Kurs:Lineare Algebra (Osnabrück 2024-2025)/Teil I/Vorlesung 4

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In der linearen Algebra wird stets ein Körper zugrunde gelegt, wobei man dabei grundsätzlich an die reellen Zahlen denken kann. Da es aber zunächst bei Fragen der linearen Algebra nur auf die algebraischen Eigenschaften von ankommt, kann man genauso gut an die rationalen Zahlen denken. Ab der Eigenwerttheorie werden dann auch spezifischere Eigenschaften des Körpers (wie die Existenz von Wurzeln) bedeutsam.

Die „Mutter aller linearen Gleichungssysteme“ ist eine einzige lineare Gleichung in einer Variablen der Form

mit gegebenen Elementen aus einem Körper und gesuchtem . Schon hier zeigen sich drei Möglichkeiten, wie die Lösung aussehen kann. Bei kann man die Gleichung mit dem Inversen von in , also mit , multiplizieren und erhält als eindeutige Lösung

Rechnerisch kann man also die Lösung erhalten, wenn man inverse Elemente bestimmen und mit ihnen multiplizieren kann. Bei hängt das Lösungsverhalten von ab. Bei ist jedes eine Lösung, bei gibt es keine Lösung.



Lineare Gleichungssysteme

Wir beschreiben drei weitere einführende Beispiele, ein alltägliches, ein geometrisches und ein physikalisches, die alle zu einem linearen Gleichungssystem führen.


An einem Stand auf dem Weihnachtsmarkt gibt es drei verschiedene Glühweintöpfe. Alle drei beinhalten die Zutaten Zimt, Gewürznelken, Rotwein und Zucker, allerdings mit unterschiedlichen Anteilen. Die Zusammensetzung der einzelnen Glühweine ist

Jeder Glühwein wird also repräsentiert durch ein Vierertupel, deren einzelne Einträge für die Anteile an den Zutaten stehen. Die Menge aller (möglichen) Glühweine bilden einen Vektorraum  (diesen Begriff werden wir in der übernächsten Vorlesung einführen) und die drei konkreten Glühweine sind drei Vektoren in diesem Raum.

Nehmen wir an, dass keiner dieser drei Glühweine genau den gewünschten Geschmack trifft und dass der Wunschglühwein die Zusammensetzung

hat. Gibt es eine Möglichkeit, den Wunschglühwein durch Zusammenschütten der vorgegebenen Glühweine zu erhalten? Gibt es also Zahlen[1] derart, dass

gilt? Hinter dieser einen vektoriellen Gleichung liegen vier einzelne Gleichungen in den „Variablen“ , wobei die Gleichungen sich aus den Zeilen ergeben. Wann gibt es eine solche Lösung, wann keine, wann mehrere? Das sind typische Fragen der linearen Algebra.


Wir besprechen ein geometrisches Beispiel ähnlich zu Beispiel 1.2, wobei jetzt die Gleichungen nicht homogen sehen müssen.


Zwei Ebenen im Raum, die sich in einer Geraden schneiden.

Im seien zwei Ebenen

und

gegeben.[2] Wie kann man die Schnittgerade beschreiben? Ein Punkt liegt genau dann auf der Schnittgerade, wenn er die beiden Ebenengleichungen erfüllt; es muss also sowohl

gelten. Wir multiplizieren die erste Gleichung mit und ziehen davon das -fache der zweiten Gleichung ab und erhalten

Wenn man setzt, so muss und sein. D.h. der Punkt gehört zu . Ebenso findet man, indem man setzt, den Punkt . Damit ist die Schnittgerade die Verbindungsgerade dieser Punkte, also



Ein elektrisches Netzwerk (ein Gleichstrom-Netzwerk) besteht aus mehreren miteinander verbundenen Drähten, die in diesem Zusammenhang die Kanten des Netzwerks genannt werden. In jeder Kante liegt ein bestimmter (vom Material und der Kantenlänge abhängigen) Widerstand vor. Die Verbindungspunkte , in denen die Kanten zusammenlaufen, nennt man die Knoten des Netzwerks. Wenn an das Netzwerk (bzw. gewisse Kanten davon) eine Spannung angelegt wird, so fließt in jeder Kante ein bestimmter Strom . Es ist sinnvoll, für jede Kante eine Richtung zu fixieren, um die Fließrichtung des Stromes in dieser Kante unterscheiden zu können (wenn der Strom in die entgegengesetze Richtung fließt, so bekommt er ein negatives Vorzeichen). Man spricht von gerichteten Kanten. In einem Knotenpunkt des Netzwerks fließen die Ströme der verschiedenen anliegenden Kanten zusammen, ihre Summe muss ergeben. Entlang einer Kante kommt es zu einem Spannungsabfall , der durch das Ohmsche Gesetz

beschrieben wird.

