dem ich eine entsprechende, glaubhafte Präsentation lieferte. Auf die Schwulenidee war ich durch meine Bordeaux-Zeit gekommen, und der verdankte ich auch die Tatsache, dass ich recht überzeugend wirkte. Ein schlechtes Gewissen hatte ich nicht, denn es ging wirklich um meine Zukunft!

Als Modell dienen

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Verbunden mit meiner neuen politischen Orientierung als Linker, also Weltverbesserer, war mein Wunsch, mich modellhaft zu verhalten. Es gab bestimmte Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, die ich klar ablehnte und andere, die ich klar befürwortete. Zur Konstruktion einer Persönlichkeit ist es günstig, wenn man Menschen hat, die einem nahe stehen, und die implizit auf die Einhaltung der Regel, die man selbst formuliert, achten. Diesem Prinzip huldige heute noch und lege mir bewusst Fesseln an, indem ich bestimmte Zuverlässigkeitsversprechen ableiste: "Ich bin nie krank, komme nie zu spät, korrigiere eure Aufgaben innerhalb von drei Tagen, usw." Diese öffentlichen Kundgebungen zwingen mich, mich tatsächlich so zu verhalten. Als Modell hatte ich eine zeitlang meinem (deutlich) jüngeren Bruder gedient, und ich hatte mich sehr bemüht, in seinen Augen ein "guter Typ" zu sein. Damals spielte die moralische Komponente noch keine große Rolle, aber er sollte mich als cool wahrnehmen. Das enge Verhältnis haben wir bis heute behalten, und es ist für mich sehr wichtig, dass er mich als "guter" Mensch empfindet. Armin ist der Bruder meiner Frau, er war damals 20, sehr ehrgeizig und anspruchsvoll. Einige Jahre hatten wir einen engen Kontakt, und ich verdanke seinem prüfenden Blick einige Leistungen, die ich ohne ihn nicht erbracht hätte. Das gilt für das Politische und Berufliche, aber auch für andere Bereiche wie das Sportliche und das James-Bondische. Letzteres entsprach sehr seinen eigenen Neigungen. Später übernahm Paul Geyer diese Rolle, vowiegend im Wissenschaftlichen. Noch später waren es dann Manfred Lirsch, Joachim Grzega, Michael Kratky. Im Laufe der Jahrzehnte waren auch viele Schüler dabei, beispielsweise Henning Rohlfs oder Kerstin Blaicher. Im Augenblick erfüllt, wenn auch in abgeschwächter Form (er hat viel zu tun), Christian Spannagel diese Aufgabe. Alle diese Leute, vor denen ich als modellhaft stehen wollte, waren wesentliche Helfer und Förderer bei dem langen Prozess meiner Ich-Konstruktion.

Kein Erfolg beim CAPES (I)

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Im Studienjahr 1969/1970 hatte ich mich gut auf den CAPES vorbereitet. Mein Wissen über Deutschland, seine Literatur, Philosophie, Musik, Kunst, Geschichte und Politik hatte sich sehr vertieft. Ich war ein eifriger SPIEGEL-Leser und gut informiert über die Tagesaktualität, ein regelmäßiger Theater-, Kino- und Operbesucher. Ich denke, ich wäre schon damals ein guter Deutschlehrer in Frankreich gewesen. Nun standen auf dem Programm des CAPES in diesem Jahr a) "Der westöstliche Divan" von Goethe (Dichtung), b) "Die Ermittlung" von Peter Weiss (Drama) und c) ein Roman, der mir gerade nicht mehr einfällt. Leute, die in Frankreich geblieben waren und am CAPES-Vorbereitungskurs teilnahmen, kannten sich über diese drei Werke bis ins Detail aus und wurden von ihren Professoren und gleichzeitig Juroren darauf trainiert, exakt auf bestimmte, immer wieder gestellte Fragen zu antworten. Nur "Der westöstliche Divan", "Die Ermittlung" und der Roman, den ich gerade nicht parat habe. Der SPIEGEL interessierte niemanden dort. Natürlich hatte ich mich genau auf die Themen vorbereitet, aber die Routinefragen kannte ich nicht. Ich war nicht von den Professoren getrimmt worden. Im Juni 1970 scheiterte ich beim CAPES, bereits bei der schriftlichen Prüfung und kam nicht ins Mündliche. Ganz im Gegensatz zu den früheren Misserfolgen, die mich tiefer in die Depression geschickt hatten, konnte ich auf dem Hintergrund meiner stabilen Strukturen und Ziele dieses Ereignis schön wegstecken. Ich war dabei, mich zum Stehaufmännchen zu entwickeln. Mir war es sehr wichtig, vor Angela nicht als Weichei zu erscheinen. Außerdem stand die Saison als Reiseleiter bevor, und das lenkte mich ab.

Kein Erfolg beim CAPES (II)

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Das Jahr 1970/1971 lief etwa nach dem gleichen Schema, bis auf die Tatsache, dass ich nicht mehr als Fremdsprachenassistent arbeitete, weil der Vertrag nicht verlängerbar war, sondern an der Volkshochschule und in einem privaten Fremdspracheninstitut. Alle andere Strukture blieben gleich. Ich vertiefte mein Wissen und meine Beziehung zu Angela. Auf dem CAPES-Programm standen diesmal a) Annette von Droste-Hülshoff (Dichtung), b) "Andorra" von Max Frisch (Drama) und c) "Die Wahlverwandtschaften" von Goethe (Roman). Ich kannte mich super aus und wurde nach bestandener schriftlicher Prüfung zur mündlichen zugelassen. Leider hatte ich nicht den Vorbereitungskurs zur mündlichen Prüfung in Frankreich besucht und kannte die Fragerituale nicht. Ich sollte das Gedicht von Hofmannstahl "Die Beiden" interpretieren und tat es sehr gerne, weil ich das Stück mochte. Die Prüfer sahen sich währenddessen an, vor allem, als ich anfing, mich ein bisschen zu begeistern, und es war klar, dass sie keine Hofmannstahlfans waren. Vor allem waren sie keine Martin-Fans. Außerdem war Mittagszeit und sie deuteten mit Gesten an, dass sie Hunger hatten. Ich fiel erneut durch und konnte abermals Angela zeigen, dass ich kein Weichei war.

Erlangen: Heinz Haberzettl

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Inzwischen war ich 28. Ich hatte karrieretechnisch sechs Jahre versifft und überlegte mir, ob ich den CAPES zum dritten Mal angehen sollte. Da kam ein guter Tipp von Angelas Mutter: ich könne es doch in Deutschland versuchen. Die Bezahlung und davon abhängig das Image eines Gymnasiallehrers sei nicht so miserabel wie in Frankreich. Die Idee war nicht schlecht, aber die Aussicht, mit 28 die Schulbank noch einmal zu drücken, war für mich nicht sehr verlockend, vor allem hatte ich Deutsch studiert und müsse also als Fach Deutsch wählen. Am Ende müsse ich deutschen Schülern Deutschunterricht erteilen, was für einen Ausländer eine hohe Herausforderung darstelle. Das würde bedeuten, dass ich in Deutschland Deutschen Deutsch beibringe, während mir in Frankreich verwehrt blieb, französische Schüler in Deutsch zu unterrichten! So kam es auch. Im Oktober 1971 heiratete ich Angela, ich schrieb mich in Erlangen für das Lehramt Deutsch-Französisch ein, und unterrichtete nebenbei an der Volkshochschule und an einem Fremdspracheninstitut. In der Romanistik traf ich auf Heinz Haberzettl, der damals Studienrat im Hochschuldienst war. Heinz unterstütze mit aller Kraft den von mir eingeschlagenen moralischen und beruflichen Weg, ohne dass er sich dessen immer bewusst war. Insbesondere während meiner universitären Karriere stand seine moralische Integrität in ihrer Selbstverständlichkeit kontrapunktisch zu den sonstigen Tricksereien und Kleingaunereien, die den universitären Alltag bestimmen, wenn man aus welchem Grund auch immer darin involviert ist. Während die Erlanger Romanistik eher unpolitisch war, wehte in der Germanistik ein dezenter linker Wind. Es lehrten Kurt Wölfel und Heinz Schlaffer, das war was! Inhaltlich galt es nach wie vor, Repressionsmechanismen aufzudecken, in der Literatur und Philosophie sowieso, aber auch in der Linguistik. So konnte das Passiv als Form der "Täterverschweigung" enttarnt werden: "Es ist verboten, den Rasen zu betreten". Warum wird nicht gesagt, wer dies verbietet, lautete die bange Frage! Wer ist der Täter, der mich daran hindert, mein Grundrecht der Rasenbetretung wahrzunehmen? Baader/Meinhof waren terroristisch aktiv, und wir konnten uns nicht wirklich durchringen, sie restlos zu verurteilen. Ein bisschen Verständnis blieb. Unterstützt durch Haberzettl erhielt ich kleine Lehraufträge, eine Hiwi-Stelle, er empfahl mich auch beim Institut für Auslandskunde, wo ich als Dozent unterrichtete. Ich studierte fleißig, erhielt gute Noten und galt nach ein paar Semestern als "brilliant". Zum ersten Mal in meinem Leben. Meine Zulassungsarbeit verfasste ich in französischer Sprachwissenschaft zu einem soziolinguistischen Thema. Auch in Germanistik schlug ich mich gut durch. Nach fünf Semestern machte ich mein erstes Staatsexamen, mit guten Noten. Um Beamter zu werden wechselte ich die Staatsangehörigkeit und wurde mit zweiundreißig Jahren Referendar in Nürnberg, am Dürer-Gymnasium. In dieser Zeit bot mir Heinz Haberzettl an, beim Klett-Verlag an einem Französisch-Lehrwerk für die Volkshochschule mitzuarbeiten. Das war ein tolles Angebot, auf das ich natürlich sofort einging. Mein Selbstbewusstsein war sehr gestiegen. Im Seminar galt ich als begabt, ich hatte ja sehr viel Lehrerfahrung in meinem französischen Vorleben gesammelt, und die Arbeit am Lehrwerk stimulierte meine Kreativität. Ich war der Älteste im Seminar, aber ein paar Kollegen waren nicht viel jünger, und ich war dabei, meinen Karriererückstand wettzumachen. Das Referendariat absolvierte ich mit der besten Note in Bayern in meiner Fächerkombination, allerdings von nur 19 Kandidaten. Im September 1977 trat ich meinen Dienst als Studienrat zur Anstellung am Gymnasium Höchstadt/Aisch an, in der Nähe von Erlangen.

Hans-Eberhard Piepho und die kommunikative Wende

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Die Arbeit an "A bientôt", dem Französischlehrwerk für die Volkshochschule, brachte mich didaktisch stark voran. Während ich in der VHS bisher mit rein behavioristischen Lehrwerken (Reflexbildung durch Imitation und Repetition) gearbeitet hatte, z.B. "Französisch für Sie" vom Hueber Verlag, vollzogen meine Mitautoren und ich einen radikalen Wechsel, in der Folge der von Hans-Eberhard Piepho eingeleiten Kommunikativen Wende. Piephos Buch "Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht" hatte dem Lerner seine Würde zurückgegeben. Er sollte sich nicht wie der Pawlovsche Hund verhalten, sondern als Handelnder mit eigenem Willen in einem kommunikativen Kontext. Das war eine dezidiert linke Position, die auf dem Hintergrund der Theorie des kommunikativen Handelns und des herrschaftsfreien Diskurses von Habermas entstanden war. In unserer Gruppe waren Detmar Hönle und seine Frau Françoise für die Theorie zuständig, und sie prägten Anlage und Geist des Werkes grundlegend. Beide waren links engagiert und wollten mit unserem Buch zur Emanzipation der Hörer beitragen. Die Kursteilnehmer sollten lernen, wie man in Frankreich Konflikte angehen und seine Position durchsetzen kann. Auf jeden Fall war das Buch auf Kommunikation angelegt und zwang die Hörer dazu, immer wieder ihre Stellungnahme abzugeben und gemeinsam Probleme zu lösen. Ich teilte die Ansichten der Hönles. Die Redakteure des Klett-Verlages waren primär an einer guten Entwicklung der Verkaufszahlen interessiert und neutralisierten die Inhalte, wenn sie zu klassenkämpferisch ausfielen. Heinz Haberzettl blieb ausgleichend zwischen den Lagern. Das Buch wurde zu einem großen Erfolg, und der Band I erreichte zwischen 1978 und 2009 die Marke von 1,5 Mio verkaufter Exemplare. Meine Aufgabe war gewesen, die Texte zu verfassen. Dazu hatte ich eine spezielle Technik entwickelt: ich begab mich in die thematisierten Situationen mit einem Kassettenrecorder und nahm die an den entsprechenden Orten geführten Gespräche stundenlang auf. Diese wurden dann von mir transkribiert, und ich suchte die Passagen heraus, die besonders würzig waren. Die Texte waren also alle aus der Realität gegriffen und sprachen die Teilnehmer an.

Frontalunterricht mit zahlreichen offenen Phasen, und Projekte: Georg Gerneth

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Auch wenn die jüngeren Lehrer-Kollegen es nicht glauben werden: am Ende der 70er Jahren standen Schüleraktivierung und Schülerpartizipation im Zentrum der didaktischen Reflexion. Wie heute. Nur dass es damals kein Internet gab, dass also Partizipation schwerer zu organisieren war. Meine Fächer waren Französisch und Deutsch, aber mein Hauptinteresse lag auf Deutsch. Französisch war (und ist noch) ein sprachlastiges Fach für KollegInnen, die sich gerne mit Formalien befassen. Politik und Weltverbesserung ist nicht unbedingt ihr Anliegen. Gott sei Dank, möchte man sagen, denn sonst wäre noch mehr Rechtsgerichtetes im Umlauf, als es ohnehin der Fall ist. Das Pingelige ist auch das, was die Schüler am Französischunterricht nicht mögen. Daher ist das Fach oft verhasst. In den Französischbüchern waren die Inhalte eine Beleidigung für unsere Schüler, der Unmut der Schüler wuchs mit zunehmenden Alter. Ganz anders in Deutsch. Die Themen waren spannend (Andorra von Max Frisch, Brechts Dramen, Peter Weiss, also hochpolitische Inhalte), und man war sehr um Schüleraktivierung bemüht. Die meistgelesene Fachzeitschrift hieß "Projekt Deutschunterricht". Nomen est Omen. All das spielte sich um 1979 herum ab, und ich war 36 Jahre. Ich hatte in der Regel drei Deutschklassen, darunter immer zwei Sechste mit jeweils 40 Schülern. Für mich als Franzose waren die Vorgangsbeschreibungen grausam. Die Themen waren: "Ich putze mein Rad", "Die Kuckucksuhr meiner Tante", "Ich backe einen Kuchen" oder "Ich nähe einen Knopf an". Da die Schüler Franken waren, konnte ich sehr gut die Orthographie verbessern und mich als Deutschlehrer kompetent zeigen: es war auch für mich kein Kunststück, die richtige Schreibweise von "Vadder", "Muddi" und "i mächd ned wissn" wiederherzustellen. Schwieriger war es, stilistisch elegant, ohne Wiederholungen zu schildern, wie man einen Ofen reinigt. Es genügte nicht, dass ich die Aufsätze korrigierte, ich musste auch selbst Modellösungen anbieten. Dafür gab es den "Steinbügel" eine Sammlung von Musteraufsätzen von der 5. Klasse bis zum Abitur. Aber das war nur eine Seite des Deutschunterrichts. Der anderen Seite, der Behandlung von Literatur oder der Gestaltung von größeren Projekten gehörte meine ganze Passion. Ich führte zahlreiche Projekte durch, z.B. mit den Sechstklässlern eine Kampagne gegen das Rauchen, die für Ärger sorgte, weil wir über die Lautsprecheranlage die Melodie aus "Spiel mir das Lied vom Tod" mit entsprechenden Kommentaren splielen ließ. Mit einer zehnten Klasse beteiligten wir uns an einer größeren Aktion von Amnesty International. Die Polizei klärte uns über Drogenmissbrauch und Kriminalität auf, wobei die entsprechenden Stunden auch starken Projektcharakter hatten. Projekte waren also keine Ausnahmen, eher die Regel. Ein Kollege, den ich sehr schätzte, wenn nicht gar bewunderte, war Georg Gerneth. Er lieh mir seine ganzen Vorbereitungen aus, und sie waren hervorragend.

Der Unterricht war aufgeteilt in Frontalphasen und offene Phasen. Die Schüler saßen in Reihen hintereinander, man belehrte sie, beispielsweise in Grammatik, der Lehrer stellte Fragen, und die Schüler sahen den Lehrer an und antworteten. Wenn die Zeit es zuließ, löste man diese Form auf und ordnete Gruppenarbeit an, die in der Regel nicht sehr effektiv verlief. Es standen also zwei Strukturen parallel nebeneinander, die frontale auf der einen Seite und die offene auf der anderen, ohne dass beide verwoben waren. Ich denke, das ist heute immer noch der Fall.

GEW-Mitglied und SPD-Wähler

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GEW-Mitglied war ich bereits als Referendar geworden. Es hatten zwei Leute ihre Verbände vorgestellt, der Philologenverband-Fritze und der GEW-Mann. Für mich war die Sache klar. Die meisten Referendare - zumal in Bayern - gingen in den Philologenverband, der ja versprach, ihre spezifischen Interessen als Gymnasiallehrer zu vertreten. Keine Gleichmacherei: A12 für die Volksschullehrer, A13 für die Realschullehrer und für uns Gymnasiallehrer A13 bis A15. Die GEW war für eine Angleichung. Ich selbst hatte eine klare Position: da die GEW mit ihrer Forderung keine Chancen hatte, drohte für mich persönlich die Gefahr einer Herabstufung nicht. Da war der Philologenverband Gott sei Dank zuständig. Politisch dagegen stand ich ja links. Daher war GEW angesagt. Damals war der Radikalenerlass virulent und die GEW ein bisschen anrüchig. Wirkliche Ängstliche hielten sich also fern von der Gewerkschaft. Ich sah keine Gefahr und bekannte mich ostentativ mutig zu meinen Leuten. Tue Gutes und lasse es wissen. Das muss ich in dieser Nüchternheit feststellen. Politisch stand ich links innerhalb des SPD-Spektrums. Das waren die meisten GEW-Mitglieder auch. Allerdings trug ich immer noch in mir die Gedanken, die 1968 während der Mai-Ereignisse diskutiert wurden und sich in Richtung Basisdemokratie bewegten. Im Prinzip war ich also reif für eine Partei, die es damals noch nicht gab, die sich aber in Gestation befand, also die Grünen. Mich zogen offene Gruppen an, Wohngemeinschaften, Menschen, die aus verschiedenen Richtungen strömten und ihre unterschiedlichen Kulturen und Fähigkeiten zusammentaten. Und das war nicht unbedingt die SPD-Tradition.

Festigung des Tugendgerüstes

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Das linke Gedankengut war deshalb so verlockend, weil es aus einem Katalog von altruistischen Tugenden bestand: Solidarität, Unterstützung der Schwachen und Armen, Kampf gegen Ungerechtigkeit von oben und Misstrauen gegenüber Amtsautorität. Im Prinzip waren es Forderungen an den Einzelnen, die nicht der menschlichen Natur entsprechen. Daher war eine linke Einstellung auch so schwer in der Realität umzusetzen. Die linke Ideologie ist stark idealistisch in dem Sinne, dass sie sich an das Bedürfnis nach Transzendenz wendet. Menschen wollen, dass ihr Leben einen höheren Sinn erhält. Sie wollen, dass ihre Handlungen über sie selbst hinausweisen, über den Tod hinaus. Darauf werde ich später ausführlich eingehen. Rechte sind dagegen pragmatischer. Zunächst komme ich, dann meine Familie, dann mein Dorf, dann mein Bezirk, dann mein Bundesland, dann mein Deutschland, dann Europa, dann ist es mir relativ wurscht. Das spricht die meisten von uns instinktiv an. Solidarität finden die Rechten auch sehr gut und das wollen sie auch praktizieren. Mit ihrer Familie, ihren Freunden und Nachbarn. Aber nicht mit den Negern. Insofern sind die Rechten ehrlicher. Will man sein Bedürfnis nach Transzendenz befriedigen und über sich durch punktuellen Verzicht auf Egoismus hinausweisen, dann kann man links sein, aber man gerät zwangsläufig in innere Konflikte. Nun hatte ich mir vorgenommen, tugendhaft zu leben, weil ich mir dadurch auf lange Sicht mehr Glück versprach als über das Laster. Ich musste mir also ein Korsett anlegen. Das Korsett war der Blick der anderen. Wenn ich offensiv linke Positionen vertrat (Altruismus), dann musste ich auch versuchen, diese zu leben, damit ich nicht permanent und öffentlich in Widerspruch geriet. Rechte haben den großen Vorteil, dass sie ihren Egoismus ("mir san mir") zum Programm erheben und dadurch kohärent ausleben können. Diesen Vorteil haben die Linken nicht. Ihnen wird auch mit recht kontinuierlich vorgeworfen, dass sie nicht im Einklang mit ihrem Programm leben (Toskana-Fraktion). Ähnliches passiert den Grünen, die, wenn sie widerspruchlos bleiben wollen, mit dem Rad von Pasing nach Mumbay fahren müssten.

