Der Ausgang platonischer Gerechtigkeitslehre wird in einer Darstellung der Pluralität von Gerechtigkeitsparadigmen und abstrakten Menschentypen genommen. Einheit in dieser Vielheit schafft die egalitäre Annahme einer dreifaltigen Seele, die sich aus den hierarchisch zueinander geordneten vernünftigen, mutigen und triebhaften Seelenteilen zusammensetzt. Jedem Seelenteil wird je eine Funktionsklasse von Menschen und eine Anzahl von Tugenden zugeordnet. Die Gewährung der Einheit und des funktional geordneten Zusammenhangs obliegt der Harmonie und der Tugend der Gerechtigkeit.

Platons Paradigma der Gerechtigkeit

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(Christopher Nils Adolph, Freiburg)

Platon (427-347 v. Chr.) geht in seiner Argumentation von der Relativität der Gerechtigkeit aus. In seinem Dialog Gorgias lässt er beispielsweise Kallikles zwischen Gerechtigkeit nach dem Gesetz (nomôs) und Gerechtigkeit der Natur nach[1] unterscheiden. An anderer Stelle stellt Platon den Geburtshelfer Sokrates im Dialog mit einer anderen Pluralität von Gerechtigkeitsparadigmen dar. Zunächst mit dem greisen Kephalos, der meint gerecht sei, wer ehrlich ist und seine Schulden zurück erstattet. (328c.)[2] Ihm folgt Polemarchos, der ein Wort des Dichters Simonides einwirft, es sei gerecht, jedem das abzustatten, was ihm gebühre. (331d)[2] Darauf in rascher Abfolge Trasymachos, (338c)[2] dann Glaukon (347a)[2] schließlich Adeimantos. (362d)[2] Jeder dieser Dialogpartner vertritt jeweils ein anderes Paradigma der Gerechtigkeit. Aber nicht nur den nach den Gerechtigkeitsparadigmen, das die einzelnen vertreten, sondern auch nach ihrer Natur, unterscheidet Platon die Menschen. Von Natur aus sind gemäß Platon, die Menschen einander nicht egalitär gleich. Vielmehr befinden sich die einzelnen Menschen, seit sie von der unveränderlichen und primordialen Idee des Menschen abfielen und entarteten, auf verschiedenen Stufen des Verfalls und somit ungleich weit, von der Uridee des Menschen entfernt.

„Der Mensch, das höchste unter den Lebewesen, ist von den Göttern geschaffen worden; die übrigen Arten entstehen aus ihm durch einen Prozess des Verfalls und der Degeneration. Zunächst entarten gewisse Männer – die Feiglinge sind und Bösewichte; aus ihnen werden die Weiber.“ (S. 67)[3]

Dem antiken Philosophen ist es faktisch und ideologisch nicht möglich, eine Gleichbehandlung von den vergleichsweise zur Uridee defizitären Frauen anzunehmen. Aber auch unter ihren integeren männlichen Gattungsgenossen befinden sich welche die stärker oder schwächer qualifiziert sind. Über den dequalifizierenden Naturgrund schreibt er in seinem siebten Brief:

„Daher können alle, die dem Gerechten und dem, was sonst schön ist, nicht von Natur zuneigen und ihm artverwandt sind, mögen sie auch für dies und das zugleich lernfähig und erinnernd sein, und alle, die zwar artverwandt, aber nicht lernfähig und erinnernd sind - keiner von denen wird jemals, soweit das möglich ist, die Wahrheit über menschlichen Wert und Unwert erfahren.“ [4]

