Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2018-2019)/Teil II/Vorlesung 31

In den folgenden Vorlesungen werden wir uns mit linearer Algebra beschäftigen. Sie ist uns bereits in der 22. Vorlesung des ersten Semesters im Rahmen der Proportionalität und der linearen Funktionen begegnet. In der linearen Algebra wird stets ein Körper zugrunde gelegt, wobei man dabei grundsätzlich an die rationalen Zahlen denken kann.



Lineare Gleichungen

Die „Mutter aller linearen Gleichungssysteme“ ist eine einzige lineare Gleichung in einer Variablen der Form

mit gegebenen Elementen aus einem Körper und gesuchtem . Schon hier zeigen sich drei Möglichkeiten, wie die Lösung aussehen kann. Bei kann man die Gleichung mit dem Inversen von in , also mit , multiplizieren und erhält als eindeutige Lösung

Rechnerisch kann man also die Lösung erhalten, wenn man inverse Elemente bestimmen und mit ihnen multiplizieren kann. Bei hängt das Lösungsverhalten von ab. Bei ist jedes eine Lösung, bei gibt es keine Lösung. Wir untersuchen nun die entsprechende Situation, wenn es mehr als eine Variable gibt.


Definition  

Es sei ein Körper und . Dann nennt man

eine (homogene) lineare Gleichung in den Variablen zu den Koeffizienten , . Ein Tupel[1] heißt Lösung der linearen Gleichung, wenn ist.

Wenn ein weiteres Element ist, so heißt

eine inhomogene lineare Gleichung und ein Tupel heißt Lösung der inhomogenen linearen Gleichung, wenn ist.

Im Sinne von 17. Vorlesung des ersten Semesters handelt es sich um eine Bedingungsgleichung. Insbesondere soll nach den Tupeln gesucht werden, die die Gleichung erfüllen .[2]

Statt von Koeffizienten spricht man auch von Parametern der Gleichung. Da die Lösungen im Produktraum liegen, sollte man sich von Anfang an um eine geometrische Deutung der Situation bemühen. Bei liegen die Lösungspunkte in der Ebene, bei im Raum. Einfache Beispiele wie das folgende zeigen aber auch, dass es künstlich wäre, die Anzahl der Variablen auf zu beschränken, um eine geometrische Vorstellbarkeit zu sichern.


Beispiel  

Lucy Sonnenschein befindet sich an einem Obststand und möchte für Euro Obst kaufen. Dabei kosten (jeweils pro hundert Gramm) die Kirschen Euro, die Heidelbeeren Euro, die Himbeeren Euro und die Trauben Euro. Ein Einkauf wird durch ein Tupel repräsentiert, wobei sich die einzelnen Zahlen auf die gekaufte Menge (in hundert Gramm) der Obstsorten bezieht. Der Einkaufspreis ist somit

und die Bedingung, genau Euro auszugeben, führt auf die Gleichung

bzw. in Brüchen

Es gibt hier sehr viele Lösungen. Sie kann beispielsweise nur Kirschen kaufen, dann wären das Einheiten von den Kirschen und von den anderen Sorten. Als Tupel geschrieben ist diese Lösung . Oder sie könnte für jede Sorte gleich viel, nämlich Euro, ausgeben wollen, das würde das Lösungstupel ergeben. Oder sie möchte von jeder Sorte gleich viel kaufen. Dann wäre und es ergibt sich die Bedingung

also

und das Lösungstupel . Die entscheidende Beobachtung an der Situation ist, dass man sich (zumindest, wenn man auch negative Zahlen zulässt) frei vorgeben darf und dass dadurch der Wert über

bestimmt ist.




Lemma  

Es sei ein Körper und

eine lineare Gleichung über in den Variablen . Es sei .

Dann steht die Lösungsmenge der Gleichung in einer natürlichen Bijektion zum , und zwar über die Abbildungen

und

Beweis  

Wenn fixiert ist, so gibt es genau eine Möglichkeit für , die lineare Gleichung zu erfüllen, nämlich


Eine entsprechende Aussage gilt an jeder Stelle mit , die übrigen Einträge legen dann fest. Die Lösungsmenge notiert man als

Die Variablen treten in dieser Darstellung als freie Variablen auf, deren Werte frei vorgegeben werden dürfen, während dadurch der Wert für (abhängige Variable) eindeutig festgelegt wird.



Lineare Gleichungssysteme

Bei einem linearen Gleichungssystem gibt es mehrere lineare Gleichungen in einer gegebenen Menge von Variablen, die gleichzeitig erfüllt werden sollen. Wir beginnen mit drei einführenden Beispielen.


