Projekt:Praxen der Gerechtigkeit/Aristoteles

In diesem Abschnitt über Aristoteles' Konzept der Gerechtigkeit wird einleitend die Diskussion des Naturbegriffs wieder aufgenommen. Darauf wird die Idee der Gerechtigkeit als ganze Tugend anhand der Freundschaft diskutiert. Daraufhin werden die spezifischen Einzeltugenden der Gerechtigkeit an dem ihnen eigenen Anwendungsbereich spezifiziert. Von austeilender-, über ausgleichende-, bis zu wiederherstellender Gerechtigkeit bietet der Peripatetiker verschiedene Gerechtigkeitsparadigmen an.

Aristoteles' Konzept der Gerechtigkeit Bearbeiten

(Christopher Nils Adolph, Freiburg)

„Der Mensch“, ist nach Aristoteles (384- 322 v. Chr.) „von Natur ein Staatenbildendes Lebewesen.“ (1253a2)[1] Gegen die Vielheit der wandelbaren und widersprechenden ethischen Traditionen rekurriert er mit diesem Grundwort der abendländischen Anthropologie auf eine immer gleichbleibende menschliche Natur.[2] Die menschliche Natur offenbart sich als „der Zustand, welches jedes einzelne erreicht, wenn seine Entwicklung zum Abschluss gelangt ist”. (1252b33)[1] Jedoch sieht er, genau wie Platon, auch von Natur aus einen Unterschied zwischen den Menschen. Jene nämlich, welchen von Natur aus das Gerechte und andere Schöne nicht innewohnt, können auch niemals das wahre Wesen der Tugend oder Untugend, in soweit es sich begreifen lässt, begreifen (s.d.). Im Gegensatz zum biologisch notwendigen Wachstums- und Entfaltungsprozesses des Menschen, zeigen sich Dinge, die ihren Antrieb nicht in sich haben, sondern mittels Anwendung von technischem Wissen durch einen Künstler geworden sind, wie ein Bild oder ein Käsebrötchen. Der Staat allerdings gehört überraschenderweise gerade nicht zu diesen Dingen, die in einem Künstler ihre Ursache haben. Denn er gliedert sich harmonisch ein, in den Prozess der Verwirklichung der Natur nach ihrer Anlage und Möglichkeit (dýnamis). Er war bereits im ursprünglichen „Keim“ der freien Menschen angelegt und steht als verwirklichte menschliche Naturanlage (enérgeia), in einem reziproken Begünstigungsverhältnis zum Menschen. (S. 104)[3]

Die Bewahrung und Realisierung der staatlichen Gemeinschaft, als auch der Glückseligkeit und ihre Bestandteile, hat die schlechtinnigen Tüchtigkeit, die Gerechtigkeit zur Aufgabe. (1129b17)[4] Sicherlich aber sah Aristoteles, eine Vielheit von Besten, Bürgern und Regierenden in verschiedenen Poleis, sich jeweils mehr um die Freundschaft, als um die Gerechtigkeit bemühten (VIII 1, 1155a23f.)[4] und verständlicherweise hielt auch er die Freundschaft als das größere Gut für Staaten (II 4,1262b7 und 10)[1], denn stärker noch als gemeinsame, auf die Idee der Gerechtigkeit bezogene Erinnerung, zeitigen die aus Freundschaft resultierenden „Verschwägerungen und Brüderschaften und Opferfeste und Formen des geselligen Lebens“ (III 10, 1280b35)[1] ihre gemeinschaftskonstituierende Wirkung. Dennoch kann zu Recht davon ausgegangen werden, dass Aristoteles Verdienst in der fortgeführten Ablösung des Mythos durch den Logos und der Legitimation des gerechten Zusammenlebens abseits göttlicher Einwirkung liegt (S. 223)[3] wie die nachstehenden Zeilen verdeutlichen.

