Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil II/Vorlesung 44
- Totale Differenzierbarkeit
Wir möchten Abbildungen zwischen Vektorräumen differenzieren, und allgemeiner Abbildungen
wobei eine gewisse offene Teilmenge ist. Wir wiederholen kurz die Situation in einer Variablen: Angenommen wir haben eine Abbildung , dann ist die Grundidee einer differenzierbaren Abbildung und ihrer Ableitung, eine „Tangente an den Graphen“ anzulegen. Dabei kann man sagen, dass die Tangente die beste lineare Approximation von (genauer: Der Graph einer affin-linearen Approximation) in einem gegebenen Punkt darstellt. Da die Steigung der Tangente wieder eine reelle Zahl ist, wird beim Differenzieren jedem Punkt wieder eine Zahl zugeordnet. Wir erhalten also eine neue Funktion, welche wir mit bezeichnen. Im höherdimensionalen Fall ist dies komplizierter, aber die Idee einer bestmöglichen linearen Approximation bleibt bestehen.
Im Folgenden nehmen wir an, dass alle Vektorräume endlichdimensional und mit einer euklidischen Norm versehen sind. Wie in der 40. Vorlesung gezeigt wurde, hängt die Topologie, also die Konzepte offene Menge, Stetigkeit, Konvergenz, nicht von der gewählten euklidischen Struktur ab. Bei statten wir den zugrunde liegenden reellen Vektorraum mit einer euklidischen Struktur aus.
Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume, eine offene Menge und eine Abbildung. Dann heißt differenzierbar (oder total differenzierbar) im Punkt , wenn es eine - lineare Abbildung mit der Eigenschaft
gibt, wobei eine in stetige Abbildung mit ist und die Gleichung für alle mit gilt.
Diese lineare Abbildung heißt, falls sie existiert, das (totale) Differential von an der Stelle und wird mit
bezeichnet.
Äquivalent zur totalen Differenzierbarkeit ist die Eigenschaft, dass der Ausdruck
für gegen konvergiert. Ebenfalls äquivalent ist die Eigenschaft, dass der Limes (von Funktionen)
existiert und gleich ist.
Das Konzept der totalen Differenzierbarkeit ist eher theoretisch und weniger konkreten Berechnungen zugänglich. Wir werden später dieses Konzept mit dem Konzept der partiellen Ableitungen in Verbindung bringen, welches eher für Berechnungen geeignet ist, jedoch von Koordinaten, d.h. von der Auswahl einer Basis, abhängt (siehe auch Beispiel 44.8 weiter unten).
Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume und sei die Abbildung auf einer offenen Teilmenge definiert. Sei ein Punkt.
Dann existiert höchstens eine lineare Abbildung mit den Eigenschaften aus Definition 44.1.
Ist im Punkt differenzierbar, so ist das totale Differential eindeutig bestimmt.
Angenommen, es gelte
und
mit linearen Abbildungen und und mit im Punkt stetigen Funktionen mit . Wir müssen zeigen. Dazu ziehen wir die beiden Gleichungen voneinander ab (da es sich hier um Gleichungen von Funktionswerten im Vektorraum handelt, ist hier werteweises Abziehen gemeint) und erhalten die Gleichung
Daher müssen wir zeigen, dass die (konstante) Nullabbildung die Eigenschaft besitzt, dass die lineare Abbildung ihre einzige lineare Approximation ist. Wir nehmen daher an, dass
gilt, wobei linear und eine in stetige Funktion mit ist. Wenn nicht die Nullabbildung ist, so gibt es einen Vektor mit . Dann gilt für
Dies impliziert, dass für gilt. Die Norm von ist daher konstant gleich . Also gilt , ein Widerspruch.
Es sei eine - lineare Abbildung zwischen den endlichdimensionalen - Vektorräumen und .
Dann ist in jedem Punkt differenzierbar und stimmt in jedem Punkt mit ihrem totalen Differential überein.
Aufgrund der Linearität gilt
Also können wir wählen.
Ist konstant mit für alle , so ist differenzierbar mit totalem Differential (siehe Aufgabe 44.1).
Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume und es sei eine offene Teilmenge. Es seien im Punkt differenzierbare Abbildungen mit den totalen Differentialen und .
