Kurs:Mittelhochdeutsch/Hartmann von Aue: Der arme Heinrich

Hartmann von Aue

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Die Textgrundlage für diese Übersetzung ist: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Herausgegeben von Hermann Paul. Neu bearbeitet von Kurt Gärtner. 17., durchgesehene Auflage. Tübingen: Max Niemeyer 2001 (Altdeutsche Textbibliothek 3).

(1-28) Vom armen Heinrich. Ein Ritter war so gebildet, dass er in den Büchern lesen konnte, was dort geschrieben stand. Der wurde Hartmann genannt und war Lehnsmann in Aue. Er las in verschieden Büchern; darin begann er zu suchen, ob er nicht etwas finden könne, womit er schwere Stunden erträglicher machen könnte und solch geartete Sachen, die Gottes Ruhm vergrößerten und damit er sich zugleich bei den Leuten beliebt machen könnte. Nun beginnt er euch eine Geschichte, die er geschrieben fand, zu deuten. Deshalb hat er sich genannt, damit er für seine Arbeit, die er darauf verwendet hat, nicht ohne Lohne bleibe, und wer nach seinem Tod die Geschichte hört oder liest, dass er für sein Seelenheil bei Gott bittet. Man sagt, dass der sein eigener Bote sei und sich damit selbst erlöst, wer für die Schuld des anderen bittet.

Haupttext

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(29-46) Er las genau diese Geschichte, wie ein Herr in Schwaben gesessen wäre: An dem war keine der Tugenden vergessen worden, die ein Ritter in seiner Jugend zu vollem Lob haben soll. Man sprach da von niemandem so gut in allen den Ländern. Er hätte zu seinen Händen Geburt und Reichtum; auch war seine Tugend sehr umfassend. Wie groß sein Besitz auch war, wie seine Geburt unwandelbar und den Fürsten gleich, so war er doch längst nicht so reich und an Geburt und Besitz wie an Ansehen und Gesinnung.

(47-74) Sein Name war genug erkennbar: Er hieß Herr Heinrich und war von Aue geboren. Sein Herz hatte Falschheit und aller Rohheit abgeschworen, und behielt auch fest den Eid beständig bis ans Lebensende. Ohne allen Makel stand sein Ansehen und sein Leben. Ihm war der rechte Wunsch nach weltlichen Ehren gegeben; die verstand er zu vermehren mit allen seinen Tugenden. Er war eine Blume der Jugend, der Weltfreude ein Spiegelglas, beständiger Treue ein Diamant, eine ganze Krone der Erziehung. Er war den Notbedürftigen Zufluchtsort, ein Schild seinen Verwandten, in der Freigiebigkeit eine ebene Waage: An ihm war weder zu viel, noch fehlte etwas. Er trug die beschwerliche Last des Ansehens auf seinem Rücken. Er war des Rates eine Brücke und sang sehr gut von Minne. Auch konnte er gewinnen das Lob und den Beifall der Welt. Er war höfisch gebildet und weise.

(75-96) Als Herr Heinrich also genoss Ehren und Besitz und eine fröhliche Gesinnung und weltliche Freuden - er wurde vor allen seinen Verwandten gepriesen und geehrt - , da wurde sein Hochmut verkehrt in ein gar niederes Leben. An ihm wurde gezeigt, wie auch an Absalon, dass die üppige Krone weltlicher Süße unter die Füße fällt von ihrer höchsten Würdigkeit, wie uns die Schrift gesagt hat. Es spricht an einer Stelle dort: „mêdiâ vîtâ in morte sûmus.“[1] Das deutet sich so, dass wir im Tod schweben, so wir am aller besten zu leben glauben.

(97-132) Die Festigkeit dieser Welt, ihre Beständigkeit, ihre Perfektion und ihre größte Macht hat nämlich keine Meisterschaft. Das können wir an der Kerze sehen als einem wahren Beispiel sehen, dass sie zur Asche wird inmitten dass sie Licht ausspendet. Wir sind von gebrechlichem Stoff. Nun seht, wie unser Lachen mit Weinen erlischt. Unsere Süße ist gemischt mit bitteren Gallen. Unsere Blume muss fallen so sie am aller grünsten zu sein scheint. Am Herrn Heinrich wurde wohl ersichtlich: Der in der höchsten Würde auf dieser Erde lebt, der ist der Verschmähte vor Gott. Er fiel durch sein Gebot von seiner höchsten Würde in ein schmähliches Leid: Ihn ergriff der Aussatz.[2] Als man die schwere Gottesstrafe an seinem Körper ersah, da wurde er da Mann und Frau widerwärtig. Nun seht, wie genehm er zuvor der Welt war, er wurde ihr nun zuwider, zu Heu wurde sein grünes Gras, der zuvor der Welt ihr Fahnenträger gewesen war, dass ihn niemand mehr gerne sah; als auch Hiob geschah, dem edlen und mächtigen, der auch viel jämmerlich dem Unrat zuteil wurde inmitten seines Glücks.

