Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2018-2019)/Teil I/Vorlesung 8

Wir führen nun die Addition und die Multiplikation von natürlichen Zahlen ein. Dabei müssen wir uns kurz klar machen, um was für eine Struktur es sich überhaupt handelt. Bei der Addition (der Multiplikation) wird zwei[1] natürlichen Zahlen und eine neue Zahl, ihre Summe (ihr Produkt ) zugeordnet. In der vierten Vorlesung haben wir schon aus zwei Mengen ihre Vereinigung bzw. ihren Durchschnitt gebildet. In der sechsten Vorlesung haben wir Abbildungen hintereinandergeschaltet und so eine neue Abbildung bekommen. Für diese Situationen gibt es das Konzept der Verknüpfung. Um dies angemessen formulieren zu können, benötigen wir die Produktmenge.



Produktmengen

Es seien zwei Mengen und gegeben. Dann nennt man die Menge

die Produktmenge der beiden Mengen.

Die Elemente der Produktmenge nennt man Paare und schreibt . Dabei kommt es wesentlich auf die Reihenfolge an. Die Produktmenge besteht also aus allen Paarkombinationen, wo in der ersten Komponente ein Element der ersten Menge und in der zweiten Komponente ein Element der zweiten Menge steht. Zwei Paare sind genau dann gleich, wenn sie in beiden Komponenten gleich sind. Bei einer Produktmenge können natürlich auch beide Mengen gleich sein. Dann ist es verlockend, die Reihenfolge zu verwechseln, und also besonders wichtig, darauf zu achten, dies nicht zu tun. Wenn eine der beiden Mengen leer ist, so ist auch die Produktmenge leer.


Es sei die Menge aller Vornamen (sagen wir der Vornamen, die in einer bestimmten Grundmenge an Personen wirklich vorkommen) und die Menge aller Nachnamen. Dann ist

die Menge aller Namen. Elemente davon sind in Paarschreibweise beispielsweise , und . Aus einem Namen lässt sich einfach der Vorname und der Nachname herauslesen, indem man entweder auf die erste oder auf die zweite Komponente des Namens schaut. Auch wenn alle Vornamen und Nachnamen für sich genommen vorkommen, so muss natürlich nicht jeder daraus gebastelte mögliche Name wirklich vorkommen. Bei der Produktmenge werden eben alle Kombinationsmöglichkeiten aus den beiden beteiligten Mengen genommen.



Ein Schachbrett (genauer: die Menge der Felder auf einem Schachbrett, auf denen eine Figur stehen kann) ist die Produktmenge

Jedes Feld ist ein Paar, beispielsweise . Da die beteiligten Mengen verschieden sind, kann man statt der Paarschreibweise einfach schreiben. Diese Notation ist der Ausgangspunkt für die Beschreibung von Stellungen und von ganzen Partien.



Bei zwei reellen Intervallen und ist die Produktmenge einfach das Rechteck

Allerdings muss man bei einem Rechteck im Hinterkopf behalten, welche Seite das erste und welche Seite das zweite Intervall ist. Für schreibt man häufig auch .


Man kann auch mehrfache Produktmengen bilden, wie etwa .

Für eine Abbildung

ist der Graph diejenige Teilmenge von , die durch alle Paare der Form gegeben sind. Diese Definition überträgt sich auf beliebige Abbildungen. Es existiert also stets ein Graph unabhängig von seiner zeichnerischen Realisierbarkeit. Diese hängt davon ab, ob man die Produktmenge aus Definitionsmenge und Wertemenge gut visualisieren kann.


Es seien und Mengen und es sei

eine Abbildung. Dann nennt man

den Graphen der Abbildung .