Mein Tugendgerüst sah so aus:

- Wenn du dich tugendhaft verhältst, wirst du dich peu à peu über die anderen erheben, und deine Belohnung wird sein, dass Menschen, die du als wertvoll und begehrenswert empfindest, dir immer stärker Anerkennung zollen werden. Sie werden dich womöglich idealisieren, was in sich einen guten Ansporn darstellt. Tugend hat auch eine ästhetische Dimension. Du wirst insgesamt die romantischen Sehnsüchte ansprechen, die jeder Mensch in sich trägt, auch der schlimmste Zyniker. Und wenn es Frauen sind, die dich idealisieren, dann wird der Ansporn für dich noch größer sein.

- Um tugendhaft zu sein und den Idealen zu entsprechen, darfst du nicht fremdgehen. Es wird dir umso leichter fallen, als du deine Frau liebst und attraktiv empfindest. Der Verzicht auf Liaisons wird dich also nicht viel kosten, der Lohn aber wird hoch sein. Fremdgehen ist ohnehin ein Fehler, auch wenn es kurzfristig Spaß machen kann. Langfristig zerstört es das Vertrauen und verbraucht für den Erhalt der Beziehung eine Energie, die woanders sinnvoller eingesetzt werden kann.

- Linke Positionen fokussieren auf die Solidarität und schaffen Wärme (soziale Einbindung). Versuche dich solidarisch und altruistisch zu verhalten, wo es nur geht. Tue es plakativ, du manövrierst dich in eine Art Tugendfalle. Je linker du dich gibst, desto linker musst du dich auch verhalten, ob du willst oder nicht.

Schule als prädestinierter Ort für tugendhaftes Verhalten

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Will sich jemand der Tugend widmen, so ist die Schule dafür prädestiniert. Es gibt keine Aufgabe, die ethisch höher steht, als junge Menschen auf die Zukunft und auf ein glückliches Leben vorzubereiten. Durch den Beamtenstatus sind Lehrer materiell abgesichert und können sich ganz ihrer Aufgabe, also "dem Guten" widmen. In den meisten anderen Berufen wird die Einzelleistung, selbst wenn sie a priori altruistischer Natur ist, mit dem Verdienst gekoppelt. So neigt der Arzt dazu, bestimmte Therapien, die ihm mehr Einnahmen bescheren, zu verordnen als andere dem Patienten vielleicht nützlichere. Schrittweise rückt der Verdienst in den Vordergrund, und das Wohl des Patienten gerät aus den Augen. Ganz anders in der Schule. Der Lehrer kann sich ganz dem Wohl des Schülers widmen. Ferner ist die Aussicht auf Beförderung und Karriere stark eingeschränkt. Im Gegensatz zu anderen Organisationen, wie Unternehmen oder Universitäten, nützen in der Schule Unterwerfung, Schmeichelei und Wohlverhalten der Karriere kaum. Es gibt wenig attraktive Stellen zu vergeben, und der Direktor hat nur eine begrenzte Macht. Die Atmosphäre ist meist kollegial, Konkurrenz ist wenig ausgeprägt. Man wird also bezahlt, um tugendhaft zu sein. Welch ein Luxus, welch ein Privileg!

Und es ist auch tatsächlich so: in Höchstadt/Aisch, meinem ersten Einsatzort, handelten die meisten Menschen tugendhaft, mir fallen sofort ein paar ein, wie der bereits genannte Georg Gerneth, aber auch der damalige Direktor Josef Rebhan, Frau Emig, Herr Hornung, und, und, und... Ähnlich am Willibald-Gymnasium in Eichstätt, wo ich immerhin 30 Jahre gewirkt habe. Mir fällt spontan der Kollege Scherer ein, aber auch der pensionierte Häring, oder Eichiner, der mit bald 70 voller Elan weiter am WG unterrichtet, oder Frau Braunmiller, Eckart Wurtinger, der Direktor Herr Miehling, und, und, und... Natürlich habe ich im Zusammenhang mit meinen unzähligen Fortbildungen auch überall bewundernswerte, selbstlose Menschen kennengelernt. Mir fällt das umso mehr auf, als ich das Kontrastprogramm permanent vor Augen hatte, an der Universität, wo die Strukturen Böses induzieren. Darauf komme ich gleich.

1980: Wechsel zur Uni - einer lasterinduzierenden Struktur

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In Höchstadt fühlte ich mich pudelwohl. Die gesamte Stimmung, das Kollegium und vor allem die Selbständigkeit und die Freiheit sowie der sehr hohe Anspruch des Lehrerberufes machten mich glücklich. Mir fielen viele lustige Aktionen ein, und die Schüler mochten mich, glaube ich. Andererseits rieb ich mich als Franzose mit dem Fach Deutsch auf. Das Korrekturpensum war enorm, und ich tat mir schwer, schnell voranzukommen, denn ich musste mehr nachschlagen als deutsche Kollegen. Ferner war ich von Jugend an sehr an Wissenschaft und Theorie interessiert, insbesondere an Philosophie, Literatur, Politik, Psychologie, Soziologie und Pädagogik, und suchte nach Kollegen, die ähnliche Interessen hatten. Die Kollegen fanden mich nett, aber anstrengend. Ich dachte, dass ich an der Universität mehr Leute fände, die gerne auch stundenlang über Theorie sprechen würden. Heinz Haberzettl, der mich in jeder Situation unterstützte, wies mich auf eine Ausschreibung in Bamberg (Akademischer Rat für Didaktik des Französischen) und gleichzeitig auch in Eichstätt hin. Ich bewarb mich und war bei beiden erfolgreich. Meine Frau entschied sich für Eichstätt wegen der Nähe zu München und zu ihrer Familie.

In Eichstätt traf ich auf Menschen, die von Hierarchiedenken durchdrungen waren. Nicht, dass das Hierarchiedenken mir fremd wäre, aber ich hatte damals und heute noch andere Kriterien, um hierarchische Rangordnungen herzustellen, unter anderen ethische. Während in der Schule jede amtliche Handlung von verschiedenen Personen überwacht und gegengezeichnet wird, was jeden zwingt, Zusagen und Termine einzuhalten, herrschte an der Uni absolute Willkür. Bereits in der ersten Woche war mir klar, hier gelten andere Werte, die moralischen Kategorien, die ich bisher kannte, waren außer Kraft gesetzt. Professoren sind moralischen Forderungen entbunden. Wenn sie sich trotzdem ethisch korrekt verhalten, dann aus eigenem Antrieb, was natürlich immer wieder vorkommt. Die meisten waren brave Studenten gewesen, die sich durch Sitzfleisch und Sitzfleiß hochgedienert hatten. Sie hatten zahlreiche Demütigungen auf sich nehmen müssen, ohne es vielleicht selbst zu merken. Viele hatten sich ein vernachlässigtes und zu vernachlässigendes wissenschaftliches Gebiet herausgesucht, in dem sie konkurrenzlos Detailwissen anhäufen konnten, bis sie in diesem Bereich unschlagbar waren. Keine Frage: sie waren bereichsspezifisch hochintelligent und hochkomplex. Ihr Fehler war nur, dass sie aus dieser Expertise auch Expertise für alle anderen Bereiche in Anspruch nahmen. Und da war es eher dünn. Woher hätten sie auch beispielsweise Führungskompetenz erwerben können? Waren sie doch direkt vor der Berufung zum Professor noch Sklaven gewesen. Den Wechsel vom Sklaven zum Herrn schaffen die meisten nicht. Die Sklavenmentalität hat sich in den vielen Dienerjahren so in die Persönlichkeit hineingebohrt, dass man als Herr immer noch wie ein Sklave denkt. Und diese Damen und Herren verachteten meine Schulkollegen! Dabei waren etliche doch aus Angst vor der Schule an der Uni geblieben! Natürlich gab es Ausnahmen. Ich fand immer wieder Kollegen, die von dem oben beschriebenen Schema abwichen. Sie hatten sich gegen die Strukturen gestemmt. Sie waren außergewöhnliche Persönlichkeiten. Aber das Gros der professoralen Schicht war direktes Produkt der Strukturen. Hier war das Bewusstsein ganz und gar vom Sein bestimmt.

Uni Eichstätt: mein Kampf 28 Jahre lang. Und das war gut so.

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Zitat: "Borderliner und Menschen mit psychopathischen Zügen haben oft einen starken Drang nach Macht und Kontrolle. Das bedeutet: Je höher Sie in einer Hierarchie schauen, um so größer ist der Anteil an Menschen mit bösartigem Charakter. Macht korrumpiert nicht, sondern die Korrupten suchen die Macht." (Aus: Interview mit Barbara Oakley "Schon Babys können böse sein," Frauke Haß, Frankfurter Rundschau, 12-12-2008). Dieses Zitat ist mir von jemandem zugespielt worden, der sich in Uni-Strukturen gut auskennt.

Kurzer Einschub: Meine Frau Angela, die meine Texte Abschnitt für Abschnitt liest, findet meine Beschreibung des "Bösen" in Gestalt der Professorenschicht überzogen. Nun habe ich vor Augen die vielen Menschen, seien es Studenten oder Assistenten, die im Laufe der Jahre von ihren professoralen Mentoren zerstört wurden. Ich empfinde es als Pflicht, dieses Phänomen zumindest zu erwähnen. Skandalöse Beispiele gibt es ja genug.

Als ich an die Uni Eichstätt kam war ich 37. Ich war stolz und selbstbewusst, denn an der Schule - wo viel verlangt wird - war ich sehr erfolgreich gewesen, hatte gute Noten und war vorzeitig verbeamtet worden. Und Lehrwerkautor war ich auch noch. In meinen Augen war ich ein Winner. Die Stelle eines Akademischen Rates an der Uni bedeutete für mich einen deutlichen Aufstieg. Nun erfuhr ich, dass ich nicht Akademischer Rat war (was nebenbei bemerkt auch nicht so toll ist!), sondern Studienrat im Hochschuldienst mit doppeltem Stundendeputat. Studienräte seien für nichtwissenschaftliche Aufgaben bestimmt, wie Sprachpraxis oder Didaktik, was keine Wissenschaft sei. Wenn ich forschen wolle, dürfe ich es, aber nur in meiner Freizeit, und dass ich forsche sei auch nicht unbedingt erwünscht. Das sagte mir mit freundlichem Ton der Lehrstuhlinhaber, dem ich zugeordnet war. Dass ich nicht Akademischer Rat sei, sei die Schuld des Ministeriums. Im Laufe der 28 Jahre, in denen ich in Eichstätt war, wurden alle Pannen und Probleme regelmäßig und abwechselnd auf die Verwaltung oder auf das Ministerium geschoben. Dabei funktionierte die Verwaltung in Eichstätt hervorragend! Dort saßen bizarrerweise viele gute Menschen, beispielsweise Herr Breitenhuber oder Frau Tauscheck, aber viele andere auch!

Die Universität ist selbstverwaltet und in Organe aufgeteilt, in denen die Professoren die Mehrheit haben. Die anderen Kategorien, vorwiegend der sogenannte Mittelbau, haben keine Möglichkeit, irgendetwas gegen den Willen der Professoren durchzusetzen. Zum Mittelbau gehören alle Nicht-Professoren. Das Gros besteht aus Assistenten, deren Status direkt aus der feudalistischen Struktur abgeleitet wird. Der Assistent ist als Vasall dem Herrn zu absoluter Trüwe verpflichtet. Im Gegenzug verpflichtet sich der Herr implizit, dem Vasallen nach langen Dienstjahren eine Professur zu verschaffen. Vorausgesetzt, dass der Professor in seinem Fach genug Ansehen hat, um einen Assistenten zum Professor durchzudrücken und vorausgesetzt, dass er in den vielen Jahren der Promotion und Habilitation die Lust an seinem Knappen nicht verloren hat. Wehe dem Assistenten, der sich einmal erlaubt, seinen Herrn zu kritisieren. Das wird als Illoyalität gewertet und je nach Laune des Herrn führt es zu einer väterlichen Rüge oder zu einem Todesurteil. Und das mit Menschen, die oft über 40 sind. Das Unisystem ist böse und macht viele Menschen kaputt. Aber mich nicht, denn ich war nicht Assistent!

Mein subjektives Gefühl ist, dass mein berufliches Leben sehr erfolgreich war. Daraus leite ich die Legitimation ab zu beschreiben, welche Bedingungen dazu geführt haben. Und ich glaube, dass meine Mittelbauposition in Eichstätt ein wesentlicher Erfolgsfaktor war. Und das erkläre ich jetzt.

Komplexitätsreduktion: Aufgeblasene Arschlöcher

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Um effektiv zu sein, muss der Einzelne in seiner Lebenswelt Handlungsräume definieren und kognitiv strukturieren. Das Modell, das ich mir von der Uni Eichstätt, ja von der Uni überhaupt gebildet hatte, war und ist noch folgendes: die feudalistisch organisierte Sozialisation im universitären Bereich führt zwangsläufig dazu, dass der Nachwuchs eine lange Phase der Unterdrückung und Demütigung durchmachen muss, bevor er über Nacht zur Macht gelangt. Plötzlich kommt der Ruf. Normale, oft ängstliche und überbescheidene Menschen blasen sich plötzlich zu überdimensionierten Popanzen auf. Cum grano salis. Auf eine Formel gebracht: "Aufgeblasene Arschlöcher", so war meine Art, die Uni-Komplexität zu reduzieren und für mich operationalisierbar zu machen. Und diese Definition hat sich nur sehr selten als unzulänglich erwiesen. Ich bin überzeugt, dass mir dasselbe Schicksal widerfahren wäre. Hätte ich eine Professur oder gar einen Lehrstuhl ergattert, wäre ich, der ohnehin dazu tendiert, mich aufzublasen, zu einem riesigen Luftballon geworden, von allen Abhängigen angeklatscht und angeschmeichelt. Man kann diese Vermutung als Rationalisierung interpretieren. Mag sein. Diese Rationalisierung war allerdings sehr nützlich, denn sie hat mir sehr viel Leid erspart: jede erlebte, durch den Mittelbaustatus bedingte Demütigung, konnte ich sofort als Ansporn umdefinieren. Gerade durch diese Demütigungen erhielt ich die Motivation, ja die Wut, weiter kreativ zu sein, wach zu bleiben und zu innovieren. Lieber ein paar Demütigungen ab und zu als Stachel, der einen zum Weiterpushen führt, als die Aufgeblasenheit, die professorale Trägheit induziert und meist in die Bedeutungslosigkeit führt. Bekannt, das muss man einfach nüchtern feststellen, waren die meisten der Eichstätter C3 und C4 nicht! Cum grano salis, natürlich.

Superstelle

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Mit diesem negativen Panoptikum permanent vor Augen konnte ich kontrapunktisch eine "gute" Welt aufbauen. Dafür verfügte ich über umfangreiche Ressourcen. Zunächst kam auch aus professoraler Seite Unterstützung. Ich stellte Anträge und bekam Geld. Der Lehrstuhlinhaber, dem ich zugeordnet war, zeigte sich sehr generös. Er bewilligte aus seinem Etat Riesensummen für meine Projekte. Er selbst verbrauchte nur wenig, ein paar Briefmarken da und dort und sah in der Unterstützung meiner Arbeit eine gute Möglichkeit, seinen hohen Etat durch Ausgaben zu rechtfertigen. Das soll seinen Verdienst nicht schmälern, denn viele seiner Kollegen hätten an seiner Stelle das Geld woanders hineingesteckt. Zu seinen Gunsten ist auch zu betonen, dass er immer wieder bereit war, philosophische Gespräche zu führen, in denen er sich authentisch zeigte. Seine Kollegen waren in erster Linie an fakultätsinternen Auseinandersetzungen um Stellen und Gelder interessiert, und da waren Leute aus dem Mittelbau keine zielführende Gesprächspartner: sie hatten keinen Einfluss. Ferner war sehr günstig, dass wir wenig Studenten hatten, so dass ich zu Beginn zeitlich kaum beansprucht wurde. In dieser Zeit konnte ich mich intensiven Lektüren widmen, zur Fremdsprachendidaktik, aber auch zur Pädagogik (ich las die gesamte Enzyklopädie Erziehungswissenschaft aus dem Klett-Verlag) und zur Erkenntnistheorie. Bizarrerweise hatten die Lehrstuhlinhaber auch inferiore Tätigkeiten an sich gerissen, die normalerweise von Mittelbaulern erledigt werden, wie die Studienberatung oder die Einführungen am Semesteranfang. Das hätte ich alles gerne gemacht, aber es hätte unter Umständen mein Arbeitsfeld und meine kleine Macht erweitert. Ich vermute, das wollten die Herren nicht. Umso besser, dadurch hatte ich mehr Zeit für Höheres. Höheres war zum Beispiel die Schule. Es war mir bereits vor meinem Antritt in Eichstätt klar, dass ich nur dann vernünftig über Didaktik an der Uni sprechen könne, wenn ich selbst parallel unterrichtete. Die Möglichkeit gab es, denn das Ministerium hatte den Fall vorgesehen und ich konnte als Didaktiker einen entsprechenden Antrag einreichen. Das taten die meisten Didaktiker nicht, denn viele waren froh, aus der Schule entflohen zu sein. Um an der Schule eine Klasse zu unterrichten, hätten sie auch Anfang September in Eichstätt sein müssen, also einen Monat vor Unibeginn, und in der vorlesungsfreien Zeit, also zwischen Februar und Mai. Wer verzichtet schon freiwillig auf mehrere Monate Freiheit (was nicht Untätigkeit bedeutet, das muss man fairerweise sagen, denn auch in dieser Zeit arbeiten meine Kollegen). Das Tolle an meiner Stelle war vor allem, dass ich alleiniger Fachvertreter war. Im Bereich der Französischdidaktik hatte ich nur Gott über mir. Das lag daran, dass die Lehrstuhlinhaber der Meinung waren, dass Didaktik keine Wissenschaft sei und daher keine echte wissenschaftliche Vertretung brauche. Ein Studienrat im Hochschuldienst sei die adäquate Besetzung. Man habe genug Ärger mit den professoralen Didaktikern in der Anglistik und der Germanistik, es sollte nicht noch die Romanistik dazu kommen.

Ein letzter Aspekt, der sich als großer Vorteil erweisen sollte, war die Überschaubarkeit der Uni Eichstätt. Wenn jemand, so wie ich, besonders aktiv war, erhielt er in der kleinen Stadt mehr Widerhall als beispielsweise in München oder Frankfurt. So wurde bald der Kanzler Karlheinz Jakob auf meine Arbeit aufmerksam, und er steuerte Gelder in meine Richtung, die die Verbreitung meiner Ideen stark vorantrieben. Ähnliches galt auch später, als Gottfried von der Heydte Kanzler wurde. Natürlich hier wie in vielen anderen Beschreibungen: cum grano salis!

Stopp! Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen: als Beamter auf Lebenszeit war ich unter den Mittelbaulern einer der ganz wenigen, die unkündbar waren. Dadurch hatte ich viel mehr Freiräume, die ich ausgiebig nutzte.

Kleine Perturbationen

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Als Linker fühlte ich mich verpflichtet, für Gerechtigkeit zu kämpfen und mich für die Schwächeren einzusetzen. Da ich in der Uni-Struktur zur schwächeren Gruppe gehörte, passte es wunderbar. Ich ließ mich zum Mittelbauvertreter im Fachbereichsrat der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät wählen und auch in die Versammlung, die den Präsidenten bestimmt. Bei jeder passenden Gelegenheit ergriff ich das Wort und lernte so, wie man sich als Minderheitenvertreter in einem Gremium von Übermächtigen durch sachliche, 100% abgesicherte Argumente behauptet. Das war eine tolle Übung. Als ein neuer Präsident gewählt werden sollte und der aussichtsreichste Kandidat, Nikolaus Lobkowicz sich in einem Hearing präsentierte, fragte ich ihn vor 300 Leuten, ob er Mitglied des Opus Dei sei. Viele bewunderten mich für diesen mutigen Schritt. Ich selbst wusste, dass das Risiko gleich Null war. Das konnte man sich als Lebenszeitbeamter erlauben. Und Aufmerksamkeit kann man immer brauchen. Später, als Lobkowicz Präsident war und ich ihn gelegentlich aufsuchte, fragte er mich jedesmal schmunzelnd, ob ich dejenige war, der die Opus Dei Frage gestellt hatte. Ich lächelte komplizenhaft und er bemühte sich, meine Bitte zu erfüllen. Ich machte ihn auch darauf aufmerksam, dass wir die gleichen Schuhe trugen. Es waren Church's. Seine Church's kaufte er in München, ich kaufte meine in Paris. Im Laufe der Jahre gewann ich durch zahlreiche Aktionen die Reputation eines erfolgreichen, kreativen Paradiesvogels für die einen, eines Spinners für die anderen. Beides traf nicht zu, aber dieses Image erweiterte meinen Spielraum. Später erlaubte ich mir, einer Arbeit, die eine professorale Kollegin mit eins bewertet hatte, als Zweitkorrektor mit sechs zu benoten, obwohl es die sechs gar nicht gibt (fünf ist die schlechteste Note und bedeutet "nicht bestanden"). Der Student hatte die Platitüden und modischen Leerformeln, die meine Kollegin in ihren Veranstaltungen verbreitet hatte, aufgegriffen und unverstanden zu Papier gebracht. Meine Kollegin war verstört und ich fand das amüsant. Schließlich veröffentlichte ich im Internet einen eMail-Austausch zwischen mir und einem Lehrstuhlinhaber, aus dem klar hervorging, dass er mich und den Fachbereichsrat belogen hatte. Die Adresse der entsprechenden Seite schickte ich an alle Mailinglisten, über die ich verfügte. Die Perturbation war gewaltig. Als Handlungsforscher war meine Aktion wissenschaftlich zu begründen. Der Kanzler wurde alarmiert und folgte meiner wissenschaftlichen Argumentation nicht. Ich musste die Seite aus dem Netz herausnehmen. All das war legitim, sinnvoll und positiv verändernd. Aber das ging nur, weil ich keine echte Repression befürchten musste.