Unter einer Masche (oder einem Zykel) des Netzwerks versteht man eine geschlossene gerichtete Verbindung von Kanten. Für eine solche Masche ist die Gesamtspannung , es sei denn, es wird „von außen“ eine Spannung angelegt.

Wir listen diese Kirchhoffschen Regeln nochmal auf.

  1. In jedem Knoten ist die Summe der (ein- und abfließenden) Ströme gleich .
  2. In jeder Masche ist die Summe der Spannungen gleich .
  3. Wenn in einer Masche eine Spannung angelegt wird, so ist die Summe der Spannungen gleich .

Aus „physikalischen Gründen“ ist zu erwarten, dass bei einer angelegten Spannung in jeder Kante ein wohlbestimmter Strom fließt. In der Tat lässt sich dieser aus den genannten Gesetzmäßigkeiten berechnen, indem man diese in ein lineares Gleichungssystem übersetzt und dieses löst.

In dem durch das Bild angegebenen Beispiel seien die Kanten (mit den Widerständen ) von links nach rechts gerichtet, und die Verbindungskante von nach (an die die Spannung angelegt sei), sei von unten nach oben gerichtet. Die vier Knotenpunkte und die drei Maschen und führen auf das lineare Gleichungssystem (einfließende Ströme gehen negativ und abfließende Ströme positiv ein; für die Maschen wählt man eine „Kreisrichtung“, im Beispiel nehmen wir den Uhrzeigersinn, und führen die gleichorientierten Spannungen positiv an)

Dabei sind die und vorgegebene Zahlen und die sind gesucht.


Wir geben nun die Definition eines homogenen und eines inhomogenen linearen Gleichungssystems über einem Körper zu einer Variablenmenge.


Es sei ein Körper und für und . Dann nennt man

ein (homogenes) lineares Gleichungssystem in den Variablen . Ein Tupel heißt Lösung des linearen Gleichungssystems, wenn für alle ist.

Wenn beliebig[3] ist, so heißt

ein inhomogenes lineares Gleichungssystem und ein Tupel heißt Lösung des inhomogenen linearen Gleichungssystems, wenn für alle ist.

Die Menge aller Lösungen eines linearen Gleichungssystems heißt die Lösungsmenge. Im homogenen Fall spricht man auch vom Lösungsraum, da es sich in der Tat nach Lemma 6.11 um einen Vektorraum handelt.

Ein homogenes lineares Gleichungssystem besitzt immer die sogenannte triviale Lösung . Ein inhomogenes Gleichungssystem braucht nicht unbedingt eine Lösung haben. Zu einem inhomogenen linearen Gleichungssystem heißt das homogene System, das entsteht, wenn man den Störvektor durch den Nullvektor ersetzt, das zugehörige homogene System.

Die folgende Situation beschreibt die abstrakte Version von Beispiel 4.1.


Es sei ein Körper und . Im seien Vektoren (oder -Tupel)

gegeben und sei

ein weiterer Vektor. Wir wollen wissen, wann sich als „Linearkombination“ der darstellen lässt. Es geht also um die Frage, ob es Elemente mit der Eigenschaft

gibt. Die Gleichheit von Vektoren bedeutet, dass Übereinstimmung in jeder Komponente vorliegen muss, sodass dies zum linearen Gleichungssystem

führt.


Gelegentlich ist ein lineares Gleichungssystem nicht in der Form gegeben, dass die Variablen nur auf einer Seite der Gleichungen auftauchen, wie beispielsweise bei

In diesem Fall muss man das System zuerst durch einfache Additionen und Zusammenfassen der Koeffizienten in jeder einzelnen Gleichung in die Standardgestalt bringen.