Verknüpfungen

Eine Verknüpfung auf einer Menge ist eine Abbildung

Statt Verknüpfung sagt man auch Operation. Das Verknüpfungszeichen ist hier einigermaßen willkürlich gewählt, um vorschnelle Assoziationen zu vermeiden. In vielen konkreten Situation steht hier oder . Das „neue“ Element heißt dann auch das Ergebnis der Operation. Da das Ergebnis wieder zur Ausgangsmenge gehört, kann man es weiter verknüpfen mit weiteren Elementen. Dies erfordert im Allgemeinen Klammerungen, um zu wissen, in welcher Reihenfolge welche Elemente miteinander verknüpft werden sollen. Im Allgemeinen ist


Eine Verknüpfung

auf einer Menge heißt assoziativ, wenn für alle die Gleichheit

gilt.

Man sagt auch, dass für die Verknüpfung das Assoziativgesetz oder die Klammerregel gilt.


Eine Verknüpfung

auf einer Menge heißt kommutativ, wenn für alle die Gleichheit

gilt.

Man sagt auch, dass für die Verknüpfung das Kommutativgesetz oder das Vertauschungsgesetz gilt. Die Addition und die Multiplikation auf den natürlichen Zahlen sind beide assoziativ und kommutativ.


Es sei eine Menge mit einer Verknüpfung

gegeben. Dann heißt ein Element neutrales Element der Verknüpfung, wenn für alle die Gleichheit gilt.

Bei der Addition auf den natürlichen Zahlen ist das neutrale Element und bei der Multiplikation auf den natürlichen Zahlen ist das neutrale Element. Deshalb ist es in der abstrakten Formulierung sinnvoll, eine unbelastete Bezeichnung zu wählen. Wenn die Verknüpfung kommutativ ist, so muss man die Eigenschaft des neutralen Elementes nur von einer Seite überprüfen.



Die Addition auf den natürlichen Zahlen

Die Addition auf den natürlichen Zahlen ist eine vertraute Operation und es gibt viele Möglichkeiten, sie einzuführen. Je nach Kontext und Absicht sind unterschiedliche Ansätze besser geeignet. Zur rechnerischen Definition der Addition ist etwa das schriftliche Addieren im Dezimalsystem besonders effektiv, während zum Nachweis der Assoziativität die inhaltliche Interpretation als disjunkte Vereinigung von Mengen sinnvoll ist. Um ein klares Fundament zu haben, muss man sich bei einem systematisches Aufbau der Mathematik dafür entscheiden, was man als Definition nimmt, und dann beweisen, dass der gewählte Zugang auch andere Charakterisierungen erlaubt und somit mit anderen Zugängen übereinstimmt.

Wir wollen die Addition auf den natürlichen Zahlen definieren, und zwar allein unter Bezug auf das Nachfolgernehmen, das das Zählen charakterisiert. Das Nachfolgernehmen ist ein Prozess, den man iterieren kann. Sowohl der Startwert des Nachfolgernehmens als auch die Anzahl, wie oft ein Nachfolger genommen werden soll, wird durch natürliche Zahlen beschrieben. Die -fache Durchführung eines Prozesses bedeutet, dass er so oft durchgeführt wird, wie es die Menge vorgibt.


Die Summe zweier natürlicher Zahlen und ist diejenige natürliche Zahl, die man erhält, wenn man von ausgehend -fach den Nachfolger nimmt.

Die Operation heißt die Addition und die beteiligten Zahlen nennt man die Summanden. Nach dieser Definition wird also ausgehend von der Nachfolgerprozess -fach durchgeführt. Bei ist dies als der nullte Nachfolger, also als selbst, zu verstehen. Bei ist dies der erste Nachfolger, ist also die erste Zahl nach . Die Summe ist also mit Nachfolgerstrichen. Wenn umgekehrt

ist, so ist der -te Nachfolger der gleich . Man beachte, dass hier die Addition in einer Weise definiert wird, in der die Kommutativität keineswegs offensichtlich ist, das wird sich aber gleich ergeben.

Das kleine Einsundeins. Das Umlegungsprinzip schlägt sich in der Additionstabelle darin nieder, dass in den Linksunten nach Rechtsoben-Diagonalen konstante Werte stehen.



Für die Addition der natürlichen Zahlen (mit der in Definition 8.10 festgelegten Addition) gelten die folgenden Aussagen.

  1. für alle , d.h. ist das neutrale Element der Addition.