Die weiteren Handlungsräume: Schule, Familie, Politik

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Willibald-Gymnasium Eichstätt

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Wie bereits ausgeführt war ich der Überzeugung, dass ich als Didaktiker unbedingt den Kontakt zur Praxis halten musste, und zwar nicht durch Unterrichtsbesuche, sondern durch den regulären Unterricht in einer eigenen Klasse. Ich stellte einen Antrag und erhielt einen Lehrauftrag am Willibald-Gymnasium. Den behielt ich bis heute. Dieser Schritt war ausschlaggebend für meine ganze Karriere. Dort hielt ich zwar nur fünf Stunden pro Woche, aber in diese Stunden investierte ich viel Zeit und Liebe. Wissenschaftlich war die Struktur ideal, denn im Unterricht traf ich auf die Probleme, die ich mit Hilfe der Theorie angehen konnte. Das Ergebnis meiner theoretischen Überlegungen wurde gleich in der Klasse getestet, die Ergebnisse konnte ich im Anschluss in die Theorie einspeisen, ich stieß auf neue Probleme und so setzte sich die Forschung fort. Dies entsprach dem Kritischen Rationalismus Popperschen Prägung. Ohne mir dessen bewusst zu sein, war mein Forschungsansatz ganz eigebettet in der Aktionsforschung (auch "Handlungsforschung"). Und diese Struktur bewährte sich 28 Jahre lang bis zu meiner Pensionierung und bewährt sich heute noch, denn ich unterrichte und forsche weiter.

Wir verfolgten das Konzept einer offenen Familie weiter. Juliane und Detlef entwickelten sich ganz prächtig. Sie gingen diverse Hürden offensiv an und bewältigten die Aufgaben immer selbständiger. Wir hatten in Ingolstadt ein großes Haus gemietet und meine Frau versuchte, im sozialen Bereich aktiv zu sein. So besuchte sie einen älteren Herrn im Altersheim und lud ihn gelegentlich am Sonntag zu uns nach Hause, einen anderen älteren Mann unterstützte ich finanziell. Das konnte ich mir leisten, denn das Lehrwerk "A bientôt" war sehr erfolg- und ertragreich. Bald erweiterte sich die Nachkommenschaft um Simon und Roman. Die Idee kam auf, ein größeres Haus in der Bretagne zu kaufen, in welchem wir als Großfamilie alle unsere Ferien verbringen würden, was die Beziehung zu meinen Eltern, die in Paris lebten, und zu Frankreich vertiefen würde.

Von der SPD zu den Grünen

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1980 war Helmut Schmidt Bundeskanzler. In Frankreich war Valéry Giscard d'Estaing Präsident. Der Deutsche war Sozialdemokrat, der Franzose Liberaler. Und beide verstanden sich gut. Europa schritt voran. Als ich in Eichstätt ankam, suchte ich sofort nach Gleichgesinnten und erfuhr durch ein Interview in der Eichstätter Unizeitung, dass Helmut Selzer die GEW an der Universität vertrat. Natürlich war diese Position in einer sehr konservativen Umgebung nicht leicht zu behaupten, aber Selzer war eine starke Persönlichkeit und genoß hohes Ansehen unter ähnlich Denkenden, aber auch unter vielen seiner politischen Gegner. Ich nahm Kontakt mit ihm auf und war sofort angetan von seinem Wissen, seiner moralischen Haltung und seinem Engagement. Selzer hatte eine Gruppe alternativ Denkender ins Leben gerufen und lud mich zu den Treffen ein. Der Kreis war sehr offen und es kamen Leute aus allen politischen Richtungen, vorwiegend aus dem linken Spektrum, naturgemäß. In dieser Gruppe wurde sehr intensiv nachgedacht und diskutiert. Es wurden Texte alternativer Denker herangezogen, beispielweise des Franzosen André Gorz, eines Zukunftsforschers mit basisdemokratischer Orientierung, oder von Robert Jungk. Wir bewegten uns also weg von der SPD und in Richtung Links-Alternative Szene. Ich selbst wurde immer stärker beeinflusst vom Vernetzungsgedanken, insbesondere von Friedrich Vester, von der Ökologie, von der Basisdemokratie. Auch in Ingolstadt konstituierte sich eine linke Szene, die Gewerkschafter, Jungsozialisten und Alternativen anzog. Ich war voll involviert. In diesem Umfeld bildete sich langsam eine festere Gruppe, die sich zur Wahl stellen wollte und sich Grün-Alternative nannte. Schon damals wirkte Petra Kleine aktiv mit, die um die 20 war, und sie prägt seitdem die politische Szene in Ingolstadt nachhaltig. Die für mich interessante Phase der Theoriebildung und Programmarbeit wurde abgeschlossen, und man stellte sich allmählich auf Wahlkampf ein. Ich plakatierte auch tatsächlich einmal mit und konzentrierte dann meine Energie immer mehr auf die wissenschaftliche Arbeit als Didaktiker an der Uni. Klar, dass ich Mitglied der Grünen wurde und ab 1981 stets Grün wählte.

Didaktik: Schüler unterrichten Schüler - erste Schritte

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1980 stand ich noch ganz unter dem Eindruck der Diskussion, die wir während der Arbeit an "A bientôt" geführt hatten. Ich fokussierte auf die Schüleraktivierung. Die Frage, die mich und alle Fremdsprachenlehrer beschäftigte, war: "Wie bringe ich meine Schüler zum Sprechen?". In dem Buch von Ludger Schiffler "Interaktiver Fremsprachenunterricht" (1980) hatte ich gelesen, dass eine Lehrerin ein paar Monate ihre Schüler sich gegenseitig hatte unterrichten lassen. Ich führte eine 8. Klasse und übertrug den Schülern ein paar Lehreraufgaben, wie z.B. dass sie sich gegenseitig bei Übungen aufriefen und korrigierten. Nach einer kurzen Übergangszeit - hier ließ ich mich nicht durch kleine Rückschläge entmutigen - bewältigten sie diese Aufgabe problemlos. Ich übertrug dann die Vorstellung des neuen Wortschatzes und irgendwann auch der Grammatik. Das lief ganz gut, ich machte ein paar Videoaufnahmen und stellte diese Sequenzen Kollegen vor. Das löste heftige Diskussionen aus, denn das Sprachniveau meiner Schüler war noch nicht optimal, und meine Kollegen fragten sich, warum ich mich als Sprachmodell zurückzog. Ich war doch Franzose, habe eine perfekte Aussprache, und es sei schade, dass ich beim Sprechen den Schülern den Vortritt lasse.

Sowohl als auch: das musste ich vermitteln. Bis heute

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1981 blieb die Vorstellung virulent, Fremdsprachenlernen erfolge, zumindest im Bereich des Mündlichen, durch Imitation und Repetition. Das war die behavioristische Lerntheorie. Und da gab es noch die Spurentheorie von Parreren, die besagte, dass, wenn man bei der Erstbegegnung ein Wort falsch ausgesprochen hört, diese falsche Aussprache sich definitiv ins Gehirn einbrennt. Daher verlief die Wortschatzeinführung dergestalt, dass der Lehrer ein Wort sagte oder vom Band hören ließ und im Anschluss dieses Wort mehrmals nachgesprochen wurde. Da meine Methode vorsah, dass der neue Stoff von den Schülern vermittelt wird, entstand die Horrorvision, dass reihenweise Wörter mit falscher Aussprache eingeführt und für ewig als Gedächtnisspur eingeritzt bleiben würden. Das ließ mich schmunzeln, denn ich selbst hatte mit 25 eine miserable Aussprache und mit 30 eine fast nativespeakerlike. Das letzte Wort, das ich aus der falschen Ritze herausgekratzt habe, war "Individuum", das ich mit Betonung auf "uum" artikulierte, bis in Regensburg Schüler aus der 10. Klasse mich baten, das von mir so oft benutzte Wort richtig auszusprechen, nämlich mit Akzent auf "vi". Meine eigene Erfahrung widerlegte also die Van-Parreren-Spurentheorie. Man kann nämlich die Aussprache kognitiv angehen, indem man zunächst falsche Aussprachen zulässt und sich schrittweise durch trial and error und mit Unterstützung des Lehrers an die richtige annähert. Beides funktioniert, sowohl als auch!

Und die Grammatik?

Eine weitere Frage war, ob Schüler in der Lage sind, beispielsweise den Konjunktiv einzuführen. Meine Erfahrung war, dass die Schüler alles vermitteln können: den Wortschatz, komplexere Sachtexte, Literatur und Gedichte. Und die Grammatik auch, selbst den Subjonctif. Das ist auch logisch, denn wenn Schüler intellektuell imstande sind, einen Sachverhalt zu begreifen, dann können sie ihn auch vorstellen und erklären. Wären sie nicht in der Lage, ihn zu verstehen, hätte es keinen Sinn ihn im Lehrplan einzuführen.

Alle Probleme des Fremdsprachenunterrichts waren also gelöst: die Schüler sprachen sehr viel (die Stummheit der Schüler war ja das Hauptproblem), sie leisteten kognitive Arbeit, und sie automatisierten auch die Sprachstrukturen (Imitation und Wiederholung).

Wie reagierte die Umwelt? Tumult in Vilshofen

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Ich war überzeugt, dass ich das Ei des Columbus in der Hand hielt. Das teilte ich sofort einer Kollegin Fremdsprachendidaktikerin mit, sie stand vor dem Kopiergerät und lachte. Ich rief im FWU (Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht) an. Frau Teerstegen, die Referentin für Fremdsprachen, leitete mich weiter an Wolf Theuring, den Redakteur für Pädagogik. Und Theuring war mein Glück. Er fand meine Ideen "hervorragend"! Er lud mich nach München ins Institut ein mit meiner Klasse, und wir drehten einen 45-minütigen Film "Aktive Schüler lernen besser" (1983). Mit diesem Film ging ich nach Dillingen in die Akademie für Lehrerfortbildung, und dort traf ich auf Paul Meier, den Referenten für Fremdsprachen. Und Paul Meier war mein zweites Glück. Er lud mich als Referenten in fast alle seine Fortbildungsveranstaltungen ein. Bald setzte er mich auf die Liste der Redner in Vilshofen, wo alle Französisch-Seminarlehrer aus Deutschland ihr Jahrestreffen hatten. Ich zeigte Auszüge aus dem Theuring-Film, und man sah, wie Schüler den neuen Wortschatz einführten. Einige Seminarlehrer schrien mich an. Einer sagte mir "bei mir würden Sie als Referendar eine sechs bekommen"! Es waren alles Spezialisten. Einer sagte, ich würde alle didaktischen Prinzipien veletzen, alle! Am Ende stand Hans-Joachim Jakob aus Berlin auf und rief, man müsse mir doch eine Chance lassen. Ich solle mich doch aussprechen können. Bald wurde die Versammlung aufgelöst, und ich fuhr zurück nach Hause. Kurz danach teilte mir Paul Meier mit, die gesamte Seminarlehrergruppe habe sich dann nur noch über dieses Ereignis erregt unterhalten. Hans-Joachim Jakob lud mich nach Berlin zu einem Vortrag ein. Das war mein erster Auftritt außerhalb von Bayern mit dem, was ich damals "Schüler unterrichten Schüler" nannte.

Exkurs: Gutes individualisieren, Böses somatisieren

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Prinzipiell habe ich mich daran gewöhnt, wenn eine Person etwas Gutes tut, dies auf ihr individuelles Konto zu legen, dagegen wenn sie was Böses tut, dies dem Bösen im Menschen allgemein zuzurechnen. Beispiel: die Schülerin Anna hat sich sehr hilfreich gezeigt und ich merke mir das, wenn aber die Schülerin Anna sich aggressiv verhält, schiebe ich es dem allgemeinem Triebhaften in ihr und in uns allen zu, das belastet Annas Konto also nicht. Auf diese Weise besteht die Welt um mich herum aus lauter netten Individuen. Das Böse in ihnen wird entindividualisiert, kann also dem einzelnen nicht präzise zugeordnet werden. Das funktioniert zwar nicht immer, aber immer wieder ganz gut. Auch in meinem Text werde ich Personen, die in einem guten Licht dargestellt werden, beim Namen nennen, wenn sie aber Böses tun, wird es dem Bösen (der auch in uns lebt) zugesprochen und sie werden kurzfristig in XY umbenannt. Eine und dieselbe Person kann also einmal als "Fritz Müller" erscheinen, wenn sie Gutes tut, und ein paar Zeilen später als XY, wenn sie Böses verrichtet. Allerdings kenne ich ein paar Leute, die ich leider immer als XY werde erscheinen lassen.

Die guten Wolf Theuring und Paul Meier und der böse Ministerialrat XY

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Wolf Theuring fand meine Ideen sofort sehr progressiv und toll. Und Wolf Theuring ist kein Naivling. Er ist eher ein sehr attraktiver Typ, ein Segler, ein Kämpfer. Gelegentlich verhält er sich wie ein XY, das habe ich mal in Paris erlebt, aber das lag an den harten Drehbedingungen. Den ganzen Tag hat er mich gehetzt, und am Abend sollte ich ihm noch händchenhalten, ein Bier mit ihm trinken oder was weiß ich. Job ist Job, und dein Bier trinkst du allein! Aber das war nur ein Detail. Theuring hat mit großer Hartnäckigkeit erreicht, dass das FWU eine Dokumentation von fünf Filmen über meinen Unterricht und meine Konzepte finanzierte. Das ganze dauerte vier Jahre. Für mich eine tolle Zeit. Irgendwann wechselte er die Abteilung oder hatte kein Geld mehr und das ging auseinander. Aber Theuring hat mich am Anfang unglaublich gepusht!

Paul Meier war Referent für Fremdsprachen an der Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen. Sehr schnell begeisterte er sich für meinen Ansatz und unterstützte mich, wo es nur ging. Er ließ mich nach Vilshofen einladen, wo ich so viele Perturbationen verursachte, und später wollte er einen Modellversuch über meine Methode in Dillingen durchführen. Er stellte auch den entsprechenden Antrag. Der Ministerialrat XY, der am Ministerium für Fremdsprachen zuständig war, fand meine Methode nicht gut. Er baute eine ganze Reihe von Hürden auf, die ich eine nach der anderen bewältigen musste. Zum Beispiel musste ich mit einer Klasse nach Dillingen antanzen und vor den versammelten Seminarlehrern eine Demonstrationsstunde halten. Die Seminarlehrer fanden das interessant und plädierten für einen Modellversuch. Dann kamen Leute aus dem Ministerium in einer Nacht und Nebel Aktion nach Eichstätt und durchwühlten meine beim Direktorat aufbewahrten Schulaufgaben. Auch sie fanden alles in Ordnung. War eine Hürde überwunden, erfand der Ministerialrat XY eine neue Prüfung. Immer wieder. Als ich am Ende alles erfolgreich überstanden hatte, verweigerte er den Modellversuch trotzdem, ohne Angabe von Gründen. Das klingt alles lustig und heiter, aber dieser XY war nicht OK, das muss ich deutlich sagen. Und Paul Meier war ein Engel.

Tilman Steiner und 15 Minuten im Bayerischen Fernsehen

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Tilman Steiner wollte eine Sequenz über die Forschung an der Uni Eichstätt drehen und ließ das Terrain von Eichstätter Journalistik-Studenten vorbereiten. Zunächst dachten sie an ein Projekt des Sonderforschungsbereiches Mediävistik, aber es ließ sich nicht so gut medienwirksam aufbereiten. Dann kam ein netter Journalistik-Mitarbeiter auf die Idee, meine Methode als Thema herzunehmen. Nach einer kurzen Zeit der Ungewissheit (die Mediävisten lieferten kleine Rückzugsscharmützel) wurde zugunsten meines Projektes entschieden. Der Bericht wurde durch Tilman Steiner überzeugend gestaltet und ich freute mich tierisch, als er ausgestrahlt wurde. Ich fertigte 500 Kopien von diesem Film und verschickte sie an alle relevanten Leute aus der Fremsprachendidaktik-Szene. Die Rechnung bezahlte der Kanzler. Natürlich war im Kanzler eine gute Portion XY drinnen, aber ich hatte das Glück, dass vor allem Karl-Heinz Jakob in seiner individuellen Güte bei mir zum Vorschein kam. Ähnliches gilt für seinen Nachfolger, der von vielen vor allem als XY wahrgenommen wurde, aber den ich persönlich immer wieder als Gottfried von der Heydte genießen konnte. Und weil wir gerade beim Thema sind, möchte ich jemanden erwähnen, der als netter Kollege anfing und als perfektes XY endete. Er war akademischer Rat. Wir saßen immer wieder beim Kaffee bis zu dem Tag, wo er beiläufig erwähnte, er habe einen Ruf erhalten als C3-Professor an einer Universität, die nicht sehr weit lag. Ich sagte ihm, ich gratuliere, würde diesen Aufstieg aber persönlich bedauern, denn wir würden uns künftig wohl nicht mehr so nett unterhalten können. "Ach nein, wo denken Sie hin? Ich werde mich doch nicht ändern!" Ein paar Jahre später kam er nach Eichstätt als C4-Professor zurück. Es war nicht mehr der angenehme und hilfsbereite Kollege, sondern XY durch und durch. Und das liefert mir den Anlass, einen wichtigen Punkt hier zu thematisieren: die Selbstidealisierung:

Blogeintrag vom 11.11.08

Warnung vor Selbstidealisierung!
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Posted on 11. November 2008 by jeanpol

Wenn wir eine Machtposition anstreben, behaupten wir meist, dass wir selbstlos und nur zum Wohle der Allgemeinheit handeln. Wenn man aber die Bedürfnispyramide von Maslow betrachtet, sieht man, dass Macht eine optimale Befriedigung aller Bedürfnisse sichert: wer Macht besitzt, kommt als erster dran beim Büffet, bei der Wahl von Sexualpartnern, beim sozialen Anschluss und beim Ansehen, bei der Selbstverwirklichung und sogar beim Sinn, denn man hat die Möglichkeit, sinnvolle/altruistische Projekte zu realisieren und sich dabei wohl zu fühlen. Da es aber nicht sozial akzeptiert ist, dass man offen zugibt, Macht oder gar Ruhm anzustreben, präsentiert man als einzige Motivation die, die die größte Anerkennung verspricht: “Ich will die Macht nicht für mich, sondern wegen der (guten) Sache”. Man präsentiert also ein idealisiertes Bild von sich. Und man glaubt auch daran, also man glaubt, dass man selbstlos ist. Das ist natürlich verhängnisvoll, denn man durchschaut sich selbst nicht und meint, man sei “besser” als alle anderen.

Wenn jemand mir also sagt, er sei an Macht oder an Ruhm nicht interessiert, glaube ich ihm nicht. Für unser Projekt ist diese Erkenntnis wichtig, denn wir sollten uns selbst nicht “ethisch” überfordern. Ich selbst habe bereits erklärt, warum ich an Aufmerksamkeit interessiert bin: ich möchte mein Grundbedürfnis nach Informationsverarbeitung auf hohem Niveau befriedigen. Und das geht nur über Projekte. Die einzige Frage, die sich stellt, ist, ob diese Projekte auch für die anderen von Vorteil sind. Ist es der Fall, dann kann es doch jedem egal sein, aus welchem Grund ich mich hier einbringe. Oder?

Fazit: es ist legitim, wenn man wie jedes andere Lebewesen auch seine Grundbedrüfnisse befriedigen will (”Meerschweinchenmetapher“). Man soll dies aber nicht nach außen anders darstellen (Selbstidealisierung). Wenn man die eigene – “egoistische” – Motivation offen beschreibt und die anderen Menschen sehen, dass auch sie von den damit verbundenen Aktivitäten profitieren, werden sie das in Ordnung finden.

Doktorarbeit - Herbert Christ.

