Kurs:Analysis (Osnabrück 2013-2015)/Teil III/Vorlesung 61

In diesem Kurs beschäftigen wir uns mit dem „Flächeninhalt“ von ebenen Gebilden und den Volumina von räumlichen Gebilden. Für ein Rechteck setzt man den Inhalt als Produkt der beiden Seiten und für einen Quader als Produkt von Breite, Länge und Höhe an. Die durch den Graphen einer stetigen Funktionen, der -Achse und zwei dazu senkrechten Geraden eingeschlossene Fläche wird über das Riemann-Integral ein Inhalt zugeordnet. Die Berechnung der Flächeninhalte von Dreiecken, Parallelogrammen, des Kreises, der Volumina von Pyramiden, Kegeln und der Kugel sind klassische Themen der Mathematik. Eine intuitive Vorstellung, die die Existenz eines sinnvollen Volumenbegriffs nahelegt, ist, dass wenn man den Körper „wasserdicht“ in eine Flüssigkeit in einem quaderförmigen Becken ganz untertaucht, dass dann das Volumen sich als Grundfläche des Beckens mal gestiegenem Waserstand errechnet. Für Flächen kann man sich vorstellen, dass man die ebenen Figuren ausmalt und der Flächeninhalt proportional zur verwendeten Farbe sein muss, die ihrerseits wiederum proportional zum Höhenschwund im Farbeimer ist. Doch das sind nur Gedankenexperimente, die einen sinnvollen Maßbegriff erahnen lassen, keinesfalls zufriedenstellende Begründungen.

Wir werden im Folgenden die Maßtheorie einschließlich der Integrationstheorie entwickeln. Dabei werden insbesondere folgende Fragestellungen betrachten.

    • Was ist ein Maß (ein Flächeninhalt, ein Volumen)?
    • Welchen Mengen kann man ein Maß zuordnen? Allen Teilmengen des ?
    • Welches Volumen hat der ?
    • Welche Rechenregeln gelten für das Volumen?
    • Welche Möglichkeiten gibt es, die Volumina zu berechnen?

    Die ersten beiden Fragen erweisen sich schon dann als nicht trivial, wenn man ein Rechteck betrachtet. Macht es beispielsweise einen Unterschied, ob man ein Rechteck mit oder ohne seinem Rand betrachtet? Ändert sich der Inhalt, wenn ich einen Punkt aus dem Inneren herausnehme? Besitzt das „rationale Rechteck“, das nur aus den Punkten des Rechtecks mit rationalen Koordinaten besteht, einen sinnvollen Flächeninhalt? Wie sieht es mit dem „irrationalen Rechteck“ aus? Ist die Summe dieser beiden Flächeninhalte, vorausgesetzt, dass sie existieren, gleich dem Rechtecksinhalt?



    Mengensysteme

    Es ist nicht möglich, für beliebige Teilmengen des ein sinnvolles Maß zu definieren. Stattdessen sucht man nach einer möglichst großen Auswahl von Teilmengen, für die ein Maß definiert werden kann. Um über solche Mengensysteme und ihre strukturellen Eigenschaften reden zu können, brauchen wir die folgenden Definitionen.


    Definition  

    Zu einer Menge heißt eine Teilmenge der Potenzmenge ein (Teil)-Mengensystem auf .


    Definition  

    Ein Teilmengensystem auf einer Menge heißt Mengen-Präring, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind.

    1. Es ist .
    2. Mit gehört auch zu .
    3. Für je zwei Mengen ist auch .

    Definition  

    Ein Teilmengensystem auf einer Menge heißt Mengen-Algebra, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind.

    1. Es ist .
    2. Mit gehört auch das Komplement zu .
    3. Für je zwei Mengen ist auch .

    Statt Mengenalgebra sagt man auch Mengenring, doch ist das missverständlich, da auch die Mengen-Präringe manchmal Mengenringe genannt werden.


    Für die Maßtheorie ist das folgende Konzept am wichtigsten.


    Definition  

    Ein Teilmengensystem auf einer Menge heißt -Algebra, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind.

    1. Es ist .
    2. Mit gehört auch das Komplement zu .
    3. Für jede abzählbare Familie , , ist auch

    Eine -Algebra ist also eine Mengenalgebra, die nicht nur unter endlichen Vereinigungen, sondern auch unter abzählbaren Vereinigungen abgeschlossen ist. Sie ist im Allgemeinen nicht unter beliebigen Vereinigungen abgeschlossen. Die trivialen Beispiele für eine -Algebra sind die Potenzmenge und das Mengensystem . Die Elemente aus der -Algebra, also die Teilmengen von , die zu gehören, nennt man auch einfach messbare Mengen. Im Rahmen der Wahrscheinlichkeitstheorie spricht man von Ereignissen. Zu einer Teilmenge heißt die aus bestehende -Algebra die Ereignisalgebra zu .


