Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil I/Vorlesung 10



Mächtigkeiten

Zwei Kinder, die noch nicht zählen können, sitzen im Sandkasten und wollen wissen, wer von ihnen mehr Buddelsachen dabei hat. Sie lösen das Problem, indem beide gleichzeitig je eine Sache aus ihrem Besitz aus dem Sandkasten hinauswerfen, und dies so lange wiederholen, bis ein Kind keine Sachen mehr im Sandkasten hat. Wenn das andere Kind noch Sachen übrig hat, so hat dieses insgesamt mehr Buddelsachen, andernfalls haben sie gleichviel. Dies ist die Grundidee für den Begriff der gleichmächtigen Menge.


Zwei Mengen und heißen gleichmächtig, wenn es eine bijektive Abbildung

gibt.



Es seien und zwei Mengen. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent.

  1. ist leer oder es gibt eine surjektive Abbildung
  2. Es gibt eine injektive Abbildung

. Wenn leer ist, so kann man die leere Abbildung nehmen. Es sei also und sei

surjektiv. Zu jedem gibt es ein mit . Wir wählen für jedes ein solches aus und definieren durch

Wegen ist injektiv.

. Es sei nun eine injektive Abbildung

gegeben. Diese induziert eine Bijektion zwischen und dem Bild von , sei diese Abbildung. Wenn leer ist, so sind wir fertig. Es sei also und sei ein fixiertes Element. Wir definieren

durch

Diese Abbildung ist wegen surjektiv.




Endliche Mengen

Eine Menge heißt endlich mit Elementen, wenn es eine Bijektion

gibt.

Die natürliche Zahl ist dabei nach Aufgabe 2.5 eindeutig bestimmt und heißt die Anzahl (oder die Kardinalität) der Menge. Sie wird mit oder mit bezeichnet. Die bijektive Abbildung

kann man eine Nummerierung der Menge nennen. Eine Menge besitzt also Elemente, wenn man sie mit den natürlichen Zahlen von bis durchnummerieren kann. Zwei endliche Mengen und , für die es eine Bijektion

gibt, besitzen die gleiche Anzahl. Dies beruht einfach darauf, dass diese Bijektion verknüpft mit der bijektiven Nummerierung wieder eine Bijektion ist. Eine Menge, die nicht endlich ist, für die es also keine Bijektion mit für kein gibt, heißt unendlich.



Es sei eine endliche Menge mit Elementen und eine endliche Menge mit Elementen. Es sei .

Dann gibt es keine injektive Abbildung

 Wir nehmen an, dass es eine injektive Abbildung

gibt. Es sei das Bild von unter der Abbildung . Dann ergibt sich eine Bijektion

da sich die Injektivität überträgt und da eine Abbildung immer surjektiv auf ihr Bild ist. Daher haben und gleich viele Elemente. Nach Aufgabe 10.1 ist die Anzahl einer Teilmenge stets kleiner oder gleich der Anzahl der Menge. Also ist im Widerspruch zur Voraussetzung.


Die vorstehende Aussage heißt Schubfachprinzip (oder Taubenschlagprinzip). Es besagt, dass wenn man Tauben auf Plätze verteilt mit , dass dann in mindestens einem Platz mindestens zwei Tauben landen.



Seien und endliche Mengen mit Elementen. Dann sind für eine Abbildung

die Begriffe injektiv, surjektiv und bijektiv äquivalent.

Beweis

Siehe Aufgabe 10.3.



Abzählbare Mengen

Durch den Mächtigkeitsbegriff wird eine Hierarchie auch in die Welt der unendlichen Mengen gebracht. Die zu den natürlichen Zahlen gleichmächtigen Mengen sind die „kleinsten“ unendlichen Mengen. Dies sind die sogenannten „abzählbar unendlichen“ Mengen.


Eine Menge heißt abzählbar, wenn sie leer ist oder wenn es eine surjektive Abbildung

gibt.

Nicht abzählbare Mengen nennt man im Allgemeinen überabzählbar. Aufgrund von Lemma 10.2 ist die Abzählbarkeit von gleichbedeutend damit, dass es eine injektive Abbildung gibt. Beim Nachweis der Abzählbarkeit arbeitet man aber meistens mit der oben angegebenen Definition.

Endliche Mengen sind natürlich abzählbar. Die natürlichen Zahlen sind abzählbar unendlich.


Eine Menge heißt abzählbar unendlich, wenn sie abzählbar, aber nicht endlich ist.



Eine Menge ist genau dann abzählbar unendlich, wenn es eine Bijektion zwischen und gibt.

Es sei

eine surjektive Abbildung. Wir definieren induktiv eine streng wachsende Abbildung

derart, dass bijektiv ist. Wir setzen und konstruieren induktiv über die Eigenschaft, dass die kleinste natürliche Zahl ist, für die nicht zu

gehört. Eine solche Zahl gibt es immer, da andernfalls endlich wäre; also gibt es auch eine kleinste solche Zahl. Nach Konstruktion ist , d.h. ist streng wachsend. Da jedes die Eigenschaft

erfüllt, ist die Gesamtabbildung injektiv.
Zum Nachweis der Surjektivität sei . Wegen der Surjektivität von ist die Faser (also die Urbildmenge zu diesem Element) nicht leer und daher gibt es auch ein kleinstes Element mit . Da streng wachsend ist, gibt es nur endlich viele Zahlen mit . Daher ist und .