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Ich war sehr stolz und erzählte bei jeder Gelegenheit, wie toll meine methodische Erfindung war. Winfried Wehle, Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Literatur, meinte, es sei prima, aber ich müsse publizieren, wenn ich mit meinen Ideen wissenschaftlich vorankommen wolle. Im Augenblick sei ich wissenschaftlich ein leeres Blatt. Er hatte recht. Allerdings: wissenschaftlich meine kleine Unterrichtstechnik zu erforschen schien mir nicht attraktiv und vor allem ich fand den Gegenstand nicht so ergiebig. Bald würden alle Lehrer ihre Schüler sich gegenseitig unterrichten lassen, und damit wäre das Problem erledigt. Was sollte man noch groß erforschen? Ich war absolut überzeugt, dass meine methodische Innovation so evident war, dass sie sich gleich verbreiten und einbürgern würde. Zu erforschen gäbe es nichts. Dennoch ließ ich mich von Wehle überzeugen, zumal auch Wolf Theuring zur wissenschaftlichen Aufarbeitung drängte. Ich suchte nach einem Doktorvater und kontaktierte Herbert Christ, den ich auf einer Tagung angesprochen hatte, wegen eines anderen Promotionsthemas. Herbert Christ war der Grand Seigneur der Französischdidaktik, wie man immer wieder von Hildegard Hamm-Brücher sagt, sie sei die Grande Dame der FDP. Allein von der Erscheinung her. Per Zufall hatte ich also die Nr.1 der Französischdidaktik als Doktorvater erwischt. Das Ganze verlief sehr erfreulich, das muss ich gleich sagen. Christ betreute mich perfekt, sowohl vom Inhalt her als auch vom Menschlichen. Dennoch fühlte ich mich bei meinen Gesprächsterminen ein bisschen wie in Brest bei den Bekannten meiner Großeltern. Ich war wieder "Ce qu'il est gentil ce petit Jean-Pol". Gut erzogen, brav, perfekter Scheitel. Und das mit vierzig Jahren. Dafür konnte Christ nichts, es war antrainiert.

Wenig Interesse von wissenschaftlicher Seite

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Meine Doktorarbeit verfasste ich unter der guten Betreuung von Christ sehr zügig. Ich begründete meine Methode bedürfnistheoretisch, informationstheoretisch, kognitionspsychologisch und führte eine Diskursanalyse durch. Die Arbeit wurde 1985 bei Gunter Narr publiziert, in der von Christ herausgegebenen Reihe "Gießener Beiträge". 1986 erschien ein Artikel von mir in der damals für mein Fach wichtigsten Zeitschrift, "PRAXIS des neusprachlichen Unterrichts". Alles bestens. Ich hatte alle wesentlichen Probleme des Fremdsprachenunterrichts gelöst und dachte, die Wissenschaft würde meine Methode aufgreifen. Das war nicht der Fall, denn damals wie heute war das Bestreben der Fremdsprachendidaktiker ihr schlechtes Image bei den Fachwissenschaftlern (Linguisten und Literaturwissenschaftlern) aufzupolieren durch abstrakte Konstruktionen, die mit Praxis absolut nichts zu tun haben durften. Und meine Arbeit war ganz auf Praxis abgestimmt. Pech gehabt! Darüber hinaus war ich durch meinen Unterricht an der Schule zeitlich sehr eingespannt. Ich konnte und wollte nicht zu den zahlreichen Kongressen fahren, um Gesichtspflege zu üben und mich in ein paar Seilschaften einzuklinken. Ich dachte, ich müsse gute Arbeit leisten und der Lohn würde sich schon zeigen.

Noch nicht publiziert, und schon plagiiert!

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Als Forscher ist man immer darauf bedacht, "vorne" zu sein. Man fühlt sich als Leistungssportler, der permanent dem Feld vorausrennt und schauen muss, dass er nicht eingeholt wird. So etwas zu sagen ist nicht political correct, denn es kratzt an dem Mythos der harmonischen scientific-community, aber das ist die Realität. Immerhin: solange jemand sich mit anderen Themen befasst und nicht direkt in Konkurrenz tritt, kann man super mit ihm arbeiten. Das ist auch etwas. Auf jeden Fall war ich damals überzeugt, dass ich eine große Entdeckung gemacht hatte und dass bald alle meine Methode aufgreifen würden. Daher wollte ich mich eifrig positionieren, damit nicht jemand für sich beanspruchen kann, diese Methode erfunden zu haben. Es war umso dringlicher, als ich die Idee fast evident fand und überrascht war, dass es so lange gebraucht hatte, bis jemand darauf kommt. Noch bevor der Film von Theuring "Aktive Schüler lernen besser" im FWU 1983 herauskam, sah ich, dass in "Praxis des neusprachlichen Unterrichts" ein Artikel erschien mit der Überschrift "Schüler im Französischunterricht aktivieren", oder was ähnliches (ich will nicht zu präzise sein, aus rechtlichen Gründen, ich weiß nicht, inwieweit ich Leute outen darf oder nicht). Und in diesem Artikel stand teilweise wortwörtlich was ich in meinem Film dargelegt hatte. Der Autor war in der Szene sehr bekannt und hatte sich bisher mit einem ganz anderen Thema profiliert, sagen wir mal "Hörverstehen", oder "Von unten nach oben Lesen", oder "Einsatz des Rotstifts bei der Korrektur von Aussprachefehlern", oder was ähnliches (siehe Bemerkung oben zu meiner Unsicherheit bezüglich der rechtlichen Lage). Er hat sich einmal mit dem Thema "Schüleraktivierung" befasst und dann nie mehr. Komisch, oder? Für mich war der Mann die pure Inkarnation des XY. Woher er allerdings meinen nicht-veröffentlichten Film hatte, weiß ich nicht. Ich will es auch gar nicht wissen, denn ich hatte nur ganz wenigen Leuten die unveröffentlichten Film-Aufnahmen in die Hand gedrückt. Das Schärfste ist, dass ich natürlich den Herrn in meinen Artikeln nicht zitierte und immer wieder von erstaunten Lesern hören musste, ich würde diesen Aufsatz in meinen Schriften nicht nennen und man frage sich, ob ich ihn nicht plagiiert hätte!

Mein Wertesystem ab 1982: Forschung und Tugend

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Wer den Anfang meiner Biographie gelesen hat, merkt, dass ich mich ethisch ganz umgepolt hatte. Politisch war ich definitiv grün, weniger aufgrund der Orientierung an der Natur, als Großstädter hatte ich wenig Zugang zu ihr, sondern wegen des Venetzungsgedankens und der Fokussierung auf die Welt-Ressourcen, die wir schonen mussten. Familiär war alles OK, auch ethisch, und die materiellen und menschlichen Bedingungen waren schön klar und geregelt. Als Handlungsfeld bot sich voll und ganz die Forschung an. Ich organisierte alles im Hinblick auf meine wissenschaftliche Effektivität. So ergab sich, dass ich um fünf Uhr aufstand und gegen 21.00 Uhr ins Bett ging. Und zwar an Arbeitstagen wie am Wochenende, zu Weihnachten wie zu Christi Himmelfahrt. Bis heute. Den Spruch "publish or perish" fand ich abscheulich und ich bemühte mich, erst dann einen Aufsatz zu verfassen, wenn ich wirklich über eine wichtige, neue Erkenntnis zu verfügen glaubte. Ich verpflichtete mich, nur dann jemanden zu zitieren, wenn der Gedanke wirklich organisch in meinen Aufsatz passte, und nicht um einen nützlichen Kollegen freundlich zu stimmen. Einmal machte ich eine Ausnahme, und ich bereue es heute noch: 1988 hatte ich Harald Weinrich, damals ein wichtiger Mann, in einer Fussnote erwähnt, obwohl es von der Sache her nicht zwingend war. Ich hatte ihm sogar einen Sonderdruck geschickt und er antwortete selbstverständlich nicht. Aber sein Name steht noch im Aufsatz als permanente Erinnerung an meine Korruptibilität. Auch bei Festschriftbeiträgen ("Pissecke der Wissenschaft") bemühte ich mich immer tatsächlich Neues zu schreiben, um den Kollegen wirklich zu ehren. Ich behaupte nicht, dass ich meinen Prinzipien immer treu blieb, aber sie lenkten sehr stark mein Handeln.

Hondrich, Luhmann, Portele, Mandel/Huber, Dörner, Csikszentmyhalyi

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In Hondrich entdeckte ich die Maslowsche Bedürfnispyramide. So erfuhr ich, welche Bedürfnisse meine Schüler hatten und warum meine Methode bei ihnen mehr Bedürfnisse befriedigte als der Frontalunterricht oder die pure Gruppenarbeit. Bei Luhmann lernte ich, wie Systeme funktionieren und dass Menschen oder Menschengruppen Systeme sind. Hier war die Opposition zwischen Integration und Differenzierung zentral. Portele's Buch "Lernen und Motivation" zeigte mir, wie Neurone Impulse aus der Außenwelt aufnehmen und verarbeiten. Vor kurzem ist mir eingefallen, dass Informationsverabeitung ein Grundbedürfnis ist. Mandel/Huber befassten sich mit kognitiver Komplexität. Ich war gut ausgerüstet, um die Optimierungen, die ich im Unterricht nach dem trial and error-Verfahren einleitete, auch von der Theorie her zu verstehen. Und es war mir auch möglich, auf dem Hintergrund der Theorie, neue Optimierungen in der Praxis einzuleiten. Später las ich die Studie von Dietrich Dörner über die fiktive Stadt "Lohhausen", die aufzeigte, welche Merkmale Menschen besitzen müssen, um "erfolgreiche Problemlöser" zu sein. Schließlich griff ich den Begriff Flow auf, der aus meiner Sicht eine große Erklärungskraft bezüglich motivationaler Effekte besaß. Aus allen diesen Bausteinen entwickelte ich ein "Lernerkonstrukt", das folgendermaßen aussieht:


Bedürfnispyramide nach Maslow (1954)

Transzendenz

Selbstverwirklichung

Soziale Anerkennung

Soziale Beziehungen

Sicherheit

Physiologische Bedürfnisse














I. KONTROLLE als übergreifendes Motiv (nach Martin, 1994)
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II. Informationsverarbeitung als Kontrollinstrument und Grundbedürfnis (nach Martin, 2009)
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III. Grundbedürfnisse als Manifestation des Kontrollmotivs (nach Martin, 1994)
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IV. Kognition als Kontrollinstrument
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V. Gegensatzpaare als Instrumente kognitiver Kontrolle (nach Martin, 1994)
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Unschärfe Kontrolle
Chaos Ordnung
Unbestimmtheit Klarheit
Komplexität Einfachheit
Differenzierung Integration
Individuum Gesellschaft
Freiheit Zwang
Abstraktion Konkretion
Nicht-Linearität Linearität
Dezentralisierung Zentralisierung
Vertrauen Misstrauen
Optimismus Pessimismus
VI. Empathie (Kontrolle durch Wechsel der Perspektive)
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VII. Ausdehnung des Kontrollfeldes: Merkmale erfolgreicher Problemlöser (nach Dörner, 1983)
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  • Exploratives Verhalten
  • Reichhaltige kognitive Landkarte
  • Heuristische Kompetenz
  • Selbstsicherheit
  • usw.
VIII. Flow-Effekt als Belohnung für exploratives Verhalten und Gewinnung von Kontrolle (nach Csikszentmyhalyi, 1999)
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(Gefühl des Fließens, Gefühl des Aufgehens in der Handlung)

  1. Unbekannte Felder betreten, Neues entdecken;
  2. Situationen mit offenem Ausgang, für die man die Verantwortung trägt;
  3. Problem lösen, hohe Anforderungen bewältigen;
  4. Ausschöpfen der eigenen Ressourcen;
  5. Gefühl der Selbstentgrenzung;
  6. Kontrolle über das eigene Handeln und das Umfeld.


Die zentralen Aspekte dieses Konstruktes wurden 1988 in einem Aufsatz veröffentlicht und ganz ausführlich in meiner Habilitationsschrift 1994 beschrieben.

Informationsverarbeitung als Grundbedürfnis

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Blogeintrag vom 6.11.08

Informationsverarbeitung und warum ich nach (mehr) Ruhm strebe
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Posted on 6. November 2008 by jeanpol

1. Informationsverarbeitung macht glücklich und warum es so sein muss

- Die Gehirnforschung zeigt (Gerhard Portele, 1975, also nicht gerade neu), dass die Verarbeitung von Informationen im Gehirn positiv dekodiert wird. Anders ausgedrückt: es macht Spaß, Informationen zu verarbeiten, Texte zu lesen verursacht Kicks. Natürlich nicht alle Informationen, sondern welche, die bestimmte Merkmale aufweisen: nicht zu einfach (Unterforderung), aber nicht zu komplex (Überforderung), quantitativ nicht zu zahlreich, aber auch nicht zu wenig, usw.). Auf diesen Punkt werde ich später inn einem eigenen Beitrag ausführlich eingehen, weil er zentral für die Gestaltung der Lernumwelt ist: die Lernumwelt muss so struktuiert sein, dass der Mensch aus ihr die richtige Dosis an informativen Stimulis aktiv holen kann.

- Dass die Informationsverarbeitung im Gehirn stark belohnt wird ist deshalb im Bauplan der Natur vorgesehen, weil wir sonst nicht reflektieren würden. Brecht sagt: “Ohne Not denkt der Mensch nicht”. Nun ist Denken unabdingbar für das Überleben, denn wir müssen uns ständig an die Veränderungen der Umwelt anpassen, also ständig Informationen verarbeiten. Auch die anderen vitalen Funktionen werden vom Organismus (Gehirn) stark belohnt. Sonst würden wir die Strapazen nicht auf uns nehmen. Wenn Essen oder Trinken nicht so positiv belohnt würde, würden wir diesen lächerlichen Vorgang nicht auf uns nehmen. Wir würden nicht Flüssigkeit (Wasser, Wein oder Bier) oder eine gelatinöse Masse (Kuchen, Fleisch, Fisch) durch eine Körperöffnung (Mund) in unser Körper hineinwürgen. Dasselbe gilt in noch höherem Masse für den Geschlechtsverkehr: wer würde die Vorarbeiten und den Vorgang selbst durchführen, wenn die Natur dies nicht mit einer großen Belohnung versehen hätte? Wer würde überhaupt auf die akrobatische Idee kommen?

2. Ruhm und Informationsverarbeitung

Wenn Informationsverabeitung “glücklich” macht, dann müssen Menschen, die nach Glück streben, ihre Umwelt so einrichten, dass sie permanent mit informativen Stimuli versorgt werden. Da mit zunehmender Zufuhr von Stimuli der Organismus in bezug auf die Qualität der Impulse immer anspruchsvoller wird, ist es schwer eine entsprechende Menge und Qualität flächendeckend zu erhalten.

Ruhm sichert eine relativ stabile Versorgung mit Aufmerksamkeit, also mit anspruchsvollen, quantitativ hohen informativen Stimuli.

3. Mach die Menschen, die mit dir zusammenarbeiten, berühmt!

Wenn Menschen mit dir zusammenarbeiten, müssen sie belohnt werden. Sie müssen spüren, dass ihr Leben durch die Zusammenarbeit mit dir an Qualität gewinnt. Verschaffe ihnen also Aufmerksamkeit (informative Stimuli). Und das gelingt am besten im Rahmen von langfristigen “Weltverbesserungsprojekten”: Dauerflow! Allerdings müssen diese ganzen Aktivitäten einen Sinn haben. Der Sinn ist, dass unsere Problemlösekapazitäten dabei wachsen. Und hier sind wir bei der Welt, im selben Boot wie Obama!:-)))

Das Lernerkonstrukt: komplex und dennoch operationalisierbar

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Die meisten Schüler und Studenten, denen ich mein Lernerkonstrukt vorstellte, fanden das Modell sehr, sehr nützlich. Mit dessen Hilfe könne man die Welt viel besser verstehen und besser mit dem Alltag zurechtkommen. Man bekäme dadurch mehr Glückschancen als Leute, die das Modell nicht kennen. So war es auch gedacht: es sollte komplex genug sein, um alle relevanten Phänomene des Lebens zu fassen, aber einfach genug, um operationalisierbar zu bleiben. Mir persönlich hat es geholfen, mein Leben schön unter Kontrolle zu behalten. Seltsamerweise fanden die Wissenschaftler, die sich gerne sehr genau mit Kleinigkeiten befassen, dass das Modell "zu kurz greift". Es sei zu simpel. Es vereinfache zu sehr. Ich dachte eher, dass durch das Konstrukt viele Elemente, die in der Regel in der Wissenschaft gar nicht erfasst werden, berücksichtigt und integriert werden. Aus meiner Sicht hatte ich die Komplexität komprimiert, und nicht reduziert. Wie dem auch sei: unabhängig von der Rezeption in der Wissenschaft stößt das Modell auch heute noch auf lebhaftes Interesse. Gerade die Integration scheinbar antinomischer Tendenzen fasziniert die Leute. Antinomien werden de facto transzendiert. Aber wem sage ich das? Der Leser hat doch alles verstanden, es sei denn, er ist Wissenschaftler und will nicht begreifen.

Die Methode: löst die meisten Probleme

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Die Methode löste praktisch alle Probleme des Fremsprachenunterrichts. Natürlich war einiges vom Lehrer verlangt. Überall wo ich auftrat, stellte damals die Leute dieselben Fragen wie heute. Und das war:

Blogeintrag vom 16.11.08

Kein alter Wein in neuen Schläuchen, keine Technik unter vielen, kein Nachhilfeunterricht
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Posted on 16. November 2008 by jeanpol

Resume:In dieser für den pädagogischen Diskurs turbulenten Zeit möchte ich noch einmal präzisieren, was die Originalität meines/unseres Angebotes ausmacht. Es wird aufgezeigt, a) inwiefern sich LdL von anderen “offenen” Methoden unterscheidet, b) was genau “Lernen durch Lehren” ist und was nicht.

Eine klare Positionsbestimmung von LdL tut not

Zitat von Felix Schaumburg (einem meiner Twitterfollowers): “Zurück von der Tagung mit der Erkenntnis: Die Schulen in Dland sind im Auf-/Umbruch. Vielleicht ist die Zukunft doch nicht so düster.” In diesem Zusammenhang werden unzählige “neue” Methoden diskutiert und LdL sollte in diesem Chor nicht untergehen, weil ich natürlich ein persönliches Interesse daran habe und weil LdL tatsächlich als Methode eine besondere Qualität aufweist.

1. LdL ist kein “alter Wein in neuen Schläuchen”

Natürlich gab es seit der Antike immer wieder Versuche, Schüler als Lehrer einzusetzen, vorwiegend aus ökonomischen Gründen, um Lehrer einzusparen, und ab dem 19.Jh. auch aus pädagogischen Gründen. Dass aber ein umfangreiches, anthropologisch begründetes, in allen Fächern und allen Lernstufen von mehreren tausend Lehrern 25 Jahre lang geprüftes Konzept vorgelegt wurde, das ist völlig neu und existiert auch nicht für andere Methoden. LdL, wie es von mir und meinen Kollegen praktiziert wird, ist informationstheoretisch, kognitionspsychologisch und bedürfnistheoretisch fundiert. So etwas gab es nie.

2. LdL geht weiter als Freiarbeit und Lernstationen

LdL erzielt wesentlich tiefgreifendere Lernprozesse als die anderen diskutierten offenen Methoden, wie beispielsweise die Freiarbeit oder das Stationenlernen. Die Tatsache, dass der Stoff nicht nur individuell verarbeitet wird sondern anderen vermittelt werden muss, verdoppelt die Intensität der Verarbeitung, denn der Schüler muss die Inhalte nicht nur für sich aufnehmen, sondern selegieren (Komplexitätkompression) umgestalten und beim Vermitteln immer wieder an die Kognition der Mitschüler anpassen. Die Verarbeitungstiefe ist nicht vergleichbar mit der individuellen Aufnahme und der simplen Vorstellung (Präsentation) des Stoffes.

3. Mogelpakungen “Lernen durch Lehren”

Nicht jede Methode, die sich “Lernen durch Lehren” nennt, ist LdL. Der Begriff hat sich durch unsere Aktivitäten innerhalb der letzten 30 Jahren gut etabliert und auf diesem Erfolgshintergrund wird der Terminus für alles Mögliche herangezogen. So wird “Lernen durch Lehren” auch benutzt, um zu bezeichnen, dass ältere Schüler jüngere Schüler unterrichten. Dieses Verfahren ist eine Variante des Nachhilfeunterrichts, kann aber nicht die Bezeichnung “Lernen durch Lehren” verdienen. Was soll ein Schüler einer älteren Jahrgangsstufe an neuem Stoff lernen, wenn er die Inhalte einer früheren Jahrgangsstufe unterrichtet?

Fazit: Bedrängt durch Melanie Gottschalk habe ich ein Produkt erstellt – nämlich den vorliegenden Beitrag -, das redundant eingespeist werden kann: “Was LdL nicht ist!”


