Moralischer Kontext : Vergleich des Universalität Walzers mit der Pluralität Höffes Bearbeiten

(Christopher Nils Adolph, Freiburg)

AUSWAHL DES KONZENTRATIONSPUNKTS Bearbeiten

Für die folgende Darstellung folgt aus der im Programm (vgl. Kap. 1.3) grundgelegten Unschärferelation, dass zugunsten anderer wichtiger Fragen, nur ein zentraler Konflikt im Forst’schen moralischen Kontext wieder aufgenommen werden kann. Die Begründung des Konzentrationspunktes geht dabei von der sozialwissenschaftlichen Irrelevanz der Kontextdifferenzierung aus. Diese Irrelevanz ist dadurch bedingt, dass der hintergründige Hiatus von Praxis und Theorie von einer im Rahmen der Forst’schen Theorie begrenzten Urteilskraft, nicht überbrückt werden kann. Weil außerdem von autonomen und anerkennenden Individuen derselbe Anspruch nicht eingelößt werden kann, das sie gezwungen sind durch die Transzendenz auf den moralischen Kontext den Hiatus ins »Jenseits hinausführen«, deswegen rückt die folgende Diskussion Forsts Diskurs in die Unschärfe des fundierenden Hintergrunds. Aus diesen bestimmten Negationen und der Unschärferelation folgt die Fokussierung des Verhältnisses von faktischem Pluralismus und universalistischer Entität. Der in diesem Kapitel zu vermittelnde Konflikt entspannt sich also zwischen Pluralismus, der eine heterogene, an die situativen Gegebenheiten angepasste praktische Vernunft fordert und der Universalität, die ein allgemeines, zwischen den partikularen Kulturen vermittelndes Element enthält. Mit Bruchstein und Schmalz-Bruns (1992) lässt sich die in diesem Kapitel die Untersuchung leitende Frage auch folgendermaßen formulieren: Wie Nah, muss eigentlich der Boden einer auch politisch zu effektuierenden Moraltheorie, mit faktisch vorfindbaren moralischen Intuitionen und ethischen Überzeugungen verbunden bleiben? (vgl. Bruchstein, Schmalz-Bruns 1992: 376)

Das neue Politiklexikon der Bundeszentrale für politische Bildung postuliert: ein jeder Universalismus muss sich vor dem politischen Faktum des Pluralismus rechtfertigen. Die an Pluralismus und Demokratie orientierte Enzyklopädie Philosophie (1999) von Hans, J. Sandkühler versucht diesem Postulat Rechnung zu zollen, indem sie »pluralistische Vorstellungen« einheitlich definiert, als

„die Einstellung es sei begründeter, bzw. sinnvoller, eine Heterogenität, Mannigfaltigkeit und Prinzipienvielfalt des in der Welt existierenden anzunehmen als die vom Monismus behauptete Homogenität und Einheitlichkeit einer Welt, die von einem Prinzip regiert wird.“

Aus dieser Definition folgt, dass jeder Monismus als conditio sine qua non, zusätzlich mit Universalismus attribuiert werden sollte, wodurch der Pluralismus dem Partikularismus näher rückt und sich von dem Universalismus entfernt. Universalismus muss aber nicht unversöhnlich dem Pluralismus gegenüber stehen.

So sieht beispielsweise der Friedensnobelpreisträger Sen (2007) in seinem Buch: Identitätsfalle, warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, die jedem Menschen innewohnenden Identitäten, als eine universalistische- zugleich vielfältige Substanz an, „die sich aus seinem Werdegang, seinen Assoziationen und seinen sozialen Aktivitäten ergeben.“ (Sen 2007: 38) In diesem Sinne darf daher der differenzierende Leser zur Einsicht gelangen, dass Sen mit Identität nichts Dauerhaftes und Singuläres bezeichnet, das sich nur durch intellektuelle Bedeutungszuschreibung konstituiert. Das universalistische Faktum der Identität ist vielmehr konstituiert durch eine Pluralität kontingenter, sozialer Bedeutungen (vgl. Sen 2007: 42). Ein Vorbild negativer und undifferenzierter Art liefert hingegen Höffe, der diese Substanz der individuellen Persönlichkeit undifferenziert in einen Gegensatz zum Zen-Buddhismus stellt, welcher dazu auffordere, sein Ich aufzugeben. (vgl. 10H: 278). Statt die damit angezeigte Kontroverse weiter zu verfolgen, die sich aus einer solchen indifferenten Begriffsverwendung ergibt, muss zumindest im Rahmen einer philosophischen Arbeit darauf insitiert werden, die Begriffsinhalte präzise gegeneinander abzugrenzen.