D.h. insbesondere, dass alle abzählbar unendlichen Mengen gleichmächtig sind.



Seien und abzählbare Mengen.

Dann ist auch die Produktmenge abzählbar.

Insbesondere ist das Produkt abzählbar.

Wir beweisen zuerst den Zusatz. Die Abbildung

ist injektiv, da für jede positive natürliche Zahl die Zweierpotenz , die sie teilt, und der ungerade komplementäre Teiler eindeutig bestimmt sind (das Bild der Abbildung ist ). Daher ist die Produktmenge nach Lemma 10.2 abzählbar.
Für den allgemeinen Fall seien abzählbare Mengen und gegeben. Wenn eine davon leer ist, so ist auch die Produktmenge leer und somit abzählbar. Es seien also und nicht leer und seien und surjektive Abbildungen. Dann ist auch die Produktabbildung

surjektiv. Nach der Vorüberlegung gibt es eine surjektive Abbildung

sodass es insgesamt eine surjektive Abbildung gibt.



Es sei eine abzählbare Indexmenge und zu jedem sei eine abzählbare Menge.

Dann ist auch die (disjunkte) Vereinigung[1] abzählbar.

Wir können annehmen, dass sämtliche nicht leer sind. Es gibt dann surjektive Abbildungen

Daraus konstruieren wir die Abbildung

die offensichtlich surjektiv ist. Nach Lemma 10.9 ist die Produktmenge abzählbar, also gilt das auch für das Bild unter , und dieses ist die Vereinigung.


Wir ziehen einige wichtige Konsequenzen über die Abzählbarkeit von Zahlenbereichen. Man beachte, dass die natürlichen Inklusionen nicht bijektiv sind. Die Bijektionen, die es zwischen einerseits und bzw. andererseits aufgrund der folgenden Aussagen gibt, respektieren nicht die Rechenoperationen.


Die Menge der ganzen Zahlen

ist abzählbar.

Beweis

Siehe Aufgabe 10.4.


Die Abzählbarkeit der positiven rationalen Zahlen.



Die Menge der rationalen Zahlen

ist abzählbar.

Beweis

Siehe Aufgabe 10.5.



Die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen



Die Menge der reellen Zahlen

ist nicht abzählbar.

 Nehmen wir an, die Menge der reellen Zahlen sei abzählbar, dann ist insbesondere auch das Einheitsintervall abzählbar. Es sei also

eine surjektive Abbildung. Wir betrachten die reellen Zahlen als Ziffernfolgen im Dreiersystem: Jede reelle Zahl besitzt eine eindeutig bestimmte Darstellung als Reihe

wobei die -te Nachkommaziffer ist und wobei nicht fast alle (das bedeutet alle bis auf endlich viele) Ziffern gleich sind (sonst hätte man keine Eindeutigkeit). Wir definieren nun eine reelle Zahl durch mit

Wir behaupten, dass diese Zahl nicht in der Aufzählung vorkommt. Für jedes ist nämlich

da sich nach Konstruktion von an der -ten Nachkommastelle unterscheidet. Also ist doch nicht surjektiv.


Kurt Gödel bewies 1938, dass die Hinzunahme der Kontinuumshypothese zur Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre einschließlich Auswahlaxiom (ZFC) diese nicht widersprüchlich macht. Man kann aber nicht beweisen, dass ZFC widerspruchsfrei ist. Auch das hat Gödel bewiesen.

Ist jede überabzählbare Menge gleichmächtig zu ? Die Kontinuumshypothese behauptet, dass dies gilt. Diese Frage berührt die mengentheoretischen Grundlagen der Mathematik; es hängt nämlich von der gewählten Mengenlehre ab, ob dies gilt oder nicht, man kann es sich also aussuchen. Anders als beim Auswahlaxiom, ohne dessen Akzeptanz eine Vielzahl von mathematischen Schlüssen nicht möglich wäre und die Mathematik ziemlich anders aussehen wüde, ist es für praktische Zwecke unerheblich, wofür man sich entscheidet.


Mit einem ähnlichen (Diagonal)-Argument wie im Beweis zu Satz 10.13 kann man zeigen, dass die Potenzmenge einer Menge stets eine größere Mächtigkeit als die Menge besitzt.


Es sei eine Menge und ihre Potenzmenge.

Dann besitzt eine größere Mächtigkeit als .

Wir nehmen an, dass es eine surjektive Abbildung

gibt, und müssen dies zu einem Widerspruch führen. Dazu betrachten wir

Da dies eine Teilmenge von ist, muss es wegen der Surjektivität ein geben mit

Es gibt nun zwei Fälle, nämlich oder . Im ersten Fall ist also , und damit, nach der Definition von , auch , Widerspruch. Im zweiten Fall ist, wieder aufgrund der Definition von , , und das ist ebenfalls ein Widerspruch.




Fußnoten
  1. Wenn die Teilmengen einer festen Obermenge sind, so ist die Vereinigung in dieser Menge zu nehmen und im Allgemeinen nicht disjunkt. Wenn es sich um Mengen handelt, die nichts miteinander zu tun haben, so ist mit Vereinigung die disjunkte Vereinigung gemeint.


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