Und die Methode befriedigte Grundbedürfnisse:

Blogeintrag vom 9.11.08

LdL macht glücklich(er): bedürfnistheoretische Begründung
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Posted on 9. November 2008 by jeanpol

Wir haben uns mit der Konstitution des Menschen beschäftigt und mit seinen Grundbedürfnissen, wobei ich mich auf Maslow stützte. Dabei habe ich hervorgehoben, dass alle von Maslow genannten Bedürfnisse sich einem einzigen, übergreifenden zuordnen lassen, dem Bedürfnis nach Kontrolle. Ich habe auch ausgeführt, dass Menschen sich im Spannungsfeld antinomischer (widersprüchlicher) Bedürfnisse bewegen. Schließlich habe ich aufgezeigt, dass nach Dörner (1983) Menschen eine Erfolgsdynamik einschlagen können, wenn sie sich explorativ (risikobereit) zeigen: je explorativer, desto mehr Erfahrungen (kognitive Landkarte), je mehr Erfahrung, desto mehr Selbstbewusstsein, je mehr Selbstbewusstsein, desto stärker das explorative Verhalten usw. Schließlich ist mir vor kurzen klargeworden, dass der Vorgang der Informationsvearbeitung ein Grundbedürfnis ist. Und nun werde ich aufzeigen, inwiefern man mit LdL mehr als mit allen anderen disktutierten alternativen Methoden (z.B. Stationenlernen oder Freiarbeit) die Grundbedürfnisse von Lernenden befriedigen kann.

1. LdL und das Bedürfnis nach Kontrolle

- Das Kontrollbedürfnis des Lehrers: jeder verlangt vom Lehrer, dass er alles im Griff hat (Direktor, Eltern und die Schüler selbst auch). Wenn die leisesten Anzeichen, dass er vielleicht seine Klasse nicht beherrscht, nach außen dringen, ist das Ansehen des Lehrers ruiniert. Da Verlust von Kontrolle vom Individuum mit Angst und Pankik verbunden ist (und Wiedergewinnung mit Triumphgefühlen) ist das Thema “Kontrolle” das Wichtigste im Leben des Lehrers überhaupt. Er fühlt sich nur wohl, wenn er alles, was die Klasse tut, kontrolliert.

- Die Befriedigung des Kontrollbedürfnisses des Schülers ist direkt abhängig von Kontrollbedürfnis des Lehrers. Je mehr der Lehrer kontrolliert, desto weniger kann der Schüler selbstbestimmt handeln. Sein Gefühl, seinen Lebensraum zu kontrollieren, tendiert zu Null.

- Bei LdL gibt der Lehrer einen Großteil des Handlungsfeldes in die Hand der Schüler. Er zieht sich zurück und interveniert nur, wenn die Lernaktivitäten der Schüler nicht zielführend sind. Die Schüler übernehmen die Verantwortung über fast alle Handlungen, die im Klassenzimmer erfolgen. Dennoch verliert der Lehrer nicht die Kontrolle, sondern er begibt sich auf die höhere Kontrollebene. Es ist keine Engführung mehr, sondern er befasst sich vor allem mit der Frage, ob die Lernprozesse ökonomisch verlaufen. Das entlastet ihn sehr, und die Schüler auch.

Das Bedürfnis nach Kontrolle wird bei LdL besser befriedigt als bei alternativen Methoden wie Freiarbeit oder Stationenlernen, weil die Handlungen, die die Schüler durchführen müssen, deutlich anspruchsvoller sind. Es ist schwieriger, einen neuen Stoff Mitschülern zu vermitteln, als Stationenaufgaben oder Freiarbeit zu erledigen. Bei der Bewältigung von schwierigen Aufgaben ist das Kontrollgefühl (Flow) stärker als bei einfachen.

2. Physiologische Bedürfnisse, Sicherheit, soziale Einbettung, soziale Anerkennung, Selbstverwirklichung und Sinn

Dass diese Bedürfnisse besser mit LdL als mit Frontalunterricht befriedigt werden, muss nicht ausgeführt werden. Wenn Schüler einen neuen Stoff anderen vermitteln ernten sie mehr Anerkennung als wenn sie im Trichtersystem Informationen des Lehrers aufnehmen. Achtung! Wenn bei LdL der Lehrer die unterrichtenden Schüler benotet, ist es nicht günstig, denn das Sicherheitsbedürfnis wird dadurch stark eingeschränkt. Es empfiehlt sich also die unterrichtenden Schüler nicht zu benoten.

Alternative Methoden wie Freiarbeit oder Stationenlernen sind weniger anspruchsvoll und verschaffen daher den Schülern weniger Anerkennung, ermöglichen weniger Selbstverwirklichung und Sinnerfüllung.

3. Das Grundbedürfnis nach Informationsverarbeitung

Bei LdL wird auf hohem Niveau und vielschichtig Information verarbeitet und zu Wissen transformiert. Die Schüler müssen den neuen Stoff erfassen, sie müssen ihn durchdringen, um eine interessante Vorstellung des Stoffes zu entwickeln und sie müssen den Stoff so multipolar begreifen, dass sie im Anschluss je nach Aufnahme durch ihre Mitschüler varieren, umformen, neupräsentieren müssen. Es ist die höchste Stufe der Informationsverarbeitung, bei der Erstbegegnung, bei der Vorbereitung im Vorfeld der Unterrichtssequenz und während der Unterrichtssequenz. Die höchste Stufe der Informationsverarbeitung wird also erst bei der Vermittlung erreicht. Und nur LdL sieht eine Vermittlung des Sfottes durch die Schüler vor.

Alternative Methoden wie Freiarbeit oder Stationenlernen beinhalten keine Stoffvermittlung durch die Schüler. Insofern ist die Methode LdL die einzige, die das Grundbedürfnis nach Informationsverarbeitung auf hohem Niveau befriedigt!

Die Kerngruppe

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Da die Didaktik als Wissenschaft meine Methode nicht richtig aufgegriffen hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich direkt an die Lehrer zu wenden. Das war nicht schlimm, aber viel mühsamer, als wenn die Methode über die Uni-Seminare und die Fachzeitschriften vebreitet worden wäre. So mussten wir an der Basis anfangen und versuchen, schrittweise an die Spitze zu dringen. Nun lud mich Paul Meier ständig als Referent nach Dillingen und ich verfügte über die Filme von Wolf Theuring. Also sprach ich Kollegen an im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen und ich stellte eine Kartei aus Interessierten zusammen, die ich regelmäßig mit didaktischen Briefen belieferte. Auch die Kollegen fingen an, Erfahrungsberichte zu verfassen, die an alle wiederverteilt wurden. Es bildete sich die sogenannte "Kerngruppe", wie trafen uns zum ersten Mal bei mir in Ingolstadt im Juli 1987, mit zwölf Kollegen, darunter einer aus Saarbrücken, Klaus Müller. Auch zugegen waren Roland Graef und Rolf-Dieter Preller, die heute, also 22 Jahre später, noch dabei sind.

Waren es zwölf? Ja, es waren zwölf!

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Blogeintrag vom 3.11.08

Jesus als Modell für Verbreitungsaktivitäten?
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Posted on 3. November 2008 by jeanpol

Wenn man, wie wir, bestimmte Konzepte verbreiten will, ist es günstig, wenn man sich an erfolgreichen Modellen orientiert. Und die Verbreitung des Christentums war fraglos erfolgreich. Das liegt u.a. an folgenden Faktoren:

1. Die Konkurrenzmodelle (z.B. das Judentum) waren streng und wenig attraktiv. Jesus kommt mit einer Botschaft die wesentlich sexyer ist: wir sollen uns gegenseitig lieben, alle – auch die ärmsten und einfachsten – sind willkommen. Genau das macht auch den Charme unserer Neuronen-Bewegung aus: das alte Wissenschaftsparadigma (alles kontrollieren, die Studenten sind zunächst mal doof) wird von unserem neuem Wissenschaftsangebot abgelöst: wir lieben uns neuronenmäßig alle, alle sind willkommen, jeder kann Wissenschaft betreiben. Diese Botschaft muss ankommen!

2. Das Personal: Jesus als junge dynamisch, aktive Gestalt, Maria als idealisiete Frau, Gott als ältere erfahrene Instanz und die Apostel bedienen die Identifiaktionssehnsüchte einer breiten Bevölkerung. Hier möchte ich die Bildung von Analogien zu unserer Bewegung natürlich dezent der Fantasie des Lesers überlassen.

3. Eine einheitliche Terminologie als Integrationsinstrument: natürlich war sehr schnell die Gefahr gegeben, dass aufgrund des großen Zulaufes Abspaltungen (zentrifugale Kräfte) stattfinden. Um dem vorzubeugen wurde die Botschaft in Texten kodifiziert. So gab es eine einheitliche Terminologie, auf die sich jeder beziehen konnte und so auch affektiv in Resonanz mit den anderen geriet. Mit der Neuron-Bewegung kommen wir jetzt in die Phase der Kodifizierung. Natürlich werden uns viele alternative Begriffe aus anderen Systemen und Kontexten angeboten (beispielsweise neulich “NetNeutrality” als Alternative zu “Netzsensibilität” von Helge).

Wir sollen aber bei unseren Begriffen bleiben, denn nur sie sind mit anderen im Rahmen eines gesamten Theoriegebäudes verlinkt und evozieren bei ihrem Auftreten sofort einen Hof von Assoziationen, der wiederum Resonanz bei Zuhörer auslöst. Und die kollektive Resonanz kann zu einem “Synergierausch” führen.

Und wie schafft man es, Menschen zu finden, die uns helfen?

Blogeintrag vom 29.11.08:

Auf der Jagd nach vagabundierenden Ressourcen
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Posted on 29. November 2008 by jeanpol

Resume Wer anspruchsvolle Projekte durchführen will, braucht so viele Partner wie möglich. Er muss überall Menschen ansprechen und ihnen attraktive Ziele anbieten. In Schulen und Unis sind es Schüler, Studenten und Kollegen. In der virtuellen Welt kann man “vagabundierende Ressourcen” binden.

1. Ohne Partner kein Erfolg, auch mit den besten Ideen

Als ich 1981auf die Idee kam, die Sprachlosigkeit meiner Schüler im Französischunterricht dadurch aufzuheben, dass sie sich den Stoff gegenseitig vermitteln und als ich über die damit erzielten Erfolge rege publizierte (Dissertation 1985), gabe es in meinem Fach Französischdidaktik kaum Resonanz (über die Resonanzfähigkeit der Hochschule siehe “Lernziel Prokrastination“). Wollte ich also meinen Ansatz bekannt machen, musste ich andere Wege gehen und Lehrer mobilisieren. Auf Fortbildungsveranstaltungen sprach ich Kollegen an und immer wieder ließ sich jemand für das Vorhaben “wir verändern die Schulwelt durch LdL” begeistern. So entstand 1987 die LdL-Kerngruppe, die damals aus 12 Leuten bestand und heute noch existiert. Ohne diese 12 Leute gäbe es LdL in der Schul- und Unilandschaft nicht.

2. Was sind das für Leute und wie binde ich sie nachhaltig ein?

Die Kollegen, die sich im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen für LdL begeistern ließen, waren nicht die Dümmsten!;-))) Das waren die anderen auch nicht, aber ich musste das Glück haben, dass jemand gerade unter der Passivität der Schüler in seinem Unterricht leidet und nach schüleraktivierenden Methoden sucht. Wer nicht litt, war kein potenzieller Partner für mich. Ich fasse zusammen: es kamen Lehrer in Frage, die a) engagiert und klug waren und b) unter der Situation im Unterricht leiden. Und was musste ich machen? Ich musste mein Versprechen einhalten. Und das Versprechen war: ich werde euch mit guten Materialien vesorgen, ich werde Treffen organisieren, ich werde über Jahrzehnte hinweg stabil sein und eisern unser Ziel verfolgen. Ich werde sehr sorgfältig mit euren Kräften umgehen, denn ihr seid nicht meine Angestellten und meine einzige Chancen, euch zu behalten, besteht darin, eure Bedürfnisse zu befriedigen. Und wir werden Großes verwirklichen (Bedürfnis nach Transzendenz).

3. IPK als Zwangsveranstaltung

Als das Internet aufkam wurde mir sofort klar, dass ich in der virtuellen Welt weitere Partner finden kann. Meine Anforderungen sind groß, und Eichstätt ist klein. Ferner wollte ich die LdL-Idee der Kollektiven Wissenskonstruktion aus dem Klassenzimmer hinausdehnen und es war naheliegend, ein weltweites Netz aus Studenten zu bilden, die gemeinsam Wissen erstellen. Das IPK-Modul war geboren. Wie LdL ist IPK so strukturiert, dass alle Grundbedürfnisse der Studenten befriedigt werden. Allerdings ist der Energieaufwand, den die Studenten aufbringen müssen, sehr groß. Andererseits reduziert sich für uns als Kursleiter die Überzeugungsarbeit und die Abwehr von Prokrastination (die bei ganz freiwilligen Projekten stets droht), durch den Zwang der Studenten, den Kurs bis zum Schein durchzuhalten. IPK ist sehr anspruchsvoll und stark zielorientiert. Die Formel ist nicht “Der Weg ist das Ziel”, sondern “Das Ziel ist das Ziel”. Die Resultate sind qualitativ entsprechend hoch. Und die Studenten sind nach viel Geschimpfe und Gejohle richtig stolz, wenn sie ihre Forschungsergebnisse präsentieren.

4. Und Neuron, Maschendraht, Blog, Twittern, Wiki…?

Wie bei LdL und IPK ist das Ziel bei Neuron und Maschendraht, die Welt zu verbessern: es geht auch darum, kollektiv relevantes Wissen zu konstruieren. Und die Leute? Im Gegensatz zur LdL-Kerngruppe sind es nicht Personen, die ein dringliches Interesse haben, durch die Zusammenarbeit die Not ihres eigenen Alltags zu lindern. Im Gegensatz zu den IPK-Studenten ist für sie Neuron- und Maschendraht keine Zwangsveranstaltung. Wie lockt man Leute heran? Hier empfiehlt sich den Ressourcen-Blick aufzusetzen und das Neuron-Verhalten zu automatisieren. Wie hält man sie dann zusammen? Das A und O: schauen, dass bei der Mitarbeit bedeutsame Bedürfnisse (insbesondere intellektuelle und soziale) befriedigt werden und immer wieder auf die Ziele hinweisen, denn im Twitter- und Blog-Kontext sind dissipative (zentrifugale) Kräfte stark am Werk. Es gibt viele Parties, und alle sind verlockend!

Fazit: um die Leute bei der Stange zu halten, muss das Angebot attraktiv, die Ziele müssen klar und offen sein. Man selbst muss dem Bedürfnis nach Nachhaltigkeit und Stabilität besonders entprechen. Und damit jeder einsteigen und die Reflexion voranschreiten kann, darf man Umwege aushalten und keine Angst vor Redundanz haben.

Hatte ich keine Angst, die Leute zu nerven?

Blogeintrag vom 15.11.08

Die Spermatozoidenmetapher: über die Intransparenz von Systemen
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Posted on 15. November 2008 by jeanpol

Resume: Systeme sind intransparent. Um Systeme in Resonanz zu bringen, folge ich dem Beispiel der Natur: auch wenn keine Reaktion zu sehen ist, speise ich Millionen von Impulsen in das System ein (Spermatozoidenmetapher) in der Hoffnung, das einer das Ziel erreicht und vielleicht etwas Großartiges (Emergenz) entsteht. Dieses Phänomen wird am Beispiel von Dreharbeiten beleuchtet.

1. Perturbationen bei Besuchen von Filmteams

Grundsätzlich sage ich immer “ja”, wenn jemand meinen Unterricht besuchen will, sei es als Seminarlehrer, als Student, als Journalist oder als Fernsehteam. Der erste längere Fernsehbericht (15 Minuten) wurde 1984 für die Sendung “Aus Wissenschaft und Forschung” (BR) gedreht. Damals meinte ich, es sei der Durchbruch. Natürlich war es genausowenig ein Durchbruch wie im Anschluss an die zahlreichen weiteren Filme, Zeitungsberichte oder nach dem größeren SPIEGEL-Artikel 2002. Aber es war ein kleiner Baustein, der zusammen mit anderen das System zunächst fast unmerklich in Resonanz geraten ließ. Nicht so sehr der veröffentlichte oder ausgestrahlte Bericht selbst ist für mich wichtig, sondern die fruchtbaren “Perturbationen”, die die Besuche der Medienleute bewirken. Vor allem für die Schüler ist es förderlich, weil sie als Hauptakteure gezwungen werden, sich auch theoretisch mit LdL zu befassen und dabei einen Lerngewinn erzielen. Allerdings: wenn ich die Schüler frage, welche neuen Erkenntnisse sie im Rahmen von Dreharbeiten gewonnen haben, sagen sie nichts. Ich muss also mit dieser Intransparenz leben und warten, bis irgendein Satz von ihnen zeigt, dass sie doch etwas gelernt haben.

2. Filme und Fernsehbeiträge als Impulse für das System

Diese Intransparenz gilt für das System insgesamt. Als vor fünf Jahren Reinhard Kahl meinen Unterricht filmte und mich interviewte, ahnte ich nicht, dass gerade diese Aufnahmen für die Verbreitung meiner Arbeit von so großer Bedeutung sein würde. Für mich war es ein kleiner Impuls unter vielen anderen. Nie hätte ich gedacht, dass Kahls Film zu einem Bestseller im Bildungssystem würde. Daher verlasse ich mich nie auf einen Impuls, sondern ich bringe Impulse in das System überall wo es nur geht! Gegenwärtig sind Lutz Berger und Christian Spannagel sehr aktiv. Welche fruchtbaren Perturbationen die in diesem Zusammenhang erstellten “Produkte” für mein Projekt auf lange Sicht bewirken, bleibt intransparent. Erst in einigen Jahren wird sich zeigen, was die Arbeit dieser Gruppe für das Projekt gebracht hat. Unabhängig davon, wie viel Spaß es uns allen gerade macht! Und der Spaß ist zumindest für mich gewaltig!

3. SAT1 morgen früh um 8.15Uhr

Morgen von 8.15Uhr bis 9.00Uhr läuft im Frühstücksfernsehen bei SAT1 eine Sendung über Bildung, das Thema, das wieder einmal aktuell ist. Am letzten Donnerstag kam das Filmteam, sehr nette Leute und morgen werden 4 Minuten ausgestrahlt. Die Sequenz wird in der Sendung unter “außerdem” angekündigt, also nicht gerade prominent. Es wäre aber von mir völlig unangebracht, wenn ich dieses “Produkt” geringschätzen würde. Das System ist intransparent und ich weiß wirklich nicht, welche Impulse und Turbulenzen diese kleine Sequenz verursachen wird. Aus meiner Sicht wohl gar keine, aber wer weiß? Ich wurde auch durch die Wirkung von “Treibhäuser der Zukunft” überrascht!

Fazit: pushen was das Zeug hält, auch wenn zunächst keine Reaktion des Systems (Emergenz) sichtbar wird. Und nichts und niemanden geringschätzen!

Die Kerngruppe (Fortsetzung)

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Innerhalb der Kerngruppe gab es am Anfang Unsicherheiten in Bezug auf den Namen, den wir der Methode geben sollten. "Schüler unterrichten Schüler" war als Begriff zu lang, "Méthode Martin", obwohl einige die Terminus bereits vorgeschlagen und verbreitet hatten, war zu personalisiert - gestandene Didaktiker würden sich damit nicht identifizieren. Axel Polleti, der damals noch zur Kerngruppe gehörte, schlug den Begriff "Lernen durch Lehren" vor, der in der Fachliteratur bereits eine gewisse Tradition besaß. Wir waren einverstanden. Das war 1987. "Lernen durch Lehren" diente ursprünglich der Bezeichnung von Tutorenaktivitäten. Ansonsten waren die Kerngruppenmitglieder starke Persönlichkeiten, die sich auf der Suche nach Alternativen zum traditionellen Unterricht befanden und selbst bereits viel Innovatives in ihrem Unterricht realisiert hatten. Dies galt für Roland Graef, dies galt auch für Rüdiger Fischer, der besonders im Bereich Lyrik aktiv war und dies galt für Rolf-Dieter Preller, Autor von verschiedenen Sammlungen für den Englischunterricht. Auf unserem Gründungstreffen in Ingolstadt war eine einzige Frau dabei, Irene Heiss-Eppig.

Gute, die uns unterstützt haben

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Tilman Steiner, Klaus Weinzierl, Eduard Breitenhuber, Thomas Pleil

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Tilman Steiner, Redakteur beim Bayerischen Fernsehen, verdanke ich zwei Berichte im Dritten Programm und permanente Einladungen zu Vorträgen bei der Bayerischen Elternvereinigung. Klaus Weinzierl (GEW) hat mich mal "wilder Hund" genannt, was bei Bayern ein nicht zu toppendes Kompliment ist. Er hat mehrere Jahre hintereinander Pädagogische Konferenzen in München organisiert und wir konnten dort viele neue LdL-Mitglieder gewinnen. Eduard Breitenhuber war zuständig für Drittmittel in der Verwaltung der Uni Eichstätt und er hat unzählige Male beim Kanzler für mich interveniert (Kanzler: was will der Martin schon wieder?). Thomas Pleil war Pressesprecher in Eichstätt und mich immer wieder in die Medien gebracht.