Wie Sen sieht sich auch Walzer verpflichtet, in einer Sozialwelt, die durch die hohe Komplexität einer »Vielfalt moralisch statthafter Implementationen« gekennzeichnet ist (Vgl. 1W: 30), das Bestehen der Identität aus verschiedenen Namen, Bezügen und Identifikationen anzunehmen (vgl. TT: 111). Ja, ihm ist nicht nur die distributive Gerechtigkeit, von der Art und Weise abhängig, wie Güter ersonnen und erzeugt und hernach besessen und benutz werden, sondern sogar die konkrete soziale Identität der Menschen kann aus den sozialen Bedeutungen abgeleitet werden (Vgl. 1W 33). Universelle Einheit zwischen den sich aus der Vielfalt von Identitäten ergebenden »multiplexen« Verhältnissen (Vgl. 1W: 27) schafft erstens eine Art universeller, prozeduraler Kern. Universelle Einheit schafft Walzer auch durch eine Form empirisch- substanziellen Universalismus, der in der Sekundärliteratur als reiterativer Universalismus Diskutiert wird. Diese Universalismen verweisen auf die auf inhaltliche Übereinstimmungen in den normativen Gehalten unterschiedlicher kultureller Gemeinschaften und eröffnet daher die Möglichkeit einer dialogischen Verständigung zwischen unterschiedlichsten, disparat erscheinenden Gemeinschaften (vgl. TT 36; Haus 2000: 80). Universalität und Pluralismus scheinen auf den ersten Blick also auch hier eine produktive Kombination einzugehen.

Ausgehend von der Erfahrung als kritisches, „kulturproduzierende Wesen“ („culture-producing creatures“) sollen diese universelle Kerne im folgenden Abschnitt erläutert werden. Kontrastiert wird er im übernächsten Abschnitt von Höffes Pluralismusverständnis, die Kollision der Begrifflichkeiten wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels skizziert.

DREI ARTEN VON UNIVERSALISMUS IN WALZERS WERK Bearbeiten

Es gibt ein „Bild des Selbst“, schreibt Walzer in der Einleitung zu Thick and Thin, das 10 Jahre nach seinem Hauptwerk Sphären der Gerechtigkeit erschienen ist, das mit der »komplexen Gleichheit« und mit anderen Versionen von Komplexität vereinbar ist (vgl. TT: 11). Bei diesem Selbst muß es sich um ein »Divided Self«, also ein »geteiltes Selbst« handeln, weil dieses allein in der Lage ist der Komplexität realer Erfahrung Rechnung zu tragen. In dreifacher Hinsicht formen Erfahrungen dieses »Selbst«: Erstens teilt es sich in verschiedene Rollen und die damit verbundenen Handlungsinteressen, die es in den unterschiedlichen Gesellschaftssphären wahrzunehmen hat (Mutter, Vater, Berufsrolle usw.). Zweitens teilt es sich in unterschiedliche Identitäten, die sich vor dem Hintergrund verschiedenster Identifikationsinstanzen aufbauen (Herkunft, Geschlecht, Religion usw.). Drittens teilt sich das Selbst zudem noch im Blick auf seine eigenen moralischen Vorzugswürdigkeiten. „Es spricht nach Walzer nicht mit einer moralischen Stimme, sondern zeugt von einer moralischen Polyphonie.“ (Schnell 2001: 229, vgl. TT: 112) Das Selbst versteht sich und seine Welt immer schon vor dem Hintergrund semantischer Bezugssysteme (vgl. Schnell 2001: 344), ist also stark beeinflusst durch die komplexe Realität, in der es sich gerade befindet, indes ist die soziale Realität umgekehrt auch von der inneren Verfassung des Selbst beeinflusst, ja, das Selbst ist sogar ihrer „verantwortlichen Bearbeitung verpflichtet“ (Schnell 2001: 345). Zwischen Gesellschaft und Individuum besteht demnach ein notwendiger Konnex, eine gegenseitige Abhängigkeit und ein symbiotisches Verhältnis. „Natürlich neige ich zu der Auffassung,“ postuliert Walzer, „dass ein dichtes, geteiltes Selbst das charakteristische Produkt einer dichten, differenzierten und pluralistischen Gesellschaft ist und deshalb auch eine solche Gesellschaft benötigt.“ (TT: 132) Die Grenzen dieser Gesellschaft werden politisch festgelegt, und aus dem oben gesagten ergibt sich, dass an diesem Konstruktionsprozess „nicht nur die einzelnen Bürger, sondern alle Selbstkritiker und jedes kritisierte Selbst, aus denen diese Bürger bestehen.“ (TT: 132)

