Bamberger Einführung in die Geschichte des Islams (BEGI) 11
11. Entwicklung und Höhepunkt des modernistischen Islams (1813-1924)
Das Vordringen der europäischen Mächte in die islamische Welt zwingt die Muslime zum Umdenken. In Ägypten und Indien entstehen unter britischer Herrschaft islamisch-modernistische Denkschulen. Als Antwort auf den europäischen Imperialismus entwickelt sich der Panislamismus. Bedeutende Umbrüche sind das Ende des osmanischen Kalifat und die saudische Eroberung des Hedschas.
11.1. Die ägyptische Zwischenzeit (1813-1840)
11.1.1. Die indischen „Wahhabiten“
Im Jahre 1818 eroberten die ägyptischen Truppen Muhammad ʿAlīs ad-Dirʿīya, die Hauptstadt der Āl Saʿūd, und zerstörten sie. Damit ging der erste saudische Staat unter. Das wahhabitische Gedankengut hatte sich zu dieser Zeit aber bereits weit über die Grenzen Arabiens verbreitet. In Bengalen entstand um 1818 die sogenannte Farā'idī-Bewegung, die, wie der Name sagt, Wert auf die religiösen Pflichten, Farā'id, der Muslime legt. Ihr Gründer, Hāddschi Scharīʿatallāh hatte während seines Haddsch und dem anschließenden Aufenthalt in Mekka den Islam der Wahhabiten kennengelernt. Als er von dort zurückkam, predigte er den Bauern in Bengalen die Ablehnung der Hindu-Riten und die alleinige Autorität des Korans und der Aussprüche des Propheten. Die Farā'idī-Bewegung erfasste ganz Bengalen und wurde von Scharīʿatallāhs Sohn Dūdhū Miyān (gest. 1860) fortgeführt, der sie zu einer revolutionären Bewegung weiterentwickelte. Er verkündete die Lehre, dass alles Land Gott gehörte und Eigentum derer sein sollte, die es bebauten, ohne dass sie verpflichtet wären, Steuern zu zahlen.
Ebenfalls von den Wahhabiten beeinflusst war die nordindische Bewegung des Saiyid Ahmad Barelwī (gest. 1831), die sich selbst als Tarīqa Muhammadīya („muhammadanischer Pfad“) bezeichnete. Saiyid Ahmad meinte, dass sich die Muslime im privaten und sozialen Leben von den Einflüssen des Hinduismus lösen müssten, um ihre Gemeinschaft erhalten zu können. Er predigte gegen die Teilnahme der Muslime an Pilgerfahrten zu den heiligen Stätten der Hindus, die Verehrung von Hindu-Gottheiten, das Mitschreien von Wahlsprüchen der Hindus, das Feiern von Hindu-Festen und die Konsultation von Brahmanen im Hinblick auf gute oder schlechte Omina. In seinen Predigten wandte er sich auch gegen islamische Bräuche, die er für Entlehnungen aus dem Hinduismus hielt, wie etwa das Verbot der Wiederverheiratung von Witwen, den übertriebenen Aufwand bei Hochzeiten oder andere Feierlichkeiten, und gegen Hindu-Moden, wie das Tragen von Zöpfen oder die Durchbohrung der Ohren und Nasen bei den Frauen, um Schmuck zu befestigen, oder das Abrasieren der Haare und Augenbrauen nach dem Vorbild der Yogis.
Nach einem Aufenthalt in Mekka von 1821 bis 1824 verfolgte Saiyid Ahmad Barelwī ein noch weitergehendes politisches Ziel, nämlich die Errichtung eines neuen islamischen Staates durch Dschihad. Als Ausgangspunkt für seine Dār al-Hidschra wählte er das Nordwestliche Grenzland aus. Das von ihm gegründete Gemeinwesen brach allerdings schon nach kurzer Zeit unter dem Ansturm der Sikhs zusammen. Saiyid Ahmad und seine führenden Männer wurden dabei getötet, doch verbreitete sich seine Organisation in der Folgezeit über ganz Indien und hielt sich noch jahrzehntelang nach seinem Tode. Die anderen indischen Muslime und auch die Vertreter der Britischen East India Company bezeichneten die Anhänger Saiyid Ahmads als „Wahhabiten“. Das war allerdings nur ein Kampfbegriff, mit dem diese Gruppe desavouiert werden sollte. Sie selbst verwendeten diesen Begriff nicht, auch wenn sie von einigen Ideen Ibn ʿAbd al-Wahhābs beeinflusst waren.
11.1.2. Islamische Widerstandsbewegungen gegen die europäische Expansion
Es war auch ein von Saiyid Ahmad beeinflusster Gelehrter, Tītū Miyān, der in Indien die erste nennenswerte Widerstandsbewegung gegen die britische Kolonialmacht organisierte. Tītū Miyān war 1822 mit Saiyid Ahmad bei der Wallfahrt in Mekka zusammengetroffen und wurde von ihm in die Tarīqa Muhammadīya eingeführt. Nach seiner Rückkehr nach Bengalen rief Tītū Miyān dort nicht nur zur Bekämpfung von Schirk und Tawassul auf (vgl. oben 10.1.8.), sondern auch zum Aufstand gegen die hinduistischen Grundbesitzer, die mit der britischen Kolonialmacht zusammenarbeiteten. Tītū Miyān beherrschte eine Zeitlang drei Verwaltungsbezirke Bengalens und besiegte mehrmals kleinere britische Truppenabteilungen, bis er schließlich 1831 von einer britischen Übermacht überwältigt und getötet wurde.
Widerstand gegen die europäische Expansion gab es auch in Südostasien. Zwischen 1809 und 1830 dehnten hier die Niederländer zur Wahrung ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen ihren Kolonialbesitz ständig weiter aus; Java, Sumatra und andere Inseln des Archipels kamen in dieser Zeit zum großen Teil unter direkte niederländische Kontrolle. Unter denjenigen islamischen Gruppen, die Widerstand gegen die zunehmende koloniale Durchdringung, waren die Padris in Westsumatra (vgl. oben 10.2.1.) die bedeutendste. Die sogenannten Padri-Kriege dauerten bis 1839. Erst in diesem Jahr gelang es den Niederländern, Bonjol, das letzte Bollwerk der Padris einzunehmen.
Was die russische Expansion in den Kaukasus anlangt, so regte sich auch dort Widerstand im Namen des Islam. Schon 1820 hatte Sultan Ahmad-Chān von Awarien zum Dschihad gegen Russland aufgerufen, sein Territorium war jedoch daraufhin 1821 von Russland besetzt worden. Nachdem ein zweiter russisch-persischer Krieg (1826-28) weitere kaukasische Territorien (Jerewan, Nachitschewan) unter russische Herrschaft gebracht hatte, gelang es den drei Naqschbandī-Gelehrten Ghāzī-Muhammad, Hamzat-Bek und Schāmil in den 1830er Jahren, die lokalen Partikularismen der verschiedenen nordkaukasischen Einzelvölker zu überwinden und den Widerstand gegen Russland unter einer gemeinsamen Führung erfolgreich zu bündeln. Eine wichtige Rolle bei der nordkaukasischen Widerstandsbewegung spielte auch der Kampf gegen das von den lokalen Fürsten angewandte Gewohnheitsrecht (ʿUrf); allein die Scharia sollte bei den verschiedenen Rechtsfragen angewandt werden. Der seit 1834 regierende dritte Imam Schāmil baute in den Gebieten von Tschetschenien und Daghestan einen hierarchisch geordneten islamischen Staat mit zahlreichen „Statthaltern“ (nuwwāb) auf. Er wurde erst 1859 von der zaristischen Armee niedergekämpft und dem Russischen Reich einverleibt.
Eine weitere Widerstandsfront gegen die europäische Expansion bildete sich in Nordafrika. Dort hatten 1830 französische Truppen Teile des heutigen Algeriens besetzt. Ihnen trat der Qādirīya-Sufi ʿAbd al-Qādir ibn Muhyī d-Dīn entgegen. Er wurde im November 1832 von mehreren arabischen und beberischen Stämmen bei Mascara zum Emir gewählt und organisierte einen Dschihad gegen die Franzosen. In seiner Widerstandsbewegung spielte auch die Darqāwābruderschaft eine wichtige Rolle. Erst im Jahre 1847 musste er sich den französischen Truppen ergeben. Später, im Jahre 1871, formierte sich mit der Mokrani-Revolte noch einmal eine sufische Widerstandsbewegung gegen die französische Kolonialherrschaft. Sie wurde maßgeblich von der Rahmānīya, einem Zweigorden der Chalwatīya, getragen.