    Definition  

    Eine Menge , auf der eine - Algebra erklärt ist, heißt ein Messraum.



    Lemma

    Es sei eine - Algebra auf einer Menge .

    Dann gelten folgende Aussagen.

    1. Es ist .
    2. Mit gehört auch zu .
    3. Für jede abzählbare Familie , , ist auch

    Beweis

    Siehe Aufgabe 61.6.


    Bemerkung  

    Es sei ein Messraum und es sei , , eine Folge von messbaren Teilmengen. Dann sind auch die Mengen

    und

    messbar, da in beiden Fällen die inneren Mengen messbar sind und damit auch die Gesamtmenge messbar ist. Die erste Menge nennt man auch den Limes superior und die zweite den Limes inferior der Mengenfolge. Die erste Menge besteht dabei aus allen Elementen aus , die in unendlich vielen der enthalten sind, und die zweite Menge aus allen Elementen aus , die in fast allen der enthalten sind.




    Lemma

    Es sei eine Menge und sei , , eine beliebige Familie von - Algebren auf .

    Dann ist auch der Durchschnitt

    eine -Algebra auf .

    Beweis

    Siehe Aufgabe 61.7.


    Aufgrund dieses Lemmas gibt es zu jeder Teilmenge eine kleinste -Algebra, die umfasst, nämlich der Durchschnitt über alle -umfassenden -Algebren.


    Definition  

    Es sei eine Menge und eine Menge von Teilmengen aus . Dann nennt man die kleinste - Algebra, die enthält, die von erzeugte -Algebra. Sie wird mit bezeichnet. Das System heißt Erzeugendensystem dieser -Algebra.

    Eine explizite Beschreibung dieser Mengen ist häufig schwierig. Bei ist die oben erwähnte Ereignisalgebra.

    Die folgenden Mengensysteme spielen in Beweisen eine wichtige Rolle.


    Definition  

    Ein Teilmengensystem auf einer Menge heißt Dynkin-System, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind.

    1. Es ist .
    2. Mit und gehört auch zu .
    3. Für jede abzählbare Familie , , mit paarweise disjunkten Mengen ist auch



    Lemma

    Es sei eine Menge. Für ein Mengensystem auf sind äquivalent.

    1. ist ein durchschnittsstabiles Dynkin-System
    2. ist eine -Algebra.

    Beweis

    Siehe Aufgabe 61.10.


    Da der Durchschnitt von Dynkin-Systemen wieder ein Dynkin-System ist, gibt es zu jedem Mengensystem ein davon erzeugtes Dynkin-System.



    Lemma  

    Es sei eine Menge und ein durchschnittsstabiles Mengensystem auf .

    Dann stimmt das von erzeugte Dynkin-System mit der von erzeugten - Algebra überein.

    Beweis  

    Wir müssen zeigen, dass das von erzeugte Dynkin-System eine - Algebra ist. Dazu genügt es aufgrund von Fakt ***** zu zeigen, dass durchschnittsstabil ist. Zu einer Teilmenge  mit betrachten wir das Mengensystem

    Wir müssen

    zeigen, denn dies bedeutet die Durchschnittsstabilität. Eine direkte Überlegung zeigt, dass ebenfalls ein Dynkin-System ist. Für gilt , da durchschnittsstabil ist. Daher ist für alle . Dann ist aber auch für alle und somit generell .



    Messbare Abbildungen

    Definition  

    Es seien und Messräume. Eine Abbildung

    heißt messbar (oder genauer -messbar), wenn für alle das Urbild zu gehört.



    Lemma

    Für messbare Abbildungen gelten die folgenden Eigenschaften.

    1. Die Hintereinanderschaltung von messbaren Abbildungen ist messbar.
    2. Jede konstante Abbildung ist messbar.
    3. Die Identität ist messbar.
    4. Es seien und zwei - Algebren auf einer Menge . Dann ist die Identität auf genau dann -messbar, wenn gilt.

    Beweis

    Siehe Aufgabe 61.12.



    Lemma  

    Es seien und zwei Messräume und es sei

    eine Abbildung. Es sei ein Erzeugendensystem für .

    Dann ist bereits dann messbar, wenn für jede Teilmenge mit das Urbild zu gehört.

    Beweis  

    Wir betrachten das Mengensystem

    Da das Urbildnehmen mit sämtlichen Mengenoperationen verträglich ist, ist eine - Algebra auf . Da diese das Erzeugendensystem umfasst, ist .


    << | Kurs:Analysis (Osnabrück 2013-2015)/Teil III | >>

    PDF-Version dieser Vorlesung

    Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)