  2. für alle (Umlegungsregel).

  3. Die Addition ist kommutativ.
  4. Die Addition ist assoziativ.
  5. Aus einer Gleichung folgt
    (Abziehregel).
  1. Die Gleichungen links und rechts sind unmittelbar klar, da der -te Nachfolger der gleich ist.
  2. Die Ausdrücke besagen prozesstheoretisch das gleiche: Links geht man von der Zahl aus und nimmt einmal öfters als -mal den Nachfolger. In der Mitte bestimmt man -fach den Nachfolger von und nimmt von diesem Ergebnis den Nachfolger. Rechts nimmt man von den Nachfolger und davon dann -fach den Nachfolger.
  3. Es ist

    für alle zu zeigen. Diese Gleichungen zeigen wir durch Induktion über für alle . Bei steht beidseitig nach Teil (1). Es sei die Gleichheit nun für ein (und alle ) schon bewiesen. Dann ist unter Verwendung der Induktionsvoraussetzung und Teil (2)

    die Gleichung gilt also auch für .

  4. Wir beweisen die Assoziativität, also die Gleichheit

    durch Induktion über (für alle gleichzeitig). Mit der Regel aus (2) und der Induktionsvoraussetzung ergibt sich direkt

  5. Die Abziehregel beweisen wir ebenfalls durch Induktion über . Der Fall

    ist klar. Es sei also die Aussage für ein schon bewiesen und sei eine Gleichung der Form

    gegeben. Dann ist nach der Umlegungsregel auch

    Nach der Induktionsvoraussetzung ist somit

    Da die Nachfolgerabbildung injektiv ist, ergibt sich


Für einige alternative Begründungen siehe die Aufgaben. Teil (2) kann man auch so verstehen, dass man eine Summe dadurch berechnen kann, dass man sukzessive den ersten Summanden um eins erhöht (also den Nachfolger nimmt) und den zweiten um eins vermindert (also den Vorgänger nimmt), falls ist. Dies macht man so lange, bis der zweite Summand ist. Der dabei entstandene neue erste Summand ist die Summe. Statt Umlegungsregel sagt man auch Umlegungsprinzip oder man spricht von einer „gegensinnigen Veränderung“, was auch oft bei Rechnungen effektiv eingesetzt wird, wenn man etwa rechnet. Die folgende Aussage besagt, dass durch das Umlegungsprinzip die Addition bereits festgelegt ist.


Auf den natürlichen Zahlen

gibt es genau eine Verknüpfung

mit

Die Addition erfüllt nach Lemma 8.11  (1, 2) diese Eigenschaften.

Es seien zwei Verknüpfungen und auf gegeben, die beide diese charakteristischen Eigenschaften erfüllen. Es ist zu zeigen, dass dann diese beiden Verknüpfungen überhaupt übereinstimmen. Wir müssen also die Gleichheit

für alle beweisen. Dies machen wir durch Induktion über (für beliebige ). Bei

ist wegen

die Aussage richtig. Es sei die Aussage nun für ein bestimmtes schon bewiesen. Dann ist mit der charakteristischen Eigenschaft und der Induktionsvoraussetzung



Es seien natürliche Zahlen. Dann ist

nur bei und möglich.

Wenn wäre, so wäre ein Nachfolger einer natürlichen Zahl (nämlich der -te Nachfolger von ), was für die ausgeschlossen ist. Also ist . Wegen

ist auch der erste Summand gleich .




Addition und disjunkte Vereinigung
Das Vereinigungsprinzip und die Kommutativität der Addition