11.1.3. Das Modell des neuen Ägyptens
Als „ägyptische Zwischenzeit“ kann der Zeitraum zwischen 1813 und 1840 deshalb bezeichnet werden, weil in dieser Periode die beiden Heiligen Stätten des Islams unter der Herrschaft des faktisch unabhängigen ägyptischen Staates standen und auch die Scherifen von Mekka weitgehend entmachtet waren. Unter diesen Umständen entwickelte sich das Ägypten von Muhammad ʿAlī zu einem für alle Muslime sichtbaren Modellstaat. Die Entwicklungen in Ägypten hatten insofern eine besondere Qualität, weil Muhammad ʿAlī 1816 ein umfassendes Programm zur Modernisierung und Industrialisierung des Staates startete, für das er Experten aus Europa in seinen Dienst nahm. Die ʿUlamā' wurden dagegen eher marginalisiert.
Unter Muhammad ʿAlīs Führung entwickelte sich Ägypten in den folgenden Jahrzehnten zu einer bedeutenden Regionalmacht: im Süden wurden 1821 das Sultanat Sinnār und Kordofan erobert, 1823 erfolgte die Gründung der neuen Stadt Khartum, 1824-1827 im Zusammenhang mit dem Befreiungskampf der Griechen die Besetzung von Kreta und Athen. Im Jahre 1831 ließ Muhammad ʿAlī die ägyptische Armee gegen seinen Oberherrn, den osmanischen Sultan, marschieren; dabei eroberte er das gesamte geographische Syrien einschließlich Palästinas.
Um das Wohlwollen der europäischen Mächte, insbesondere Englands, für seine Expansionspolitik zu gewinnen, beseitigte er in den eroberten Gebieten die Diskriminierung von Angehörigen nicht-muslimischer Gemeinschaften. Sie wurden zu gleichberechtigten, ja teilweise zu privilegierten Untertanen des neuen Herrschers. Auch erleichterte er den Europäern das religiös-kulturelle Eindringen, indem er die Ausweitung und Institutionalisierung christlich-missionarischer Aktivitäten gestattete. Damit setzte er neue Maßstäbe, an denen sich zukünftige islamische Staaten zu messen hatten.
In den Jahren 1837-38 konnte Muhammad ʿAlī sein Herrschaftsgebiet in Arabien bis zum Persischen Golf ausdehnen. Eine Folge dieser Expansion war, dass sich 1839 die Briten in Aden festsetzen, um die Ambitionen Muhammad ʿAlīs, die ihre strategischen Interessen gefährdeten, zu konterkarieren. Als der osmanische Sultan im Sommer 1839 den Versuch unternahm, Syrien zurückzuerobern, kam es zu einem Schlagabtausch zwischen seinen und den ägyptischen Truppen, die mit einer herben Niederlage für die osmanischen Verbände endete. Als nach dem Tod des Sultans auch noch die osmanische Flotte zu den Ägyptern überwechselte, stand das Osmanische Reich kurz vor dem Zusammenbruch. In dieser Situation einigten sich die europäischen Großmächte (Großbritannien, Preußen, Österreich, Russland) darauf, dem neuen, erst sechzehnjährigen Sultan ʿAbd al-Madschīd rettend beizustehen. Ihre Intervention zwang Muhammad ʿAlī zur Aufgabe seiner expansionistischen Pläne.
11.2. Osmanische Restauration und Modernisierungsdruck (1841-1881)
11.2.1. Islamische Großmacht von Europas Gnaden: das Osmanische Reich nach 1840
Nach dem Vertrag von London vom Juli 1840 zogen sich die ägyptischen Truppen 1841 aus Syrien und dem Hedschas zurück, und diese Gebiete wurden wieder unter direkte Verwaltung des Osmanischen Reiches gestellt. Zum Ausgleich wurde Muhammad ʿAlī die erbliche Herrschaft über Ägypten verliehen; formal gehörte Ägypten allerdings weiter zum Osmanischen Reich. Die Osmanen waren nun wieder die Oberherren der Heiligen Stätten in Mekka und Medina. Sie restaurierten dort die wichtigsten Mausoleen, die von den Wahhabiten zerstört worden waren, und legten die Macht vor Ort wieder in die Hand der Scherifen.
Das Osmanische Reich schien in seine frühere Rolle als islamische Großmacht zurückgekehrt zu sein, indessen war die Intervention der europäischen Großmächte mit Zugeständnissen erkauft worden. In einem im November 1839 verabschiedeten Reformedikt, dem sogenannten Hatt-ı Şerif, hatte der Sultan umfangreiche Reformen zugesagt, darunter auch die gesetzliche Gleichstellung von Muslimen und Nicht-Muslimen. Die Bestimmung wurde allerdings nur wenig respektiert und gab deshalb immer wieder Anlass zu Beschwerden bei den europäischen Konsuln und Botschaftern. Während des Krimkrieges (1853-56), bei dem französische und britische Truppen das Osmanische Reich verteidigten, sah sich deswegen der osmanische Sultan genötigt, die Reformmaßnahmen des Hatt-ı Şerif noch einmal zu bekräftigen. Im Februar 1856 wurde ein neues Edikt, der Hatt-ı Hümâyûn, veröffentlicht, in dem die Rechte der nicht-muslimischen Bevölkerung des Reichsgebiets besonders hervorgehoben wurden. Es wurde ihnen nicht nur uneingeschränkte Religionsfreiheit zugestanden, sondern auch der Zugang zu allen zivilen Ämtern im Staat geöffnet.
Schon ein Jahr zuvor war die Dschizya abgeschafft worden, eine Maßnahme, die klar im Gegensatz zum klassischen islamischen Recht stand. Ein weiterer Reformpunkt, der von den europäischen Großmächten erzwungen wurde, war das Verbot der Sklaverei. Ein Edikt zum Verbot des Sklavenhandels war schon 1854/55 erlassen und allgemein umgesetzt worden. Daraufhin war es allerdings zu Protesten von Händlern im Hedschas gekommen, die das Verbot der Sklaverei als anti-islamisch verurteilten. Im Auftrag des Scherifen veröffentlichte der führende Gelehrte von Mekka eine Fatwā, in der er die Türken zu Apostaten erklärte und zum Dschihad gegen sie aufrief. Als es infolgedessen im Hedschas tatsächlich zu einem anti-osmanischen Aufstand kam, wurde der Hidschas in dem osmanischen Erlass von 1857, der die Sklaverei endgültig verbot, ausgenommen. Weitere wichtige Reformmaßnahmen waren 1858 die Aufhebung der sogenannten Hudūd, der aus dem Koran abgeleiteten Körperstrafen (Steinigung, Handabhacken), im Rahmen der Verabschiedung eines neuen Strafgesetzes sowie 1869-76 die Erstellung der sogenannten Mecelle, eines auf das Fiqh gegründeten Zivilgesetzbuches.
Ein ähnlicher Modernisierungsprozess fand in dieser Zeit in dem semiautonomen Gebiet der husainidischen Beys von Tunis statt. Ahmad Bey (reg. 1837-1855), der seinen Staat technisch zu modernisieren versuchte und dabei auf französische Unterstützung zurückgriff, schaffte schon 1846 auf seinem Gebiet die Sklaverei ab. Sein indirekter Nachfolger Muhammad III. erließ 1861 eine Verfassung (qanūn ad-daula), die von europäischen Vorbildern inspiriert war. Dies war eine Maßnahme von revolutionärer Bedeutung, die in vielen islamischen Gebieten erst viel später umgesetzt wurde. Im Osmanischen Reich wurde erstmals 1876 eine Verfassung verabschiedet.
11.2.2. Der Tidschānī-Staat von ʿUmar Tall
In Westafrika war nach wie vor das Kalifat von Sokoto der wichtigste islamische Staat. Sokoto selbst entwickelte sich zu einem wichtigen Gelehrtenzentrum, in dem die Sufik des Qādirīya-Ordens gepflegt wurde. An diesen Bildungsaktivitäten nahmen in führender Rolle auch Frauen teil wie zum Beispiel Nana Asma'u, die Tochter Uthman dan Fodios. Sie wird aufgrund ihres intensiven Engagements für Frauenbildung als Pionierin des islamischen Feminismus verehrt.
Einen weiteren Ordensstaat baute in dieser Zeit in Westafrika der 1797 in Fouta Toro geborene ʿUmar Tall auf. Sohn eines Murābit aus dem Volk der Tukulor, hatte er sich 1827 auf Wallfahrt nach Mekka begeben und einen Mudschāwara-Aufenthalt daran angeschlossen, bei dem er mit dem Tidschānīya-Orden in Kontakt kam. Nachdem er 1833 in seine westafrikanische Heimat zurückgekehrt war, wurde er dort für den Tidschānīya-Orden missionarisch tätig, wobei er besonders auch gegen den Qādirīya-Orden vorging, dessen Toleranz gegenüber unislamischen Praktiken ihm ein Dorn im Auge war. Um 1840 ließ sich al-Hāddsch ʿUmar im Fouta Djallon auf dem Gebiet des heutigen Guinea nieder und baute dort eine eigene Gemeinschaft von Anhängern auf. 1850 ließ er im Quellgebiet des Niger die Festung Dinguiraye bauen. Zwischen 1852 und 1864 führte er einen Dschihad, bei dem er große Gebiete der heutigen Staaten Guinea, Senegal und Mali unter seine Kontrolle brachte. Zu den muslimischen Territorien, die er eroberte, gehörte auch das Massina-Reich. Nach ʿUmar Talls Tod 1865 führte sein Sohn Ahmadu Schechu den von ihm gegründeten Ordensstaat weiter.