Beispiel  

Lucy Sonnenschein befindet sich an einem Obststand und möchte für Euro Obst kaufen. Gleichzeitig möchte sie, dass das Obst genau Milligramm Vitamin C enthält. Die Kirschen kosten (jeweils pro hundert Gramm) Euro und besitzen Milligramm Vitamin C, die Heidelbeeren kosten Euro und besitzen Milligramm Vitamin C, die Himbeeren kosten Euro und besitzen Milligramm Vitamin C und die Trauben kosten Euro und besitzen Milligramm Vitamin C. Ein Einkauf wird durch ein Tupel repräsentiert, wobei sich die einzelnen Zahlen auf die gekauften Mengen (in hundert Gramm) der Obstsorten beziehen. Die Geldbedingung führt auf die lineare Gleichung

und die Vitaminbedingung führt auf die lineare Gleichung

Beide Bedingungen sollen simultan erfüllt sein, gesucht sind also die Tupel , die beide linearen Gleichungen erfüllen.



Beispiel  

Mustafa Müller und Heinz Ngolo sind im Fanshop von Borussia Dortmund. Mustafa zahlt für sieben Wimpel und fünf Aufnäher zusammen 46 Euro und Heinz zahlt für vier Wimpel und sechs Aufnäher zusammen Euro. Wie viel kostet ein Wimpel und wie viel kostet ein Aufnäher? Dies führt zu einem linearen Gleichungssystem mit zwei Variablen und zwei Gleichungen, die beiden Unbekannten sind die Preise für einen Wimpel (sagen wir ) und einen Aufnäher (sagen wir ). Mustafas Rechnung führt auf die Bedingung

und Heinz' Rechnung führt auf die Bedingung



Beispiel  

An einem Stand auf dem Weihnachtsmarkt gibt es drei verschiedene Glühweintöpfe. Alle drei beinhalten die Zutaten Zimt, Gewürznelken, Rotwein und Zucker, allerdings mit unterschiedlichen Anteilen. Die Zusammensetzung der einzelnen Glühweine ist

Jeder Glühwein wird also repräsentiert durch ein Vierertupel, deren einzelne Einträge für die Anteile an den Zutaten stehen. Die Menge aller (möglichen) Glühweine bilden einen Vektorraum und die drei konkreten Glühweine sind drei Vektoren in diesem Raum.

Nehmen wir an, dass keiner dieser drei Glühweine genau den gewünschten Geschmack trifft und dass der Wunschglühwein die Zusammensetzung

hat. Gibt es eine Möglichkeit, den Wunschglühwein durch Zusammenschütten der vorgegebenen Glühweine zu erhalten? Gibt es also Zahlen[3] derart, dass

gilt? Hinter dieser einen vektoriellen Gleichung liegen vier einzelne Gleichungen in den „Variablen“ , wobei die Gleichungen sich aus den Zeilen ergeben. Wann gibt es eine solche Lösung, wann keine, wann mehrere? Das sind typische Fragen der linearen Algebra.


Wir kommen zur allgemeinen Definition eines linearen Gleichungssystems.


Definition  

Es sei ein Körper und für und . Dann nennt man

ein (homogenes) lineares Gleichungssystem in den Variablen . Ein Tupel heißt Lösung des linearen Gleichungssystems, wenn für alle ist.

Wenn beliebig[4] ist, so heißt

ein inhomogenes lineares Gleichungssystem und ein Tupel heißt Lösung des inhomogenen linearen Gleichungssystems, wenn für alle ist.

Die Menge aller Lösungen eines linearen Gleichungssystems heißt die Lösungsmenge. Im homogenen Fall spricht man auch vom Lösungsraum, da es sich in der Tat, wie wir in Lemma 34.2 sehen werden, um einen Untervektorraum des handelt.

Ein homogenes lineares Gleichungssystem besitzt immer die sogenannte triviale Lösung . Ein inhomogenes Gleichungssystem braucht nicht unbedingt eine Lösung zu haben. Beispielsweise ist das durch die beiden Gleichungen

und

in der einen Variablen gegebene System offenbar nicht lösbar. Grundsätzlich kann auch eine Gleichung der Form

auftreten, wenn sämtliche Koeffizienten der Gleichung sind und die Störkomponente nicht ist. In diesem Fall gibt es keine Lösung.

Zu einem inhomogenen linearen Gleichungssystem heißt das homogene System, das entsteht, wenn man den Störvektor gleich setzt, das zugehörige homogene System. Dies mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, da man ja das Gleichungssystem, das man lösen möchte, einfach ändert. Der Lösungsraum des zugehörigen homogenen Systems hat aber mehr Struktur und hilft, die Lösungsmenge des inhomogenen Systems zu verstehen, siehe insbesondere Lemma 34.5.

