Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2019-2020)/Teil I/Vorlesung 6

„In theory, 'theory' and 'praxis' are the same, in praxis they aren't“



Polynome

Mathematische Abbildungen werden typischerweise durch einen mathematischen Ausdruck beschrieben, eine Funktionsvorschrift, die angibt, wie aus einer eingegebenen Zahl (Stelle, Argument) eine Zahl als Wert (Ergebnis) der Funktion zu berechnen ist. Wir besprechen nun die am einfachsten gebauten Funktionen, die Polynomfunktionen. Deren Definition erfordert nur die Kenntnis von Addition und Multiplikation in einem Körper.


Es sei ein Körper. Ein Ausdruck der Form

mit

heißt Polynom in einer Variablen über .

Dabei heißen die Zahlen die Koeffizienten des Polynoms. Zwei Polynome sind genau dann gleich, wenn sie in allen ihren Koeffizienten übereinstimmen. Die Polynome mit für alle heißen konstante Polynome, man schreibt sie einfach als . Beim Nullpolynom sind überhaupt alle Koeffizienten gleich . Mit dem Summenzeichen kann man ein Polynom kurz als schreiben.


Der Grad eines von verschiedenen Polynoms

mit ist .

Das Nullpolynom bekommt keinen Grad. Der Koeffizient , der zum Grad des Polynoms gehört, heißt Leitkoeffizient des Polynoms. Der Ausdruck heißt Leitterm des Polynoms.

Die Gesamtheit aller Polynome über einem Körper heißt Polynomring über , er wird mit bezeichnet. Dabei nennt man die Variable des Polynomrings.

Zwei Polynome

werden komponentenweise miteinander addiert, d.h. die Koeffizienten der Summe sind einfach die Summe der Koeffizienten der beiden Polynome. Bei sind die „fehlenden“ Koeffizienten von als zu interpretieren. Diese Addition ist offenbar assoziativ und kommutativ, das Nullpolynom ist das neutrale Element und das negative Polynom erhält man, indem man jeden Koeffizienten von negiert.

Zwei Polynome lassen sich auch miteinander multiplizieren, wobei man

setzt und diese Multiplikationsregel „distributiv fortsetzt“, d.h. man multipliziert „alles mit allem“ und muss dann aufaddieren. Die Multiplikation ist also explizit durch folgende Regel gegeben:

Für den Grad gelten die beiden folgenden Regeln

    Der Graph einer Polynomfunktion von nach vom Grad .

    In ein Polynom kann man ein Element einsetzen, indem man die Variable an jeder Stelle durch ersetzt. Dies führt zu einer Abbildung

    die die durch das Polynom definierte Polynomfunktion heißt.

    Wenn und Polynome sind, so kann man die Hintereinanderschaltung einfach beschreiben: man muss in überall die Variable durch ersetzen (und alles ausmultiplizieren und aufaddieren). Das Ergebnis ist wieder ein Polynom. Man beachte, dass es dabei auf die Reihenfolge ankommt.



    Division mit Rest

    Bei einem Polynom interessiert man sich für Nullstellen, Wachstumsverhalten, lokale Extrema und dergleichen. Für diese Fragestellungen ist die Division mit Rest wichtig.



    Es sei ein Körper und sei der Polynomring über . Es seien Polynome mit .

    Dann gibt es eindeutig bestimmte Polynome mit

    Wir beweisen die Existenzaussage durch Induktion über den Grad von . Wenn der Grad von größer als der Grad von ist, so ist und eine Lösung, sodass wir dies nicht weiter betrachten müssen. Bei ist nach der Vorbemerkung auch , also ist ein konstantes Polynom, und damit ist (da und ein Körper ist) und eine Lösung. Es sei nun und die Aussage für kleineren Grad schon bewiesen. Wir schreiben und mit . Dann gilt mit die Beziehung

    Dieses Polynom hat einen Grad kleiner als und darauf können wir die Induktionsvoraussetzung anwenden, d.h. es gibt und mit

    Daraus ergibt sich insgesamt

    sodass also und eine Lösung ist. Zur Eindeutigkeit sei mit den angegebenen Bedingungen. Dann ist . Da die Differenz einen Grad kleiner als besitzt, ist aufgrund der Gradeigenschaften diese Gleichung nur bei und lösbar.


    Die Berechnung der Polynome und heißt Polynomdivision. Das Polynom ist genau dann ein Teiler von , wenn bei der Division mit Rest von durch der Rest gleich ist. Der Beweis des Satzes ist konstruktiv, d.h. es wird in ihm ein Verfahren beschrieben, mit der man die Division mit Rest berechnen kann. Dazu muss man die Rechenoperationen des Grundkörpers beherrschen. Wir geben dazu ein Beispiel.