Innerhalb des Staates von Sokoto gab es in dieser Zeit eine stark ausgeprägte Endzeiterwartung, die sich an die Vorstellung knüpfte, dass der Mahdī bald erscheinen würde. Aus dieser Erwartung heraus wanderten zwischen den Jahren 1845 und 1855 zahlreiche Anhänger der Bewegung nach Osten in das Gebiet des heutigen Sudan aus. Dort leben heute mehr als eine Million Menschen, deren Vorfahren aus Sokoto stammen.
11.2.3. Die britische Unterwerfung Indiens und die Bewegung von Aligarh
In den 1840er Jahren konnte die Britische Ostindien-Kompanie ihre Kontrolle über den Indischen Subkontinent weiter festigen, Sindh und Punjab annektieren, und den Seeweg nach Indien 1853 durch ein System von Bündnissen mit arabischen Scheichen der Golfstaaten (Trucial Oman) absichern. In Indien selbst kam es allerdings immer häufiger zu Zusammenstößen mit den Anhängern von Ahmad Barelwī (vgl. oben 11.1.1.), so dass die Briten insgesamt in ein antagonistisches Verhältnis zu den Muslimen gerieten. Besondere Empörung lösten bei den Muslimen die Aktivitäten protestantischer Missionare aus, die mit britischer Rückendeckung in Nordindien Missionszentren aufbauten und einige Muslime und Hindus für das Christentum gewinnen konnten. Der indoislamische Gelehrte Rahmatallāh al-Kairānawī nahm den intellektuellen Kampf gegen diese Missionare auf, schrieb Bücher gegen sie und führte 1854 in Agra einen öffentlichen Disput mit dem deutschen Missionar Karl Gottlieb Pfander. In Anknüpfung an koranische Aussagen (vgl. oben 3.2.2.) entwickelte er die Theorie von der totalen „Entstellung“ (Tahrīf) der christlichen Heiligen Schriften.
Als es 1857 in Nordindien zu einem großangelegten Aufstand der indischen Soldaten der britisch-indischen Armee kam, konnten die Briten diesen nur mit Hilfe von nicht-muslimischen Sikhs und Gurkhas niederschlagen. Sie lasteten die Schuld für den Aufstand, der allgemein als Mutiny bezeichnet wurde, vor allem der muslimischen Seite an und nahmen ihn zum Anlass, das formal noch bestehende Mogulreich endgültig aufzulösen. Nach dem Aufstand wurde 1858 auch die British East India Company abgeschafft, und Indien kam unter die Herrschaft der Krone; der britische Generalgouverneur erhielt zusätzlich den Titel eines Vizekönigs. Allerdings galt im Britischen Imperium das Prinzip des Indirect Rule. Auch in Britisch-Indien blieben noch mehrere halbautonome Staaten bestehen, darunter die muslimischen Staaten Hyderabad, Bhopal und Rampur.
Die muslimischen Gelehrten reagierten auf die neue politische Situation unterschiedlich. Einige von ihnen gingen auf möglichst große Distanz zu den Briten, verlegten sich auf die Pflege der traditionellen religiösen Wissenschaften und gründeten dafür private Madrasas. Die erste derartige Madrasa war das 1865 in dem kleinen Ort Deoband nördlich von Delhi gegründete Dār al-ʿUlūm („Haus der Wissenschaften“). Es stand in der Tradition der Tarīqa Muhammadīya und diente als Vorbild für eine ganze Anzahl ähnlicher Schulen in Indien.
Andere Muslime sahen die Notwendigkeit nach einer radikalen Reform des islamischen Bildungswesens und einer Öffnung gegenüber den westlichen Wissenschaften. Der wichtigste dieser modernistischen indo-muslimischen Gelehrten war Saiyid Ahmad Chān (1817-1898). Schon ein Jahr nach der Mutiny verfasste er ein Buch, in dem er die Freiheit der christlichen Missionare bei ihren Angriffen auf die einheimischen indischen Religionen als einen der Hauptgründe für den Ausbruch dieses Aufstandes identifizierte. In einer Anzahl von Schriften, die er 1860 unter dem Titel An account of the loyal Mahomedans of India veröffentlichte, versuchte er die Briten davon zu überzeugen, dass die Muslime nicht die Hauptschuldigen an der Erhebung waren und die wenigen Muslime, die daran mitgewirkt hatten, keine religiöse Legitimation dafür hatten. Ahmad Chān vertrat in seiner Schrift die Auffassung, dass der Dschihād gegen die Briten nicht zulässig sei, weil sie in Indien die legitime Schutzmacht der Muslime seien, der diese Loyalität schuldeten. Unter nicht-muslimischer Herrschaft zu leben, war seiner Ansicht nach kein hinreichender Grund für Dschihād. Die traditionelle Abrogationslehre (vgl. oben 6.4.1.2.), nach der die späteren Koranverse, die zum Kampf gegen die Ahl al-kitāb auffordern, alle anderen Verse, die zu einem friedfertigen Verhalten ihnen gegenüber ermahnen, aufgehoben haben, lehnte Ahmad Chān ab.
1869/70 lebte Saiyid Ahmad Chān etwa anderthalb Jahre in England. Kurz nach seiner Rückkehr gründete er die islamische Reformzeitschrift Tahdhīb al-Achlāq ("Verfeinerung der Kultur"). Ahmad Chān war allgemein bestrebt, eine Versöhnung und politische Annäherung zwischen den indischen Muslimen und den Briten zu erreichen. Außerdem versuchte er, seine muslimischen Glaubensbrüder davon zu überzeugen, dass es notwendig sei, sich mit der westlichen Wissenschaft vertraut zu machen. Eines seiner Ideale, für das er viel Mühe aufwandte, war die Gründung einer Universität für die indischen Muslime, in der sie sich mit der europäischen Wissenschaft und Kultur bekannt machen könnten. Das Ergebnis dieser Bemühungen war das 1878 mit britischer Unterstützung gegründete Muhammadan Anglo-Oriental College (MAO College) in Aligarh. Diese Bildungsanstalt, aus der 1920 die Aligarh Muslim University hervorging, wurde nach dem Vorbild der Universitäten von Oxford und Cambridge organisiert und hatte Englisch als Unterrichtssprache.
Die muslimischen Gegner Ahmad Chāns bezeichneten ihn und seine Anhänger oft als Naitscharī, ein Wort, das abgeleitet ist von dem englischen Wort nature. Dies zeigt, welch hervorragenden Platz der Naturbegriff in seinem Denken einnahm. Im Gegensatz zur traditionellen aschʿaritischen Theologie, die keinerlei Naturgesetze anerkannte, sondern lediglich Gewohnheiten Gottes, von denen Er abweichen kann, vertrat Ahmad Chān die Ansicht, dass die Naturgesetze fest und unwandelbar seien. Zwischen diesen Gesetzen und dem Koran könne es keinen Widerspruch geben, da nach seiner Auffassung Wort Gottes (der Koran) und seine Taten (die Natur) unbedingt übereinstimmen. In Anlehnung an frühere rationalistische Bestrebungen im Islam, etwa die Muʿtazila (vgl. oben 7.2.2.), versuchte er nachzuweisen, dass Abschnitte im Koran, die traditionell als Bezugnahme auf übernatürliche Erscheinungen angesehen wurden, ebenso in einer ganz natürlichen Weise ausgelegt werden könnten. Nach Ahmad Chān ist der Islam nicht nur eine natürliche, sondern auch eine höchst rationale Religion. Um das zu beweisen, versuchte er zu zeigen, dass alle Vorschriften einen klaren Grund haben. Das Verbot von Schweinefleisch zum Beispiel ist seiner Ansicht nach notwendig, um die Sittenreinheit der Menschen zu erhalten, da Schweine schlechte Angewohnheiten hätten, die menschlicher Ethik zuwiderliefen.