Für den Bereich der auf die Idee der Gerechtigkeit bezogenen Erinnerung, unterscheidet Aristoteles bewusst verschiedenen Gerechtigkeiten, je nach Anwendungsbereich. Für den Bereich menschlicher Affekte, wird die vollkommen und ganze Tugend ausgearbeitet, die auch schlicht Gerechtigkeit genannt wird. Alle Tugenden werden in der vollkommenen Tugend aufgehoben, insofern Gerechtigkeit das Anwenden der Tugend auf andere ist, was in sich alle Tugend zusammenfasst. Sie ist zunächst dafür verantwortlich, dass wir zu unseren Grundhaltungen (hexis) oder Handlungen die richtige Mitte oder das richtige Mittelmaß finden. Damit ist mitnichten eine stoische Empfindungslosigkeit gemeint, als vielmehr die Vermittlung von Extremformen von Verhaltensmöglichkeiten in einer Mitte. Diese Formel der richtigen Mitte wird Mesotes genannt. „Es ergibt sich daraus, dass das gerechte Handeln die Mitte ist zwischen dem Unrechttun und dem Unrechtleiden.“ (1133b9)[4] In der Mitte zwischen diesen beiden Extremhaltungen (Unrechttun und dem Unrechtleiden) gilt die Gerechtigkeit als vollkommen gerechtes Verhalten, weil es die Mitte schafft.

Nun wird aber gerade Gerechtigkeit als vollkommene Tugend bezeichnet, weil sie die Anwendung der Tugend den anderen gegenüber ist und nicht nur für sich. (1129b25ff)[4]

„Die Gerechtigkeit ist also jene Tugend, durch die der Gerechte sich für das Gerechte entscheidet und danach handelt und sich im Verhältnis zu anderen oder anderen im Verhältnis zueinander nicht so zuteilt, dass er sich selbst vom Wünschbaren mehr dem anderen weniger gibt, und vom Schädlichen umgekehrt, sondern dass er nach der proportionale Gleichheit verfährt, und dies auch bei anderen untereinander.“ (1134a2-8)[4].

Daran anschließend lässt sich leicht ersehen, warum Aristoteles die Freundschaft als ein größeres Gut wie die Gerechtigkeit für die Staaten hält. Während Gerechtigkeit zunächst nur die Realisierung der vollkommenen und ganzen Tugend in Bezug auf den anderen und nicht nur auf sich selbst ist, kann die Anwendung der Freundschaft noch etwas Zusätzliches bedeuten. Denn Aristoteles statuiert: wo Freunde sind, bedarf es zunächst gar keiner Gerechtigkeit, denn „beim Gerechten ist das Gerechteste dasjenige unter Freunden” (1155a23)[4]

Für den Anwendungsbereich von dem äußeres Glück und Unglück abhängt, differenziert Aristoteles die spezifischen Einzeltugenden der Gerechtigkeit. Bei ihren Anwendungsbereichen ist „konkret gedacht […] an materiellen Gewinn, aber auch an Ehre und Ansehen, an Posten und politische Ämter und an Macht.“ (Bd. 2. S.147)[5] Ein zuviel von diesen Gütern, wie das unter Umständen auch zu wenig haben wollen vom Übel, nennt Aristoteles plenonexia . Diese Zügellosigkeit gilt als ein anthropologischer Wesenszug des Menschen, der immer wieder Ungerechtigkeit zwischen den Menschen verursacht. Weil aber leicht und eindeutig quantifizierend über ein Mehr und ein Weniger, über ein Zuviel und ein Zuwenig von diesen Gütern geurteilt werden kann, deswegen finden sich im Opus des Stagiriten ihre Konterkarierung durch spezifischen Einzeltugenden, die austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit genannt werden.