Solcherart interdependent konstruierte Selbste und Gesellschaften „sind die einzigen, die wir kennen“ (TT:92) und zugleich verantwortlich für eine unendliche Anzahl von Lebensformen. Jede einzelne steht nicht nur in Wechselwirkung mit „spezifische Gruppen dichter Selbste“ (TT: 132) sondern auch mit einer „unendlichen Zahl von möglichen Kulturen, Religionen, politischen Systemen, geographischen Gegebenheiten usw.“ (1W: 441).

Als Grundlage des Selbstbestimmungsuniversalimus lässt sich damit zum einen die erfahrungsgesättigte Einsicht in den „Pluralism itself“ (Walzer 1995: 297) bestimmen, der auch als Einsicht in die ‚Gleichheit der Differenz’ ausgedrückt werden kann, „d.h. die Erfahrung, dass andere Gemeinschaften der eigenen im Streben nach je spezifischer kultureller Selbstbestimmung fundamental gleich sind.“ (Haus 2000: 83) Am prägnantesten hat Walzer dieser Bedingung der Selbstbestimmung als »Reziprozität« (vgl. R: 288) Ausdruck verliehen. Dazu gehört aber zum anderen auch, dass die Erfahrung von Pluralität nicht in Indifferenz einmündet. Sie muß also mit einer spezifischen Haltung gepaart auftreten, einem Geistes- und Gefühlszustand von Toleranz und gegenseitigen Respekt (Walzer 1990: 11) , von Achtung (TT: 147) und Anstand (Walzer 2007: 13). Nur wenn der Reziprozität in dieser Haltung begegnet wird, führt der politisch- religiöse Essayist aus, ist die Selbstbestimmung eine schöpferische Kraft, die den Menschen gemeinsam ist. „Und sie ist nicht die Kraft, dasselbe auf die gleiche Weise zu tun, sondern die Kraft, viele verschiedene Dinge auf verschiedene Weise zu tun: Sie ist die (schwach) widergespiegelte, verteilte und partikularisierte Allmacht Gottes.“ (TT: 150) Die partikulare Teilnahme an dieser universellen Kraft kommt den Mitglieder qua ihrer Mitgliedschaft zu. „Sie sollten sich selbst regieren dürfen – (ihren eigenen politischen Vorstellungen gemäß) -, soweit sie dazu […] in der Lage sind.“ (TT: 92; Herv. i. O.) Das universelle Recht eines jeden Menschen /Volkes auf Selbstbestimmung besteht also darin, die Gesellschaft gemäß eigener Vorstellungen und eigene Vorstellungen zu modifizieren und zu kontrollieren. In diesem Zusammenhang gelingt es Walzer auch die Menschheit als ganzes anzusprechen: „Die Menschen müssen entscheiden, jeder für sich.“ (U: 14) Aus diesem Grund gewinnt dieser Selbstbestimmungsuniversalimus nicht nur in Extremsituationen und im Verhalten gegenüber fremden Gemeinschaften praktische Relevanz, die Walzer vielfach illustriert hat (Vgl. TT: 86ff.; auch Walzer 2007 : 11ff.), sondern er stellt auch an den Alltag die Anforderung sich von einem Respekt vor diesem Verständnis leiten zu lassen, um damit die Sache der Gerechtigkeit zu verfolgen und das gemeinsame Vorhaben zu befördern. (Vgl. 1W 451)