Dennoch, Platons Intention besteht nicht darin, eine heillose Zerspaltung der Gesprächsteilnehmer und der gesamten Gesellschaft zu fördern, sondern er möchte einen Konsens in der Pluralität etablieren. Diesen Konsens sucht er durch Einsicht in die Seele des Menschen zu erringen. Zunächst geht Platon davon aus, dass jeder Mensch egalitär eine Seele besitzt, die sich aus drei verschiedenen Seelenteilen zusammensetzt. Diese drei Seelenteile: vernünftiger, mutiger und triebhafter Seelenteil, sind nicht autark und stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Den ersten, seine Vernunft kennzeichnenden Teil der Seele, kommt das Herrschen über die Anderen zu. Ihm obliegt die Sorge über die ganze Seele aufgrund dessen, weil ihm allein mittels Vernunft die Weit-, und Einsicht sowie der nötige Durchblick gegeben ist, der ihn in die Weisheit eingeweiht. Der mittlere, von Mut und Tapferkeit gezeichnete Seelenteil, ist dem Höchsten daher gehorsamer Helfer. (441d)[2] Der unterste, am meisten abgewertete Seelenteil, muss auch am meisten gezwungen werden. Er zeichnet sich durch tierische Triebhaftigkeit und unedle Affektionen aus. Gemäß dieser hierarchischen Seelenzergliederung wird nach dem Analogieschluss jedem Seelenteil je eine Funktionsklasse von Menschen und eine Anzahl von Tugenden zugeordnet. (434d)[2] Das ergibt im Platonischen Idealstaat folgendes dezidierte Bild:

Die erste Tugend der Weisheit gehört zu dem vernünftigen Seelenteil und der kleinen Gruppe der Herrschenden. Sie besteht nicht im Wissen über die konkreten Verfahren, wie etwa das Bauen von Häusern, sondern im vernünftigen Wissen über das Ganze der Stadt (428d, Dem unterliegt, wie Hannah Arendt in Vita activa richtig sieht, das Verhältnis von Befehlen und gehorchen und nicht das freier Praxis.)[2] Dieses vernünftige Wissen ist aus dem Vorbild oder der Gestalt (e?d??) erschließbar. Ihm inklusive sind auch die notwendigen Mittel und die Zeit, die zu einem Anfang führen können, wenn ein Befehl ausgesprochen wird, dem die Unwissenden gehorchen, indem sie die Produktion beginnen. Kurz: „der Weise soll Führen und Herrschen und der Unwissende soll ihm folgen.“ (S. 169)[3] Die zweite Tugend der Tapferkeit und des Mutes gehört zu dem mittleren Seelenteil und der Gruppe der Hüter. Sie wird analog zu einem Freund und Feind unterscheidenden Hund entwickelt. (375a)[2] Seine Intentionen und Motive sind zugunsten der Überbetonung einer instrumentalen, funktionalen und technokratischen Dimension aufgehoben. Daher besteht vom Hund nur die mutvolle Beständigkeit und die tapfere Charakterstärke angesichts von Schmerz, Furcht oder Begierde. Die dritte Tugend der Besonnenheit kann als Mäßigung von Lüsten und Begierden (430e)[2] definiert werden. Sie gehört in einem Zwangsverhältnis zu der unteren Klasse, der per se zügellosen Arbeiter und Bauern. Besonnenheit, die generell keine Tugend der dritten Funktionsklasse ist, weil sie vor allem von dem restringierten Seelenteil bestimmt ist, darf ihr aufgezwungen werden, weil sie sich als eine Klasse offenbart, die „die Verhältnisse des Leibes in Bezug auf die Übereinstimmung in der Seele ordnet.“ (591d)[2] Prohibitiv wird Besonnenheit daher von den mit Sanktionsmacht und Gewaltmitteln ausgestatteten Hütern in Gehorsam transformiert. (431c)[2] Verursacher der Einforderung von Besonnenheit sind die Befehle jener, die am meisten das Gute und die Ideen schauen und am wenigsten die Getriebenheit von Begehren und Lust lieben. Platons Tugendsystem besteht also aus „drei den von ihm unterschiedenen drei Seelenteilen zugeordneten Tugenden – die Mäßigkeit (sophrosyne), die Tapferkeit (andreia) und die Weisheit (sophia) – und eine vierte, ihnen übergeordnete und für das richtige Gleichgewicht verantwortliche Tugend, die Gerechtigkeit (dikaiosyne).“[5]

