Wikiversity:Fellow-Programm Freies Wissen/Einreichungen/Open Interviews/Interviews/Apel
Archivierung und Nutzung von Interviews in der Werkstatt der ErinnerungBearbeitenInterview mit Linde Apel von Andreas MöllenkampBearbeitenDas Interview wurde im Rahmen des Forschungsprojekts Open Interviews. Auf dem Weg zur Öffnung qualitativer Interviewforschung zwischen Januar und Mai 2019 per Email geführt. Das Projekt wurde durch das Fellow-Programm Freies Wissen vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Wikimedia Deutschland und der VolkswagenStiftung gefördert. Dr. Linde Apel (LA) ist Leiterin der Werkstatt der Erinnerung, einem Oral-History-Archiv, das an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) angesiedelt ist. Das Archiv ist 1989/90 aus dem Projekt „Hamburger Lebensläufe – Werkstatt der Erinnerung“ hervorgegangen. Das Projekt hatte das Ziel, die Erinnerungen der Verfolgten des NS-Regimes in Hamburg zu dokumentieren und sie der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Der Bestand umfasst mehr als 2000 Interviews sowie ergänzende Materialien wie Fotos, schriftliche Lebensberichte und weitere persönliche Dokumente. Andreas Möllenkamp (AM) ist Kultur-, Musik- und Medienwissenschaftler an der Universität Hamburg. AM: In der Werkstatt der Erinnerung sind über 2000 lebensgeschichtliche Interviews archiviert, die nicht nur Erinnerungen von Verfolgten des NS-Regimes in Hamburg beinhalten, sondern auch viele weitere Aspekte der deutschen und hamburgischen Zeitgeschichte vom Beginn der Weimarer Republik bis in die Gegenwart berühren. Wie werden diese Interviews im Archiv genutzt? Was wissen Sie über die Nutzerinnen und Nutzer der Werkstatt der Erinnerung? LA: Wir wissen ein wenig über die NutzerInnen der Interviews, weil wir sie bitten, uns über die Gründe ihrer Recherche zu informieren. Überwiegend sind es Anfragen mit einem akademischen, geschichtswissenschaftlichen Hintergrund, also WissenschaftlerInnen, die alle Arten von Qualifikationsarbeiten schreiben, auch Studierende für Haus- oder Abschlussarbeiten, aber auch MuseumsmitarbeiterInnen/freie MitarbeiterInnen, die für Ausstellungen recherchieren. Dann gibt es NutzerInnen, die aus der Pädagogik kommen, SchülerInnen und LehrerInnen, häufig im Kontext des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten. Eine große Gruppe gibt als Grund der Nutzung erinnerungskulturelle Aktivitäten an, dazu gehören z.B. diejenigen, die biographische Recherchen im Vorfeld von "Stolperstein"-Verlegungen machen, KünstlerInnen, die für Romane, Theaterstücke oder ähnliches recherchieren, JournalistInnen gehören zu den Nutzern und nicht zuletzt Personen, die Familienforschung betreiben. Die FZH stellt seit einigen Jahren ihre Rechenschaftsberichte online, die Teil des Newsletters sind. Dort finden Sie auch detaillierte Angaben zur Werkstatt der Erinnerung. http://www.zeitgeschichte-hamburg.de/index.php/jahresberichte.html AM: Sie haben die Werkstatt der Erinnerung in einem Artikel einmal selbst als „sehr altmodisch“ bezeichnet, da es ein Präsenzarchiv ist, keine Online-Recherche ermöglicht und die archivierten Interviews nur vor Ort eingesehen bzw. angehört werden. Was sind bzw. waren eigentlich die Gründe für diese ausschließliche Präsenznutzung? LA: Ihre Frage könnte ich sehr kurz oder sehr lang beantworten. Ich wähle, vielleicht ja auch in Ihrem Interesse, eine mittlere Variante. Es gibt mehrere Gründe für die bisherige ausschließliche Präsenznutzung, die sich aber alle auf einen Faktor zurückführen lassen. Aber von Anfang an: Vielen der Interviews, die hier archiviert werden, fehlt eine Einverständniserklärung. D.h. die Interviewten wurden nicht gefragt, ob sie mit der Archivierung und der Folgenutzung durch andere Personen in anderen Kontexten einverstanden wären. Andere Interviews liegen hier lediglich als analoge, anonymisierte Typoskripte vor. Die Oral History