Jedoch sollte mitnichten angenommen werden, dass universelle Selbstbestimmung in derselben Form in jeder der unendlichen Anzahl von Lebensformen verwirklicht ist. Es gilt nämlich in Betracht zu ziehen, dass aus den jeweils spezifischen sozialen Zielen, Bedeutungen und Sinngehalten der Mitglieder einer jeden partikularen Gesellschaft sich die gemeinsamen Vorstellungen dessen ergeben, was im jeweils konkreten einzelnen Fall »Selbstbestimmung« bedeutet. Diese durchaus disparaten Bedeutungen haben jedoch nicht die extreme Konsequenz die Unmöglichkeit von gelingender Verständigung zwischen Gesellschaften zur Folge. Denn neben jedem konkreten, einzelnen Verständnis des Wertbegriffs »Selbstbestimmung«, welches bei Walzer das maximale oder dicke Verständnis genannt wird, gibt es auch ein abstraktes (oder minimal- dünnes) Verständnis. Die dünnen Bedeutungen der Wertbegriffe resultiert wenn alle partikularistische Bedeutung abgestreift ist. Diese dünne oder synonym auch minimale Bedeutungen sind die Bedingung für den Zugang zu gegenseitigem Verständnis (vgl. TT: 15f.) und spontaner Solidarität (TT: 25). Sie sind aber keine Voraussetzung der maximalen Bedeutung, sie sind „vielmehr in die Maximalmoral eingebettet; sie werden in derselben Sprache ausgedrückt und teilen dieselbe (historische/ kulturelle/ religiöse/ politische) Ausrichtung.“ (TT: 15) In Adaption der entsprechenden Passage aus Walzer Werk lässt sich postulieren: alle Menschen auf der Welt sollten die Sache der minimalen Bedeutung unterstützen – sich der Verteidigung von dünnen Wertbegriffen und Ideen anschließen (vgl. TT: 16). Sobald jedoch die Menschen danach suchen,

„was für sie das Beste ist, was ihrer Geschichte und Kultur entspricht, sind sie keine Universalisten mehr, und sie werden nicht darauf bestehen, dass wir übrigen ihre Entscheidung gutheißen oder wiederholen.“(TT: 16; Herv. i. O.)

Selbstbestimmung lässt sich also bis hierher in zweifacher Hinsicht als universell beschreiben: Einmal als universelle Gemeinsamkeit bezüglich der Haltung zu Selbstbestimmung. Ein zweites Mal als Teil eines universellen und minimal- dünnen Verständnisses von »Selbstbestimmung« das sich mit »Wahrheit«, »Gerechtigkeit« (vgl. TT: 16), »Leben« und »Freiheit« (vgl. Walzer 2007: 13) zu einem Kanon erweitern lässt. Dieser Minimalismus baut also insofern auf dem noch grundlegenderen Universalismus der Selbstbestimmung auf, als er universelle Mindeststandards für die Behandlung von Menschen bei der Ausübung von kollektiver Selbstbestimmung definiert. Er „liefert einen Rahmen, für jedes mögliche (moralische) Leben, aber nur einen Rahmen in dem alle wesentlichen Details erst noch ausgefüllt werden müssen“. (KG: 35)

Eine dritte Hinsicht der universellen Gültigkeit über die Grenzen einer beschränkten, partikularen Gemeinschaft hinaus kann in der Bedeutung des Terminus reiterativer Universalismus beschrieben werden. Dieser reiterative Universalismus Walzers bezieht sich nicht auf den uneingeschränkten Möglichkeitsraum der Interpretationsvariabilität, sondern umfasst eine Reihe von Werten wie Unabhängigkeit, Innerlichkeit, Individualismus, Selbstbestimmung, Selbstkontrolle, Freiheit und Autonomie (U: 15) bzw. einen sozialdemokratischen Wertekanon, der individual freedom, dignity, responsibility, equality, mutual respect, hard work, craftmanship, honesty, and loyality umfasst, aber auch recht verstanden authority and property (vgl. Walzer 1980: 19 in: Haus 2000: 16) . Auch die kommunitarische Selbstbestimmung kann in die Reihe der reiterativen Wertethik eingereiht werden (vgl. Haus 2000: 83f.) und macht diese Reihe dennoch nicht zu einem exhaustiven Kanon. Denn zwar schlägt Walzer vor die Prinzipien ‘trans-sphere’ zu nennen, „but they are not transcendent, standing over and above all social goods.“ (R: 294)