    Wir führen die Polynomdivision

    (über ) durch. Es wird also ein Polynom vom Grad durch ein Polynom vom Grad dividiert, d.h. dass der Quotient und auch der Rest (maximal) vom Grad sind. Im ersten Schritt überlegt man, mit welchem Term man multiplizieren muss, damit das Produkt mit im Leitterm übereinstimmt. Das ist offenbar . Das Produkt ist

    Die Differenz von zu diesem Produkt ist

    Mit diesem Polynom, nennen wir es , setzen wir die Division durch fort. Um Übereinstimmung im Leitkoeffizienten zu erhalten, muss man mit multiplizieren. Dies ergibt

    Die Differenz zu ist somit

    Dies ist das Restpolynom und somit ist insgesamt




    Es sei ein Körper und sei der Polynomring über . Es sei ein Polynom und .

    Dann ist genau dann eine Nullstelle von , wenn ein Vielfaches des linearen Polynoms[1] ist.

    Wenn ein Vielfaches von ist, so kann man

    mit einem weiteren Polynom schreiben. Einsetzen ergibt

    Im Allgemeinen gibt es aufgrund der Division mit Rest eine Darstellung

    wobei oder aber den Grad besitzt, also so oder so eine Konstante ist. Einsetzen ergibt

    Wenn also ist, so muss der Rest sein, und das bedeutet, dass ist.



    Es sei ein Körper und sei der Polynomring über . Es sei ein Polynom () vom Grad .

    Dann besitzt maximal Nullstellen.

    Wir beweisen die Aussage durch Induktion über . Für ist die Aussage offensichtlich richtig. Es sei also und die Aussage sei für kleinere Grade bereits bewiesen. Es sei eine Nullstelle von (falls keine Nullstelle besitzt, sind wir direkt fertig). Dann ist nach Lemma 6.5 und hat den Grad , sodass wir auf die Induktionsvoraussetzung anwenden können. Das Polynom hat also maximal Nullstellen. Für gilt . Dies kann nach Lemma 4.5  (5) nur dann sein, wenn einer der Faktoren ist, sodass eine Nullstelle von gleich ist oder aber eine Nullstelle von ist. Es gibt also maximal Nullstellen von .



    Der Fundamentalsatz der Algebra

    Es gilt der folgende Fundamentalsatz der Algebra, den wir hier ohne Beweis erwähnen, und der die Wichtigkeit der komplexen Zahlen unterstreicht.


    Jedes nichtkonstante Polynom über den komplexen Zahlen

    besitzt eine Nullstelle.

    Aus dem Fundamentalsatz der Algebra folgt, dass jedes von verschiedene Polynom in Linearfaktoren zerfällt, d.h. man kann

    mit eindeutig bestimmten komplexen Zahlen schreiben (wobei Wiederholungen erlaubt sind).



    Der Interpolationssatz

    Der folgende Satz heißt Interpolationssatz und beschreibt die Interpolation von vorgegebenen Funktionswerten durch Polynome.


    Es sei ein Körper und es seien verschiedene Elemente und Elemente gegeben.

    Dann gibt es ein eindeutiges Polynom vom Grad derart, dass für alle ist.

    Wir beweisen die Existenz und betrachten zuerst die Situation, wo ist für alle für ein festes . Dann ist

    ein Polynom vom Grad , das an den Stellen den Wert hat. Das Polynom

    hat an diesen Stellen ebenfalls eine Nullstelle, zusätzlich aber noch bei den Wert . Nennen wir dieses Polynom . Dann ist

    das gesuchte Polynom. An der Stelle gilt ja

    für und .

    Die Eindeutigkeit folgt aus Korollar 6.6.


    Wenn die Daten und gegeben sind, so findet man das interpolierende Polynom vom Grad , das es nach Satz 6.8 geben muss, folgendermaßen: Man macht den Ansatz

    und versucht die unbekannten Koeffizienten zu bestimmen. Jeder Interpolationspunkt führt zu einer linearen Gleichung

    über . Das entstehende lineare Gleichungssystem besitzt genau eine Lösung , die das Polynom festlegt.


    Lineare Gleichungssysteme werden wir erst später systematisch behandeln, das Eliminationsverfahren oder ein anderes Lösungsverfahren sollte aber aus der Schule bekannt sein.



    Rationale Funktionen

    Im Polynomring kann man addieren und multiplizieren, es handelt sich aber nicht um einen Körper, da man von verschiedene Polynome nicht invertieren kann. Beispielsweise besitzt kein Inverses, im Polynomring gibt es kein Element . Man kann aber mit Hilfe von formal-rationalen Funktionen einen Körper konstruieren. Dazu definiert man

    wobei man zwei Brüche und miteinander identifiziert, wenn

    ist. Auf diese Weise entsteht der Körper der rationalen Funktionen (über ).

    Man kann auch Brüche von Polynomen als Funktionen auffassen, die außerhalb der Nullstellen des Nenners definiert sind. Das Beispiel zeigt den Graphen der rationalen Funktion .


    Diese Brüche kann man wiederum als sinnvolle Funktionen auffassen, allerdings nicht auf ganz . Der Definitionsbereich besteht vielmehr aus dem Komplement der Nullstellen des Nennerpolynoms.


    Zu Polynomen , , heißt die Funktion

    wobei das Komplement der Nullstellen von ist, eine rationale Funktion.



    Fußnoten
    1. heißt dann ein Linearfaktor des Polynoms .


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