Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2016-2017)/Teil II/Vorlesung 55
- Endliche Wahrscheinlichkeitsräume
Zum Abschluss dieser Vorlesung beschäftigen wir uns mit Wahrscheinlichkeitstheorie, und zwar mit diskreter Wahrscheinlichkeitstheorie. Mit diskret ist gemeint, dass die möglichen Werte eines „Experimentes“ in einer endlichen Menge liegen und Wahrscheinlichkeiten prinzipiell durch ein „gewichtetes Zählen“ erhalten werden können. Insofern geht es um elementare Kombinatorik, aber doch unter neuen Gesichtspunkten und mit neuen Sprechweisen. Wenn man eine Münze wirft, so kann Kopf oder Zahl fallen, und es gibt keinen Grund, warum das eine häufiger als das andere eintreten sollte. Bei einem einzelnen Wurf kann natürlich nur ein Ereignis eintreten. Wenn man den Münzwurf oft wiederholt, so kann man im Allgemeinen beobachten, dass die Anzahl der Kopfwürfe in der Nähe der Anzahl der Zahlwürfe liegt. Aber schon die Präzisierung dieser Aussage ist nicht unmittelbar klar. Wenn man beispielsweise -mal wirft, und es tritt -mal Kopf ein, was heißt das? Die Abweichung von Kopfwürfen zu Zahlwürfen ist immerhin
also jedenfalls größer als bei einem Wurf. Ein sinnvolles Vergleichsmaß ist
also der Quotient aus der Anzahl der Kopfwürfe und der Gesamtzahl der Durchführungen (Würfe). Dieser Quotient heißt relative Häufigkeit und ist relativ nah an . Es ist eine Erfahrungstatsache, dass diese relative Häufigkeit bei wachsender Durchführungsanzahl gegen „strebt“. Diese Aussage ist aber vage und keine Konvergenzaussage. Dennoch ist diese Vorstellung die Motivation für die folgende Begriffsbildung, mit der man wiederum das Verhalten bei oft durchgeführten Experimenten erklären und quantitativ erfassen kann.
Zu einer endlichen Menge nennt man eine Abbildung
mit
eine (diskrete) Wahrscheinlichkeitsdichte auf .
Diese Benennung verwendet man eigentlich nur, wenn man eine wahrscheinlichkeitstheoretische Interpretation beabsichtigt. Statt diskrete Wahrscheinlichkeitsdichte sagt man auch Zähldichte. Unter sollte man sich die möglichen Ausgänge eines Experimentes vorstellen, wobei die Wahrscheinlichkeit angibt, dass bei dem Experiment der Ausgang gleich ist. Das Ereignis tritt also mit Wahrscheinlicheit ein.
Auf einer endlichen Menge sei eine diskrete Wahrscheinlichkeitsdichte gegeben. Dann nennt man jede Teilmenge ein Ereignis und man nennt
die Wahrscheinlichkeit von .
Ein Element nennt man auch ein Elementarereignis.
Eine endliche Menge zusammen mit einer fixierten diskreten Wahrscheinlichkeitsdichte und mit der Potenzmenge aller Ereignisse nennt man einen endlichen Wahrscheinlichkeitsraum.
Auf einem endlichen Wahrscheinlichkeitsraum heißt die Abbildung
ein endliches Wahrscheinlichkeitsmaß.
Wir betrachten die Menge mit der Wahrscheinlichkeitsdichte
Es gibt Ereignisse. Die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses ist beispielsweise
die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses ist
Eine leere Menge kann kein Wahrscheinlichkeitsraum sein, bei einer einelementigen Menge muss der einzige Punkt die Wahrscheinlichkeit besitzen. Bei einer zweielementigen Menge spricht man von einer Bernoulli-Verteilung.
Es sei . Die endliche Wahrscheinlichkeitsdichte auf mit
und
heißt Bernoulli-Verteilung.
Es sei ein endlicher Wahrscheinlichkeitsraum.
Dann gelten folgende Aussagen.
- Es ist und .
- Für Teilmengen ist .
- Für
(paarweise)
disjunkte
Ereignisse
, ,
ist
- Für das komplementäre Ereignis zu einem Ereignis gilt
- Für zwei Ereignisse
und
ist
Es sei die zugehörige Wahrscheinlichkeitsdichte.
- Die leere Summe ist gleich , die zweite Eigenschaft gehört zur Definition einer endlichen Wahrscheinlichkeitsdichte.
- Ist klar, da die Werte der Dichte nichtnegativ sind.
- Es ist
- Folgt aus (3).
- Folgt aus (3), da man disjunkt in die drei Mengen , und zerlegen kann und somit
Die Eigenschaft (2) heißt die Monotonie und die Eigenschaft (3) heißt die Additivität eines Wahrscheinlichkeitsmaßes.
Auf einer endlichen Menge sind eine Wahrscheinlichkeitsdichte und ein Wahrscheinlichkeitsmaß äquivalente mathematische Objekte. Die Dichte definiert für jedes Ereignis das Maß
und umgekehrt ist durch das Maß über
eine Wahrscheinlichkeitsdichte festgelegt.
- Laplace-Räume
Es sei eine endliche Menge. Dann nennt man die Wahrscheinlichkeitsdichte
die jedem Element den konstanten Wert zuweist, die Laplace-Dichte auf . Die Menge versehen mit dieser Dichte heißt Laplace-Raum.