Ein tiefer gehendes Verständnis des reiterativen Universalismus kann durch die exklusive Beschreibung des »Covering Law«–Universalismus erreicht werden. Damit meint Walzer einen Universalismus, der glaubt, dass so wie es einen Gott auch eine Goldene Regel gibt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Ich bin der HERR.“ Ebenso gibt es „eine Gerechtigkeit, ein richtiges Verständnis des guten Lebens, oder der guten Gesellschaft oder der guten Herrschaft, eine Erlösung, einen Messias, ein Millenium für die ganze Menschheit.“ (U: 8) Dabei lässt sich zur Entstehungszeit der Goldenen Regel um das 6. Jahrhundert vor Christus auch im Buddhismus eine stark überlappende Formulierung finden: "Verletze nicht andere auf Wegen, die dir selbst als verletzend erschienen." (Udana-Varga 5, 18), und auch im Jahr 2000 formuliert das Internetauktionshaus eBay in seinem Verhaltenscodex wieder: „Wir fordern jeden dazu auf, sich anderen gegenüber so zu verhalten, wie er von ihnen behandelt werden möchte.“ Niemand könnte unkorrumpiert behaupten, dass die ins Auge stechende Familienähnlichkeit (vgl. U: 19) der Formulierungen einer Überstülpung der ersten Formulierung über all die anderen geschuldet sei, wie es der covering-law Universalimus behauptet. Vielmehr gilt es angesichts des historischen Ansatzes in Betracht zu ziehen, dass die Goldene Regel zum einen vielfache soziale Differenzierungen aufweist und sich zum anderen in den unterschiedlichen kulturellen Formulierungen inhaltliche Übereinstimmungen zeigen (vgl. Haus 2000: 80). „Wir respektieren die unterschiedlichen Ergebnisse dieser Regel, insofern wir sie als Wiederholungen unserer eigenen moralischen Bemühung erkennen, die wir bei ähnlichen Anlässen, aber unter anderen historischen Bedingungen und unter dem Einfluss anderer Glaubensvorstellungen über die Welt unternommen haben.“ (U: 23) Als eigentlichen Grund für dergleichen reiterative Universalismen lässt sich daher unsere Erfahrung des Gemeinsamen angeben, in dem wir uns alle befinden und in dem wir uns auch erfahren (vgl. Mall 1995: 47ff.) . Die Goldene Regel lässt sich zwar auch als covering-law beschreiben, jedoch ist der Universalismus „empirischer“ Überschneidungen jenseits totalitärer Einheit und jenseits der substanziellen Erfahrung den partikularen, internen Konstruktionsprozessen verpflichtet (vgl. Haus 2000: 47f.), wie jede besondere Situation, die die Goldene Regel umfasst, einzigartig ist. Die Anerkennung der Überlappungen ist additiv und induktiv und bedarf deshalb keines äußeren Standpunktes oder einer universalen Perspektive (U: 20), als vielmehr einen Geistes- und Gefühlszustand von Toleranz und gegenseitigem Respekt (U: 11).

Mit Schnell (2000) lässt sich zusammenfassen: Walzers minimalistischer Universalismus ist sowohl partikularistisch als auch pluralistisch, weil er reiterativ Bemächtigungen zulässt, d.h. abweichende, individuelle und kreative Aneignungen der genannten Werte, Ideen und Interessen (vgl. Schnell 2001: 87). Gleichzeitig unterliegt dem reiterativen Universalismus jedoch eine weitere universelle, verallgemeinerbare Regel, die nicht als Substanz oder Prinzipiengruppe denkbar ist (vgl. Schnell 2001: 88). Damit ist das universelle Recht auf Zuerkennung der Freiheit zur Reiteration gemeint, oder kurz: der Selbstbestimmungsuniversalismus (vgl. Schnell 2001: 88).