(133-162) Als der arme Heinrich zuerst verstand, dass er der Welt widerlich war, als alle die ihm gleichen tun, da unterschied ihn in seiner Verbitterung von Hiobs Geduld. Weil der gute Hiob sein Leiden mit Geduld trug, als es ihm zum Leiden geschah, um des Seelenheils willen ertrug er die Krankheit und die Schwachheit, die er von der Welt erlitt; dafür lobte er Gott und freute sich. Da verhielt sich der arme Heinrich leider nicht so; er war traurig und unglücklich. Sein fliegendes Herz, das versank, seine schwimmende Freude ertrank, sein Übermut musste fallen, sein Honig wurde zur Gallen. Ein kurzer, dunkler Donnerschlag zerbrach in seinem mitten Tag, eine trübe und dunkle Wolke verdeckte ihm den Anblick der Sonne. Es schmerzte ihn sehr, dass er so viele Ehren hinter sich müsste lassen. Verflucht und verwünscht wurde sehr oft der Tag, an dem er geboren worden war.

(163-204) Ein wenig freute er sich doch über einen Trost; weil ihm wurde oft gesagt, dass diese Krankheit sehr unterschiedlich und in manchen Fällen heilbar wäre. Deshalb machte er sich Hoffnungen und viele Gedanken. Er glaubte, dass er vielleicht heilbar sei, und fuhr also schnell für den Rat der Ärzte nach Montpellier[3]. Dort fand er sehr schnell nur die Enttäuschung, dass er nimmer würde erlöst. Das hörte er ungern und fuhr nach Salerno[4] und suchte auch dort um der Heilung willen die Kunst der weisen Ärzte. Den besten Meister, den er dort fand, der sagte ihm sofort eine seltsame Kunde, dass er heilbar wäre und doch immer ungenesen bleiben müsste. Da sprach er: „Wie kann das sein? Die Rede ist sehr unmöglich. Bin ich heilbar, so werde ich auch genesen; was auch immer mir vorgelegt wird an Besitz oder an Arbeit, dass traue ich mir zu vollbringen.“ „Nun lass die Hoffnung fahren“, sprach der Meister da, „mit eurer Krankheit verhält es sich so: - was nützt es euch, dass ich es euch kund tue? - da gehört Arznei zu, davon würdet ihr geheilt. Nun ist aber niemand so reich noch von so starkem Willen, dass er sie gewinnen könnte. Deshalb werdet ihr immer ungenesen sein, es sei denn Gott selbst wolle euer Arzt sein.“

(205-232) Darauf sprach der arme Heinrich: „Warum nehmt ihr mir meinen Trost? Ja, ich habe Besitz und Macht; wenn ihr nicht gegen eure Kunst und euer Recht verstoßen wollt und dazu mein Silber und mein Gold nicht zurückweist, ich werde mich euch so holt machen, dass ihr mich sehr gerne heilt.“ „Ich würde es gerne machen“, sagte der Meister aber da, „und wäre die Arznei so, dass man sie käuflich finden könnte oder mit einer Kunst erwerben, ich würde euch nicht verderben lassen. Nun kann das leider nicht sein; deshalb muss euch meine Hilfe trotz aller Not versagt sein. Ihr müsst eine Jungfrau haben, im heiratsfähigen Alter und die den Willen hätte, dass sie den Tod für euch erleidet. Nun ist es nicht die Sitte der Leute, dass es jemand gerne tut. So gehört auch nichts anderes dazu, als das Herzblut der Jungfrau; das wäre für eure Krankheit gut.“