Die richtige Mitte bei der wird bei der austeilenden Gerechtigkeit nach der arithmetischen Proportionalität gefunden. „Das Gerechte ist also diese Proportion, das Ungerechte ist, was gegen sie verstößt“ (V 6, 1131b17ff.)[4] Ein Anwendungsfall der austeilenden Gerechtigkeit liegt im politischen Streit vor, wenn äußeres Glück und Unglück von politischen Ämtern, Kompetenzen und Geld abhängt, wenn also die arithmetische Proportionalität auf politische Macht angewendet wird. Wenn Gerechtigkeit das ist, was in der staatlichen Gemeinschaft die Glückseligkeit und ihre Bestandteile hervorbringt oder erhält, dann kann Ungerechtigkeit zur gefürchteten Stasis oder Revolution führen. Zur Verhinderung dieser kommt es aber niemals zu eindeutigen Lösungen, selbst wenn es einen eindeutig quantifizierenden Maßstab wie das Geld gibt. Denn jede Partei kann, wenn es Geld im Verhältnis der eingebrachten Leistungen zu verteilen gibt, „gute Gründe für sich anführen, aber jede hat - isoliert genommen – ihre Schwierigkeiten und ihr Unrechtsmoment.“ (S. 155)[5](III 10, 1281ff.)[1]

Von ausgleichender Gerechtigkeit kann im Falle eines zuviel oder zuwenig bei Geschäftsbeziehungen gesprochen werden. Aristoteles unterscheidet jedoch die ausgleichenden Gerechtigkeiten bei freiwilligen und bei unfreiwilligen Geschäftsbeziehungen. Für freiwillige Geschäftsbeziehungen bietet sich die wiederherstellende Gerechtigkeit an. Dafür argumentiert Aristoteles erneut von einer anthropologischen Konstante aus, den menschlichen Grundbedürfnissen. Jene Bedürfnisse können in komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaften nur mehr über den Austausch Befriedigung finden. Um die Kommensurabilität und die verhältnismäßigen Vergeltung beim Austausch sicher zu stellen können, wird sich des Maßstabes Geld bedient. Geld ist allerdings nur Stellvertreter der letztendlich alles zusammenhaltenden Bedürfnisse. Als Kriterium für den gerechten Ausgleich der Bedürfnisse findet sich das Äquivalenzprinzip. Dieses Prinzip besagt: „Geben und Nehmen müssen gleichwertig sein; und dort, wo der Wert umstritten ist, muss es zumindest einen wechselseitigen Vorteil geben.“[6]

Im Bereich von unfreiwilligen Geschäftsbeziehungen kann die richtige Mitte durch korrigierende richterliche Gerechtigkeit widerhergestellt werden. Für diesen Ausgleich bietet sich die Metapher eines in ungleiche Teile geteilten Taus an. Von dem größeren Teil des Taus habe der Richter das Stück wegzunehmen, um welches derselbe Teil größer ist als die genaue Hälfte beider Taustücke zusammen und es zu dem kleinen Teil hinzuzutun. Der Ausgleich wird also hergestellt indem man dem einen das gibt, was man dem anderen nimmt, d.h. der „Gewinn“ des einen muss zum Ausgleich des „Verlustes“ des anderen verwendet werden. „Also ist dieses Gerechte eine Mitte zwischen Gewinn und Schaden in den unfreiwilligen Verhältnissen und so, dass man das Gleiche nachher hat, wie man es zuvor hatte.“ (V 7,1132b17ff.)[4]

Referenzen Bearbeiten

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 [Aristoteles: Politik]: Aristoteles (1976)2 : Politik. Gigon, O. (Hrsg.) München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
  2. Gigon, O. (2000)4 : Einleitung. In: Aristoteles. Die Nicomachische Ethik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. S.63. Wird im Folgenden abgekürzt mit: Gigon (2000).
  3. 3,0 3,1 [Höffe]: Vgl. Höffe, O. (2002)3: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 4,4 4,5 4,6 4,7 [Aristoteles: NE]: Aristoteles (2000)4: Nikomachische Ethik. Gigon, O. (Hrsg.) München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
  5. 5,0 5,1 [Bien 1995]: Bien G.: Gerechtigkeit bei Aristoteles. In: Höffe, O. (Hrsg.): Aristoteles: Die Nicomachische Ethik. Berlin: Akademie Verlag. Klassiker Auslegen.
  6. Höffe, O. (1998)2: Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs. Frankfurt am Main: Suhrkamp.