Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2016-2017)/Teil II/Vorlesung 54



Der Einheitskreis

Im ist der Abstand zwischen zwei Punkten eine positive reelle Zahl (bzw. gleich , falls die Punkte zusammenfallen). Wenn die beiden Punkte in Koordinaten gegeben sind, also und , so ist der Abstand gleich

Diese Gleichung beruht auf dem Satz des Pythagoras. Speziell besitzt jeder Punkt zum Nullpunkt den Abstand

Weil die Koordinaten reelle Zahlen sind, sind auch die Abstände reelle Zahlen. Wenn ein Punkt und eine positive reelle Zahl fixiert sind, so nennt man die Menge aller Punkte der Ebene, die zu den Abstand besitzen, den Kreis um mit Radius . In Koordinaten sieht die Definition folgendermaßen aus.


Es sei und . Dann nennt man die Menge

den Kreis (oder die Kreislinie oder die -Sphäre) mit dem Mittelpunkt und dem Radius .

Von Kreislinie spricht man, um zu betonen, dass man nicht den Vollkreis (die Kreisscheibe) meint, sondern nur den Rand. Alle Kreise sind wesensgleich, es kommt für die wichtigsten Eigenschaften des Kreises nicht auf den Mittelpunkt und nicht auf den Radius an. Von daher ist der Einheitskreis der einfachste Kreis, der alle Kreise repräsentiert.


Die Menge

heißt der Einheitskreis.

Es ist bekannt, dass der Kreisbogen des Einheitskreises die Länge und den Flächeninhalt besitzt. Dies sind nichttriviale Aussagen, und zwar sowohl strategisch als auch mathematisch. Das strategische Problem ist hier, was man als Definition nimmt und was man dann unter Bezug auf die Definitionen beweisen kann und wie. Sowohl die Länge einer gekrümmten Kurve als auch der Flächeninhalt sind zwar intuitiv zugängliche, aber letztlich doch recht schwer zu fundierende Begriffe. Dasselbe trifft auf den Winkelbegriff zu. Wir werden hier mit einem naiv-intuitiven Begriff von Kurvenlänge arbeiten und darauf aufbauend den Winkel und die trigonometrischen Funktionen einführen.


Unter der Zahl versteht man die Hälfte des Kreisumfanges des Einheitskreises.

Eine rationale Approximation der Zahl auf einem -Pie.

Der numerische Wert von ist etwa

Es handelt sich um eine transzendente Zahl, also keine algebraische Zahl.



Winkel und trigonometrisches Dreieck

Mit dem Begriff des Winkels ist die Vorstellung verbunden, dass man einen Vollkreis gleichmäßig in Sektoren bzw. die Kreislinie gleichmäßig in Abschnitte (des Kreisbogens) unterteilen kann. Diese Vorstellung ist mit der Vorstellung verwandt, dass man das Einheitsintervall in gleichlange Stücke unterteilen kann. Allerdings kann man letzteres aufgrund der Strahlensätze durch eine einfache geometrische Konstruktion für jedes durchführen, für den Kreisbogen hingegen nur für einige wenige . Bei der Kreisunterteilung in Grad zerlegt man den Kreis in gleichgroße Sektoren. Im Bogenmaß nimmt man die Länge des gebogenen Kreisabschnittes als Winkelmaß. D.h. der volle Kreis entspricht gemäß der Definition der Kreiszahl , der Halbkreis (die beiden Sektorengrenzen liegen auf einer Geraden) entspricht , der Viertelkreis entspricht .


Der durch einen Kreisbogen der Länge definierte Winkel heißt Winkel im Bogenmaß.

Ein Winkel definiert einen eindeutigen Punkt auf dem Einheitskreis, wenn man von aus startet und gegen den Uhrzeigersinn den Kreisbogen entlang geht.