Bei einem Laplace-Raum sind alle Elementarereignisse gleichwahrscheinlich. Das zugehörige Wahrscheinlichkeitsmaß, das auch Laplace-Maß genannt wird, ist besonders einfach, es ist
d.h., es wird einfach der relative Anteil von an gemessen. Insofern wird hier das Berechnen von Wahrscheinlichkeiten auf das Zählen von Teilmengen zurückgeführt. Bei Formulierungen wie „man wählt zufällig ein Element“ aus einer endlichen Menge setzt man als Laplace-Raum an.
Der Laplace-Raum zum einfachen Münzwurf besteht aus zwei Elementen, Kopf und Zahl, also
und die Laplace-Dichte ist konstant gleich , also
Beide Elementarereignisse sind also gleichwahrscheinlich mit Wahrscheinlichkeit . Es gibt nur vier Ereignisse, nämlich und die Gesamtmenge , die leere Menge hat Wahrscheinlichkeit , die Gesamtmenge hat Wahrscheinlichkeit .
Ein Münzwurf ist zugleich eine Bernoulli-Verteilung und ein Laplace-Experiment.
Der Laplace-Raum zu einem einfachen Würfelwurf mit einem fairen Würfel besteht aus sechs Elementen, die den Seiten des Würfels entsprechen, und werden üblicherweise mit durchnummeriert, es ist also
Die Laplace-Dichte ist konstant gleich , also
für alle . Die Elementarereignisse sind also gleichwahrscheinlich mit Wahrscheinlichkeit . Es gibt
also Ereignisse. Beispielsweise sind
Ereignisse. Ihre Wahrscheinlichkeiten sind einfach zu berechnen, beispielsweise ist
In Beispiel 13.9 haben wir die Anzahl der Möglichkeiten berechnet, Kugeln aus Kugeln zu ziehen, und zwar gibt es
Möglichkeiten, da es so viele sechselementige Teilmengen gibt. Diese haben alle die gleiche Wahrscheinlichkeit, somit liegt ein Laplace-Raum vor, wobei die einzelnen Elementarereignisse, also eine bestimmte Ziehung, die Wahrscheinlichkeit
besitzen.
Wenn man sich für die Wahrscheinlichkeit interessiert, dass die gezogen wird, so muss man alle sechselementigen Teilmengen zählen, in denen die vorkommt. Da die festgelegt ist, geht es um die Anzahl der fünfelementigen Teilmengen der Menge , diese Anzahl ist durch gegeben. Die Wahrscheinlichkeit ist also
was man sich auch so klar machen kann: Die Wahrscheinlichkeit, dass die zuerst gezogene Zahl eine ist, beträgt , die Wahrscheinlichkeit, dass die als zweite gezogene Zahl eine ist, beträgt ebenfalls , u.s.w., und aufsummieren der disjunkten Ereignisse liefert auch .
Wenn man sich für die Wahrscheinlichkeit interessiert, dass sowohl die als auch die gezogen werden, so muss man alle sechselementigen Teilmengen zählen, in denen die und die vorkommen. Dies ergibt die Wahrscheinlichkeit
Die Ziehung der Zahlen beim Zahlenlotto ist gleichwahrscheinlich wie die Ziehung der Zahlen . Dennoch scheint das zweite Ergebnis typischer als das erste zu sein. Das ist aber allein eine psychologisch bedingte Sichtweise. Bei einem zufälligen Experiment erwartet man einen chaotischen Ausgang ohne irgendeine Regelmäßigkeit, man erwartet nicht, im Ergebnis ein Muster zu erkennen. Man muss auch die Formulierung ernst nehmen. Es wird gesagt, dass die Ziehung von genau so wahrscheinlich ist wie die Ziehung von genau den sechs konkreten Zahlen . Es wird nicht gesagt, dass die Ziehung von (etwas wie) gleichwahrscheinlich ist mit der Ziehung „von etwas wie“ . Es gibt natürlich nur mögliche Ziehungen (von über bis ), bei denen sechs hintereinanderliegende Zahlen gezogen werden, dieses Ereignis ist also sehr unwahrscheinlich.
Es ist ziemlich schwer, genau zu charakterisieren, was man unter „etwas wie “ verstehen soll, oder was man unter einer typischen „chaotischen musterfreien Ziehung“. Betrachtet man ebenfalls als musterfrei, oder hält man das für ein außergewöhnliches Ergebnis, da immerhin zwei aufeinanderfolgende Zahlen gezogen wurden? Es ist jedenfalls erstaunlich, wie oft man im Zufälligen doch noch eine kleine Beobachtung des scheinbar Besonderen machen kann. In ist beispielsweise die Differenz der ersten drei Zahlen konstant gleich .
Beim Skat wird mit Karten gespielt, wobei drei Spieler je zehn Karten bekommen und zwei Karten in den „Skat“ gehen. Unter den Karten spielen die vier Buben eine besondere Rolle. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Spieler sämtliche Buben bekommt? Die Anzahl der möglichen „Hände“, die Spieler bekommen kann, beträgt . Die Anzahl der Hände, die alle vier Buben umfassen, sind . Daher ist die Wahrscheinlichkeit, alle Buben zu bekommen, gleich
Das sind ungefähr .
Mit Lemma 55.7 lässt sich häufig die Wahrscheinlichkeit einfacher berechnen, insbesondere die unscheinbare Komplementregel ist hilfreich. Wenn man beispielsweise die Wahrscheinlichkeit wissen möchte, dass in einer Lottoziehung die gezogenen Zahlen nicht alle in einer Reihe liegen, so könnte man ins Grübeln kommen, wie man diese Ereignismenge geschickt abzählt. Dagegen ist das Komplement einfach zu erfassen, davon gibt es nämlich Stück und die Wahrscheinlichkeit davon ist somit . Die komplementäre Wahrscheinlichkeit ist also
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