Die geistigen Aktivitäten Ahmad Chāns auf religiösem Gebiet dienten verschiedenen Zielen. Er wollte eine moderne Form des Islams schaffen, die für muslimische junge Menschen mit europäischer Bildung annehmbar war, da er fürchtete, dass diese sich andernfalls vom Islam abwenden oder Christen oder Atheisten werden würden. Zweitens wollte er den Islam gegen Angriffe europäischer Denker, und zwar besonders von Orientalisten verteidigen. Schließlich ging es ihm darum, die indischen Muslimen zu einer Zusammenarbeit mit den Briten zu bewegen. Auch mit dem Christentum beschäftigte sich Saiyid Ahmad Chān intensiv. Er verwarf die von al-Kairānawī vertretene Tahrīf-Lehre, wonach die Texte der Bibel entstellt worden sind, und versuchte, durch den Vergleich der Worte der Bibel und des Korans die Grundverwandtschaft zwischen Islam und Christentum herauszustellen.
11.2.5. Wiederbelebung des Kalifatsgedankens und der Exodus der Muslime aus Südosteuropa
In den 1860er Jahren unternahmen die Osmanen verstärkte Anstrengungen, um die Arabische Halbinsel unter ihre Kontrolle zu bekommen. 1860 gingen sie ein Bündnis mit der in Nordarabien herrschenden Stammesdynastie der Āl Raschīd ein, 1869 nahmen sie den Jemen und ʿAsīr ein, 1871 besetzten sie Kuweit, 1872 schließlich annektierten sie die ostarabische Oase von al-Ahsā'. Parallel zu diesem Prozess begannen die osmanischen Sultane, wieder verstärkt den Kalifentitel für sich zu verwenden. Da es Indien nach der Mutiny 1857 kein islamisches Staatsoberhaupt mehr gab, fiel dort die Idee eines osmanischen Kalifen als politischem und spirituellem Führer der islamischen Welt auf besonders fruchtbaren Boden. Der Name des herrschenden osmanischen Sultans wurde in den indischen Moscheen nun oftmals in die Freitagspredigt aufgenommen. Der osmanische Sultan ʿAbd al-Hamīd II, der 1876 den Thron bestieg, war ein begeisterter Anhänger des Kalifatsgedankens. Bereits in der unmittelbar nach seiner Thronbesteigung verabschiedeten Osmanischen Verfassung heißt es in Artikel 4: „Der Sultan in seiner Eigenschaft als Kalif ist der Schutzherr für die muslimische Religion“. Auch die Muslime in Dagestan erkannten diesen religiös-politischen Anspruch an. Als sie während des Russisch-Osmanischen Krieges von 1877/78 einen Dschihad gegen Russland führen, taten sie dies im Namen des osmanischen Kalifen.
Anspruch und Wirklichkeit begannen allerdings, im immer mehr auseinanderzulaufen. Schon während dieses Krieges musste sich das Osmanische Reich aus weiten Teilen seiner europäischen Territorien zurückziehen. Zahlreiche bulgarische, bosnische und südserbische Muslime verließen daraufhin ihre Heimat in Richtung der unter osmanischer Herrschaft verbliebenen Gebiete Europas und Asiens. Der Friede von San Stefano (März 1878), in dem das Osmanische Reich seine Niederlage eingestand, und der Berliner Kongress (Juni/Juli 1878) besiegelten die neuen Machtverhältnisse in Südosteuropa. Montenegro, Serbien, Rumänien wurden de jure unabhängig, Bulgarien zu einem autonomen Fürstentum innerhalb des Osmanischen Reichs, Bosnien wurde unter österreichische Verwaltung gestellt, und Zypern kam unter britische Verwaltung. Allein aus Bosnien wanderten zwischen 1878 und 1910 ca. 300.000 Muslime aus. Auch Muslime aus dem Nordkaukasus und von der Krim wanderten zu dieser Zeit in großen Zahlen auf osmanisches Territorium aus.
11.3. Die Konfrontation mit dem europäischen Imperialismus (1881-1916)
11.3.1. Europäischer Imperialismus und Panislamismus
Anfang der 1880er Jahre kam es zu einem wichtigen Wandel in der internationalen Mächtekonstellation. Frankreich besetzte 1881 Tunesien, die Briten besetzten 1882 nach Volksaufständen Ägypten und errichteten ein „verschleiertes Protektorat“. In Kairo wurden 10.000 britische Soldaten stationiert, angeblich zur Wahrung finanzieller Interessen europäischer Gläubiger, bei denen der Chedive (so seit 1867 der Titel der ägyptischen Vizekönige) verschuldet war. Das Zeitalter des europäischen Imperialismus hatte begonnen. Schon 1874 hatten die Briten in Südostasien mit dem Vertrag von Pangkor ihre Oberherrschaft über die Staaten der malaiischen Halbinsel begründet, 1880 hatten sie sich mit dem Vertrag von Gandamak den afghanischen König dazu gezwungen, mit ihnen zu kooperieren. Damit waren sie zur wichtigsten Macht innerhalb der islamischen Welt aufgestiegen. Der britische Literat Wilfrid Scawen Blunt entwickelte in dieser Zeit die Idee eines neuen scherifischen Kalifats mit Sitz in Mekka, das britenfreundlich war und das osmanische Kalifat beerben sollte.
Auf politischer Ebene führte die europäische und insbesondere die britische Dominanz zum Aufwallen eines panislamischen Bewusstseins. Der osmanische Sultan ʿAbd al-Hamīd II, der bis dahin noch mit Briten und Franzosen zusammengearbeitet hatte, wusste diese Gefühle sehr gut aufzugreifen. Er wurde zum wichtigsten Akteur auf dem Felde des Panislamismus (ittiḥād-i Islām), knüpfte über Mittelsmänner (wie z.B. Fadl ibn ʿAlawī) Kontakte zu den Muslimen unter russischer und britischer Herrschaft sowie zu schiitischen Gelehrten in Iran, ließ über die Wallfahrt sowie transnationale Sufi-Orden pro-osmanische Propaganda verbreiten und baute ein System osmanischer Konsulate in muslimischen Ländern auf.
Zeitgleich organisierte 1884 in Paris der iranische Gelehrte Dschamāl ad-Dīn al-Afghānī (1839-1897) nach freimauererischem Vorbild eine Gruppe von panislamisch gesinnten Männern, die er nach einem im Koran (31:22) für den Glauben benutzten Ausdruck al-ʿUrwa al-wuthqā („das festete Band“) nannte. Gemeinsam brachten diese Männer eine Zeitung heraus, die die Muslime zum vereinten Vorgehen gegen den britischen Imperialismus und zur Unterstützung des osmanischen Kalifen aufrief. Diese Zeitung, die ebenfalls al-ʿUrwa al-wuthqā hieß, hatte in der islamischen Welt große Popularität, allerdings schlief das Unternehmen bald wieder ein, als die Briten die Einfuhr der Zeitung nach Indien und Ägypten verboten und dem Kreis das Geld ausging. Der Ägypter Muhammad ʿAbduh, der zu dem Pariser Kreis von al-Afghānī gehört hatte und Anfang der 1890er Jahre in das Leitungsgremium der Azhar-Hochschule aufstieg, setzte das panislamische Projekt jedoch fort. 1897 gründete er zusammen mit dem syrischen Gelehrten Raschīd Ridā die Zeitschrift al-Manār (der Leuchtturm), die internationale Ausstrahlung entwickelte. 1898 brachte er darin die Idee auf, einen gesamtislamischen Kongress abzuhalten, der als dauerhafte Institution in jedem Land eine Zweigniederlassung haben sollte. Damit war der islamische Konferenzgedanke geboren, und Kairo wurde zum wichtigsten Zentrum des panislamischen Denkens. So ist es auch kein Zufall, dass der krimtatarische Aktivist Ismail Gasprinskij, als er 1907 konkrete Pläne für die Abhaltung eines ersten islamischen Weltkongresses entwickelte, diese Stadt als Austragungsort ins Auge fasste.
Ein Grundtenor des panislamischen Denkens war es, dass die Muslime nur dann der Herausforderung durch die westliche Zivilisation standhalten könnten, wenn sie ihre Reihen schlössen und ihre Aufsplitterung in verschiedene Rechtsschulen und Konfessionsgruppen überwänden. Rafīq Bey al-ʿAzm, ein Gelehrter aus dem Kreis ʿAbduhs, publizierte 1899 in Kairo ein Büchlein mit dem Titel „Weisheitslehren für die islamische Jugend“, in dem er die Auffassung vertrat, dass die Rückständigkeit der Muslime nur durch einen „geistigen Zusammenschluss auf Grundlage der Prinzipien der Scharia“ zu überwinden sei. Neben der Zeitschrift al-Manār gab es noch andere Projekte, die der Verwirklichung dieses Anliegens gewidmet waren, so zum Beispiel die 1892 im nordindischen Kanpur gegründete Reformgesellschaft Nadwat al-ʿUlamā'. Sie zielte darauf ab, Gelehrte aus den verschiedenen islamischen Strömungen, selbst Vertreter der Schia, zusammenzubringen, um gemeinsam eine neue Theologie zu entwickeln. Das Unternehmen war allerdings auf Südasien beschränkt und scheiterte schon nach wenigen Jahren.