Ein Winkel, also die Länge eines zusammenhängenden Kreisbogenstücks, kann man grundsätzlich überall an den Kreisbogen anlegen. Wenn man Winkel untereinander vergleichen und studieren möchte, so wählt man den Punkt (also die auf der -Achse) als Startpunkt und läuft den als Bogenmaßlänge gegebenen Winkel gegen den Uhrzeigersinn entlang bis zu einem Punkt mit der Eigenschaft, dass die Bogenlänge von bis genau ist.


Zu einem Winkel (im Bogenmaß) nennt man denjenigen Punkt auf dem Einheitskreis, den man erreicht, wenn man sich auf dem Kreis in startend gegen der Uhrzeigersinn auf dem Kreisbogen lange bewegt, den trigonometrischen Punkt zu diesem Winkel.

Diesen Punkt nennen wir auch den Standardpunkt zum Winkel . Durch ihn wird der Standardkreisbogen zum Winkel , nämlich der Kreisbogen von bis , der Standardstrahl zum Winkel , nämlich die Halbgerade durch den Nullpunkt und den Standardpunkt, und der Standardsektor zum Winkel , nämlich der durch die -Achse und den Standardstrahl gegebene Sektor, festgelegt.

Zu einem Winkel mit dem zugehörigen trigonometrischen Punkt zu kann man das (senkrechte) Lot auf die -Achse fällen und erhält dadurch ein rechtwinkliges Dreieck mit der Verbindungsstrecke zwischen Nullpunkt und trigonometrischem Punkt als Hypotenuse und mit einer Kathete auf der -Achse. Man nennt dies das trigonometrische Dreieck zum Winkel . Die am Nullpunkt anliegende Kathete nennt man auch die Ankathete zu und die gegenüberliegende Kathete nennt man die Gegenkathete zu (diese Bezeichnungen sind nur bei Winkeln bis passend). Die (eventuell negativ genommenen) Längen dieser Katheten sind zugleich die Koordinaten des trigonometrischen Punktes. Mit den trigonometrischen Funktionen untersucht man die Abhängigkeit dieser Koordinaten vom Winkel (im Bogenmaß).


Zu einem Winkel versteht man unter die erste Koordinate des trigonometrischen Punktes .


Zu einem Winkel versteht man unter die zweite Koordinate des trigonometrischen Punktes .

Somit besitzt der trigonometrische Punkt die Koordinaten

Wenn sämtliche Winkel durchläuft, durchläuft den Einheitskreis. Die Zuordnung

bildet also eine „Parametrisierung“ des Einheitskreises, die auf definiert ist, für den Nullwinkel im Einspunkt startet und sich bei erstmalig wieder in diesem Punkt befindet.



Die trigonometrischen Funktionen



Die Funktionen

und

besitzen für folgende Eigenschaften.

  1. Es gilt

    für alle .

  2. Es ist
  3. Es ist und .
  1. Die erste Eigenschaft ist klar, da

    nach Definition ein Punkt auf dem Einheitskreis ist.

  2. Folgt aus (1).
  3. Ein negativer Winkel ist so zu verstehen, dass man vom Punkt aus startend mit dem Uhrzeigersinn entlang des Kreisbogens läuft. Somit ergibt sich die (Kreisbogen)-Bewegung zu , wenn man die Bewegung zu an der -Achse spiegelt. Da der Kosinus die -Koordinate von ist, ändert er sich nicht bei Spiegelung an der -Achse, und da der Sinus die -Koordinate von ist, wird daraus bei dieser Spiegelung das Negative.


Die Graphen von Kosinus und Sinus. Der qualitative Verlauf ist von der naiven Definition her klar. Mit der unten folgenden analytischen Definition über Reihen kann man die Funktionswerte beliebig genau ausrechnen.



Die Sinusfunktion und die Kosinusfunktion erfüllen in folgende Periodizitätseigenschaften.

  1. Es ist und für alle .
  2. Es ist und für alle .
  3. Es ist und für alle .
  4. Es ist , , , und .
  5. Es ist , , , und .
  1. Die ersten Eigenschaften folgen unmittelbar aus

    da nach Definition von eine Volldrehung beschreibt.