wurde vor 30 bis 40 Jahren zwar sehr engagiert, aber weniger zukunftsorientiert geführt. Folgenutzung, Archivierung, Sekundäranalyse, lauter Themen, die heute und seit Jahren aktuell sind, wurden damals nicht mitgedacht. Das kann man kritisieren, wird aber verständlich, wenn man weiß, wie aufwändig es ist, Interviewpartner zu finden, Interviews durchzuführen, sie zu transkribieren, von der Auswertung einmal ganz abgesehen. Auch wurden Interviews geführt, als es das Internet zwar schon gab, die Vorstellung aber, es könnte die Bedeutung und Verbreitung haben, die es heute hat, allen noch sehr fern lag. Hinzu kommt, dass sich die Werkstatt der Erinnerung von einem zeitlich befristete Forschungsprojekt zu einem öffentlich zugänglichen Interviewarchiv entwickelt hat, ohne dass eine archivalische Infrastruktur mitfinanziert wurde/wird. Heute werden bestenfalls alle Interviewten danach befragt, ob sie mit einer Präsentation ihres Interviews oder von Teilen davon im Internet einverstanden wären. Viele sind es nicht. Nun könnte man argumentieren, dass ein Lesesaal ebenso öffentlich ist wie ein geschützter Raum im Internet. Das berührt den größeren Bereich der Einverständniserklärungen und den Kontext, in dem sie zustande kommen. Wichtig ist, den Interviewten entgegen zu kommen, auch wenn ihre Befürchtungen vielleicht auf einem einseitigen Bild des Internets beruhen. Die kurze Antwort wäre: Uns fehlt das Geld, die Interviews so aufzubereiten, dass sie nicht nur online recherchierbar sondern auch einsehbar wären. Der unverhoffte Vorteil davon ist, dass wir uns damit für die bewahrenswerten Kulturgüter Archivreise bzw. Forschungsaufenthalt stark machen. AM: Sie nehmen ja nach wie vor auch thematisch passende Interviews ins Archiv auf. Was bräuchten Sie, damit diese in Zukunft online recherchier- und einsehbar sein könnten? Wie müssten Einverständniserklärungen aussehen, die den Online-Zugang und eine entsprechende Nutzung ermöglichen? LA: Um Interviews in Zukunft online zu stellen bräuchten wir die entsprechende Infrastruktur. Die Einverständniserklärungen müssten dann auf die Möglichkeiten hinweisen, die die Infrastruktur bietet. AM: Könnten Sie sich vorstellen, (in Zukunft) eine bestehende Forschungsdateninfrastruktur für die Werkstatt der Erinnerung zu nutzen? Die Forschungsstelle für Zeitgeschichte ist ja eine wissenschaftliche Einrichtung an der Universität Hamburg. Dort gibt es ein Zentrum für nachhaltiges Forschungsdatenmanagement. Darüber hinaus wird im Bereich qualitativer Sozialforschung (Qualiservice, aviDa) sowie auf nationaler und europäischer Ebene an Forschungsdateninfrastrukturen gearbeitet. LA: Das möchte ich auf keinen Fall ausschließen. Kooperationen sind immer nützlich, erhöhen die Wahrnehmung und führen zu den berühmten und so wichtigen Synergieeffekten. Tatsächlich bin ich bereits über das Thema in Gespräch. Als Angehörige einer „Nachbardisziplin“ war ich von der DFG und dem Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie an der HU Berlin zu einem Rundgespräch „Forschungsdatenmanagement in den ethnologischen Fächern. Problemlagen und Handlungsbedarf“ eingeladen. Dort wurde sich zum einen über praktische und forschungsethische Fragen ausgetauscht, aber auch ausgiebig über die Frage diskutiert, was Forschungsdaten eigentlich sind. Denn sowohl die Oral History als auch die ethnologischen Disziplinen arbeiten grundlegend auf der Basis von qualitativer Forschung. AM: Was sind bei der Frage nach möglichen Kooperationspartnern für eine Online-Infrastruktur zur Archivierung und Nachnutzung für Sie und die Werkstatt der Erinnerung denn die wichtigsten Kriterien? LA: Neben den Basics, also einem geklärten Finanzierungskonzept, einem Konzept über den Umgang mit personenbezogenen Daten und dem Nachweis, wie Datenverluste zu minimieren, bzw. verhindern sind, ist das wichtigste Kriterium für die Auswahl eines Kooperationspartners