Michael Legutke, Hans-Eberhard Piepho, Häussermann

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Piepho, der Große Mann der Englischdidaktik wies in fast allen seinen Fortbildungsveranstaltungen auf meine Arbeit hin. Er zeigte immer wieder meine Filme. In dem mit Häussermann verfaßten Buch bezog er sich immer wieder auf mich. Legutke zitiert mich sehr ausführlich in seinen zwei Bestsellern "Lebendiger Englischunterricht. Kommunikative Aufgaben und Projekte. (1988)" und "Process and Experience in the Language Classroom. London: Longman. (1991)".

Hans-Joachim Jakob, Ludger Schiffler

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Hans-Joachim Jakob war Fachleiter für Französisch in Berlin und ließ mich mehrmals dort einladen. In Berlin lernte ich auch eine für uns ganz wichtige Frau, Toni Ohr, die lange Zeit in der Kerngruppe mitwirkte und als Seminarlehrerin mich unnzählige Male nach Berlin kommen ließ. Auch Ludger Schiffler, Professor an der FU-Berlin verbreitete den LdL-Gedanken wo er nur konnte. Sein Buch hatte die Initialzündung geliefert.

Reinhard Kahl

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Reinhard Kahl widmete LdL eine Sequenz in seinem berühmten Film "Treibhäuser der Zukunft". So wurde meine Arbeit definitiv in der pädagogischen Szene bekannt. Später lud er mich auf den Mammut-Kongress in Bregenz am Bodensee. Dort hielt ich vielleicht einen der besten Vorträge meines Lebens. Da ich in Bregenz dabei war und Jean-Pol seit vielen Jahren kenne und auf der Grundlage seiner Erkenntnisse selbst intensiv (weiter)gearbeitet habe, kann ich bestätigen: Das war ein exzellenter Vortrag in Bregenz. Allerdings kenne ich von Jean-Pol ausschließlich herausragende Vorträge, die mich alle immer wieder inspiriert haben. Margret Ruep.

Margret Ruep

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Margret Ruep war anfänglich Realschullehrerin in Sinsheim. Dann wurde sie ans Ministerium abgeordnet und nahm mit mir Kontakt auf. Gleich stieg sie in die Kerngruppe ein. Sie kam als Rektorin in ihre Schule zurück und unterstützte uns mit allen Kräften. Dann bekam sie erneut eine Stelle am Ministerium und im Anschluss wurde sie Oberschulamtspräsidentin in Tübingen, später in Stuttgart. Heute ist sie Rektorin der Pädagogischen Hochschule Weingarten. In allen diesen Phasen lud sie mich zu Vorträgen ein oder dazu, Aufsätze in von ihr herausgegebenen Zeitschriften zu veröffentlichen.

Monika Bittl

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Monika Bittl war Dekanantssekretärin an meiner Fakultät. Sie hat mich permanent unterstützt, indem sie meine Anträge auf Förderung, sei es beim Kanzler, sei es beim Dekan, so behandelte, dass ich immer erhielt, was ich mir gewünscht hatte. Auch die zahlreichen Gespräche waren für mich menschlich sehr ergiebig und erfreulich.

Böse, die uns im Wege standen

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Böse war der bereits erwähnte Plagiator XY. Gott sei dank hat er, nachdem er einen einzigen (plagierten) Aufsatz über mein Thema veröffentlicht hat, sich weiter mit seinen periphären Sachen befasst ("Hörverstehen", oder "Der Einsatz von Schallplatten im Französischunterricht für Aussiedler", oder was ähnliches). Sehr böse war der bereits erwähnte Ministerialrat XY, der sich ständig neue Aufgaben für mich einfallen ließ, bis er am Ende mein Projekt doch stoppte, obwohl ich alle Hürden gepackt hatte. Ein Oberböse war der damalige Habilitand Alexander Renkl (den nenne ich mal), der sich den Namen "Lernen durch Lehren" schnappte, nachdem ich an seinem berühmten Institut einen Vortrag gehalten hatte. Ich würde ganz gerne detailliert darauf eingehen, aber - das habe ich bereits erwähnt - ich kenne die rechtliche Lage nicht und möchte mir selbst keinen Ärger einhandeln. Auf jeden Fall hat dieser A.R. den von uns bereits verbreiteten Terminus "Lernen durch Lehren" gegriffen, der viel attraktiver wirkte als sein eigenes Thema und hat sogar bei der DFG einen Antrag auf Bezuschussung eingereicht und auch Gelder bekommen. Das alles ohne mich zu informieren. Als ich selbst bei der DFG für mein Projekt "Lernen durch Lehren" angekloppft habe, hieß es, das Thema sei bereits besetzt, von einem gewissen A.R. Erst so kam ich darauf, dass jemand "Lernen durch Lehren" als Label für ein eigenes Projekt abgekupfert hatte. Dieser A.R. hat sich später nicht mehr ernsthaft mit "Lernen durch Lehren" befasst, aber in seinem Fach gilt er als Spezialist. Er leitet ein großes Institut in einem leistungsorientierten Bundesland. Nicht gerade gut war XY, der Bruder eines berühmten Pädagogen. Als 1994 unser Buch "Lernen durch Lehren" (Hrsg. Graef/Preller) herauskam, belieferte ich etliche Leute mit Exemplaren, unter anderen auch den berühmten Pädagogen. Dieser bedankte sich, meinte auch, dass sich sein Bruder auf ein Freiexemplar freuen würde. Der Bruder war damals noch nicht Lehrstuhlinhaber, wurde es aber später dann doch. Auf jeden Fall schickte ich dem Bruder ein Exemplar. Er reagierte nicht, also nicht einmal danke. Ein Jahr später sah ich, dass er in einer bekannten pädagogischen Zeitschrift einen Aufsatz veröffentlicht hatte über Schüler, die sich gegenseitig unterrichten, ohne unsere Arbeit natürlich zu erwähnen. Dabei waren wir die einzigen, die über das Thema so ausführlich publiziert hatten. Dieser XY konnte also nicht einmal sauber recherchieren. Zu diesem Zeitpunkt erschien ein ganzes Themenheft zu Schülern, die sich gegenseitig unterrichten, von Leuten, die sich nur kurzfristig damit befasst hatten, bevor sie zu anderen Themen überwechselten. Und weder der Herausgeber, noch die meisten Autoren haben uns erwähnt. Das soll Wissenschaft sein? Dass ich nicht lache! Ich weiß nicht, ob ich sie böse nennen soll. Inkompetent sind sie auf jeden Fall.

Legitime Monomanie

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Man muss sich in meine Situation hineinversetzen. Alle jammerten darüber, dass ihre Schüler im Fremdsprachenunterricht nichts sagten. Es war immer dieselbe Frage, in allen Zeitschriftenartikeln, Workshops und Forbildungsveranstaltungen, Kongressen und sonstigen Treffen: "Wie bringe ich meine Schüler zum Sprechen?". Nun hatten wir die definitive Lösung zu diesem Problem: lasse die Schüler sich den Stoff gegenseitig beibringen, dann werden sie zwangsläufig sprechen. Das war aber so einleuchtend, dass diese Lösung verdrängt wurde. Alle fanden das toll, aber stellten sich weiterhin die Frage, wie kann ich meine Schüler zum Sprechen bringen. Wie wenn unsere Lösung unfair gewesen wäre, außer Konkurrenz. Es wurden weiterhin Workshops zu Themen wie "Leseverstehen", "Sprechen", "Hörverstehen", "Ausspracheschulung", "Wortschatzarbeit" gehalten, als ob diese Fertigkeiten unabhängig voneinander hätten geschult werden können. Das LdL-Konzept integrierte alle diese Aufgaben. Aber nein, meine Kollegen wollten sie trennen und beharrten darauf. Für mich wurde das Thema allmählich uninteressant, ich fand mein anthropologisches Modell viel spannender, denn es löste ja nicht nur die Probleme des Fremdsprachenunterrichts, sondern die Probleme des Lebens überhaupt. Aber die meisten wollten davon nichts hören. Auf Kongressen wurde ich als eine Art "Troll" betrachtet, weil ich bei jeder Gelegenheit mitteilte, das jeweils behandelte Problem sei durch LdL schon erledigt. Beispielsweise wurde ich von Michael Legutke, der einen großen Kongress für das Goethe-Institut in München organisierte, eingeladen und machte mich dort - bei allem good-will von Michael - schnell unbeliebt unter der versammelten Crème de la Crème der Fremdsprachendidaktik. Alle sagten, die LdL-Idee sei toll, aber ich würde sie durch mein Verhalten in Misskredit bringen. Dabei befassten sie sich nur deshalb mit LdL, weil ich diese Perturbationen verursachte!

Zu Perturbationen und Trollverhalten Blogeintrag vom 4.11.09:

Zielgerichtete Perturbationen oder Trollverhalten? Zur Organisation kollektiven Denkens.

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Posted on 4. November 2008 by jeanpol

In der Wikipedia werden Leute, die das Verhalten zeigen, das ich hier an den Tag lege, gerne als Trolls bezeichnet. So wurde ich auch eine zeitlang dort eingestuft, bis die zuständigen Admins zur Einschätzung kamen, dass meine Beiträge und Interventionen oft störend, aber im Ergebnis konstruktiv und weiterführend waren. Natürlich verfolge ich mit meinen permanenten, leichten Perturbationen eine Strategie. Die Perturbationen (im Sinne des radikalen Konstruktivismus) sollen Reflexionsaktivitäten auslösen. Gleichzeitig soll aber auch eine Botschaft transportiert werden, die das Projekt weiterführt. Wenn ich beispielsweise für meinen Beitrag den Titel “Jesus als Modell für Verbreitungsaktivitäten” wähle, dann weiß ich, dass ich a) durch die leichte Provokation (Perturbation) Aufmerksamkeit errege, b) kognitive Dissonanz erzeuge (”was meint JPM damit, das ist doch starker Tobak?”) und c) Gehirnaktivität auslöse, so dass die Botschaft besser in den Fokus gerät, als wenn sie ohne Perturbation serviert würde.

Der Ablauf ist also:

1. Erregung von Gehirnaktivitäten durch Perturbation,

2. Angebot einer nützlichen kognitiven Struktur (z.B. Metapher)

Hier: Verbreitung des Christentums als Modell für unser Projekt:

- Das Christentum war attraktiver als das alte Modell Judentum (weil freundlicher und offener). Dies gilt für LdL im Vergleich zum Frontalunterricht.

- Das Christentum verfügte über eine attraktive Verbreitungsgruppe mit vielseitigem Personal (Junger Mann, alter Mann, Frau, usw…). Dasselbe gilt für die LdL-Bewegung.

3. Konsequenz für die Zukunft: Wie bei der Verbreitung des Christentums müssen wir unsere Botschaft kodifizieren und eine einheitliche Terminologie etablieren. Beispiel: lieber “Netzsensibilität“, das bereits mit anderen Begriffen verwoben ist, als “NetNeutralität”, das aus einem anderen theoretischen Umfeld stammt.

Große Erfolge der Kerngruppe

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Diese Leute waren toll, das muss man wirklich sagen! Ich stehe erzähltechnisch vor einem Problem. Wie kann ich in meiner Biographie alle Menschen beschreiben, die mir massiv geholfen haben, meine Ziele zu erreichen? Es sind regelrecht Berge von extrem engagierten Leuten. Böse Menschen zu beschreiben ist für den Leser interessant. Aber gute Menschen? Wie macht man das? Ich werde meine positiven Beschreibungen verteilen, damit es nicht zu viel wird. Auf jeden Fall war die Kerngruppe, die sich eher zufällig und spontan gebildet hatte, sehr leistungsfähig, denn sie hat innerhalb von zehn Jahren die Methode bundesweit bekannt gemacht. Ich erinnere mich an die ersten Treffen, bei denen für mich persönlich jedesmal alles auf dem Spiel stand. Meine Aufgabe war es, diese Gruppe am Leben zu erhalten und jedesmal soviel Input zu bringen, dass diese großkalibrigen Leute angeregt und mit vielen Plänen wieder nach Hause gingen. Sehr motiviert waren von Anfang an Roland Graef, Rüdiger Fischer und Rolf-Dieter Preller. Roland hatte mich nach einem Vortrag in Augsburg angesprochen und wollte mit mir weiter in Kontakt bleiben. Er trug damals einen langen Bart und sah sehr alternativ aus. Das war er auch, vor allem in Richtung Öko/Bio. Er selbst lebte mit seiner Familie in einem Biohaus aus Holz, seine Töchter gingen in die Montessori-Schule. Von allen wurde er, glaube ich, die festeste Säule unseres gemeinsamen Projektes. Später kam Renate Gegner dazu, eine 100%ige LdL-Lerin. Natürlich waren alle anderen auch ganz fest, aber die beiden waren unschlagbar. Auf jeden Fall erinnere ich mich, dass in einer der ersten Sitzungen der Kerngruppe wir am Ende keine gemeinsame Perspektiven sahen und uns auflösen wollten. Da sagte Rüdiger Fischer: "Wir sollten es doch noch einmal versuchen." Danke Rüdiger, ohne dich wäre unser grandioses Projekt nach ein paar Monaten gestorben. Rüdiger Fischer hatte ich im Rahmen einer Fortbildung in Dillingen kennengelernt. Er fand meine Ideen begeisternd und sagte mir, er sei auf der Suche nach Konzepten, die ihm wieder Spaß an der Schule vermitteln würden. Optisch sah er mit seinem sehr langen Zopf aus weißen Haaren auffällig aus, genau der Richtige. Als Person war er sehr originell und faszinierend. Er lebte mit seiner Familie in Kötzting, ziemlich weit ab von größeren Metropolen. Rolf-Dieter Preller haben wir auf einer Pädagogischen Konferenz der GEW in München an Land gezogen. Er hatte tausend Ideen, war extrem aktiv, sehr klug, auch er eine faszinierende Persönlichkeit. Und unglaublich zuverlässig, bei all seinen Beschäftigungen! So fehlte er nie, obwohl er in München lebte, auf all unseren zahlreichen Treffen in Nürnberg, Eichstätt oder Eberspoint bei Landshut. Er selbst organisierte mehrere LdL-Bundestreffen in München - es kamen immer um die 200 Leute - jedesmal fast allein, als one-man Unternehmen. Rolf-Dieter und Roland gaben das einzige LdL-Praxisbuch, das jemals veröffentlicht wurde, gemeinsam heraus. Und Rolf-Dieter setze das ganze Buch auch layoutmäßig um, auf seinem Computer, weil er ein absoluter Profi auf diesem Gebiet war. Überhaupt war er seiner Zeit immer voraus, gerade im Bereich Computer und später Internet. Zaubern hatte er auch gelernt und er setzte das in seinem Unterricht ein, in den Fächern Deutsch, Englisch und Geschichte. Wenn ich so zurückblicke, bin ich unheimlich stolz, dass durch meine Initiative solche Leute zusammenkamen und mehr als ein Jahrzehnt auch zusammen blieben.

Aktionsforschung radikal

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Mein Glück

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Da ich selbst unterrichtete, war ich ganz dicht am Geschehen im Klassenzimmer. Ich wusste also, wie die Schüler auf Impulse reagierten, wie sie sich im Laufe der Jahre veränderten, wie man sie durch Neuerungen auch langfristig bei der Stange halten konnte. Meine erste Klasse behielt ich sieben Jahre, meine zweite fünf Jahre sowie die meisten folgenden Gruppen. Und ich kenne keinen Didaktiker oder Pädagogen, der einen solchen Ansatz verfolgt und durchgehalten hat. Der große Vorteil dieses Forschungsansatzes (besonders radikale Spielart der Aktionsforschung) war, dass ich gezwungen war, Lösungen zu Motivationsproblemen zu finden, unter dem Leidensdruck des Unterrichtsalltags. Ohne Not denkt der Mensch nicht, wie einmal Brecht gesagt hat. Ich konnte den Wert einer methodischen Innovation sofort testen und einschätzen. Auf diese Weise konnte ich im Rahmen meiner Fortbildungsveranstaltungen den Lehrern effektive methodische Hilfen anbieten und die Lehrer wussten, dass ich diese Vorschläge nicht am grünen Tisch entwickelt hatte. Ich war glaubwürdig und bin es heute noch, denn ich unterrichte ja weiter. Ein weiterer Vorteil dieses Ansatzes war, dass ich durch die Probleme der Praxis gezwungen war, sehr früh schon Erkenntnisse zu rezipieren und umzusetzen, die in der Didaktik und Pädagogik erst viel später aufgegriffen wurden, wie beispielsweise die Gehirnforschung und die Kognitionspsychologie, mit der ich mich bereits 1983 intensiv beschäftigte, oder später die virtuelle Welt, in die ich mich gleich zu Beginn hineinlebte. Schon 1996 habe ich mit Hilfe von Manfred Lirsch erste Internet-Datenbanken eingerichtet.

Mein Fluch

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Mein Fluch war, dass ich sehr schnell meine Kollegen Fachdidaktiker und Pädagogen ob ihrer theoretischen Gedankengebäude, die aus der Flucht aus dem Klassenzimmer entstanden waren, verachtete und das auch zeigte. Ich fand es unverschämt, dass Leute, die selbst nicht unterrichten, den in der Praxis schuftenden Lehrern erzählen, was sie machen sollen, um erfolgreich zu sein. Natürlich hatten Didaktiker und Pädagogen ihre Bestimmung sehr schnell umdefiniert und begründeten ihr Dasein mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit. Am meisten empörte mich die Schutzkonstruktion, man wolle zweckfrei forschen. Hatte die Gesellschaft diese Leute an die Uni delegiert, damit sie "zweckfrei" forschen, oder damit sie Lösungen für die Probleme der Praxis ausarbeiten? Das empörte mich damals, und das empört mich auch heute. Andererseits brauchte ich ja die Hilfe genau dieser Leute, denn ich wollte mich formal absichern. Wenn ich das System kritisierte, musste ich zumindest darin erfolgreich gewesen sein. Ich musste mich also qualifizieren durch eine Promotion und womöglich auch eine Habilitation. Und böse oder dumme Menschen waren meine Kollegen Didaktiker und Pädagogen natürlich auch nicht. Es waren normale, oft auch sehr kluge Leute. Und die meisten wollten mir auch helfen. Nur ihren Ansatz der Trennung zwischen Praxis und Forschung fand ich falsch. Dazu kommt noch, dass die Themen, mit denen sie sich befassten, mir meist überflüssig erschienen. Überflüssig deshalb, weil sie periphäre Aspekte angingen, die in der Unterrichtsrealität keine Rolle spielten, oder weil sie Lösungen erarbeiteten zu Problemen, die in der Unterrichtsrealität schon längst erledigt waren. Sie hinkten hinterher und meinten dennoch an der Spitze zu sein. Am skurrilsten war es, wenn sie die Probleme im Unterricht darauf zurückführten, dass die Erkenntnisse der Didaktik und Pädagogik in der Praxis nicht wahrgenommen wurden. Die Lehrer wussten schon, warum sie die didaktische Literatur nicht lasen. Meine Position enthielt ein großes Konfliktpotential. Ich musste sie vertreten, aber nicht zu offensiv und aggressiv. Und eines muss ich noch dazu sagen: es gab ein paar Didaktiker und Pädagogen, die selbst nicht unterrichteten und dennoch wichtige Impulse mit Praxisrelevanz einbrachten. Ein paar Solitäre. Mein Fluch war also, dass ich den Balanceakt vollziehen musste, mich in einer Struktur nach oben zu qualifizieren, die ich fundamental in Frage stellte. Ich musste mich anpassen, indem ich mich beispielsweise in Themen einarbeitete, die mich nicht interessierten, an denen ich aber im Hinblick auf mein Fortkommen nicht vorbei konnte (z.B. Frühbeginn im Französischunterricht für eine C3-Stelle in Koblenz). Andererseits wollte ich mich nicht grundsätzlich verbiegen lassen.

Meine Lektüren: Kognitionspsychologie, Soziologie, Gehirnforschung

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Hilfe für die Bewältigung der Unterrichtsrealität fand ich also nicht in der didaktischen Fachliteratur, die geisteswissenschaftlich orientiert war, sondern vor allem in Psychologie und Soziologie. Mit viel Gewinn las ich zu Beginn der 80er Jahre von der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag (1981) und von Abels, Horst Stenger: Gesellschaft lernen. Einführung in die Soziologie. Opladen: Leske und Budrich (1986). Natürlich auch jede Menge kognitionpsychologische Werke, umfangreiche Handbücher über Biologische Psychologie und Gehirnforschung. Ich wollte das Gehirn als Erkenntnismaschine besser kennenlernen. Im Hinblick auf die Arbeit mit der Kerngruppe befasste ich mich intensiv mit Führungspychologie und Organisationspsychologie, vor allem aus systemtheoretischer Sicht. Ferner wollte ich meinen eigenen forschungsmethodologischen Standort erfassen und kam zu dem Ergebnis, dass ich ein Aktionsforscher war. Ich versuchte die Situation zu erforschen, in der ich mich befand und wollte diese Situation positiv verändern. Ich publizierte kontinuierlich, damit meine "Anhänger" Stoff zum Verbreiten und einen Vormann hatten, der wissenschaftlich qualifiziert war.