HÖFFES PLURALISTISCHER KOSMOS Bearbeiten

Höffes Opus spricht für einen Universalismus in Kantischer Tradition. Ausgehend von einer Maximenethik, die sich für deskriptive, teils anthropologische, teils ethische, teils aber auch geschichtlich-kulturelle Erfahrungen ausdrücklich offen hält, nimmt er einen Universalisierungstest vor. Dieser Test allein ist in der Lage, Auskunft über die Norm zu geben, dementsprechend soll mit seiner Hilfe die moralische Selektion und Dignifikation der Maximen vorgenommen werden (vgl. 10H: 323). Die Haltung der Person:

Damit nicht subjektives Gefühl, Mitleid oder Wohlwollen, sondern „die ganze Menschheit in unserer Person uns heilig“ (Kant 1990: 151) ist, muß das Subjekt die „sittliche bzw. moralische Gesinnung [annehmen], die das von der Moral Verlangte als solches will.“ (10H: 314). Schließlich muß das vom sittlichen Gefühl der Achtung getränkte Subjekt pflichtgemäß und um der uneingeschränkten Verbindlichkeit und Allgemeinheit seiner Maximen willen den Verallgemeinerungstest in drei Stufen ausführen:

„Sie beginnen jenseits der bloß momentanen und subjektiven Gültigkeit (Nullstufe) und führen vor einer zwar noch subjektiven, aber übermomentanen, sogar gesamtbiographischen Gültigkeit (Stufe 1) über eine subjektive, gesamtsoziale Stufe (Stufe 2) zu einer schlechthinnigen Gültigkeit (Stufe 3)“ (10H: 277).

Welche Art Pluralismus und Differenzerkenntnis korrespondiert dieser an Kant angelehnten Form des Universalismus? Eine Korrespondenzanalyse der Höffeschen Version von Universalismus könnte sicherlich nur schwer zu den folgenden Antworten gelangen:

Klarerweise sieht Höffe die fortschreitende Tendenz zur Differenzierung in modernen Gesellschaften, die zu „immer zahlreicheren Gruppen, mit eigenen Interessen, Überzeugungen und Verhaltensweisen“

(11H: 106) führt. Diese historische Sichtweise wird ergänzt durch eine systematische, die den Pluralismus als Merkmal der modernen Lebenswelt problematisiert, weil ihm ein übergeordnetes, einendes Prinzip fehlt (vgl. 11H: 103). Nach der Betrachtung einer weiteren Reihe von Kritiken am politischen, empirischen, normativen und demokratietheoretischen Pluralismus (vgl. 9H: 105ff.), die unter anderem herausstellt, dass Pluralismus ein einseitiger und undialektischer Begriff sei, „der die Vielfalt im Gegensatz zur Einheit, die Konkurrenz im Gegensatz zur Kooperation, auch die Geschichtslosigkeit im Gegensatz zur gemeinsamen Geschichte betont“ (9H: 110) kommt der Autor von Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999) zu seinem Schluss: „Lebensfähig u. wünschenswert ist kein absoluter, nur ein relativer Pluralismus.“ (9H: 233; herv. von mir, CNA) Weil Höffe die kritischen Vermittlungskategorien des Pluralismus allein in den Dienst der Legitimations-Erklärungsfunktion gestellt wissen will, betont er deswegen nachdrücklich, dass Pluralismus, wie der mit ihm im Verein auftretende Begriff der Toleranz, immer auf Freiheit und Gerechtigkeit bezogen bleiben müsse (vgl. 9H: 110). Pluralismus ist also Ottfried Höffe nicht Zweck seiner Selbst, sondern nur Mittel zum Zweck von Freiheit und Gerechtigkeit (vgl. 11H: 113). Mit dieser Gerechtigkeit ist jedoch ein transzendental begründetes metaphysisches Prinzip gemeint, welches anhebt fundamental die Einheit des Staats- und Rechtwesen zu begründen und damit sowohl einen letzten Zweck als auch den ersten Grund alles Politischen abgibt (vgl. 8H: 296). Auch durch die präzise Bestimmung und Argumentation mit diesem Prinzip verliert Höffe genau jene postulierte »Allgemeinheit in Bescheidenheit« (8H: 121), die er dafür reklamiert und die in Walzers »Minimalismus« durchklingt. Wie sehr das pluralistische Chaos, das Höffe keinesfalls als solches, sondern immer im Sinne eines transzendentales Prinzip als Kosmos interpretieren will, durch seinen legitimen und regulativen Dioskuren »Gerechtigkeit« und »Freiheit« eingeschränkt wird, - wie stark der dreifaltige Universalismus Walzers dem beschränkten Pluralismus widerspricht, - wie lange Walzers radikaler Pluralismus den übergeordneten Gesichtspunkten der Höffeschen Theorie und ihrem vereinheitlichenden Verfahren stand hält, lässt schon die folgende, oberflächlich vergleichende Kenntnisnahme beider Positionen erahnen.