ein umfassendes Verständnis für Oral History, d.h. die Daten sollten nicht nur als Forschungsdaten, sondern als Quellen betrachtet werden, die bestenfalls mit ihrem Forschungskontext erhalten werden. Das würde auch ein Verständnis für spezifische Probleme und Kennzeichen von Forschungsprojekten voraussetzen, in denen Interviews entstehen. Daraus ergibt sich als weitere Bedingung, sich auf zahllose Einzelfälle und Ausnahmen einlassen zu können, darunter die, dass es eine Reihe von nicht mündlichen, bzw. audiovisuellen Begleitmaterialien, wie Schrift- und Bildquellen gibt. Zentral wäre auch eine lange Bereitstellungsdauer sowie ein differenziertes Zugangsmanagement. Die Uni Hamburg garantiert in ihrem Repositorium für Forschungsdaten eine Aufbewahrungszeit von mindestens 10 Jahren. Interessantes Verständnis von Nachhaltigkeit… Denn dieser Zeitraum ist für eine Historikerin natürlich lächerlich kurz! Wir haben hier in der Werkstatt der Erinnerung Interviews aus den späten Siebziger Jahren - und auch alle anderen sollten bitte und werden auch länger als 10 Jahre aufbewahrt. Werden hier vielleicht disziplinäre Unterschiede deutlich? Auch ein Grund, warum ich im Fall von Interviews lieber von mündlichen Quellen spreche und nicht von Forschungsdaten. AM: Wie würde für Sie und die Werkstatt der Erinnerung die ideale Online-Infrastruktur für Interviews bzw. mündliche Quellen aussehen? Wo sollte sie angesiedelt sein (bei den Institutionen, bei Fachgesellschaften, internationalen Organisationen (UNESCO) oder auf Länder-, nationaler oder europäischer Ebene?) Sehen Sie fach- oder materialspezifische Potentiale für die Oral History-Forschung bei der Entwicklung von entsprechenden Online-Infrastrukturen? LA: Bisher gibt es noch nicht einmal eine Übersicht im nationalen Rahmen über alle Einrichtungen, an denen es Interviews gibt. Bei einer Online-Infrastruktur müsste man also sehr klein anfangen. Daher würde ich zur Zeit dafür plädieren, die Einrichtungen auf nationaler Ebene miteinander zu verknüpfen. Dazu müssten rechtliche und forschungsethische Fragen geklärt sein, die sich auf den Schutz von Persönlichkeitsrechen beziehen. Wie etwa soll man damit umgehen, dass Interviewende in der Regel keine Einverständniserklärung unterschrieben haben, in der sie die Verwendung ihrer „Daten“ regeln. Wie damit, dass auch Interviewte dazu häufig nicht befragt wurden. Eine strenge Anonymisierung hilft nicht zwingend weiter. Die Schaffung eines virtuellen Lesesaal könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein - auch wenn ich damit gegen die Archivreise argumentiere, die ich für eine schützenswerte Kulturtechnik halte. Potenziale sehe ich ebenso wie Herausforderungen. Oral History-Interviews sind keine quantitativen Daten, sondern eignen sich eher für eine qualitative und eben nicht repräsentative Auswertung. Die Vorteile überwiegen meines Erachtens aber deutlich, zumal eine Online-Infrastruktur einen multidisziplinären Zugriff stärken würde. AM: Die Werkstatt der Erinnerung ist Mitglied im Netzwerk Mediatheken, das audiovisuelle Quellen und Materialien als bedeutende Kulturgüter sichern, bewahren, erschließen und über das Internet zugänglich machen möchte. Was gibt es aus Ihrer Sicht, nicht nur im technischen, sondern im weiteren Sinne, noch zu tun? LA: Mit der Deutschen Digitalen Bibliothek bin ich derzeit im Gespräch, ob und wie unsere Bestände darüber zugänglich - oder zumindest breiter bekannt gemacht werden könnten. Aber: Wir sind eine kleine Einrichtung mit einer Vielzahl von Aufgaben und die Leitung der Werkstatt der Erinnerung ist eben nur eine davon. AM: Herzlichen Dank.
Möllenkamp, Andreas & Apel, Linde (2019): Archivierung und Nutzung von Interviews in der Werkstatt der Erinnerung. https://de.wikiversity.org/wiki/Wikiversity:Fellow-Programm_Freies_Wissen/Einreichungen/Open_Interviews/Interviews/Apel DOI: 10.25592/uhhfdm.121 |