11.3.2. Der Islam im europäischen Wettlauf um Afrika
1884/85 begann mit der Kongokonferenz von Berlin der europäische Wettlauf um Afrika. Die Briten waren schon vorher mit der Besetzung Ägyptens auch die nominellen Oberherren des Sudan geworden. Allerdings mussten sie ihre Macht dort erst mit Waffengewalt durchsetzen. Ein gewisser Muhammad Ahmad hatte zum Dschihad gegen sie aufgerufen und konnte innerhalb von vier Jahren fast den gesamten ägyptischen Sudan einschließlich der Hauptstadt Khartum unter seine Kontrolle bringen. In Nachahmung des Propheten bezeichnete er seine Anhänger als Ansār (vgl. oben 3.2.1.), für sich selbst nahm er den Mahdī-Rang in Anspruch. Nach seinem Tod 1885 führte sein Nachfolger („Kalif“) ʿAbdullāhi Abū Bakr die Expansion des Staates weiter gegen das christliche Kaiserreich Abessinien. Erst 1898 gelang es britisch-ägyptischen Truppen unter General Kitchener, den Mahdi-Aufstand niederzuschlagen. Damit begann die Zeit des anglo-ägypischen Kondominiums im Sudan.
Mit der Eroberung des Kalifats von Sokoto 1903 und der Errichtung des Protektorats Nordnigeria wurden die Briten auch im islamischen Westafrika zu einer wichtigen Kolonialmacht. Westafrika war allerdings mehr die Einflusszone der Franzosen. Sie rückten ab 1890 von Senegal aus weiter nach Osten vor, um den westlichen Sudan unter ihre Kontrolle zu bringen, und nahmen das von ʿUmar Tall gegründete Tukulor-Reich ein. 1895 gründeten sie als politischen Rahmen für ihre dortigen Kolonien die Föderation von Französisch-Westafrika. In Reaktion auf das europäische Vordringen bildeten sich in verschiedenen Regionen Widerstandsbewegungen. Besonders starken Widerstand leistete die Sanūsīya-Bruderschaft, die 1837 von Muhammad as-Sanūsī in Mekka gegründet worden war. Die Sanūsīya gehört, wie die Wahhābīya, zu den aktivistischen Erneuerungsbewegungen innerhalb des sunnitischen Islams. Als as-Sanūsī, der aus dem heutigen Algerien stammte, 1859 starb, hatte sich der Einfluss seines Ordens schon weit verbreitet. Es gab Niederlassungen im Hedschas und in Ägypten. Sein Schwerpunkt lag aber in Libyen und in den Sahara-Gebieten. Die Sanūsīya organisierte sich in lokalen Gemeinschaften, in denen sufische Gebetsübungen, Waffenausbildung, Landarbeit und Handelsunternehmungen die gemeinsame Erfahrungs- und Lebensbasis bildeten. Ab 1901 leistete die Bruderschaft Widerstand gegen die nach Osten vorrückenden Franzosen und brachte dabei auch das Reich Wadai unter ihre Kontrolle, der Krieg zwischen den beiden Parteien dauerte bis zum Jahre 1913. Erst in diesem Jahr konnten die Franzosen die letzte Festung der Sanūsīs am Tschad-See einnehmen.
In Westafrika gab es aber auch eine ganze Anzahl von Persönlichkeiten des sufischen Islams, die mit den europäischen Kolonialmächten zusammenarbeiteten. In den französischen Quellen der Zeit werden sie meist als Marabouts (von murābiṭ, vgl. oben 8.2.3.) bezeichnet. Typische Beispiele für solche kooperative Marabouts waren Malik Sy und Amadu Bamba im Senegal. Malik Sy war ein Gelehrter des Tidschānīya-Ordens, der ab den 1880er Jahren ein großes Schülernetzwerk aufbaute und mit seinen Anhängern landwirtschaftlichen Aktivitäten nachging. Im Gegensatz zu den Tidschānīs aus dem Volk der Tukulor, die in der Tradition von ʿUmar Tall standen, pflegte Malik Sy von Anfang freundschaftliche Beziehungen zu den Franzosen. Im Jahre 1912, zu einer Zeit, als Frankreich wegen der Errichtung seines Protektorats über Marokko militante muslimische Reaktionen sowie die panislamische Propaganda aus Istanbul fürchtete, rief Malik Sy in einem offenen Brief die Muslime innerhalb und außerhalb der Tidschānīya dazu auf, den Franzosen volle Unterstützung zu geben. Komplizierter war der Weg zur Kooperation bei Amadu Bamba, einem Sufi des Qādirīya-Ordens, der 1887 mit seinen Anhängern im Senegal eine eigene Stadt gründete, die er nach einem Koranvers (Q 13:29) Touba (arab. „Segen“) nannte. Die französische Kolonialverwaltung hegte wegen seiner zahlreichen Anhängerschaft anfangs großes Misstrauen gegenüber ihm und schickte ihn 1891 in die Verbannung, erst 1910 verbesserte sich das Verhältnis zwischen ihm und den Franzosen. Ausschlaggebend dafür war, dass Amadu Bamba in dieser Zeit seine Anhänger zur Loyalität gegenüber der Kolonialmacht aufrief und ihren Beitrag zum Frieden lobte. Wichtig war aber auch, dass Amadu Bamba seine Anhänger in den von ihm gegründeten Daara-Plantagen zu harter Arbeit anhielt und damit französische wirtschaftliche Interessen bediente. So wurde die Murīdīya, wie die von Amadu Bamba gegründete Bruderschaft jetzt genannt wurde, ebenfalls zu einer wichtigen Stütze der französischen Kolonialherrschaft im Senegal. Bis heute beherrscht sie große Teile der senegalesischen Ökonomie.
Nicht vergessen werden darf, dass der europäische Kolonialismus in Afrika auch zur Verbreitung des Islams beitrug. Das gilt insbesondere für das ostafrikanische Binnenland. Schon um die Mitte des 19. Jahres war der Islam durch den Sklavenhandel der Sultane von Oman und Zanzibar stärker in das ostafrikanische Binnenland eingedrungen. Die Stadt Nkhotakota am Malawisee, wo der Gouverneur des Sultans residierte, wurde zum wichtigsten Zentrum der Verbreitung des Islams. Anhänger fand die neue Religion vor allem unter den Stämmen der Nyamwezi und Yao im Süden Tansanias und in Malawi. Als Briten und Deutsche Kolonien in Ostafrika errichteten, wurde der Zugang zum Binnenland durch Eisenbahnbau erleichtert. So gelangten nunmehr von der Küste und aus dem Indischen Subkontinent stammende muslimische Händler sowie muslimische Bedienstete der Kolonialbehörden zum Victoria- und Tanganjika-See und trugen den Islam in diese Gebiete. Auf besonderen Zuspruch stieß der Islam im Königreich Buganda (im heutigen Uganda). Von den 1860er Jahren an migrierten auch zahlreiche Muslime aus Indien in die britische Kolonie Natal sowie nach Transvaal, um dort als Vertragsarbeiter auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Dies führte zu einer stärkeren Verbreitung des Islams auf dem Gebiet des heutigen Südafrikas.
11.3.3. Islamischer Messianismus in Britisch-Indien: die Ahmadīya
Das Britische Empire war um die Jahrhundertwende diejenige politische Macht, mit der sich weltweit die meisten Muslime auseinanderzusetzen hatten. Allein in Britisch-Indien lebten mehr Muslime als im gesamten Osmanischen Reich. Der mit der progessivistischen Aligarh-Bewegung verbundene Gelehrte Muhammad Iqbal, der 1905 zum Studium nach Europa kam und 1907 an der Universität München promovierte, meinte sogar, dass dem Britischen Kolonialreich eine zivilisatorische Rolle in der islamischen Welt zukomme. Er schrieb 1909, an seine muslimischen Landsleute gerichtet:
„England, in fact, is doing one of our own great duties, which unfavourable circumstances did not permit us to perform. It is not the number of Muhammadans which it protects, but the spirit of the British Empire that makes it the greatest Muhammadan Empire of the world.“
Sicherlich gab es auch in den religiösen Milieus der verschiedenen anderen islamischen Länder Tendenzen zum Ausgleich mit den europäischen Kolonialmächten, in Britisch-Indien waren sie jedoch am stärksten ausgeprägt. Neben der Bewegung von Aligarh waren hier die Agha Khane, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus Iran übergesiedelten Oberhäupter der nizāritischen Ismailiten, wichtige muslimische Verbündete der Briten. Sie waren den Briten auch zu Dank verpflichtet, war doch erst durch den Urteilsspruch eines britischen Gerichtes im Jahre 1866 ihr Recht, auch über das Gemeindevermögen der nordwestindischen Nizārī-Ismailiten zu verfügen, bestätigt worden.