  2. Wenn man zu einem Winkel den Winkel hinzuaddiert, so bedeutet dies, eine Halbdrehung um den Nullpunkt bzw. eine Punktspiegelung am Nullpunkt durchzuführen. Dabei werden die Koordinaten von in ihr Negatives umgewandelt.
  3. Eine Winkeladdition von bedeutet eine Vierteldrehung von gegen den Uhrzeigersinn. Wegen der schon gezeigten Aussagen genügt es, diese Aussage für Winkel zwischen und zu zeigen. Die trigonometrischen Dreiecke zu und zu sind kongruent, und zwar ist der am Nullpunkt anliegende Winkel des zweiten Dreiecks gleich . Somit ist die Ankathete des zweiten Dreiecks, die auf der negativen -Achse liegt, gleich der Gegenkathete des ersten Dreiecks.
  4. Dies sind einfach die Koordinaten nach einer Viertel-, Halb- und Dreivierteldrehung.
  5. Ebenso.



Die reelle Sinusfunktion

induziert eine bijektive, streng wachsende Funktion

und die reelle Kosinusfunktion induziert eine bijektive streng fallende Funktion

Für zwischen und liegt auf der rechten Kreishälfte. Diese Punkte stehen in Bijektion zu diesen Winkeln und in Bijektion zum Wert der (senkrechten) Projektion auf die -Achse, also zum Sinus von .




Drehungen, Additionstheoreme und Stetigkeit

Eine Drehung der reellen Ebene um den Nullpunkt um den Winkel gegen den Uhrzeigersinn bildet den ersten Standardvektor auf den trigonometrischen Punkt

und den zweiten Standdardvektor auf ab. Da es sich um lineare Abbildungen handelt, werden ebene Drehungen durch die folgenden Drehmatrizen beschrieben.


Eine lineare Abbildung

die durch eine Drehmatrix (mit einem ) gegeben ist, heißt Drehung.



Für die trigonometrischen Funktionen

und

gelten die Additionstheoreme

und

Die Hintereinanderschaltung der Drehung um den Winkel und der Drehung um den Winkel ist die Drehung um den Winkel . Nach Satz 35.15 wird diese Hintereinanderschaltung durch das Matrixprodukt der beiden Drehmatrizen beschrieben. Somit ist aufgrund einer einfachen Matrizenmultiplikation

Betrachten der Komponenten in der ersten Spalte ergibt die Behauptung.


Mit den Additionstheoremen können wir die Stetigkeit der trigonometrischen Funktionen beweisen.


Die trigonometrischen Funktionen Sinus und Kosinus

sind stetig.

Wegen Satz 54.9  (3) genügt es, die Aussage für den Sinus zu zeigen. Wir zeigen zuerst die Stetigkeit des Sinus im Nullpunkt. Nach Aufgabe 54.11 ist

Daraus folgt direkt die Stetigkeit im Nullpunkt. Aufgrund von Satz 54.8  (1) folgt daraus auch die Stetigkeit des Kosinus im Nullpunkt. Zum Nachweis der Stetigkeit des Sinus in einem beliebigen Punkt verwenden wir das Folgenkriterium. Es sei also eine gegen konvergente Folge, die wir als

mit einer Nullfolge schreiben. Aufgrund des Additionstheorems für den Sinus gilt

Aufgrund der Vorüberlegung und den Rechenregeln für konvergente Folgen konvergiert dieser Ausdruck gegen .


Wir erwähnen abschließend noch die analytischen Ausdrücke für die trigonometrischen Funktionen Kosinus und Sinus.


Für heißt

die Kosinusreihe und

die Sinusreihe zu .

In einem streng-analytischen Aufbau der trigonometrischen Funktionen und von , der auf geometrische Intuition verzichtet, fängt man mit diesen Definitionen an und erarbeitet sich dann die Beziehung zum Einheitskreis. Man muss zunächst zeigen, dass diese Reihen konvergieren. Mit diesem Zugang erhält man dann insbesondere, dass die trigonometrischen Funktionen nicht nur stetig, sondern auch differenzierbar sind.


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