Die Standardinterpretation der und wichtigste Motivation für die Addition zweier natürlicher Zahlen ist, dass sie die Anzahl der Vereinigung von zwei disjunkten endlichen Mengen angibt. Wenn man zwei Körbe von Äpfeln hat und diese zusammenschüttet, so ist die Gesamtanzahl gerade die Summe der beiden Einzelanzahlen. Es ist möglich, die Addition von natürlichen Zahlen darüber zu definieren. Vorteile sind die unmittelbare Anschauung, Nachteile, dass man eine Zahl durch eine endliche Menge repräsentieren muss, und nicht klar ist, welche man nehmen soll und es nicht selbstverständlich ist, dass unterschiedliche gleichgroße disjunkte Mengen nach Vereinigung gleichgroß sind (was heißt das?). Der Vorteil bei unserer Definition ist, dass man die Addition auf einen elementareren Prozess, nämlich den Prozess des Zählens bzw. Nachfolgernehmens zurückführt. Dies erlaubt es, Gesetzmäßigkeiten zu beweisen, indem sie per Induktion auf elementare Schritte zurückgeführt werden. Beide Konzepte sind wichtig, und natürlich will man, unabhängig davon, wie man die Addition nun eingeführt hat, schnell wissen, dass die beiden Konzepte übereinstimmen. Dazu ist es hilfreich, im Vereinigungskonzept auch Einzelschritte zu erkennen. Dies ist wieder das Umlegungsprinzip: Die Vereinigung kann man sich so vorstellen, dass schrittweise ein Element (ein Apfel) der zweiten Menge in die erste Menge umgelegt wird, siehe auch Aufgabe 4.15 und Aufgabe 5.16.

Bei einem solchen Einzelschritt erhöht sich die erste Anzahl um eins (Nachfolger) und die zweite Anzahl verringert sich um eins (Vorgänger). Das deckt sich mit Lemma 8.11  (2).



Es seien und disjunkte endliche Mengen mit bzw. Elementen.

Dann besitzt ihre Vereinigung gerade Elemente.

Die Voraussetzung besagt, dass es eine bijektive Abbildung

und eine bijektive Abbildung

gibt. Die Abbildung

ist nach Aufgabe 8.29 bijektiv, sei die Umkehrabbildung. Somit ist nach Lemma 6.4  (3)

ebenfalls bijektiv. Wir definieren nun eine Abbildung

durch

Diese Abbildung ist surjektiv, da jedes Element aus durch den ersten Fall und jedes Element aus durch den zweiten Fall abgedeckt ist. Die Injektivität sieht man so. Wenn

gegeben sind, und das eine Element zu und das andere zu gehört, so ist und (oder umgekehrt) und sie sind verschieden wegen der Disjunktheit von und . Wenn hingegen und aus der gleichen Teilmenge des Definitionsbereiches kommen, so ergibt sich die Verschiedenheit von und aus der Injektivität von bzw. von . Insgesamt erhalten wir also eine bijektive Abbildung

sodass die Anzahl von gleich ist.

Das Zählen von natürlichen Zahlen kann man auch auf dem Zahlenstrahl realisieren, indem man ausgehend von einem Startpunkt schrittweise um eine Strecke einer fixierten Länge (Einheitsstrecke) nach rechts hüpft (wie in der fünften Vorlesung erwähnt) Die Addition bedeutet in diesem Modell, dass man vom Punkt ausgehend -mal nach rechts hüpft. Das Umlegeprinzip bedeutet in diesem Kontext, dass man von dem einen Punkt aus nach rechts und vom anderen Punkt aus simultan nach links hüpft, bis der letztere Punkt im Nullpunkt landet. Die Addition bedeutet hier einfach, dass man die beiden gegebenen Punkte mit ihren Pfeilen (Vektoren) vom Nullpunkt aus identifiziert und dann diese Pfeile hintereinanderlegt. Dieses Modell hat den Vorteil, dass in ihm auch die Addition von rationalen Zahlen oder reellen Zahlen in gleicher Weise beschrieben werden kann.


Später werden wir in Satz 15.6 beweisen, dass die Addition mit dem schriftlichen Addieren ausgerechnet werden kann, dass also der Algorithmus des schriftlichen Addierens korrekt ist.



Fußnoten
  1. Es ist hier auch erlaubt, dass die beiden Zahlen gleich sind. Dann könnte man sich an dem Wort zwei stören, da ja dann nur eine Zahl vorliegt. In einem solchen Zusammenhang sind die Zahlangaben so zu verstehen, dass sie zählen, wie oft eine Zahl aufgerufen wird.


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