Die Gerechtigkeit ist der Primus aller vier Tugenden, die das Verhältnis der drei Seelenteile, Tugenden und Funktionsklassen zueinander bestimmt. Sie gehört zu jener begehrenswertesten Art von Gütern, die um ihrer selbst und um ihrer Folgen willen begehrenswert sind. (357a ff)[2] Zur gleichen Art von Gütern gehört auch das regulative Prinzip des Guten. Die Erwähnung der dogmatischen Annahme einer höchsten Idee des Guten ist in unserem Zusammenhang deshalb wichtig, weil das Streben danach von Platon als ein fundamentales Existential zum Menschen gehörig gedacht wird. Nicht genug damit, dass alle Menschen mit dem Begehren (orexis) zum Guten hin beschäftigt sind, sondern das Gute selbst ist entelechisch gedacht, d.h. es ist durch sich und an sich die Ursache für alles Rechte und Schöne. (517b)[2] Wenn also Menschen nach dem Guten streben, das seinerseits wieder die Ursache des Gerechten ist, dann sieht Platon mit Installation dieses Triebs nach dem Guten, zugleich einen Gerechtigkeitssinn in der Tiefe der Seele installiert. Gerechtigkeit ist damit zur natürlichen Ursache geworden, für die Gewährung eines Gleichgewichts in den Menschen und zwischen ihnen. Wird von Gerechtigkeit in dieser natürlichen Hinsicht gesprochen, kann man sie als Harmonie verstehen. Harmonie durchwaltet gemäß Platon den Kosmos im Ganzen, (530d)[2] trotz einer Pluralität verschiedener Seelenteile, Tugenden, Funktionsklassen und Gerechtigkeitsparadigmen, die teilweise in antagonistischen Gegensätzen zueinander stehen. Mit Gerechtigkeit im Sinne von Harmonie ist das im Kosmos waltende Prinzip gemeint, welches prästabilisiert und immer durch sich und an sich nach Ausgleich strebt.

Die Gerechtigkeit soll nun in einer weiteren, der funktionalen Hinsicht, charakterisiert werden. Denn in funktionaler Instanz garantiert sie über Harmonie hinaus, den sozialen Zusammenhalt, in dem sie die Verschiedenheit der Pluralität ausgleicht. Gerechtigkeit in funktionaler Hinsicht besteht immer dann, wenn gemäß dem Trieb nach dem Guten, jeder zu seiner Zeit das Seine tue. (443a, 443c, 441d)[2] Dem entgegen kann sie auch als eine Tugend verstanden werden, die im instrumentellen Sinne für die gerechte Zuordnung sorgt, sodass ein Jeder das seine tue. Die Zergliederung der Seele respektive des Gemeinwesens, kann von hier aus als eine funktionale Differenzierung verstanden werden, die solange die Ordnung durch Gerechtigkeit gewahrt ist, eine Funktionstüchtigkeit gewährleistet. Wenn nur jeder sich an seine Tugend hält, der weise Lenker lenkt, der mutige und tapfere Wächter wacht und die zur Besonnenheit gezwungenen Arbeiter und Bauer arbeiten und bauen, solange bleibt auch die Funktionstüchtigkeit und Gerechtigkeit gewahrt. Ungerechtigkeit und zugleich größter Schaden entsteht hingegen, wenn die Funktionsklassen sich in die Geschäfte anderer Klassen einmischen oder mit ihnen tauschen. (434b)[2] Das bezieht auch horizontale Durchlässigkeit, d.h. eine Mischung der Klassen mit ein, die als Ungerechtigkeit bewertet und die es im platonischen Staat daher nie geben darf. (434)[2] Das gute Ziel der Tugend der Gerechtigkeit ist also, dass Jedes das Seine tut und alles zu seiner Zeit geschieht.

Referenzen

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  1. Platon (1973): Gorgias. In: Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Zweiter Band Eigler, G. (Hrsg.) Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 482e.
  2. a b c d e f g h i j k l m n o p q r [Der Staat]: Platon (1971): Der Staat. In: Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Vierter Band Eigler, G. (Hrsg.) Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  3. a b [Popper 1980]: Popper, K. R.: (1980)6: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I. Der Zauber Platons. München: Francke Verlag.; Vgl. auch Platon (1972): Timaios. In: Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Siebter Band Eigler, G. (Hrsg.) Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 90e-92c
  4. Platon (1983): Briefe. In: Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Fünfter Band Eigler, G. (Hrsg.) Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 344a. Im Folgenden abgekürzt mit: Platon: 7. Brief.
  5. Bollnow, O.F. (1958): Wesen und Wandel der Tugenden. Frankfurt am Main: Ullstein Verlag. S. 24f.