Eine weitere pro-britische islamische Bewegung, die sich in den 1880er Jahren in Indien bildete, war die von Mirzā Ghulām Ahmad gegründete Ahmadiyya. Ihr Zentrum war zunächst das Dorf Qādiyān im Punjab. Ghulām Ahmad, der 1889 die Huldigung (Baiʿa) von einer Anzahl von Anhängern entgegennahm, nahm für sich eine ganze Anzahl von religiösen Titeln in Anspruch, darunter „Erneuerer“ (Mudschaddid) des Islams am Anfang des 14. Jahrhunderts und Mahdī. Etwas Neues war, dass er auch behauptete, der „erwartete Messias“ (masīḥ-i mauʿūd) zu sein. Damit knüpfte er an christliche und islamische (vgl. Q 43:61) Vorstellungen an, wonach Jesus Christus am Ende der Zeiten wiederkehren und die Menschen erlösen soll. Allerdings wich er in einem bedeutenden Punkt von dieser Lehre ab. Er meinte nämlich, dass Jesus Christus nach der Kreuzigung nicht lebendig in den Himmel aufgefahren sei, sondern noch mehrere Jahrzehnte weitergelebt habe und schließlich in Kaschmir gestorben sei. Die Rolle des „erwarteten Messias“ sollte mithin nicht diesem zu früherer Zeit in Kaschmir verstorbenen Jesus Christus zufallen, sondern allein ihm selbst. Diese Christus-Lehre zielte sicherlich darauf ab, auch die Christen anzusprechen. Außerdem erhob Ghulām Ahmad Anspruch auf das Prophetentum, allerdings betonte er, dass er anders als der Prophet Muhammad kein neues Offenbarungsgesetz mit sich gebracht habe.
Während die Ahmadiyya den Dschihad mit dem Schwert und die Abrogationslehre ablehnte, war sie von Anfang an sehr stark auf Mission ausgerichtet. 1902 begannen Ahmadīs mit der Veröffentlichung der Zeitschrift The Review of Religions, die seither fast ununterbrochen erscheint und bis heute das wichtigste Sprachrohr der Bewegung in englischer Sprache ist. 1912 gründeten sie in der englischen Stadt Woking, wo 1889 die erste Moschee auf britischem Boden errichtet worden war, ihre erste europäische Missionsstation.
Als Ghulām Ahmad im Jahre 1908 starb, wurde einer seiner ersten Anhänger zum Chalīfat al-masīh („Nachfolger des Messias“) bestimmt. Damit hatte nun auch die Ahmadiyya ihr eigenes Kalifat. Eine schwere Krise erlebte die Bewegung, als im Jahre 1914 dieser erste „Nachfolger des Messias“ starb. Die Gemeinschaft spaltete sich daraufhin in zwei Gruppen, die Qādiyānīs und die Lāhōrīs. Letztere hießen deswegen so, weil sie ihr Zentrum in die Stadt Lahore verlegt hatten. Während die Qādiyānīs betonten, dass Ghulām Ahmad Prophet sei, betrachteten die Lāhōrīs mit Verweis auf die koranische Aussage, dass Muhammad „das Siegel der Propheten“ ist (Q 33:40), nur noch als einen Erneuerer (muǧaddid). Beide Gruppen standen die ganze Kolonialzeit über in einem besonderen Loyalitätsverhältnis zu den Briten. Die Missionstation in Woking blieb mit den Lāhōrīs verbunden und diente ihnen in den folgenden Jahren als Standort zur Verbreitung ihrer Lehren in ganz Europa. 1924 begannen die Lāhōrīs mit dem Bau einer ersten Moschee in Berlin. Die Qādiyānīs wurden vor allem in Westafrika aktiv und bauten in den frühen 1920er Jahren Missionsstationen in Nigeria und an der Goldküste (heutiges Ghana) auf.
11.3.4. Modernismus: Muhammad ʿAbduh und sein Kreis
In Ägypten selbst war es einer der spektakulärsten Erfolge der Politik der Briten, dass sie den panislamisch gesinnten Azhar-Gelehrten Muhammad ʿAbduh auf ihre Seite ziehen konnten. Der Chedive ʿAbbās Hilmī hatte diesen 1899 mit der Leitung des Dār al-iftā', des 1895 geschaffenen ägyptischen Fatwa-Amtes, betraut, mit dem Ägypten seine religiöse Unabhängigkeit von der osmanischen Pforte bekräftigte. Als sich 1902 das Verhältnis zwischen ʿAbduh und dem Chediven verschlechterte, hielt der britische Resident in Ägypten, Lord Cromer, seine schützende Hand über ihn und sorgte dafür, dass ʿAbduh seinen Muftī-Posten bis zu seinem Tode im Jahre 1905 behalten konnte. Besonders berühmt geworden sind eine Fatwa ʿAbduhs von 1901, in der er die Zahlung von Zinsen auf Spareinlagen trotz des koranischen Ribā-Verbots für zulässig erklärte, sowie die sogenannte Transvaal-Fatwa von 1903, in welcher er Muslimen das Tragen europäischer Kleidung erlaubte. Mit seinen Aufrufen zur Reform (Islāh) des gesellschaftlichen Lebens, die in der Zeitschrift al-Manār erschienen, entwickelte ʿAbduh eine weltweite Ausstrahlung. Besonders in Südostasien fielen seine Ideen auf fruchtbaren Boden. Hier gründeten reformorientierte Gelehrte 1906 nach dem Modell von al-Manār die malaiische Zeitschrift al-Imām, und mit der 1912 gegründeten Muhammadiyah entstand eine ganze Organisation, die sich an den Ideen Muhammad ʿAbduhs und seines Schülers Raschīd Ridā orientierte. Sie entwickelte sich zur wichtigsten reformistischen islamischen Organisation in Niederländisch-Indien und später Indonesien.
Muhammad ʿAbduh trug seine modernistischen Ansichten vor allem in seinen koran-erläuternden Vorlesungen vor, die er in al-Manār veröffentlichen ließ. Charakteristisch für seine exegetische Herangehensweise war das Anliegen, nachzuweisen, dass das Buch Gottes und die westliche Naturwissenschaft nicht miteinander im Widerspruch stehen, die Muslime vielmehr zum Studium der Natur aufgerufen sind. Moderne naturwissenschaftliche Entdeckungen sah ʿAbduh sogar im Koran vorhergesagt. So setzte er beispielsweise die Bakterien mit den im Koran als unsichtbare Wesen erwähnten Dschinn (vgl. oben 1.3.3.) gleich. Die von ʿAbduh verfochtene Grundidee der prinzipiellen Identität der Aussagen von Islam und moderner Naturwissenschaft hat auch außerhalb Ägyptens viele Anhänger gefunden, so etwa bei Said Nursi (1876-1960), dem Begründer des sogenannten Nurculuk, einer der populärsten Bewegungen in der Türkei, und dem schiitischen Gelehrten Hibat al-Dīn asch-Schahrastānī, der in verschiedenen Schriften die Übereinstimmung zwischen islamischer Lehre und moderner Astronomie aufzuzeigen versuchte. Die von ʿAbduh begründete „naturwissenschaftliche Koranauslegung“ (tafsīr ʿilmī) blüht bis in die Gegenwart; die damit begründete Vorhersagekraft des Korans gilt als Beweis für seine Unübertrefflichkeit.
Im ägyptischen Kreis ʿAbduhs traten noch verschiedene andere Reformdenker auf, so zum Beispiel Qāsim Amīn, einer der wichtigsten Frauenrechtler in der Geschichte des Islams. In seinem 1899 veröffentlichten Werk Taḥrīr al-marʾa („Die Befreiung der Frau“) griff er die westliche Kritik an der Polygamie auf und erklärte, dass man, indem man die maßgeblichen Koranverse (Q 4:3 und 4:129) zusammenliest, zu dem Schluss kommen könne, dass auch der Islam die Mehrehe untersage. Amīn charakterisierte die Rivalitäten zwischen Ehefrauen und deren Kindern in polygamen Ehen als sozial destruktiv. Auch setzte er sich für eine Besserstellung der Frau im Scheidungsrecht sowie eine Aufhebung der weiblichen Verschleierungspflicht ein. Allgemein sah Qāsim Amīn den Auschluss der Frauen aus dem öffentlichen Leben sowie ihre mangelnden Bildungsmöglichkeiten als einen wichtigen Grund für die Rückständigkeit der islamischen Welt an. Mit diesen Ideen hatte Qāsim Amīn großen Einfluss auf reformorientierte Muslime in anderen Ländern.