DIVERZENZEN ZWISCHEN PLURALISMUS UND UNIVERSALISMEN Bearbeiten

Walzers Minimalismus will gerade nicht zu Substanzen und primordialen Prinzipiengruppen oder dichter Beschreibung vordringen und verpflichtet deswegen dazu, im minimal- dünnem Verständnis von Werten, Ideen und Interessen, diese bar aller inhaltlichen Konkretionen anzusehen. In der Folge davon liefern Gerechtigkeit und Freiheit zusammen mit anderen Werten, Ideen und Interessen, wie Wahrheit oder Selbstbestimmung, nur den Rahmen, in dem alle wesentlichen Details durch Diskussion und Interpretation erst noch ausgefüllt werden müssen. Auf eine systematische Deduktion von Moralen aus diesem »kleinsten gemeinsamen Nenner« als Ausdruck der Verfasstheit von Wirklichkeit will Walzer verzichten. Denn wer es tut, vereinheitlicht die multiplexe Wirklichkeit zugunsten eines Sets von Leitprinzipien (vgl. Schnell 2001: 240). Genau diese Intention verfolgt aber Höffe in seiner „Fundamentalphilosphie des Politischen“ (4H: 34). Gegen ein dünnes Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit erscheinen die beiden Prinzipien hier in systematischer Absicht konsensualisiert, weil sich aus ihnen „systematisch eine Erste Philosophie des Politischen“ (4H: 28) ergeben soll. Ausgehend von diesem universellen Konsens verteidigt Höffe eine »shared-justice«, die als elementare moralische Verbindlichkeit von allen Kulturen und Epochen gleicherweise anzuerkennen ist (vgl. 7H: 172). Zwar fixiert Höffe in seinem Baustein zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs das, was wir anderen Kulturen zumuten dürfen, auf nicht mehr als den Grundgedanken der Menschenrechte, „die wechselseitig zu gewährende Unverletzlichkeit jedes Menschen“ (7H: 79). Aber in krassem Gegensatz zu Walzers minimal- dünnem Verständnis von Gerechtigkeit stellt der Höffesche Grundgedanke legitimatorische Überlegungen an bezüglich des »transzendentalen Interesses« und »transzendentalen Tauschs«, Überlegungen, die zugleich inhaltliche Bestimmungen, d.h. Bestimmungen der Bedeutung von Gerechtigkeit und Freiheit, sind (7H: 145; vgl. 7H: Kap. 3). Diese mit Bedeutung angefüllte Begrifflichkeiten verhindern gerade was der Anspruch von Höffes Philosophie ist: „der Menschheit eine Identität in Verschiedenheit“ (7H: 79) zu erlauben.