Dann ist auch in differenzierbar und es gilt
Ebenso gilt für alle .
Sei und . Dann gilt
Wir erhalten also die gewünschte Gestalt, da auch in stetig mit ist. Der Beweis der zweiten Aussage ist ähnlich.
Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume und eine offene Teilmenge. Es sei eine in differenzierbare Abbildung.
Dann ist auch stetig im Punkt .
Nach Definition gilt Die rechte Seite ist stetig (nach Definition 44.1 und Satz 20.11) in . Damit ist stetig in .
- Die Kettenregel
Die Eleganz des totalen Differentials wird in der folgenden allgemeinen Version der Kettenregel deutlich.
Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume, und offene Mengen, und und Abbildungen derart, dass gilt. Es sei weiter angenommen, dass in und in total differenzierbar ist.
Dann ist in differenzierbar mit dem totalen Differential
Wir haben nach Voraussetzung (wobei wir setzen)
und
mit linearen Abbildungen und , und mit in stetigen Funktionen und , die beide in den Wert annehmen. Damit gilt
Dabei haben wir in der dritten Gleichung die lineare Approximation für
eingesetzt. Die beiden letzten Gleichungen gelten nur für . Der Ausdruck
ist unser Kandidat für die Abweichungsfunktion. Der erste Summand ist in stetig und hat dort auch den Wert . Es genügt also den zweiten Summanden zu betrachten. Der -Ausdruck ist in einer Umgebung der Null beschränkt, da auf der kompakten Einheitssphäre nach Satz 22.4 beschränkt ist und da in stetig ist. Daher hängt die Stetigkeit nur von dem rechten Faktor ab. Aber hat für den Grenzwert . Damit ist auch in stetig und hat dort den Grenzwert .
Das folgende Beispiel illustriert, dass das totale Differential unabhängig von der Wahl einer Basis ist, die partiellen Ableitungen aber nicht.
Wir betrachten die Abbildung , die durch
gegeben sei. Es ist leicht die partiellen Ableitungen in jedem Punkt zu berechnen, nämlich:
Wir werden in der nächsten Vorlesung sehen, dass diese Abbildung in jedem Punkt total differenzierbar ist, und dass die Jacobi-Matrix das totale Differential beschreibt.
Nehmen wir nun an, dass wir nur an der Restriktion dieser Funktion auf die Ebene
interessiert sind. ist also der Kern der linearen Abbildung
Als Kern ist selbst ein (zweidimensionaler) Vektorraum. Die Einschränkung von auf die Ebene ergibt also die Abbildung
Diese Abbildung kann man als die Komposition auffassen und diese ist nach der Kettenregel differenzierbar. Wenn wir die Inklusion von in mit bezeichnen, so ist das totale Differential der Komposition in einem Punkt gemäß der Kettenregel gerade die Abbildung
Daher ergibt es hier Sinn vom totalen Differential zu sprechen.
Es ergibt allerdings keinen Sinn von partiellen Ableitungen der Abbildung zu sprechen, da es keine natürliche Basis auf gibt und daher auch keine natürlichen Koordinaten. Es ist leicht eine Basis von zu finden und damit Koordinaten, es gibt aber keine „beste Wahl“, und die partiellen Ableitungen sehen in jeder Basis verschieden aus.
Eine Basis von ist beispielsweise durch und gegeben, und eine weitere durch und . Mit solchen Basen erhalten wir Identifikationen und somit numerische Beschreibungen der Abbildung , womit wir die partiellen Ableitungen bezüglich der gewählten Basen berechnen können.
In der ersten Basis ist die Identifikation gegeben durch die Abbildung
und dieser Ausdruck wird durch abgebildet auf
Die partiellen Ableitungen dieser Komposition (nennen wir sie ) bezüglich dieser Basis sind gegeben durch
und
In der zweiten Basis und ist die Identifikation gegeben durch
und dieser Ausdruck wird unter abgebildet auf
Die partiellen Ableitungen der Komposition (nennen wir sie ) bezüglich dieser Basis sind
und
Fazit: Koordinaten sind manchmal gut für Berechnungen, manchmal verdunklen sie aber auch den eigentlichen mathematischen Sachverhalt.
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