Und meine Gesprächspartner an der Uni

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Meine Gesprächspartner waren vor allem Literaturwissenschaftler. Paul Geyer, Peter Wagner, Joachim Pfeiffer, Anne Rusam. Damals alle im Mittelbau, inzwischen alle arriviert im Hochschulbereich bis auf Anne, die heute in der Automobilindustrie arbeitet. Während ich Didaktikern und Pädagogen vorhielt, sie würden das nicht tun, wofür die Gesellschaft sie eigentlich bezahle, nämlich die konkrete Praxis zu optimieren, war es mit den Literaturwissenschaftlern anders. Sie hatten ein Hobby, dessen Ausübung ebenfalls der Gesellschaft was kostete, aber ihre Aufgabe bestand nicht primär darin, die künftigen Lehrer methodisch auszurüsten. Natürlich fand ich schade, dass sie - dies trifft nicht zu für die oben genannten Freunde, die ich nicht per Zufall mochte - oft Themen anboten, die für die Lehrerpraxis gar keine Relevanz besaßen. Schade fand ich auch, dass viele sich hinter dem Argument versteckten, sie würden "Wissenschaftler" für die "Wissenschaft" ausbilden, wobei der Begriff wieder zur Einschüchterung und Hierarchisierung diente. Hier die künftigen Praktiker, dort die Elite, die sich später auch der, wohl immer noch nicht erschöpften, wissenschaftlichen Behandlung von "Madame Bovary" widmen sollte. Künftige Literaturwissenschaftler, das war die Zielgruppe der meisten Literaturwissenschaftler. Aber sei es drum. Meine Freunde waren anregend und wir hatten eine Gruppe gebildet, in der sehr fruchtbare Gespräche verliefen. Ich war wie immer der Entnaivisierung verpflichtet und da ich recht befreundet war mit Paul Geyer, stand er im Zentrum meiner Aufklärungsbemühungen (Thema: "Aufgeblasene Arschlöcher"). Er sah vorausschauend die Sache etwas differenzierter. Das war auch gut so, denn heute ist er an exponierter Position in einem Verband, deren Mitglieder sich so schlicht nicht definieren lassen wollen. Auf jeden Fall war Paul sehr klug, denn er verstand alles, was ich sagte, und noch viel mehr. Wirklich toll an ihm war, dass er kein Brotgelehrter war. Literaturwissenschaft betrieb er auf dem Hintergrund umfangreicher philosophischer Kenntnisse, absolut existentiell. Kompromisslos. So dauerte die Fertigstellung und Veröffentlichung seiner Dissertation, obwohl sein Promotionsverfahren abgeschlossen war und ein paar Schlussseiten ausgereicht hätten, noch Monate und (soweit ich mich erinnere) vielleicht sogar Jahre. Er ließ sich nicht davon abbringen. Er fühlte sich wirklich der Wahrheit verpflichtet. Das ist ein Radikalismus, den ich schätze. In seinen Danksagungen am Anfang der endlich doch veröffentlichten Habilitationsschrift erwähnt er, dass ich ihm die Systemtheorie nähergebracht habe. Wenn es so ist, dann bin ich sehr glücklich, denn Systemtheorie ist definitiv entnaivisierend. Peter Wagner war optisch eine Art alter Ego, von der Figur, den Gesichtszügen und der Kleidung. So sahen es zumindest die anderen, beispielsweise der Kanzler, der ihn Herrn Martin nannte. Das war gelungene Komplexitätsreduktion, denn so musste der Kanzler sich nur eine Person merken, den Herrn Martin. Ansonsten war Peter ein richtiger Freund. Das gibt es im universitären Kontext nicht so oft. Inhaltlich befasste er sich als Anglist damals mit der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Er schenkte mir einige der Bücher, die er verfasst hatte, und ich fand sie sehr interessant. Das brachte mich ihm intellektuell näher. Privat kamen wir viel zusammen, auch heute noch, vor allem in der Bretagne, woher seine Frau kommt. Joachim Pfeiffer war Germanist. Sehr feinfühlig, warmherzig und an progressiven Unterrichtsmethoden hochinteressiert. Er setzte sich stark ein für die Anwendung und Verbreitung von LdL. Ich erinnere mich, dass ich einmal an einem seiner Seminare über Hermann Hesse teilgenommen hatte - ich wollte ein Video drehen - und eine Studentin hatte eine verrückte Inszenierung gestaltet mit Steigen auf die Tische, Musik, Räucherstäbchen, Plakaten und diversen Requisiten. Joachim regte so etwas an und ließ vieles zu. Ich denke, seine Studenten mochten ihn sehr. Zweimal hat er bei festlichen Anlässen kleine Ansprachen über mich gehalten. Beide Male war ich sehr berührt. Anne Rusam war damals noch sehr jung. Sie schrieb an ihrer Dissertation. Sie dachte klar und streng und war ein Motor für viele Treffen in Eichstätt, die unsere Gruppe zusammenhielt, denn sie hatte sowohl eine feste Bindung an Paul, der wie sie evangelisch war - Annes Vater war Pfarrer in Eichstätt - und an Joachim, dem sie emotional nahe stand. Auf Anne werde ich später ausführlich zu sprechen kommen.

Hans Hunfeld

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Hans Hunfeld war zuständig für die Englisch-Didaktik in Eichstätt. Gott-Vater für die Englisch-Didaktik wie ich Gott-Vater für die Französisch-Didaktik war, mit dem Unterschied, dass er wirklich Gott-Vater war: C4-Professor, Superausstattung mit Sekretärin und Akademischer Rätin. Ich war Studienrat im Hochschuldienst ohne eigenen Etat und zu Beginn nicht einmal promoviert. Als ich nach Eichstätt kam, studierte ich natürlich sehr eifrig die fremdsprachendidaktische Literatur und las mit Freude, dass Hunfeld gerade eine Aufsatzsammlung herausgegeben hatte, "Eichstätter Kolloquium" oder was ähnliches. Ich suchte ihn auf und er empfang mich hunfeldlike. Auf viele wirkt er mürrisch. Ich versuche mich zu erinnern: er zeigte mir ein Regal mit seinen Publikationen, etwa ein Meter. Er teilte mir mit, dass die Didaktik es grundsätzlich schwer habe gegenüber den Fachwissenschaften, die nur sich selbst ernst nähmen, dass er aber durch seine Publikationen doch einen guten Stand habe. Als Didaktiker sei man wissenschaftlich besonders gefordert, wenn man sich an der Uni positionieren wolle. Er drückte mir seine Antrittsvorlesung in die Hand, "Didaktik als Wissenschaft". Er selbst war sehr früh zu seinem Lehrstuhl gekommen, knapp nach der Promotion. Die Tatsache, dass er nicht jahrzehnte lang eine Sklavenposition besetzt hatte um über Nacht die des Herren zu erklimmen war ein großer Vorzug Hunfelds. Er hatte die Sklavenphase übersprungen und war noch rebellisch, wenn man so will, links. Ferner war er sehr belesen, ging mit der Sprache meisterhaft um und besaß viel Charisma. Und dazu, er war humorvoll, ich meine selbstironisch. In allen diesen Dimensionen unterschied er sich radikal von seinen Kollegen. Ich bin ihm bis heute dankbar, dass ich, der ihn ja brauchte und einiges dafür einstecken musste, ihn respektierte ob seiner Intelligenz und seiner davon abgeleiteten natürlichen Autorität. Ich hätte es nicht verkraftet, wenn ich mich hätte jemandem fügen müssen (und das musste ich ja in bestimmten Situationen), den ich nicht geachtet hätte. Besonders hoch rechne ich ihm folgende Reaktion an: obwohl ich Französischdidaktiker bin hielt er mit mir jahrelang ein Hauptseminar, zu dem nur Anglisten kamen. Er hatte mich also adoptiert. Angesichts seiner Autorität im Seminar, die ich gerne auch als Despotismus charakterisierte, bezog ich immer wieder eine Gegenposition, was mir nicht schwerfiel, denn wir vertraten wirklich zwei entgegengesetzte Haltungen: ich war der Überzeugung, dass die Menschen Produkt von Strukturen sind und dass seine C4-Stellung ihn automatisch zum Alleinherrscher machte. Keine habe eine Chance, sich gegen seinen Willen durchzusetzen, im Gegenteil, jeder sei irgendwann gezwungen zu kuschen, auch gegen die eigene Überzeugung. Er vertrat die Meinung, dass das Individuum in der Lage ist, auch in absolutistischen Strukturen seine Würde zu behaupten und Widerstand zu leisten. Immer wieder brachte ich dieses Thema im Seminar zur Sprache, und auch außerhalb. Einmal sagte ich seinen Assistentinnen und Hilfskräften, Hunfeld würde sich wie ein Platzhirsch verhalten und sie würden sich zu viel bieten lassen. Es wurde ihm zugetragen und ich spürte, dass er sehr verärgert war. Er war doch gerade dabei, mir zur Habilitation zu verhelfen, aus freien Stücken denn ich war kein Anglist, und ich hetzte in seiner Abwesenheit gegen ihn. Ein kurzes Gespräch mit ihm gab mir die Möglichkeit, meinen Standpunkt darzulegen. Ich musste allerdings einsehen, dass ich die Welt immer nur aus meiner Perspektive interpretierte. Für ihn war die Angelegenheit erledigt. Wenige hätten an seiner Stelle so schnell die Sache abgehakt.

Kontrollräume definieren

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In diesem Buch geht es zentral um die Frage, wie man ein glückliches Leben führen kann. Im Rahmen meines Menschenkonstruktes habe ich beschrieben, dass alles, was Lebewesen tun, nur auf ein Ziel hin ausgerichtet ist: alles im Griff zu behalten, also die Kontrolle nie zu verlieren. Wird dem Menschen Kontrolle entzogen, leidet er. Wird ihm Kontrolle zurückgegeben, empfindet er große Freude. Innerhalb der Universität war der Bereich, den ich im Griff hatte, die Lehre, was schon sehr viel ist. Ich konnte inhaltlich alles tun, was ich wollte. Viele Kollegen konnten das nicht. Im Mittelbau mussten beispielsweise hochqualifizierte Leute beim Lehrstuhlinhaber nachfragen, ob sie bestimmte Themen behandeln durften. Eine unglaubliche Einengung und Demütigung. Das musste ich nicht, ich war mein eigener Herr. Außerhalb der Universität genoss ich absolute Freiheit in jeder Hinsicht. Die einzigen Bereiche, in denen ich eingeengt war, waren die Fakultät, denn als Mittelbauler musste ich, wenn ich etwas brauchte, bitten und betteln, und das stärkt nicht gerade das Freiheitsgefühl, und der Rahmen, in dem ich mich habilitierte, also Hunfeld.

Kontrollraum Fakultät: 5%

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Kurz nachdem ich an der Uni angefangen hatte, wurde ich zum Mittelbauvertreter im Fachbereichsrat gewählt. Aus meiner Demokratieerfahrung in der normalen Welt dachte ich, dass alle Gruppen in etwa dieselben Rechte hätten und freute mich auf die interessanten und fruchtbaren Debatten und Entscheidungen. Schnell erkannte ich, dass aufgrund der Machverhältnisse die Professorengruppe über die Alleinherrschaft verfügte. Automatisch entstand auch ein entsprechendes Gefühl der Machtlosigkeit bei den anderen Gruppen - Mitarbeiter, Studenten, Sekretärinnen - das sich in den Beiträgen und überhaupt im Verhalten zeigte. Wir wurden wie Kinder behandelt und verhielten uns auch so. Wer sich etwas kritisch zeigte, wurde gemobbt. Natürlich war das Mobbing nicht aktiv und für alle sichtbar. Es war nur so, dass wenn jemand aus einer niedrigeren Kategorie sprach, die Profs weiter miteinander diskutierten oder sich gelegentlich über den Redner lustig machten. Rebellierte jemand aus dieser unteren Schicht gegen die demütigende Behandlung, wurde es als humorlos hingestellt. Im Prinzip waren die Dekane bemüht, einen Ausgleich zu schaffen und versuchten, die unteren Kategorien zu berücksichtigen. Positiv möchte ich beispielsweise Hermann Schnackertz hervorheben. Besonders negativ war XY, mein ehemaliger, inzwischen upgradeter Kollege aus dem Mittelbau. Dass ich nach jeder Fachbereichsratsitzung verärgert nach Hause fuhr, kann meine Frau bezeugen. Und hier aufgepasst! Um die Selbstachtung aufrechtzuerhalten, muss man sich immer darüber im Klaren sein: die Demütigungen galten nicht mir, dem Jean-Pol Martin, sondern dem Mittelbauler. Ich wurde nicht als Person gemobbt, sondern als Vertreter einer sozial niedrigeren Klasse. Mein Spielraum, um eigene Wünsche zu durchsetzen, umfasste etwa 5%. Durch geschicktes Vorgehen und Taktieren konnte ich diesen auf 10%, ja vielleicht sogar 15% erhöhen. Mehr war nicht drin! Aber 15% ist auch etwas! Wenn ich beispielsweise einen Antrag stellte auf einen eigenen Etat, sagen wir auf 500€ während die Profs über 2.000€ verfügten, so musste ich mir jeden Satz exakt überlegen, ein paar Demütigungen einstecken und am Ende 300€ erhalten. Mit wohlwollendem Blick aller Anwesenden, die dem Mittelbau auch was gönnen wollten. Da ich in diesem Spiel nicht als die Person Jean-Pol Martin von oben herab behandelt wurde, sondern als Oberstudienrat im Hochschuldienst Dr.Martin, war es wichtig, dass ich in dem Gegenüber nicht den Prof.Sowieso sah, sondern ebenfalls nur einen entpersonalisierten Platzhalter. Entpersonalisiert deshalb, weil auch er nicht bewusst arrogant und demütigend war, sondern als Exponent seiner Stellung in der Hierarchie. In diesen eingeengten Handlungsräumen musste ich mir eine Strategie zulegen, die mich als Person aus dem Spiel hielt. Wollte ich also einen Zuschuss oder eine bestimmte Geldsumme für ein Projekt, so schickte ich den OStR.Dr.Martin in den Fachbereichsrat. Dieser musste die Nasenstüber, die mit der Erteilung der Summe verbunden waren, ertragen und brachte mir, Jean-Pol Martin, die Summe ins Büro. Diese Strategie behielt ich auch später bei, als ich umfangreichere Projekte leitete und entsprechend höhere Summen benötigte. In diesem Rahmen ging ich jedem nur erreichbaren Mächtigen extrem auf die Nerven, ohne mich selbst dabei unwohl zu fühlen. Hauptsache, ich bekam die Summe, auch wenn es nur ein paar hundert Euros waren.

Kontrollraum Habilitation: 70%

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Ein zweiter Handlungsraum, der noch viel wichtiger war als die Fakultät, war die Habilitation. Und hier wurden die Grenzen durch Hans Hunfeld abgesteckt. Dem Leser ist bestimmt aufgefallen, dass ich seit meiner Jugend allergisch gegen jede Art von Bevormundung und Freiheitseinschränkung war. Ich erinnere mich, dass ich als Student in einem Pariser Nobelhotel auf dem Boulevard St.Germain einen Monat an der Rezeption arbeitete. Als der Direktor mich einmal bat, Brot und Croissants, die übrig geblieben waren, in die Bäckerei zurückzubringen, kündigte ich. Ich wollte nicht, dass jemand aus dem Boulevard St.Germain Milieu, in dem ich verkehrte, mich per Zufall auf der Straße als Laufbursche mit einem Brotkorb entdeckte. In der Phase, die ich nun beschreibe, war ich nicht mehr zwanzig, sondern fünfundvierzig. Also extrem bedacht auf Autonomie und Würde. Situationen, in denen ich nicht der Chef war, konnte ich nicht immer vermeiden, aber ich litt sehr und musste mein Selbstbild durch klare Strategien aufrechterhalten. Die Kognition musste voll eingeschaltet und die Emotionen gänzlich unterdruckt werden. Dem Zugriff von außen entzog ich mich durch Spott und Ironie, was allerdings nicht immer möglich war. Im Fachbereichsrat wurde mir diese Taktik dadurch erleichtert, dass ich die meisten Akteure tatsächlich lächerlich fand. Mit zunehmendem Erfolg meiner Projekte in der realen Welt war mir möglich, die relative Belanglosigkeit der im Fachbereich behandelten Inhalte und den großen Ernst, die große Emphase, mit denen dies geschah, als Groteske zu betrachten. Die Mitglieder des Fachbereiches wussten um meine Aktivitäten in der realen Welt, aber diese spielten keine Rolle innerhalb der Uni.

Mit Hunfeld war es natürlich anders. Hunfeld konnte und wollte ich nicht entpersonalisieren. Zumindest nicht gänzlich. Klar, dass es Momente gab, wo er als Lehrstuhlinhaber und "Chef" auftrat. Da ich selbst weder Assistent noch in irgendwelcher Form weisungsabhängig war, richtete sich sein Verhalten nicht gegen mich. Dennoch empfand ich es als schmerzhaft, in seinen Veranstaltungen die zweite Geige zu spielen. Abhängig war ich von ihm auf jeden Fall, und zwar stark. Er schätzte mich und hatte vorgeschlagen, ich solle die Habilitation wagen. Ich war zwar Französischdidaktiker, aber er würde sich für mich einsetzen und mich coachen. Dazu muss man wissen, dass die Habilitation ein komplexes, langwieriges, mühsames Verfahren ist und dass der Habilitand einen Fürsprecher braucht, der Gewicht in der Fakultät besitzt. Und dieses Gewicht besaß Hunfeld. Wollte ich mich habilitieren, so führte kein Weg an ihm vorbei. Es bedeutete Unterordnung, aber, und das war entscheidend, unter jemanden, den ich schätzte. Günstig war, dass Hunfeld und ich ganz unterschiedliche didaktische Positionen vertraten und dennoch eine gemeinsame Basis hatten: der Schüler sollte nicht belehrt werden, sondern er sollte aktiv an der Konstruktion seines Wissen beteiligt werden, ja noch vielmehr, er sollte ganz frei und ungesteuert den Gegenstand angehen, den er für sich erschließen wollte. Das nannte Hunfeld die Skeptische Hermeneutik. Wir arbeiteten in dieselbe Richtung, aber unsere Bereiche überlappten sich nicht. Keine Konkurrenzsituation also. Ich mache es kurz: Hunfeld ließ mich ganz und gar selbständig arbeiten und unterstützte meine Anstrengungen. Daher setze ich den Kontrollraum, über den ich während meiner Habilitationszeit verfügte, auf 70%. Die restlichen 30% fallen auf die Formalien, Gebote und Einschränkungen, die Hunfeld mir aufzwingen musste, damit ich überhaupt die zahlreichen, oft wissenschaftsbürokratischen Hürden des Habilitationsverfahrens überwand. Er wollte mich ins Rennen schicken, aber mit den größten Erfolgsaussichten. Ich fügte mich, nicht immer willig, aber das Unternehmen Habilitation wurde erfolgreich. Ich könnte natürlich detaillierter schildern, was alles ein guter Habilitationscoach tun muss und was Hunfeld auch tat, aber der Abschnitt hier soll nicht zur Hagiographie ausarten.

Kontrollräume Lehre, Schule und LdL-Projekt: 100%

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Im Bereich der Lehre war ich völlig frei. Ich konnte in meinen Univeranstaltungen das behandeln, was mir gerade einfiel. Und dadurch, dass ich an der Schule unterrichtete, forschte und innovierte, waren die Themen, die ich in den Didaktikveranstaltungen anbot, genau das Richtige für künftige Lehrer. An der Schule traf ich auf die didaktischen Probleme, die ich unter Leidensdruck anging und löste. Die Ergebnisse wurden in die Theorie eingespeist und neue Ideen wurden am Prüfstand der Praxis getestet. Ein ideales Lehr- und Forschungsdesign. In diese ganzen Prozesse wurden die Studenten einbezogen. Wir hatten wenig Studenten und ich versuchte mit allen Mitteln diese jungen Menschen in meine Veranstaltungen zu locken. Immer wieder passte ich mein Angebot an die Interessen meiner Zuhörerschaft an, weil ich die Studenten als Mitdenker brauchte. Ich initierte eine Unmenge von Projekten in der Schule und beteiligte Scharen von Studenten, sofern man angesichts der kleinen Romanistikpopulation von Scharen sprechen kann. In jeder Didaktikveranstaltung unternahm ich Werbekampagnen für das Praktikum im Fach Französisch am Willibald-Gymnasium. Später führte ich Kurse ein, die mir für die Studenten als künftige Lehrer besonders nützlich erschienen, wie einen Überblick über die Französische Literatur, den man sofort im Leistungskurs einsetzen konnte, weil ich ihn auch dort entwickelt hatte. Dasselbe gilt für Überblicke über die Geschichte Europas von der Antike bis zur Gegenwart, wobei stets meine Methode LdL eingesetzt wurde. Man sieht, ich bin jetzt noch begeistert!