Der Matrizenkalkül

Ein lineares Gleichungssystem lässt sich am einfachsten mit Matrizen schreiben. Dies ermöglicht es, die Umformungen, die zur Lösung eines solchen Systems führen, durchzuführen, ohne immer die Variablen mitschleppen zu müssen. Matrizen (und der zugehörige Kalkül) sind recht einfache Objekte; sie können aber ganz unterschiedliche mathematische Objekte beschreiben (eine Familie von Spaltenvektoren, eine Familie von Zeilenvektoren, eine lineare Abbildung, eine Tabelle von Wechselwirkungen, eine zweistellige Relation, ein lineares Vektorfeld etc.), die man stets im Hinterkopf haben sollte, um vor Fehlinterpretationen geschützt zu sein.


Es sei ein Körper und und Indexmengen. Eine -Matrix ist eine Abbildung

Bei und spricht man von einer -Matrix. In diesem Fall schreibt man eine Matrix zumeist tabellarisch als

Wir beschränken uns weitgehend auf den durchnummerierten Fall.

Zu jedem heißt  , , die -te Zeile der Matrix, was man zumeist als ein Zeilentupel (oder einen Zeilenvektor)

schreibt. Zu jedem heißt  , , die -te Spalte der Matrix, was man zumeist als ein Spaltentupel (oder einen Spaltenvektor)

schreibt. Die Elemente heißen die Einträge der Matrix. Zu heißt der Zeilenindex und der Spaltenindex des Eintrags. Man findet den Eintrag , indem man die -te Zeile mit der -ten Spalte kreuzt. Eine Matrix mit nennt man eine quadratische Matrix. Eine -Matrix ist einfach ein Spaltentupel (oder Spaltenvektor) der Länge , und eine -Matrix ist einfach ein Zeilentupel (oder Zeilenvektor) der Länge . Die Menge aller Matrizen mit Zeilen und Spalten (und mit Einträgen in ) wird mit bezeichnet, bei schreibt man .


Zwei Matrizen werden addiert, indem man sie komponentenweise addiert. Ebenso ist die Multiplikation einer Matrix mit einem Element (einem Skalar) komponentenweise definiert, also

und


Die Matrizenmultiplikation wird folgendermaßen definiert.


Es sei ein Körper und es sei eine - Matrix und eine -Matrix über . Dann ist das Matrixprodukt

diejenige -Matrix, deren Einträge durch

gegeben sind.

Eine Matrizenmultiplikation ist nur möglich, wenn die Spaltenanzahl der linken Matrix mit der Zeilenanzahl der rechten Matrix übereinstimmt. Als Merkregel kann man das Schema

verwenden, das Ergebnis ist eine -Matrix. Insbesondere kann man eine -Matrix mit einem Spaltenvektor der Länge (von rechts) multiplizieren, und erhält dabei einen Spaltenvektor der Länge . Die beiden soeben angeführten Matrizen kann man auch in der anderen Reihenfolge multiplizieren (was nicht immer möglich ist) und man erhält


Die - Matrix

nennt man die Einheitsmatrix.

Die Einheitsmatrix besitzt die Eigenschaft für eine beliebige -Matrix . Sie ist also das neutrale Element bezüglich der Multiplikation von quadratischen Matrizen.

Wenn man eine -Matrix mit einem Spaltenvektor multipliziert, so erhält man

Damit lässt sich ein inhomogenes lineares Gleichungssystem mit dem Störvektor kurz als

schreiben. Die erlaubten Gleichungsumformungen (siehe die nächste Vorlesung) durch Manipulationen an den Gleichungen, die die Lösungsmenge nicht ändern, können dann durch die entsprechenden Zeilenumformungen in der Matrix (unter Berücksichtigung der Störvektorseite) ersetzt werden. Man muss dann die Variablen nicht mitschleppen.



Eine - Matrix der Form

nennt man Diagonalmatrix.


Es sei ein Körper und sei eine - Matrix über . Dann nennt man die -Matrix

die transponierte Matrix zu .

Die transponierte Matrix entsteht also, indem man die Rollen von Zeilen und Spalten vertauscht. Beispielsweise ist



Fußnoten
  1. Sinnvoll interpretierbar sind in diesem Beispiel nur positive Zahlen, da man schwerlich aus einem Glühweingemisch die einzelnen verwendeten Glühweinsorten wieder herausziehen kann. In der linearen Algebra spielt sich aber alles über einem Körper ab, sodass wir auch negative Zahlen zulassen.
  2. An dieser Stelle diskutieren wir nicht, dass solche Gleichungen Ebenen beschreiben. Die Lösungsmengen sind „verschobene Untervektorräume der Dimension zwei“.
  3. Ein solcher Vektor heißt manchmal ein Störvektor des Systems.


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