Dieser Gegensatz zwischen der dünnen Bedeutung im Sinne Walzers und Gerechtigkeit und Freiheit im Sinne Höffes bricht weiter auf, wenn man Höffes Legitimation weiter ausdifferenziert. Mit der transzendentalen Legitimation der beiden Prinzipien untrennbar verbunden sind neben dem ethischen Argument »Tausch« auch die »anthropologischen Konstanten« einer stets gegebene Möglichkeit von Konflikten, sowie Vernunftbegabung und Sprachfähigkeit (vgl. 7H: 172) und andere Thesen in anthropologischer oder deskriptiver Manier (vgl. 6H: 43). Sie alle treten als sphären- und bedeutungsindifferente Prinzipien auf, weil sie sich im oben angezeigten Verständnis Höffes verallgemeinern (universalisieren) lassen. Selbstbestimmung der Bürgerschaft ist damit normativ auf einen Bereich vor aller Selbstgesetzgebung eingeschränkt (vgl. Brunkhorst 1997: 230). Für Walzer hingegen steht als Tatsache fest, dass es kein einziges universelles Verhalten innerhalb aller Gesellschaften gibt. Aus dieser bestimmten Negation auf eine universale Vorgabe für das Verhalten zwischen Gemeinschaften kann er folgerichtig auf den Selbstbestimmungsuniversalismus schließen. Der Walzerapologet Haus (2000) formuliert diesen Universalismus prägnant: „Alle Gemeinschaften müssen demnach das Selbstbestimmungsrecht aller anderen akzeptieren.“ (Haus 2000: 78) Höffe schließt sich vordergründig diesem Universalismus der Selbstbestimmung an, mit seinem Plädoyer für Demokratie: „das Gemeinwesen wird von den Betroffenen selbst autorisiert.“ (Höffe 2004: 161 ; vgl. 8H: 383ff.) Was allerdings hinter dieser Fassade steckt, ist ein starres Konstrukt dessen, was Demokratie genau zu sein habe (vgl. 4H: 448) und dass sie aus eben denselben, oben bereits genannten legitimatorischen Gründen, notwendig zusammen mit Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechten sowie der Sozialstaatlichkeit gepaart auftreten müsse (Vgl. 4H: 180).

Quer steht auch der reiterative Universalismus, wie ihn Walzer auf pluralistischer und partikularistischer Grundlage denkt, zu Höffes transzendentaler Tauschphilosophie. Zwar diskutiert er in seinem jüngsten Werk Lebenskunst und Moral als Gegensatz, den er als vollständige Übereinstimmung zu vermitteln schafft, so dass sich der Gegensatz von Lebenskunst und Moral nur als scheinbarer erweist: „Wo man die Theorie der Lebenskunst zu Ende denkt, geht sie in die Theorie eines moralischen Lebens über.“ (10H: 342) Jedoch fehlt dieser anspruchsvollen Konvergenz die Offenheit für die Ansprüche eines radikal Anderen (Lévinas), genauso wie alle anderen Ansprüche, die qua ihrer Fremdheit außerhalb der vermittelten Dichotomie Lebenskunst- Moral stehen und nur durch Zwang integriert werden.

Zwar geht Höffe in seiner Diskussion auf Personengruppen ein, die nicht die geforderten Voraussetzungen für seine Gerechtigkeit mitbringen (z.B. geistig-körperlich behinderte Menschen oder Flüchtlinge) und betont, dass gegenüber dem genannten Personenkreis der Rechtsschutz eine Aufgabe der Solidarität ist (vgl. 4H: 427, vgl. Nida- Rümelin 1997: 316). Letztlich jedoch kommt Höffe zu einem vernichtenden Urteil: „für moralische Forderungen, die wie Wohlwollen oder Solidarität über die Gerechtigkeitsansprüche hinausreichen […] zeigt sich […] kein Anlass.“ (4H: 77) Relevant sei allein die rundum legitimierte Rechts- und Staatsgemeinschaft als Zentrum der zwangsbefugten Gesellschaft (vgl. Kap. 4.3). Bildet diese Aussage also einem performativen Selbstwiderspruch in Höffes Konzeption? Die Wiederaufnahme der Solidaritäts-Diskussion anhand der Vermittlung von praktischer Vernunft und Migration in Kapitel 4.4 hat dies deutlich herauszustellen. Das Kapitel 4.3 hingegen wird den Konflikt von Höffe mit Walzer vor dem Hintergrund des hermeneutischen Zirkels (Gadamer) zwischen „Teil und Ganzem“ weiter vertiefen.

Referenzen Bearbeiten