11.3.5. Die Rückkehr der Wahhabiten und die Salafīya
Der Machtkampf zwischen Britischen Empire und Osmanischem Reich fand auch auf der Arabischen Halbinsel statt. Zwar ließ sich der Plan, in Mekka ein britenfreundliches scherifisches Kalifat zu installieren, nicht verwirklichen, doch konnten die Briten 1886 in Südarabien eine Protektoratszone (Aden-Protektorat) errichteten und 1892 durch Abschluss eines Exklusivvertrags ihre Kontrolle über die Staaten des Trucial Oman verstärkten. 1901 geriet auch das Gebiet von Kuweit unter britische Kontrolle.
Den Osmanen ging umgekehrt in den Folgejahren der Jemen durch Aufstände wieder verloren. Ihre politische Position auf der Arabischen Halbinsel wurde Anfang des 20. Jahrhundert weiter dadurch geschwächt, dass der mit ihnen verbündete Raschīdī-Staat zusammenbrach und ein Abkömmling der Dynastie der Saʿūd, ʿAbd al-ʿAzīz Ibn Saʿūd, einen neuen saudischen Staat gründete, in dem das im 18. Jahrhundert begründete Projekt einer wahhabitisch-saudischen Allianz fortgeführt wurde. Um die Stabilität seines jungen Staates zu gewährleisten, musste Ibn Saʿūd die großen Beduinenstämme unter seine Kontrolle bringen. Er versuchte deshalb, die Beduinenstämme anzusiedeln, um ihre militärischen Energien im Dienste des Staates zu kanalisieren. Diejenigen, die sich ab 1911/12 in den neuen landwirtschaftlichen Siedlungen, den hiǧar (sg. hiǧra), niederließen, wurden Ichwān (wörtl. „Brüder“) genannt. Mit Hilfe dieser Ichwān, die durch Prediger zu glühenden Anhängern der Wahhābīya bekehrt wurden, gelang es Ibn Saʿūd in den folgenden Jahren, weite Gebiete der arabischen Halbinsel zurückzuerobern. In den unterworfenen Gebieten gingen die Wahhabiten dabei ähnlich vor, wie schon ihre Vorfahren zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Nach Eroberung der ostarabischen Provinz al-Ahsā' 1913 wurden dort zum Beispiel die Schiiten rigide unterdrückt und die schiitischen Feierlichkeiten verboten.
Zeitgleich mit dem Wiedererstarken der Wahhabiten auf der arabischen Halbinsel kam es in Syrien und Ägypten zu einem Wiederaufleben der Salafīya-Strömung, die sich an den Ideen Ibn Taimīyas orientiert. Die neuen Salafiten lehnten den aschʿaritischen Kalām und den Sufismus ab und hofften, durch Rückbesinnung auf die Lehren der Muslime der ersten Generatione zu einem ursprünglichen, authentischen Islam zurückkehren zu können. Sie meinten, dass die Salafīya auch das einzig wahre Sunnitentum darstellte. 1908 gründete der syrische Publizist Muhibb ad-Dīn al-Chatīb in Kairo eine eigene „salafitischen Druckerei“ (Maṭbaʿa Salafīya), in der er gezielt salafitische Schriften publizierte. Auch Raschīd Ridā, der bekannteste Schüler Muhammad ʿAbduhs, und verschiedene türkische Gelehrte schlossen sich der Salafīya an, die sich in dieser Zeit zu einer transnationalen islamischen Reformbewegung entwickelte. Man empfand dabei keinen Gegensatz zum Modernismus, weil auch er sich gegen Aschʿarīya und Sufismus richtete.
11.3.6. Panislamische Dschihad-Aufrufe und der Beginn des Ersten Weltkriegs
Allgemein wallten in dieser Zeit auch die panislamischen Gefühle wieder auf. Das hatte unter anderem damit zu tun, dass 1907 Briten und Russen einen Vertrag über die Aufteilung Irans in Interessensphären geschlossen hatten: das Gebiet des Persischen Golfs und im Südosten sollten das britische Interessengebiet bilden, der nördliche und zentrale Iran das russische. 1911 begannen russische und britische Truppen, ihre Interessenzonen zu besetzen. Ein weiterer Punkt, der Empörung hervorrief, war die im gleichen Jahr stattfindende Besetzung von Tripolitanien und der Cyrenaika durch italienische Truppen. Der im Irak wirkende schiitische Gelehrte Muhammad Kāzim Churāsānī erklärte daraufhin einen Dschihad gegen die Italiener und rief die Muslime dazu auf, unter Einsatz ihres Lebens die anglo-russischen Truppen aus Iran zu vertreiben. Auch in anderen Gebieten machten Muslime gegen die italienische Invasion Tripolitaniens mobil. Im Abwehrkampf gegen die Italiener verbündete sich der Sanūsīya-Orden mit den osmanischen Truppen. Die panislamischen Gefühle wurden noch weiter durch die Balkankriege 1912/13 angeheizt, die das Osmanische Reich zwangen, sich aus Mazedonien, Kosovo und Saloniki zurückzuziehen, und weitere muslimische Auswanderungswellen aus Südosteuropa (ca. 800.000 Muslime) auslösten. Deobandis gründeten in dieser Zeit in Indien die „Vereinigung der Diener der Kaaba“ (Anǧuman-i Ḫuddām-i Kaʿba) zur Unterstützung des osmanischen Kalifen im Kampf gegen die Feinde des Islams.
Eine besondere politische Konstellation ergab sich daraus, dass das Osmanische Reich und das Deutsche Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts enger zusammengerückt waren. Gemeinsam hatte man bereits seit 1900 das panislamische Projekt der Hedschasbahn vorangetrieben. Als im November 1914 das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg eintrat, erklärte der osmanische Schaich al-Islām in einer Fatwa den Dschihad gegen die Kriegsgegner Russland, England und Frankreich zur Pflicht für alle Muslime und stellte umgekehrt allen unter deren Herrschaft stehenden Muslimen, die gegen die Mittelmächte kämpften, schwerste Strafe in Aussicht. Im Irak wurde dieser Aufruf zur Unterstützung Deutschlands von schiitischen Gelehrten unterstützt. Als die Briten mit der Besetzung des Iraks begannen, nahm dort eine mächtige Dschihad-Bewegung gegen sie Form an. Aber auch bei den Sanūsīs stieß der Dschihad-Aufruf auf fruchtbaren Boden. Ahmad asch-Scharīf, ihr Anführer, verbündete sich nach der osmanischen Fatwa mit den Mittelmächten und ließ seine Soldaten an mehreren Fronten gegen die Alliierten kämpfen. Über die Sanūsīs wurde auch ʿAlī Dīnār, der letzte Sultan von Darfur, in die islamische Dschihad-Allianz gegen Briten und Franzosen eingebunden. Diese Mobilisierungskraft der Dschihad-Idee rief in Deutschland Begeisterung hervor. Der deutsche Generalkonsul Gottfried Galli hielt 1915 an der Universität Freiburg einen Vortrag über die Bedeutung des Dschihads „im Weltkriege unter besonderer Berücksichtigung der Interessen Deutschlands“. Deutsche Agenten schlugen sich in dieser Zeit nach Persien und Afghanistan durch, um dort den Dschihad gegen Briten und Russen zu organisieren.
Aber auch die Entente-Mächte hatten ihre muslimischen Verbündeten. So konnte sich zum Beispiel Frankreich auf die befreundeten Marabouts der Tidschānīya und Murīdīya im Senegal verlassen, die ihre Anhänger zum Eintritt in die französische Armee aufforderten. Die wichtigsten muslimischen Verbündeten der Briten waren die ägyptischen Chediven und die Scherifen von Mekka. Um Ägypten endgültig aus der osmanischen Machtsphäre zu lösen, verwandelten sie 1914 das Land in ein britisches Protektorat und verliehen dem Chediven den Sultanstitel. Den Scherifen Husain ibn ʿAlī ließen sie zu Anfang des Krieges wissen, dass sie ihn gerne als Kalifen sähen, erkannten ihn 1916 als „König des Hedschas“ an und unterstützten ihn bei seiner anti-türkischen Aufstandsbewegung.
11.4. Osmanischer Zusammenbruch und hāschimitisches Zwischenspiel (1916-1924)
11.4.1. Die osmanische Niederlage und die indische Kalifatsbewegung
Das Osmanische Reich erlebte noch während der Kriegsjahre einen bedeutenden Reformprozess. Die Jungtürken verabschiedeten 1917 ein neues, modernes Ehegesetz und ersetzten den islamischen Mondkalender auf staatlicher Ebene durch den praktischeren Gregorianischen Kalender. Der von den Briten unterstützte arabische Aufstand von König Husain leitete jedoch den Zusammenbruch des Osmanischen Reichs ein. In den letzten Kriegsjahren besetzten außerdem Briten und Franzosen Irak, Palästina, Syrien und Libanon. Das Waffenstillstandsabkommen von Moudros (Oktober 1918) zwang das Osmanische Reich, alle Gebiete außerhalb Anatoliens aufzugeben, darunter auch den Hedschas. Außerdem musste es die Besetzung von Istanbul und Teilen Anatoliens durch alliierte Truppen hinnehmen. Der Vertrag von Sèvres (August 1920) sicherte diese Besetzungen rechtlich ab und übertrug die Hoheit über die Heiligen Stätten von Mekka und Medina dem König des Hedschas.