Bemerkung  

Gelegentlich ist ein lineares Gleichungssystem nicht in der Form gegeben, dass die Variablen nur auf einer Seite der Gleichungen auftauchen, wie beispielsweise bei

In diesem Fall muss man das System zuerst durch einfache Additionen und Zusammenfassen der Koeffizienten in jeder einzelnen Gleichung in die Standardgestalt bringen.



Lösungsverfahren für zwei Gleichungen in zwei Variablen

In der nächsten Vorlesung werden wir ein allgemeines Lösungsverfahren für lineare Gleichungssysteme kennenlernen, das Eliminationsverfahren. Für eine einzige Gleichung in beliebig vielen Variablen haben wir ein Lösungsverfahren bereits in Lemma 31.3 gesehen. Die grundlegende Beobachtung für jedes Lösungsverfahren für ein lineares Gleichungssystem ist, dass wenn die beiden Gleichungen

und

erfüllt, dass dieses Tupel dann auch die Gleichung

erfüllt. Das bedeutet, dass man die Gleichungen umformen kann mit dem Ziel, ein vereinfachtes System zu finden, aus dem man die Lösungen direkt ablesen kann.

Hier besprechen wir den Fall von zwei linearen Gleichungen in zwei Variablen.


Beispiel  

Wir knüpfen an Beispiel 31.5 an, d.h. wir möchten das lineare Gleichungssystem

und

lösen. Wir wollen geeignete Vielfache der beiden Gleichungen miteinander addieren mit dem Ziel, dass in der Summe eine Variable herausfällt. Man kann beispielsweise das Vierfache der ersten Gleichung mit dem -fachen der zweiten Gleichung addieren. Diese Vielfachengleichungen sind

bzw.

Wenn man diese beiden Gleichungen addiert, so erhält man

und damit

Somit kennt man den Preis für einen Aufnäher. Diese Information kann man mit einer der Ausgangsgleichungen weiter verarbeiten. Es ist

und somit

also



Verfahren  

Es sei ein lineares Gleichungssystem über dem Körper mit zwei Gleichungen in den zwei Variablen und gegeben, d.h. es soll

und

mit vorgegebenen Zahlen simultan gelöst werden. Wenn

ist, so kommt die Variable gar nicht explizit vor und es liegt somit im Prinzip ein Gleichungssystem mit zwei Gleichungen in der einen Variablen vor. In diesem Extremfall hängt die Lösbarkeit und die Lösungen von ab, insbesondere davon, ob diese Zahlen gleich oder nicht gleich sind. Betrachten wir also den Fall, wo ist. Wenn man zur zweiten Gleichung das -fache der ersten Gleichung hinzuaddiert (also das -fache abzieht), so ergibt sich die neue Gleichung

Eine Lösung des Ausgangssystems muss auch eine Lösung des neuen Gleichungssystems (und umgekehrt) sein, das aus der ersten Gleichung

und der neuen Gleichung (mit neuen Buchstaben für die neuen Koeffizienten)

besteht. In dieser zweiten Gleichung kommt nur als Variable vor, entscheidend ist, ob gleich oder nicht gleich ist (da sich der neue Koeffizient durch eine Rechnung ergibt, ist nicht von vornherein klar, welcher Fall eintreten wird). Bei (dies ist der „Normalfall“) ist

und mit der ersten Gleichung erhält man die eindeutige Lösung für . Bei und gibt es keine Lösung für und somit auch keine Lösung für das Gesamtsystem. Bei und ist jedes eine Lösung der zweiten Gleichung und jedes führt mit der ersten Gleichung zu einer Lösung für und damit zu einer Gesamtlösung.



Fußnoten
  1. Der ist der -fache Produktraum von mit sich selbst. Lösungstupel werden wir häufig einfach auch mit bezeichnen.
  2. Dies ist auch der Grund, warum wir Variablen verwendet haben, um die Gleichung zu formulieren, und die Lösungstupel mit angesetzt haben. Meistens schreibt man einfach nur und muss die Rolle der Variablen dem Kontext entnehmen.
  3. Sinnvoll interpretierbar sind in diesem Beispiel nur positive Zahlen, da man schwerlich aus einem Glühweingemisch die einzelnen verwendeten Glühweinsorten wieder herausziehen kann. In der linearen Algebra spielt sich aber alles über einem Körper ab, so dass wir auch negative Zahlen zulassen.
  4. Ein solcher Vektor heißt manchmal ein Störvektor des Systems.


<< | Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2018-2019)/Teil II | >>

PDF-Version dieser Vorlesung

Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)