(233-280) Nun erkannte der arme Heinrich, dass das wäre unmöglich, dass jemand den erwürbe, der gerne für ihn stürbe. So wurde ihm sein Trost genommen auf Grund dessen er dorthin gekommen war, und darnach für die selbe Frist, so hatte er zu seiner Genesung keine Hoffnung mehr. Davon wurde sein Herzschmerz so kräftig und groß, dass ihn das am allermeisten verdross, dass er länger sollte leben. Nun fuhr er heim und begann zu geben sein Erbe und auch seinen beweglichen Besitz, als ihn da seine Gesinnung und weiser Rat lehrte, so dass er es am aller besten wendete. Er begann angemessen seine armen Verwandten reich zu machen und tröstete auch fremde Arme, so dass sich Gott erbarmen möchte für sein Seelenheil; Gottes Häusern fiel das andere Teil zu. So trennt er sich von seinem früheren Besitz bis auf eine Rodung; dahin floh er vor den Menschen. Diese jämmerliche Geschichte war nicht allein Anlass für seine Klage; ihn beklagten alle die Länder, in denen er bekannt war, und auch fremde Länder, die ihn aus Berichten kannten. Der zuvor diese Rodung und auch danach noch bewirtschaftete, das war ein freier Bauer, der sehr selten je gewann ein großes Ungemach, was die anderen Bauern doch erfahren hatten, die schlechter dran waren mit ihren Herren, die sie nicht mit Steuern und Abgaben verschonten. Was auch immer dieser Bauer gerne tat, das erschien seinem Herrn genug; dazu schützte er ihn, dass er keine Not von fremder Gewalt erlitt.

(281-294) Deshalb war kein anderer Bauer in dem Lande so reich. Zu diesem Bauern zog sich sein Herr, der arme Heinrich, zurück. Was auch immer er ihm zuvor erspart hatte, wie gut wurde das nun vergolten, und wie schon er das nun genoss! Denn ihn verdross, was er um seinetwillen tun musste. Er hatte die Treue und auch den Willen, dass er sehr willig den Kummer und die Mühen ertrug, die er tragen musste. Er schuf ihm ein reiches Gemach.

(295-314) Gott hatte dem Meier nach seiner Art ein reines Leben gegeben. Er war fleißig und hatte eine recht schaffende Frau, dazu hatte er schöne Kinder, die ganz die Freude des Mannes sind. Darunter hatte er, wie man sagt, ein Mädchen, ein Kind von acht Jahren. Dass verhielt sich so recht gütlich. Die wollte sich nie auch nur einen Fußbreit von ihrem Herren trennen. Um seine Huld und seinen Gruß willen, diente sie ihm alle Wege mit ihrer gütlichen Art. Sie war auch so liebreizend, dass sie mit ihrer Schönheit gut das Kind des Kaisers hätte sein können.

(315-348) Die anderen hatten die Absicht, dass sie ihm - wenn möglich - aus dem Weg gingen; sie aber eilte zu jederzeit zu ihm hin und nirgendwo anders hin. Sie war seine ganze Unterhaltung. Sie hatte ihr Gemüt mit der reinen Kindergüte ihrem Herrn zugewandt, so dass man sie zu jederzeit zu seinen Füßen fand. Mit süßem Eifer verweilte sie bei ihrem Herren. Dazu erfreute er auch sie, womit auch immer er konnte und was dem Mädchen bei ihrem kindlichen Spiel nützte. Davon schenkte der Herr ihr viel. Auch half ihm dabei sehr, dass die Kinder so leicht an etwas zu gewöhnen sind. Er erwarb für sie alles, was er angeboten fand, Spiegel und Haarband, und was Kindern lieb sein sollte, Gürtel und Fingerring. Durch seine Bemühung brachte er sie dahin, dass sie ihm so vertraut war, dass er sie seine Braut nannte. Das gute Mädchen ließ ihn selten allein bleiben, er schien ihr sehr ehrlich. Wie sehr ihr dazu auch die kindlichen Geschenke verholfen haben, so bewegte sie dazu doch am allermeisten ein süßer Geist durch die Gabe Gottes.

(349-369) Ihr Dienst war so gütig. Als der arme Heinrich sich drei Jahre dort aufgehalten hatte und ihn Gott mit großem Schmerz am Körper quälte, da saßen der Meier und seine Frau und ihre Tochter, das Mädchen, von der ich euch erzählt habe, bei ihm in ihrer Unermüdlichkeit und beweinten das Leid ihres Herren. Die Klage musste wohl aufkommen, denn sie fürchteten, dass sein Tod sie sehr schädigen und sogar sie um ihr Ansehen und ihren Besitz bringen würde und dass ein anderer Herr von strengerer Gesinnung sein würde. Sie dachten solange daran, bis der selbige Bauer zu fragen begann.

(...)

Lesezeichen

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(1519-1520) Den Lohn, den sie da erhielten, dazu verhelfe uns Gott! Amen.

Alternativen

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  • Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, übers. von Siegfried Grosse, hg. von Ursula Rautenberg (Reclam), Stuttgart 2005.

Anmerkungen

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  1. Lateinisch: Mitten im Leben schweben wir im Tod. Siehe auch Media vita in morte sumus.
  2. Siehe unter Lepra.
  3. Neben Salerno das medizinische Zentrum des Hochmittelalters.
  4. Siehe auch unter Schule von Salerno
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