Als Reaktion auf die Besetzung Anatoliens und Istanbuls durch alliierte Truppen entstand 1919 in Indien die sogenannte Kalifatsbewegung, die gegenüber den Briten mit der Forderung auftrat, dass sie sich für Erhaltung des osmanischen Kalifats einsetzen müssten. Zu ihrem Theoretiker wurde der Gelehrte Abū l-Kalām Āzād. Er forderte entsprechend der klassischen Lehre ein monarchisches Kalifat als spirituelles Zentrum der islamischen Welt mit von ihm eingesetzten islamischen Herrschern in verschiedenen Ländern; der osmanische Kalif sollte allerdings auch politische Macht besitzen.
11.4.2. Die Abschaffung des osmanischen Kalifats und ihre Folgen
Die Forderungen der indischen Kalifatsbewegung wurden allerdings von den reellen Entwicklungen überholt. Säkulare Bewegungen bekamen nach dem Ersten Weltkrieg immer mehr Auftrieb. Die Oktoberrevolution in Russland führte dazu, dass man nun auch in einigen islamischen Bewegungen mit dem Sozialismus liebäugelte (ein Beispiel ist die Sarekat Islam in Niederländisch-Indien). In dem neuen Nationalstaat Türkei begann Mustafa Kemal Pascha, der Sieger des türkischen Befreiungskampfes, ein umfassendes politisches Reformprogramm. Im Zuge dessen wurde 1922 das osmanische Sultanat abgeschafft und ein neuer Kalif eingesetzt, dessen Amt allerdings rein auf den religiösen Bereich beschränkt wurde.
Diese Entwicklungen lösten in den arabischen Ländern des Nahen Ostens heftige Diskussionen aus. Raschīd Ridā, der bekannteste Schüler Muhammad ʿAbduhs, fasste 1923 einen Traktat zur Kalifatsfrage ab, in dem er die Auffassung vertrat, dass die islamische Gesellschaft unbedingt eines Kalifen bedurfte. Neben der Verteidigung der Muslime sollte dessen Hauptaufgabe darin bestehen, durch Idschtihād die Gesetzgebung auszuüben. Dies sollte er nach Absprache mit einer Körperschaft erfahrener Männer tun, Hütern und Auslegern der Scharia. Das osmanische Kalifat war nach Raschīd Ridās Ansicht nur ein „Not-Kalifat“ gewesen, denn der osmanische Sultan, der kein Arabisch konnte, war für den Idschtihād nicht geeignet und stammte auch nicht von den Quraisch ab, was nach der klassischen Lehre (vgl. oben 8.1.4.1.) eine notwendige Voraussetzung dafür war, ein rechtmäßiger Kalif zu werden. Dennoch hatte er geduldet werden müssen, da es niemanden gab, der besser geeignet gewesen wäre, denn immerhin konnte er die Muslime schützen. Nun, da das osmanische Kalifat vor der Auslöschung stehe, sollte nach Ansicht von Raschīd Ridā ein neues arabisches Kalifat begründet werden. Der Scherif Husain kam allerdings wegen seiner pro-britischen Politik, seines Despotismus und Mangels an religiösem Wissen dafür nicht in Frage.
Als im März 1924 durch einen Beschluss der türkischen Nationalversammlung das osmanische Kalifat endgültig abgeschafft wurde, machte man sich in Ägypten, das seit 1922 ein formal unabhängiges Königreich (freilich mit britischer Militärpräsenz!) war und mit der Azhar eine weltweit bekannte islamische Ausbildungsstätte aufzuweisen hatte, offensichtlich Hoffnungen, ein neues Kalifat begründen zu können. Die führenden Azhar-Gelehrten riefen 1924 zu einem internationalen Kongress auf, der ein Jahr später in Kairo stattfinden sollte, und auf dem ein neuer Kalif gewählt werden sollte. Die Initiatoren der Konferenz beabsichtigen, auf der Konferenz den ägyptischen König Fu'ād als Kalifen auszurufen.
Wesentlich hemmungsloser agierte König Husain im Hedschas. Er erklärte sich unverblümt im Frühjahr zum neuen Kalifen, allerdings stieß er mit diesem Anspruch nur in den von ihm und seinen Söhnen beherrschten Gebieten (Hedschas, Transjordanien, Irak) auf Zustimmung. Die Muslime in Indien und Ägypten dagegen wiesen ihn als britischen Agenten zurück. Wenige Monate später zerschlugen sich seine Ambitionen, als die wahhabitischen Ichwān, die sich schon seit 1920 im ʿAsīr festgesetzt hatten, den Hedschas überrannten. Im Oktober 1924 nahmen sie Mekka ein, und Husain musste fliehen, das hāschimitische Königreich des Hedschas wurde somit ausgelöscht. Nur auf dem Gebiet Jordaniens, wo Husains Sohn ʿAbdallāh 1921 als Emir eingesetzt worden war, hat die hāschimitische Dynastie bis heute überlebt.
11.5. Weiterführende Literatur
- Qeyamuddin Ahmad: The Wahhabi Movement in India. 2. Aufl. New Delhi 1994.
- Aziz Ahmad: Islamic modernism in India and Pakistan, 1857-1964. London 1967.
- David Commins: The Salafi Islamic reform movement in Damascus: 1885-1914; religious intellectuals, politics, and social change in late Ottoman Syria. Dissertation University of Michigan 1985.
- Christine Dobbin: Islamic Revivalism in a Changing Peasant Economy. Central Sumatra, 1784-1847. London 1983.
- Hamid Enayat: Modern Islamic Political Thought. The Response of the Shīʿī and Sunnī Muslims to the Twentieth Century. London 2005.
- “Die Fetwa’s des Scheijch-ül-Islâm über die Erklärung des heiligen Krieges, nach dem Ṭanīn, Nummer 2199 vom 15. November 1914“ in Der Islam 5 (1914) 391-393.
- Yohanan Friedman: Prophecy continuous: aspects of Aḥmadī religious thought and its medieval background. London 1989.
- Kemal Karpat: The politicization of Islam. Reconstructing identity, state, faith, and community in the late Ottoman state. Oxford 2001.
- Malcolm Kerr: Islamic Reform: The Political and Legal Theories of Muhammad ʿAbduh and Rashid Rida. Berkeley 1966.
- Martin Kramer: Islam Assembled. The Advent of the Muslim Congress. New York 1986.
- Charles Kurzman: Modernist Islam 1840-1940. A Sourcebook. Oxford 2002.
- Barbara Daly Metcalf: Islamic Revival in British India. Deoband, 1860-1900. New Delhi 2002.
- Azmi Özcan: Pan-Islamism. Indian Muslims, the Ottomans and Britain (1877-1924). Leiden 1997.
- David Robinson: Paths of accommodation. Muslim societies and French colonial authorities in Senegal and Mauritania, 1880–1920. Athens 2000.
- Mark Sedgwick: Muhammad Abduh. Oxford 2010.
- Jay Spaulding and Lidwien Kapteijns: An Islamic alliance. ʿAlī Dīnār and the Sānūsīyya, 1906–1916. Evanston 1994.
11.6. Aufgaben/Fragen
1. Inwieweit hat die wahhabitische Lehre schon bis zum 19. Jahrhundert außerhalb der arabischen Halbinsel Nachahmer gefunden?
2. Welche Rolle spielten Sufis und Sufi-Orden in der Auseinandersetzung mit den europäischen Kolonialmächten im 19. und frühen 20. Jahrhundert?
3. Geben Sie einen Überblick über die Geschichte des Islams im östlichen und südlichen Afrika bis zum 19. Jahrhundert.
4. Wer war Muhammad ʿAbduh und welche Positionen hat er vertreten?
5. Welche Rolle spielte der Islam im Ersten Weltkrieg?
6. Erklären Sie, wie die Ahmadīya entstanden ist und durch welche Lehren sie sich auszeichnet.
7. Wie kam es zu der Wiederbelebung der Kalifatsidee im 19. Jahrhundert und warum wurde das Kalifat 1924 erneut abgeschafft?
8. Erklären Sie, inwieweit die Verdrängung von König Husain aus Mekka auf politischer und religiöser Ebene einen Bruch mit der Vergangenheit darstellt.