In der Schule genoss ich dieselbe Freiheit wie an der Uni im Bereich der Lehre. Ich konnte innovieren nach Herzenslust. Natürlich hielt ich mich strikt an die Schulordnung und die vier Direktoren, die ich am Willibald-Gymansium erlebte, unterstützten meine Arbeit dezidiert.

Völlige Freiheit schließlich genoss ich in der Forschung und in der Verbreitung und Weiterentwicklung der LdL-Innovation. Mein Hauptanliegen bestand darin, die zahlreichen Menschen, die mich unterstützten, insbesondere die LdL-Kerngruppe weiter zu motivieren, sich an den von mir vorgeschlagenen Projekten zu beteiligen.

LdL und die Kerngruppe: soziale Einbindung, soziale Anerkennung, Selbstverwirklichung und Sinn

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Ich kann nicht genug wiederholen, dass die Frage, die in diesem Buch behandelt wird, die Frage des Glückes ist. Eine enorme Glücksquelle fand ich in den Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der Schule, den LdL-Fortbildungen und der Kerngruppe entstanden. Ich habe bereits beschrieben, dass meine Handlungsräume im Rahmen der Universität eingeschränkt waren. Durch LdL und die Gründung der Kerngruppe bot sich ein aufregendes Feld an, in dem alle von Maslow beschriebenen Bedürfnisse befriedigt werden konnten.

Was ich der Kerngruppe verdanke

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Wenig Resonanz in der Didaktik als Wissenschaft

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Nichts ärgert mich mehr als wenn Wissenschaftler, deren Aufgabe es ist, die Praxis zu optimieren, Theoriegebäude über eine Praxis entwickeln, die sie selbst nicht handelnd erleben. Dies gilt insbesondere für Didaktiker und für Pädagogen. Der Grund, warum ich so empfindlich bin, liegt wahrscheinlich darin, dass Didaktiker und Pädagogen LdL lange Zeit kaum rezipierten. Sie waren vor allem mit Theorie beschäftigt oder mit Fremdsprachenpolitik und legten den Fokus nicht auf methodische Innovationen. Mich empörte es deshalb, weil ich der Überzeugung war, dass die Aufgabe von universitären Didaktikern in erster Linie darin besteht, die Situation in der Praxis zu verbessern. Wenn sie sich selbst schon nicht intensiv mit Praxis befassten, sollten sie zumindest die in der Praxis entstandenen Innovationen durch entsprechende Erwähnungen in didaktischen Zeitschriften zu verbreiten. Was diese Innovation angeht, so war es definitiv nicht der Fall. Der Grund dafür ist vermutlich, dass mein Projekt eine singuläre Erscheinung war, die sich im Rahmen von Publikationen und Kongressen nicht karrierefördernd einbinden ließ. Unsere Arbeit in wissenschaftlichen Publikationen zu zitieren, lohnte sich karrieretechnisch nicht, denn ich konnte niemandem zu einer Position verhelfen.

Die Rezeption unter Lehrer-Kollegen und die Kerngruppe

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Ohne meine Lehrer-Kollegen aus der Kerngruppe wäre Lernen durch Lehren sicher nie bekannt geworden. Zu Beginn war es für die Lehrer aus der Kerngruppe auch nicht leicht, LdL in ihrem Unterricht einzuführen. Daher waren es in erster Linie erfahrene Lehrer, die sich trauten, den neuen Ansatz zu erproben. Die erste Referendararbeit war 1985 in Kiel im Französischunterricht entstanden. In Berlin war Hans-Joachim Jakob als Seminarlehrer aktiv und ließ Referendararbeiten über unsere Methode verfassen, sowohl für das Fach Französisch als auch für Sport. Aus der Kerngruppe war es Toni Ohr, Seminarlehrerin ebenfalls in Berlin, die die Methode als Thema anbot und Lernen durch Lehren sehr aktiv propagierte. Zwar wurde LdL im Französischunterricht entwickelt, aber die Mitglieder der Kerngruppe erprobten die Methoden auch in ihren anderen Fächern. Roland Graef, Cornelia Feldkamp Karlheinz Jopp-Lachner und Eva Lorenz setzten LdL in Französisch und Deutsch ein; Rolf-Dieter Preller in Englisch und Geschichte, Klaus Zirkelbach in Englisch und Deutsch. Gerhard Schilder verbreitete LdL in den Fächern Französisch und Sport. Wilfried Christel unterrichtete nach LdL in Deutsch und Geschichte. Renate Gegner setzte LdL in Französisch ein und wurde zur absoluten LdL-Spezialistin für LdL im Fach Latein. Längere Zeit war auch Erich Streitenberger ein wichtiger Motor sowohl im Fach Französisch als auch in Latein. Er organisierte mehrere grandiose Fortbildungen in Baden-Württemberg. Ulli Hertel-Schönberg unterrichtete nach LdL in den Fächern Englisch, Deutsch und Französisch an der Realschule, zum Teil auch am Gymnasium. Rüdiger Fischer unterrichtete LdL in Englisch und Französisch, Werner Küfner ebenfalls und Günter Leitzgen in Französisch und Deutsch. Für Mathe und Physik war zu Beginn Helmut Meyerhöfer zuständig, später wurde er durch Elisabeth Engel kräftig unterstützt. Wir hatten auch unsere Spezialistin für Geographie, Angelika Breitfeld-Grosser und für Religion, Brigitte Vogel. Später engagierte sich Julia Born ebenfalls stark für den Einsatz von LdL im Fach Religion. Die vertretene Schulart war in erster Linie das Gymnasium, denn dort lag das größte Defizit im methodischen Bereich. Von Eichstätt aus wurde ein Kontaktnetz aufgebaut. Die Kollegen erstellten Erfahrungsberichte, die als Kontaktbriefe an alle Mitglieder zweimonatlich verschickt wurden, an etwa 600 Personen. Am Anfang wurden die Briefe von mir und meiner Familie eingepackt, adressiert und verklebt, bald bekam ich die Unterstützung einer studentischen Hilfskraft. Alle Papier-, Kopie- und Versandkosten wurden zunächst von der Universität Eichstätt getragen, als die Mittel insgesamt knapp wurden, erhob ich Beiträge von den Mitgliedern, wobei die Hochschule immer wieder Zuschüsse beisteuerte. In den fast drei Jahrzehnten meiner Tätigkeit an der Universität Eichstätt zeigte sich die Hochschulleitung und –verwaltung sehr großzügig, das habe ich bereits erwähnt. Auch die von Hans Hunfeld vertretene Hans-Bickhoff-Stiftung war stets bereit, meine Projekte mit ansehnlichen Summen zu unterstützen. Eine weitere Struktur, die von der Kerngruppe ins Leben gerufen und getragen wurde waren die LdL-Bundestreffen und Regionaltreffen, die zwischen 1987 und 2000 jedes Jahr organisiert wurden. Zu den Bundestreffen kamen durchschnittlich 200 Kollegen, zu den Regionaltreffen an bundesweit etwa zwölf Orten kamen zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Lehrer. Die Treffen fanden an den Gymnasien der jeweiligen Kollegen statt, insbesondre in Nürnberg an der Schule von Ursula Hertel-Schönberg oder von Renate Gegner, aber auch in München an Rolf-Dieter Prellers Gymnasium. Meist wurden die Schüler gebeten Kaffee und Kuchen bereitzuhalten und sie wurden bei Unterrichtsdemonstrationen eingespannt. All das erfolgte unter großem organisatorischem Aufwand, wie der Leser sich leicht vorstellen kann. Immer wieder wurde die Presse eingebunden, es wurden auch Fernsehberichte ausgestrahlt, nicht nur mit meinen Schülern sondern auch wiederholt mit den Klassen von Kollegen, mehrmals von Ursula Hertel-Schönberg zum Beispiel. Nach einigen Jahren Aktivitäten der Kerngruppe, die in ihrer Zusammensetzung recht stabil blieb, kam das Bedürfnis nach Supervision auf. Die Initiative wurde von Eva Lorenz ergriffen, die auch einen schönen Ort im Voralpenland für unsere Begegnungen ausfindig machte. Als Supervisor verpflichteten wir Dr. Karl Schattenhofer, Spezialist für selbstorganisierte Gruppen. In Eberspoint trafen wir uns zweimal im Jahr. Natürlich waren diese umfangreichen Aktivitäten mit erheblichen Kosten für alle Beteiligten verbunden.

Die Fragen, die sich stellten, waren: Wie ließ sich die Motivation der Kollegen aufrechterhalten, soviel Kraft und Energie in dieses Projekt zu investieren? Woraus bestand die Belohnung?

Soziale Einbindung, soziale Anerkennung, Sinn und sehr viel Flow

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Wundermethode
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Etwas Hochrelevantes und Neues zu präsentieren, verschafft große Aufmerksamkeit. Im Rahmen von Fortbildungen fanden die teilnehmenden Kollegen LdL immer aufregend und interessant, so dass man als Referent nicht das Gefühl hatte, ein „schlechtes Produkt“ anbieten zu müssen. Das liegt daran, dass LdL einerseits vertraute Muster aufgreift, nämlich alle Techniken, die Lehrer tagtäglich in ihrem Unterricht einsetzen, aber andererseits durch die Übergabe der Lehrfunktionen an die Schüler alles auf den Kopf stellt. Allein durch diesen Kunstgriff werden alle Forderungen der Didaktik nach Schülerorientierung, Schüleraktivierung und radikaler Erhöhung des Sprechanteils bei den Schülern erfüllt. Das ist also eine Wundermethode. Das kann nur Verwunderung, Bewunderung und Skepsis bis Ärger hervorrufen. Natürlich funktioniert LdL nicht auf Anhieb. Man kann nicht einfach Schüler nach vorne schicken und sie bitten, den Unterricht zu halten. LdL verlangt also, dass die Lehrer sich ausführlich mit Theorie und Praxis dieser Methode befassen. Z.B. verlangt LdL, dass man regelmäßig schriftliche Hausaufgaben aufgibt und kontrolliert, da der Unterricht selbst vorwiegend mündlich abläuft und man sonst schnell die Kontrolle über den Leistungsstand verlieren würde. Ferner muss man während des Unterrichts selbst den unterrichtenden Schülern stets zur Seite stehen und intervenieren, wenn Probleme auftreten, aber eben nur wenn Probleme auftreten, sonst würde es sie stören. Das alles muss gelernt werden und verlangt Übung.

Obwohl alle Forderungen der Didaktik erfüllt werden, wurde der Ansatz zumindest am Anfang nicht aufgegriffen. Weder durch die Didaktik als Wissenschaft noch durch die Pädagogik noch durch die von Praktikern herausgegebenen Fachzeitschriften. Zwar lagen spätestens ab 1988 umfangreiche Publikationen über meinen Ansatz vor, aber sie wurden kaum zitiert. Als Beispiel sei die von Johannes Bastian 1997 herausgegebene Nummer von „Pädagogik“ mit dem Titel „Schülerinnen und Schüler als Lehrende“ genannt, in der unsere Arbeit überhaupt nicht erwähnt wird, also 12 Jahre nach der Publikation meiner Dissertation und den entsprechenden zahlreichen Veröffentlichungen der LdL-Kerngruppenmitglieder. Auch heute ist in dem von Hans-Karlheinz Bausch, Herbert Christ und Jürgen Krumm herausgegebenen, für die Fremdsprachendidaktik maßgeblichen „Handbuch Fremdsprachenunterricht“, 5. Auflage unter den insgesamt 124 Artikeln keiner LdL gewidmet und auf die Methode wird nur in zwei Artikeln kurz hingewiesen. In dem Handbuch „Pädagogische Psychologie“ (2004) wird zwar „Lernen durch Lehren“ ein Artikel gewidmet, dieser befasst sich aber ausschließlich mit peer-learning, zitiert nur die ältere angloamerikanische Literatur und erwähnt mit keinem Wort unsere Arbeit. Wir mussten also nicht nur dem Widerstand der Kollegen im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen trotzen, sondern auch das Desinteresse der Didaktik und Pädagogik als Wissenschaft aushalten. Eine solche Situation schafft Kampfgeist. Kein Wunder, dass wir, und ich ganz besonders, bald als Missionare verschrien wurden. Dabei hatten wir anfänglich nur eine kleine Technik anderen zugänglich machen wollen.

Praxiserfolge
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Ohne konkrete Erfolge im Unterricht hätten wir nicht die Kraft gehabt, LdL weiterzuentwickeln und zu propagieren. Das war auch die Voraussetzung, um glaubhaft in der Öffentlichkeit aufzutreten. Die meisten von uns trafen auf sehr viel Zuspruch von Schülern und Eltern. Auch die Medien und die Elternverbände interessierten sich immer wieder für uns. Viele LdL-Kerngruppenmitglieder wurden – wenn sie es nicht schon waren – Fachbetreuer oder Seminarlehrer und sahen ihr Engagement durch Karrierefortschritte belohnt. Auch unsere zahlreichen, selbstorganisierten LdL-Fortbildungen kamen gut an und wurden in Verbandszeitschriften positiv erwähnt. Immer häufiger wurden wir aufgefordert, auch für Fachzeitschriften Aufsätze zu verfassen, insbesondere für „Französischunterricht“ (Friedrich Verlag), z.B. Günter Leitzgen, Roland Graef, Rüdiger Fischer. Renate Gegner veröffentlichte mehrere Artikel für den Lateinunterricht. Nicht nur Mitglieder der Kerngruppe publizierten Artikel über LdL, sondern auch Kollegen, die sich eine Zeitlang stark engagierten und dann wieder ihre Wege gingen, wie beispielsweise Rudolf Kelchner für den Englischunterricht oder Joachim Pfeiffer und Anne Rusam sowie Ursula Geling-Uluhan für Deutsch als Fremdsprache. Roland Graef wurde in den Kreis der Autoren des Lehrwerkes „Découvertes“, vom Klett-Verlag aufgenommen und prägte nachhaltig eine ganze Lehrwerkgeneration für den Französischunterricht. 1994 veröffentlichten Roland Graef und Rolf-Dieter Preller im Eigenverlag (Verlag im Wald von Rüdiger Fischer) das bis heute einzige LdL-Buch für Praktiker, mit einer Sammlung von Artikeln zu den einzelnen Fächern aus der Feder der LdL-Kerngruppenmitglieder. Schließlich wurde LdL zu einem sehr beliebten Thema für Referendararbeiten. In der Zeit von 1985 bis heute wurden quer durch alle Fächer mehr als hundert Referendararbeiten zu LdL verfasst.

Grasroot-Bewegung: LdL wurde von „unten“ nach „oben“ durchgesetzt
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Der Geist der Methode, sagen wir zur Vereinfachung ein „basisdemokratischer“, durchzog also alle unsere Aktivitäten. Hier kommen Assoziationen wie „David gegen Goliath“ oder „Robin Wood“ in den Sinn, also Muster, die immer Solidarität und Kampf enthalten. Wir mussten zunächst unsere Schüler überzeugen und dafür sorgen, dass unsere Methode an unserer Schule akzeptiert wurde, dann mussten die Kollegen im Rahmen von Vorträgen und Fortbildungsveranstaltungen für die Methode gewonnen werden; die nächsthöhere Hierarchieebene waren die Seminarlehrer und Leiter von Fortbildungsinstituten. Alle diese Gruppen brauchten Angebote und waren dankbar, dass wir mit LdL ein Produkt hatten, das aufgrund der Praxisbezogenheit in der Regel sehr gut ankam. Ähnliches galt für praxisorientierte Fachzeitschriften. Viel schwieriger war der Sprung von der Ebene der Seminarlehrer zur Ebene der Hochschule. Selbst heute wird LdL an Universitäten und Hochschulen kaum behandelt. Dies liegt an der Praxisferne der Hochschuldidaktiker und Pädagogen.

Wissenschaftliche Publikationen: Zugpferd
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Wichtig war für die Bewegung auch, dass ich wissenschaftlich voranschritt. Zwar verlangten die Kollegen der Kerngruppe nicht direkt nach Theorie, gelegentlich sträubte sich der eine oder andere dagegen, aber vor allem die Seminarlehrer unter ihnen waren froh, dass sie ihre Referendaren auch mit wissenschaftlicher LdL-Literatur versorgen konnten. Ferner waren die LdL-Kerngruppenkollegen alle sehr profiliierte Persönlichkeiten, die natürlich auch stark theorieinteressiert waren. Sie forderten mich nicht explizit auf, Forschung zu betreiben, aber es war für sie beruhigend zu wissen, dass sie auch wissenschaftlich richtig lagen. Im Laufe der Zeit hielten meine Kollegen selbst als Lehrbeauftragten Seminare an Hochschulen, beispielsweise Renate Gegner in Nürnberg. Was mich anging, so setzte ich die Überlegungen, die ich 1985 in meiner Dissertation veröffentlicht hatte, fort. Ich entwickelte ein Lernerkonstrukt (anthropologisches Modell), auf dessen Grundlage ich jeden didaktischen Schritt, jede Stoffauswahl begründen konnte. Dieses Modell hatte einen universalen Anspruch, war also kulturunabhängig. Da ich meine Klasse von der 7. bis zum Abitur geführt hatte, hatte ich parallel ein ganzes Curriculum für den Französischunterricht aufgestellt und wissenschaftlich fundiert, also empirisch erforscht und abgesichert. Diese Langzeitstudie veröffentlichte ich als Habilitationsschrift im Jahre 1994. Für die Kerngruppe war es, glaube ich, wichtig, dass sie als Zugpferd jemanden hatten, der auch wissenschaftlich qualifiziert war. Als Ressource konnte ich nun den Titel „Privatdozent“ einsetzen und sechs Jahre später den Titel „Professor“.

Die Arbeit und das Klima in der Kerngruppe
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Das Verhältnis der Kerngruppenmitglieder zu mir war natürlich nicht eindeutig. Ich war zwar Primus inter pares, aber durch meine strukturelle Position herausgehoben. Ferner war das LdL-Projekt mein Baby, und die Kerngruppenmitglieder hatten im Gegensatz zu mir auch andere Interessen als nur Schule und LdL. Die Konflikte in der Kerngruppe, die auch mit Konkurrenz zu tun hatten, bekam ich nicht wirklich mit. Erst im Rahmen der Supervisionen kam zum Vorschein, dass es so etwas geben konnte, aber rückblickend empfinde ich die Zusammenarbeit, die immerhin mehr als dreizehn Jahre dauerte, als wenig problembeladen. Emotional gab uns die Arbeit in der Kerngruppe sehr viel, das bestätigten die Kollegen auf unseren Treffen immer wieder. Die Mitglieder beschrieben die Gruppe als eine Art Rückzugsmöglichkeit, in der man offen alle Probleme angehen könne und viel Hilfe und Zuwendung bekomme. Schließlich hatten die ganzen Kämpfe und öffentliche Auftritte ein großes Solidaritätsgefühl aufkommen lassen. Ich persönlich verfolgte mit der Kerngruppe ein weiteres Ziel und wollte den Kollegen den Eindruck vermitteln, dass weitere, „höhere“ Aufgaben vor uns standen, die auch für ihre persönliche Entwicklung von Bedeutung sein könnten. Damals brachte ich den Aktionsforschungsansatz ins Spiel, bei dem in der Praxis tätige Lehrer unter Anleitung eines Wissenschaftlers ihren Unterricht erforschen und optimieren. Das Konzept wurde zwar angegangen, aber nicht weiterverfolgt. Der Aufwand war meinen Kollegen zu hoch, was ich auch verstehen kann. Ich wollte aber vor allem dafür sorgen, dass immer wieder neue Aufgaben für die Kerngruppen bestanden, damit sie sich nicht auflöse. Eine Idee, die die Kerngruppe längere Zeit verfolgte, die mir aber von Anfang an unrealistisch erschien, war, dass wir ein Institut gründen sollten, mit Fortbildungs- und Zertifikatsangebot. Wir sollten Lehrer in LdL ausbilden. Die Idee war zwar nicht schlecht, aber nicht realisierbar, denn alle waren ohnehin schon zeitlich ganz ausgebucht. Wie hätte die Kerngruppe so etwas noch schultern können? Die Kerngruppenmitglieder hielten längere Zeit an dieser Idee fest, bis die Gruppe sich nach dem 13. LdL-Bundestreffen im Juli 2000 recht undramatisch auflöste. Bis zuletzt investierten die Mitglieder enorme Energien und nicht unerhebliche finanzielle Mittel, ohne jemals dafür materiell entlohnt zu werden. Ideell umso mehr, denn durch den Einsatz der LdL-Kollegen wurde die Methode bekannt.

Aus bedürfnistheoretischer Sicht

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Ich denke, dass nicht nur ich meine Bedürfnisse nach sozialer Einbindung, sozialer Anerkennung, Selbstverwirklichung und Sinn im Rahmen unseres LdL-Projektes befriedigen konnte, sondern auch die Menschen, die sich dort einbrachten.